Vessels [Asuna & Winterhauch]

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      Nur einem unaufmerksamen Menschen wäre entgangen, wie Mortimer Sylea betrachtete. Ihre Bewegungen waren ungelenk, ihr Eindruck offensichtlich stark betroffen und folglich ließ es nur den Rückschluss zu, dass der Babylonier so seine eigenen Gedanken und Überlegungen dazu anstellte. Dass er dies aber mit einer Neugierde tat, die mehr aus seiner Aura als noch aus seinen Augen sprach, jagte Sylea ein ganz anderes Frösteln über den Leib. Da half selbst das knisternde Feuer unmittelbar vor ihr nicht viel.
      „Ich denke, er wird es nicht können. Nie. Aber schon spannend, wie du eher über meinen Zustand amüsiert bist als über die Tatsache, dass wir überhaupt lebend aus dem Hell Gate entkommen sind“, sagte das Mädchen bevor sie einen Schluck des Tees nahm. Natürlich wusste er, dass sie es überlebt hatten, immerhin war Cain der beste Tracker dafür gewesen. Nur die Umstände, wie es passiert ist, waren ihm nicht bekannt und eigentlich hatte Sylea darauf gesetzt, dass er dieses Wissen ebenso sehr haben wollte wie den Inhalt der Memoiren.
      Schließlich kam der Moment, vor dem sie sich am meisten fürchtete, schneller als erwartet. Schon kurz darauf streckte der ehemalige Archivar seine Hand in einer auffordernden Geste aus und Sylea schluckte, ehe sie das Buch unter ihrem Oberteil hervorzog und es ihm reichte.
      Du kannst dich glücklich schätzen, dass er seine Forderungen damals unspezifisch gestellt hat. Andernfalls hätte ich dir abgeraten, ihm das Buch zu geben.
      Dessen war sich Sylea vollkommen bewusst. Genauso wie der Tatsache, dass Mortimer das Buch musterte und dann wohl feststellte, dass es sich noch immer nicht öffnen ließ und er die nicht ausreichende Spezifikation seiner gestellten Forderung bemerkte. „Natürlich nicht. Sonst wäre er nicht auf den Handel eingegangen.“
      Innerlich brüstete sie sich bereits damit, dass gleich Handgreiflichkeiten ausbrechen würden. Die Hand um den Becher schloss sich fester und das Brennen an ihrem Körper rückte weiter in die Ferne. Mit einer geschickt gestellten Ablenkung versuchte Sylea, mittels Fragen ihn vom Unausweichlichen abzulenken und zu ihrem Erstaunen funktionierte es sogar. Ihr Blick folgte seiner Handbewegung und bei der Erwähnung des Iraks ging ihr ein kleines Lichtchen auf. Das war eines der Länder, die sie mal auf geographischen Karten in Zeitschriften gesehen hatte. Das hieß, sie waren meilenweit von Großbritannien entfernt. Einfach von hier aus zurücklaufen wäre nicht möglich, aber andererseits würde niemand vermuten, dass sie hier wäre. Wie sie hierhin gekommen wäre… In Schottlang wäre sie einfach von der Bildfläche verschwunden und niemand konnte nachvollziehen, wo sie war.
      Ein eigens gewähltes Exil. Allein. Ohne Aussicht auf Freude, Liebe und Heilung, sondern auf den gewissen Moment, in dem Ascan über ihre Seele siegen würde.
      Syleas Augen hielten Mortimers grünen Iriden eisern stand. Er hatte ihr nicht irgendeinen Schlüssel mitgegeben, sondern zu dem Ort, von dem er entstammt. „Ich nehme das mal als eine Art Zugeständnis, wenn du mir wortwörtlich den Schlüssel zu deinem Heim gibst.“
      Ob sie das wirklich zuversichtlicher machte, würde sie nicht behaupten können. Wie befürchtet hatte sie sämtlichen ihr bekannten Boden verlassen und war nun vollkommen ergeben im Territorium des Babyloniers, wenn auch nicht wehrlos. Allerdings war sie nicht zum kämpfen gekommen, sondern zum Handeln.
      „Hast du ein Messer in Griffweite oder kannst mir eines leihen?“, fragte sie unvermittelt und bemerkte sofort, wie Ascan in ihren Gedanken stolperte. Die unausgesprochene Frage nach dem Warum geisterte durch ihren Verstand, doch sie schob sie beiseite. Stattdessen bekam sie dafür Mortimers Antwort, der etwas von ihrem Blut dafür verlangte. Ihre Miene war ausdruckslos, innerlich schrien dafür alle Alarmglocken auf. Wenn jemand wusste, wie potent Blut sein konnte, dann Sylea und Ascan, wodurch diese Option direkt ausfiel. Also suchten ihre Augen nach einer anderen Möglichkeit und fand sie bereits unlängst in ihrer Hand. „Dann nicht.“
      Sie warf den Tonbecher gegen den Steinkreis des Feuers, der daraufhin in etliche Scheiben zerbarst. Willkürlich griff sie sich eine davon, untersuchte flüchtig die Kante und wickelte sich hastig den Stofffetzen ihrer linken Hand ab. Die herausgerissenen Nägel hatten nicht geblutet, schmerzhaft waren sie dennoch. Zu diesem Zeitpunkt war ihr gesamter Körper eine einzige Schmerzquelle, sodass eine weitere den Kohl wohl auch nicht mehr fett machen würde. In einer schnellen Bewegung schnitt sich Sylea mit der Scherbe die Handinnenfläche auf und warf sie anschließend ins Feuer, wo das Blut umgehend verkrustete. Dann nahm sie mit den Fingern ihrer rechten Hand Blut auf, zog sich den Kragen ihres Oberteils nach unten und setzte die Finger oberhalb des rechten Schlüsselbeins an. Während alldem hielt sie Mortimers Blick fest, nun nichts anderes als Kälte in ihren Augen.
      Sie schaffte eine Rune, dann hatte Ascan begriffen, was sie tun wollte.
      Ihre Hand verkrampfte sich, das Gesicht verwandelte sich in eine Grimasse, als Ascans Aura jene von Sylea zu verschlucken suchte. Er setzte keine Worte ein, um seinen Unmut kundzutun, sondern focht in einem stummen Kampf mit dem Vessel um die Herrschaft des Körpers. Sehr zu seinem Verdruss musste Ascan feststellen, dass er nicht mehr so leicht die Kontrolle übernehmen konnte, wie noch vor Monaten. Sylea hatte sich auch bei ihm eingenistet, ob er es zugeben wollte oder nicht, und kannte seine Muster, seine Herangehensweisen, die sie nun augenblicklich torpedierte.
      „Warte“, presste sie undeutlich an Mortimer gewandt hervor in der Hoffnung, dass er diesen Ausbruch nicht als Angriff auf sich werten würde. Quälend langsam bewegten sich ihre Finger vorwärts, zeichneten wackelige dunkelrote Linien nacheinander auf die blasse Haut. Ascans Einwand wurde immer stärker, er erdrückte sie regelrecht und es kostete Sylea alle verbleibende Kraft, ihm standzuhalten und ihre Aura durch seine hindurch zu manövrieren. Als er bemerkte, dass sie immer weiterkam, brach er sein Schweigen schließlich doch.
      Du glaubst doch wohl nicht, dass du mich einfach aussperren kannst. Ohne mein Wissen wüsstet du nicht mal, wie diese Runen funktionieren!
      Möchtest du ein Danke? Danke für den Scheiß, Ascan.
      Du kleines, widerwärtiges Stück A-
      Weiter kam Ascan nicht, da Sylea die letzte Rune vervollständigt hatte. Sie fühlte umgehend, wie Ascans Bewusstsein in eine unendliche Ferne geriet und hinter dicken, schweren Wänden verschlossen wurde, wenn auch nur temporär. Der Zug, der sich nach Vollendung der Runen einstellte, kam mindestens genauso schnell. Auch dieses Mal wusste sie nicht um den Preis für solche Runen, aber der Schmerz kam sofort und überwältigend. Sie krümmte sich ein und gab würgende Geräusche von sich, als sie den Preis bezahlte. Sie fühlte das Ziehen in ihrem Kiefer, das Explodieren von Schmerz und das Geräusch von knirschendem Sand zwischen ihren Zähnen in ihrem Kopf. Blut füllte in einem Schwall ihre Mundhöhle, sie spuckte es in den hellen Sand vor sich aus, der sich sofort dunkel verfärbte. Weitere Übelkeitswellen erfassten das Mädchen, selbst als der Blutschwall vorüber war und sie mit der Zunge fühlen konnte, dass ihr zwei Backenzähne fehlten. Aber noch war es nicht vorbei. Mortimer wollte ihr Blut haben und ihre Hand war gerade der einfachste Weg dafür.
      Sylea riss den Kopf hoch, auf dessen Stirn kalter Schweiß stand. Ohne zu zögern langte sie nach vorn in die züngelnden Flammen, umschloss mit ihrer Hand einen Stein und zuckte sofort mit der Hand und einem Schrei wieder zurück. Der kurze Kontakt hatte ihre Hand versengt, sodass der selbstzugefügte Schnitt kauterisiert wurde. Die sonst so klaren Augen verloren allmählich gegen die Trübheit, als der Schmerz sich zu einer allgegenwärtigen Taubheit wandelte.
      „Ich biete dir“, sie unterbrach sich und spuckte nochmal Blut aus, „Ich biete dir einen Handel an. Ich breche das Siegel und gebe dir vollumfänglichen Zugang zu den Memoiren, wenn du meinen Bedingungen zustimmst, die ich noch genauer ausformulieren werde und nicht jetzt sofort mit den folgenden Worten bindend sind.“ Sie hatte bereits geahnt, dass die Umstände es nicht zulassen würden, direkte Forderungen bindend zu stellen und sie mehr Zeit benötigte. „Ich will, dass du zu einem bestimmten Zeitpunkt Cain in Sicherheit bringst. In dem Zuge wird das Siegel ausschließlich für dich gebrochen und ich will, dass du Cain Schutz gewährst, ihm weder körperliche noch geistigen Schaden zufügst und sicherstellst, dass er das Leben lebt, welches ich ihm schenken werde. Kannst du das tun?“
      Das waren Forderungen, die das Ende einleiteten. Das Ende, das Sylea in den letzten Wochen bei Ennis und Mairead mit Ascan zusammen entwickelt hatte, ohne dass er es hätte ahnen können. Es gab einen Weg, der zusammen mit Dagda bestreitbar wäre und nur einen einzigen Preis fordern würde, um den größtmöglichen Mehrwert zu generieren. Nur würde sie das Wissen dafür mit ins Grab nehmen, wenn es jemals soweit käme. Dies war ihr absolut letzter Ausweg, falls ihr am Ende keinerlei Optionen mehr bleiben sollten.
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      Der Babylonier neigte das Kinn und verbarg den Anflug eines Lächeln hinter dem Becher. Über die lodernden Flammen hinweg musterte er Sylea mit einem Hauch von Anerkennung. Kluges Mädchen, das versuchte ihn mit seinem unstillbaren Wissendurst zu ködern. Statt den dargebotenen Köder zu schlucken, schüttelte Baltazar den Kopf.
      "Ich lebe lange genug, um zu wissen, dass sich niemand in die Angelegenheiten eines Gottes einmischen sollte", antwortete der Archivar wahrheitsgemäß. "Nicht, dass ich jemals einem leibhaftigen Gott - oder Göttin - begegnet wäre. Rückblickend sollte ich vielleicht gekränkt sein, dass eine Gottheit wie Dagda unseren gemeinsamen Freund als größere Bedrohung empfindet. Andererseits ist Eitelkeit kein Charakterzug den ich sonderlich bewundere und ein mangelndes Interesse der Götter beschwert mir ein einigermaßen, unbeschwertes Leben. Also, schweren Herzens: Nein, das ist kein Wissen, das ich begehre."
      Er legte die Hand erneut auf das Buch in seinem Schoß.
      "Ah, ein Anfängerfehler. Wie unerfreulich", murmelte Baltazar aufgrund der unverblümten Antwort des Vessels. "Da habe ich mich wohl zu sehr hinreißen lassen. Die Vorstellung dieses Wissen zu ergründen, war einfach zu verlockend."
      Baltazar nahm sich Zeit Sylea zu betrachten. Die Art, wie sich ihre Finger fest um den Becher klammerten und sie sich weigerte, den Blick zu senken. So entschlossen. So willensstark. Was hätte dieses Mädchen für eine Zukunft haben können, wenn ihre Eltern nicht beschlossen hätten, sie einer uralten Seele wie Ascan zu überlassen.
      Sylea zeigte keinerlei Reaktion auf seine unverschämte Bezahlung für seine Dienste. Der Babylonier konnte lediglich vermuten wie die Gedanken in ihrem Kopf unaufhörlich arbeiteten und Freudensprünge über den genannten Preis hatte nun wirklich nicht erwartet. Die Gelegenheit das unverfälschte Blut des Rubra-Clans in die Finger zu bekommen, bot sich nicht alle Tage und es könnte seine einzige Chance für eine lange, lange Zeit sein. Niemand konnte ihn dafür verurteilen, es wenigstens versucht zu haben.
      "Bedauerlich", seufzte Baltazar.
      Was dann geschah, überraschte selbst eine alte Seele wie den Babylonier. Ohne Rücksicht auf Verluste zerschmetterte Sylea den Becher, angelte eine der Scherben aus dem Wüstensand und fügte sich einen langen, tiefen Schnitt in der Handfläche zu. Es blieb kaum Zeit die malträtierten Fingerkuppen genauer unter die Lupe zu nehmen, denn Sylea setzte die blutigen Finger mit eindeutiger Intention über der nackten Haut ihres Schlüsselbeines an. Die Handlung reichte aus um den Babylonier in Alarmbereitschaft zu versetzen. Der Sand um ihn herum wirbelte in alle Himmelsrichtungen auf, als er in einer fließenden Bewegung vom Schneidersitz in die Hocke wechselte. Seine rechte Hand schnellte nach vorn in den abgekühlten Wüstensand bis er seine Finger tief darin vergrub. Die smaragdgrüne Aura flammte auf, bündelte sich um seine eingegrabene Hand und floss in den Sand zu ihren Füßen. Ein seichtes Beben pulsierte durch den Boden, als Baltazar sich Vorkehrungen für eine notwendige Verteidigung ergriff. Die blutroten Linien der Rune schimmerten bedrohlich im Schein des Feuers und bevor Sylea ihr Werk vollendete, schossen felsige Dornen aus dem Wüstenboden. Baltazar verdichtete unzählige Sandkörner bis massiver, harter Fels entstand. Die tödlichen Spitzen ragten in Syleas Richtung und er war durchaus bereit, das Mädchen in ein hübsches Nadelkissen zu verwandeln.
      "Warte."
      Etwas im Klang der gequälten Stimme ließ den Babylonier inne halten und knirschend stoppten die Felsendornen wenige Zentimeter vor ihrem Ziel. Eine stumme Warnung lag flimmerte über die Gesichtszüge des Bibliothekars. Die kühle Nachtluft lud sich mit der Energie zweier alter, mächtiger Auren auf bis sich die feinen Härchen auf seinen Armen aufstellten. Ein Moment der angespannten Stille verstrich ehe der von Schmerzen gebeutelte Leib der Rubra sich krümmte. Würggeräusche übertönten das Rauschen des kühlen Windes und als Sylea einen Blutschwall in den Wüstensand erbrach, zerfielen die Dornen zurück in ihre ursprüngliche Form. Im spärlichen Licht des Feuers glaubte Baltazar Zähne im Sand zu entdecken. Ehrliche und unverfälschte Fassungslosigkeit zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, denn sie war noch nicht fertig. Ohne jeglichen Zögern presste sie ihre blutige Hand gegen einen der glühenden Steine, bis Baltazar der Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase stieg. Ein ganz und gar menschlicher Zug bahnte sich seinen Weg, denn er zuckte unwillkürlich nach vorn, um sie von dieser Torheit abzuhalten. Erst, als das Zischen von Haut auf Stein verstummte, stieß Baltazar hörbar den Atem aus.
      Langsam erhob er sich, kam auf die Füße und umrundete das Feuer bis er neben Sylea verweilte, die den Eindruck erweckte jeden Augenblick das Bewusstsein zu verlieren. Der von Schmerz und Schock gebeutelte Körper schwankte etwas. Erstaunlich, wie viel dieser zierliche Körper aushielt bevor die Verlockung nach der schmerzlosen Bewusstlosigkeit letztendlich Überhand nahm. Sie hielt sich tapfer. Nachdenklich sah er auf sie herab.
      "Die Dinge, die wir für die Liebe auf uns nehmen. Nicht, dass ich eine Ahnung davon hätte...", murmelte er. "Du erstaunst mich, Sylea Rubra, und das kommt nun wirklich nicht alle Tage vor."
      Er führte eine Hand vor seine Oberkörper und krümmte die Finger in geübten Mustern. Die Teekanne erhob sich von der Feuerstelle und schwebte zu ihnen herüber, der Deckel vibrierte hörbar als Baltazar den leblosen Gegenstand in eine neue Form Zwang. Henkel und Ausguss verformten sich zu den zwei neuen Griffen und der übrige Tee zischte und blubberte bis klares, kaltes Wasser am Boden der Schale friedlich hin und her schwappte. Er ließ die neugeformte Schale zu Boden gleiten. Der Babylonier zupfte das Einstecktuch aus seinem Sakko und reichte es Sylea um übriges Blut und Asche abzuwaschen.
      "Verbrenn es, wenn du dich damit sicherer fühlst", raunte er ehe sein Blick zu den Ruinen in der Ferne schweifte. Er dachte über ihr Angebot nach. "Ich kann, Sylea. Die Frage ist: Wie willst du sichergehen, dass ich mich an meinen Teil des Deals halte, sobald du das Siegel gebrochen hast? Du scheinst davon auszugehen, dass du das Ziel eurer Reise nicht mehr verlassen wirst."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”