[2er RPG] The Lesser Evil [Winterhauch & NicolasDarkwood]

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    • Volgasts und Alarions Gesichter erbleichten beide im gleichen Rhythmus, wie es erschien.
      Manche Pläne waren gut und manche schlecht. Beides kannten die Kämpfer aus den Schlachten mit Andvari und den anderen. Mit Sicherheit ließ sich auch manches diskutieren und noch viel mehr gleich verabschieden. Doch dass ein Plan gleichzeitig gut wie schlecht erklang, kannten beide nicht wirklich.
      Ruhig sahen sie in das Feuer und versuchten zu verarbeiten, was Viola ihnen gerade zu sagen versuchte. Sicherlich war es sinnig, die Verletzten zu heilen und dafür zu sorgen, eine Streitmacht gehen den Eidbrecher Faolan werfen zu können. Gerade wenn er nicht in der Lage war sein Wort zu halten. Doch ein anderes war es vielmehr, dass die Worte, die Andvari hören sollte, nicht durch ihre Lippen übertragen wurden.
      Sie würde die anderen wie Boten entsenden und nur die Götter wussten um den Zorn des Elfenprinzen, den man zurücklassen musste. Gott, er würde sie allesamt an die Wand schlagen und nur mit Glücl verschonen wenn er erfuhr, dass sie Viola zu Faolan hatten gehen lassen.
      "Ich denke", begann Volgast und seufzte. "Ich denke wirklich, dass wir gemeinsam zurück reiten sollten. Denk an Andvari Viola, ich..."
      Doch es gab nichts mehr zu sagen. Der Wind fuhr durch die laue Lichtung und ließ sie allesamt frösteln. Jedoch bezweifelte ein Jeder, dass es an der Kälte lag.
      Alarion sah sie mit bebenden Augen an und war schließlich der Erste, der den Blick senkte und nickte.
      "Gut...Wir reiten von dannen", bekräftigte er. "Aber nur wenn du versprichst, zurück zu kehren. Wir sind tot, wenn du nicht zurück kommst. Und Andvari fackelt vermutlich das ganze Elfenreich deswegen ab. Wobei ich Volgast zustimme. Es ist nicht gut, wenn wir diese Nachrichten überbringen. Es wirkt feige, Viola..."
      Der Abend und die Nacht gestalteten sich fortan erstaunlich ruhig. Man aß gemeinsam, trank und sah den Flammenfingern beim Luftverbrauch zu. Sorgsam versuchte man, das Thema in erstaunlicher Geschicklichkeit zu umkreisen, obschon ein Jeder wusste, was sie am Folgetag erwarten würde...
      Nach kurzer Nacht und beinahe grausigen Träumen erwachten die Krieger als erstes aus dem seichten Dämmerschlaf, der sich wie ein Hammer auf sie gelegt hatte. Noch immer glomm die Glut des Feuers und Volgast schüttete gerade Erde darauf, als sie VIolas Rascheln vernahmen. Zumindest erwacht war sie noch unter ihren Augen.
      Alarion gürtete sein Schwert um die Hüften und sah beinahe bedächtig den Hang hinauf. Gleich dahinter verbarg sich das Elfenreich. Es war nah und doch fern. Ein einfacher Hang, ein kleiner Gipfel und sie würden über das Tal von Erynn Var sehen können. Von dort aus waren es Tage bis Tirion. In strammen Ritt. Er fragte sich, ob er es jemals wiedersehen würde, während Volgast Meliorn anschickte, die Pferde zu satteln.
      "Nun komm schon, Alarion", murmelte er. "Du auch. Sattel die Pferde, mach die Taschen bereit und gib Viola Proviant und Wasser mit. Und Met. Götter brauchen ein Opfer. "

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    • Die eisige Kälte und ein gehöriges, schlechtes Gewissen hatten einen erholsamen Schlaf unmöglich gemacht.
      Viola hatte sich sekündlich von einer Seite zur anderen Seiten gedreht, bis die Erschöpfung der Reise und der Aufregung ihren Tribut gefordert hatte. Deshalb traf sie das Erwachen wie ein Schock. Die Blässe auf ihrem Gesicht stammte nicht allein von der kalten Morgenluft. Die tiefen Augenringen sprachen Bände während sich die Heilerin aus dem behelfsmäßigen Schlaflager quälte. Die Glieder waren steife vom harten, kalten Untergrund. Notdürftig fing Viola die wilde, rote Mähne mit einem Lederband ein. Die seidige, glatte Struktur entwickelte in der Taufeuchte des Morgens ein unerwünschtes Eigenleben. Um sie herum herrschte bereits eine bedrückte Aufbruchstimmung. Alarions Worte hatte der Heilerin keine Ruhe gelassen.
      Eigentlich wollte Viola nur die dringend benötigte Hilfe besorgen. War das wirklich feige?
      Die wenigen Habseligkeiten waren zügig in den Satteltaschen verstaut und sie nahm den Elfen die Zügel ihres Pferdes aus der Hand, um sich selbst um den Rest zu kümmern. Das Pferd selbst zu satteln, verschaffte ihr ein paar weitere Minuten um über den Plan nachzudenken, den sie in aller Eile überstürzt beschlossen hatte.
      "Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, den Weg zum Tempel in kürzerer Zeit zu überbrücken. Wir brauchen das Wasser aus den heiligen Quellen", erhob Viola aus dem Nichts die Stimme. Sie wirbelte zu Volgast, Meliorn und Alarion herum.
      Der Bogenschütze hatte gerade den Met in einen der leeren Trinkschläuche gefüllt und hielt in der Bewegung inne.
      In dem feingeschnittenen Gesicht der Heilerin wechselte sich Verbissenheit mit ehrlicher Verzweiflung ab. Die Narben verzogen sich zu hässlichen, verzerrte Linien.
      "Bin ich feige, weil ich helfen will?", wiederholte sie den Vorwurf, da sie offenbar mit dem Thema noch nicht abgeschlossen hatte. "Ich will doch nur helfen und uns läuft die Zeit davon."
      Das braune Tier neben ihr scharrte ungeduldig mit den Hufen und schien die Unruhe seiner Reiterin zu bemerken.
      Missmutig drückte das Pferd den großen Kopf gegen ihre Schulter. Viola fuhr mit gespreizten Fingern durch die wilder Mähne, dabei klebte ihr Blick förmlich auf ihren Begleitern, die nicht nur ihr Leben sondern auch den Zorn des Lichtbringers riskierten.
      Es war in Violas Augen vielleicht keine Feigheit, aber gerecht war es ganz sicherlich nicht.
      "Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die Streunende Armee ist nicht in der Verfassung sich den Truppen von Faolan zu stellen, aber trauen können wir seinem Wort auch nicht."
      Entschlossenheit und Stärke entwichen aus ihrem Körper, der ein wenig in sie zusammen schrumpfte, als hätte jemand die Fäden durchschnitten, die Viola die ganze Zeit über aufrecht gehalten hatten.
      "Sagt mir, was ich tun soll."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Der Morgen schnitt in ihrer aller Gesichter und ließ die Bitternis einer Erkenntnis zu.
      Viola wollte helfen, das wusste ein Jeder, der jetzt die Habseligkeiten auf die Pferde lud. Volgast nahm mit einem Seitenblick zur Kenntnis, dass sich Viola Zeit verschaffte, indem sie das Pferd sattelte. Alarion wirkte eine Sekunde lang erstaunt, dann zuckte er die Achseln und begab sich selbst dazu, sein Hab und Gut in die Satteltaschen zu verstauen.
      Das Feuer wurde mit einem Schwung gelöscht und die Umfüllung der Getränkevorräte ging gerade von statten, als Viola die Stimme erhob. Der junge Elf ließ sich davon nicht abbringen, seines und Volgasts Pferd zu satteln und zu beruhigen, nachdem die Tiere kurz aufgescheucht waren. Als wüssten sie was in der Luft lag und wohin der Pfad sich winden würde.
      Schweigsam sahen die Gefährten zu und Alarions Augen glitzerten kurz, ehe er Luft holte. Doch Volgast kam ihm zuvor und schüttelte den Kopf.
      "Es gibt in dieser Sache wenig richtig und noch weniger falsch, denke ich", begann der Hüne sanft und erhob sich zur vollen Größe. "Ich denke, wenn es nur darum ginge, heiliges Wasser zu besorgen, so könnte es jeder von uns auch erledigen. Da du dir diesen Plan jedoch überlegt hast und willentlich das Risiko von Andvaris Wut auf dich nimmst, gehe ich davon aus, dass du etwas anderes dort suchst, oder?"
      Alarion schüttelte den Kopf auf ihre Erwiderung und seufzte.
      "ich denke nicht, dass es per se feige ist", sagte er und sah Viola fest an. "Ich denke nur, dass die Nachricht über den Handel aus deinem Munde an Andvaris Ohr kommen sollte. Und nicht aus einem der unseren."
      "Alarion, es reicht", sagte Volgast und der Elf verstummte.
      "Was du tun sollst, kann dir keiner vorschreiben, Viola", sagte er lächelnd. "Ich kann dir nur sagen, dass du vielleicht finden wirst, was du in den Heiligen Quellen und im Tempel suchst, was auch immer es ist. Von daher werde ich dir nur eine Sache sagen: Geh."
      Alarion nickte und stimmte ein.
      "Er hat Recht. Auch wenn es vielleicht komisch ankommt, solltest du gehen. Was auch immer von dir gefunden werden will, muss durch dich gesucht werden. Wir überbringen deine Nachricht und warten. Und vielleicht hat Andvari bis dahin eine Entscheidung getroffen."

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    • "Das ist richtig, Volgast", antwortete Viola. "Andvari ist schwach. Etwas stimmt nicht, aber ich kann mir keinen Reim darauf machen, und meine eine Aura, meine Magie...Baumschatten hatte seine Spuren darauf hinterlassen. Es ist eine Dunkelheit, die ich nicht allein bekämpfen kann, aber solange ich nicht im Vollbesitz meiner Kräfte bin, bin ich niemandem eine Hilfe. Erst recht nicht für Andvari. Das Quellwasser könnte die Lösung sein und hätten wir mehr Zeit, würde ich zuerst mit euch allen zurückkehren. Die haben wir aber nicht. Mein ganzes Leben lang habe ich die Götter jeglichen Glaubens für meinen Schmerz verflucht und nun werde ich eine Göttin als eine ihrer verlorenen Töchter um Hilfe bitten."
      Die Entscheidung war gefallen. Viola bedachte ihre treuen Reisegefährten mit Dankbarkeit aber auch mit Wehmut, obwohl es nur ein Abschied für eine kurze Zeit war. Die Heilerin verabschiedete sich von jeden von ihnen mit einer Umarmung und dem Versprechen bald zurückzukehren. Es war Meliorn der den Arm hob und Isobelle beinahe feierlich an die starrsinnige, junge Frau überreichte. Der zierliche Greifvogel hüpfte ohne Zögern auf Violas Schulter und hob stolz den Kopf. Isobelle wusste genau, welche wichtige Aufgabe ihr übertragen worden war.
      "Falls es Schwierigkeiten gibt oder etwas dich aufhält, schick Isobelle voraus", flüsterte Meliorn und drückte die Heilerin, eine Freundin und Gefährtin kurz an sich.
      "Sagt Andvari, er soll sich seinen Unmut und Zorn für mich aufheben. Es ist nicht eure Schuld", sagte sie lächelnd. "Wir sehen uns bald wieder, meine Freunde."
      Damit kehrte Viola ihnen den Rücken zu und verschwand auf der braunen Stute zwischen zerklüfteten Felsen und kahlen Bäumen.

      Der harsche, eiskalte Wind pfiff Viola um die Ohren.
      Die felsige Landschaft verwandelte sich zunehmend in karge Wiesen und Felder. Das Pferd galoppierte in größter Eile über das spärliche Frühlingsgrün und flog mit dem heulenden Wind über Stock und Stein. Flache Ebenen wurden zu Hügeln und mündeten in dichte Mischwälder mit grünen Kiefern und kahlen Laubbäumen aller Art. Viola war noch nie in ihrem Leben auf diesen Wegen gereist und doch sagte der Heilerin ihr Instinkt, dass sie ihrem Ziel unaufhörlich näher kam. Bald umgab sie saftiges Grün und der Wald erwachte zum Leben. Die Nähe des Tempels verjagte die Kälte und ließ die Flora und Fauna aufblühen. Eine Gruppe von Rehen kreuzte ihren Weg während die Singvögel in den Baumkronen wunderschöne Lieder zwitscherten. Es war, als hätte der gnadenlose Winter diesen Teil des Waldes nie berührt. Die Magie des Tempels und der Quellen schützte die Natur und all ihre Bewohner.
      Der Tempel der Meriel sah genauso aus wie in Violas Erinnerungen.
      Das Grippe aus imposanten Steinsäulen und eingefallenen Mauern erhob sich aus bemoostem Waldboden. Efeu rankte hohen Säulen herauf. Pilze und Moos überwucherten, was von den einst weißen Steinmauern übrig war. Die Natur hatte über eine sehr lange Zeit die Ruinen zurückerobert und aus dem Tempel eine malerische Zuflucht geschaffen.
      Viola ließ das Pferd am Eingang zurück.
      Ein allumfassendes Gefühl von Frieden berührte ihr Herz als sie durch den Säulengang schritt. Die Stiefel hatte sie am Sattel festgebunden und lief nun barfuß über das weiche Moos. Es roch nach süßen Blüten und frischem Wasser. Bald schon betrat sie, was eins ein großzügiges Gewölbe gewesen war. Die Quellen plätscherten sanft umgeben von den weitläufigen, gigantischen Wurzeln einer alten Eiche, die auf natürliche Weise einzelne Becken gefüllt mit Wasser bildeten. Alles war, wie sie es Wochen zuvor verlassen hatten.
      Die gesichtslose Statue der Meriel ragte über allem auf.
      Am Fuß der steinernen Treppe, die hinauf zur Statue führte, ließ Viola ihre Waffen und Rüstung zurück. Sie legte alles ab, was sie als Kriegerin auszeichnete und trat der Göttin als Tochter der Heilkünste entgegen. In einer fließenden Bewegung sank die Heilerin auf die Knie und legte die mitgebrachten Gaben auf dem überwucherten Stein zu den steinernen Füßen ab. Den Metschlauch entkorkte sie und schüttete die honiggelbe, süße Flüssigkeit über den Stein, wo sie zu beiden Seiten herabfloss und im Boden versickerte.
      "Ich, Viola de Clairmont, demütige Tochter deines Blutes, bitte um deinen Rat und deine Erlaubnis. Die Zeiten sind dunkel und ich ersuche deine Hilfe um meine Freunde zu retten. Die Finsternis greift um sich. Sie sitzt in meiner Brust und bedroht das Leben des Mannes, den ich liebe. Mit deinem Segen werde ich etwas von deiner Magie zu ihnen tragen, da sie selbst die Reise nicht bewältigen können."
      Viola neigte das Haupt.
      "Ich besitze Kräfte, die ich nicht verstehe und benötige dringend Führung. Ich habe Fragen, auf die ich keine Antwort weiß."
      Sie hatte den Glauben an die Götter verloren und flehte trotzdem um ein göttliches Zeichen. Nichts außer das Plätschern des Wassers und das Rascheln der Blätter in den Baumwipfeln drang an ihre Ohren. Viola schloss die Augen und bildete sich ein, das dumpfe und rhythmische Aufschlagen eines Stabes und das entfernte Echo eines Kicherns zu hören.
      "Bitte."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ein frischer Wind glitt durch die Reste einer vergangenen Erhabenheit.
      Das Moos federte jegliches Geräusch an Schritten aus der Luft und versprühte Raureif in die Luft und an die Füße. Sanft plätscherte in weiter Entfernung ein kleiner Bach, von dem man nicht sagen konnte, ob dieser in oder außerhalb des Tempels verlief. Die anklagend wirkende gesichtslose Statue starrte ohne Ziel und Richtung in die Reminiszenz der vergangenen Größe des Tempels hinab und vermittelte ein Gefühl des Willkommens und gleichsam der Achtung.
      Das Klirren der Waffen erschien beinahe überirdisch laut, auch wenn diese vorsichtig und mit Achtung abgelegt wurden. Der Tempel schwieg, als die junge Frau ihre hallenden Worte an die Gesichtslose richtete. Ein Wind ging nach dem Vortrag der jungen Frau erneut durch die Pflanzen und ließ Baumwipfel und Gräser zu Boden rascheln, einer Antwort gleich.
      Erst nach einer kurzen Weile, in der Tempel verstummte, ließ sich ein rhythmisches Schlagen vernehmen, das von Holz auf Stein erklang.
      Klipp. Klopp. Klipp. Klopp.
      Immer wieder und in stetem Rhythmus erklang das sanfte Geräusch eines Stabes, wie es erschien, der zwar mit Schwung, aber nicht als Stützte aufgesetzt wurde.
      Ein Kichern, überirdisch und beinahe der Realität erklang in einem beinahe typischen "hihihihi". Als würde man durch verschlossene Ohren hören, glitt es durch die Realitäten und verfestigte sich erst am Fuß der Meriel selbst, ehe es verklang.
      Erst danach, und nur dann!, schien sich aus dem Wind, dem Nichts um Viola selbst herum, eine Art Schatten zu manifestieren, der am Fuß der Treppe selbst zu Gehen schien.
      Mit dem Wind und den Geräuschen verfestigte sich die Gestalt mit jeder Silbe, die Viola sprach. Von Wind geformt zeigten sich schmächtige Schultern, eine ebenso schmächtige, leicht gebeugter Leib, und goldblondes Haar, das in einem unsichtbaren Windstoß zu wehen schien.
      Aus Wurzeln, die sich am Boden rankten, stieg ein Schatten in die Luft und formte sich zu einem tatsächlichen Holzstab, der sich in einer feingliedrigen, langfingrigen Hand befand. Leuchtend blaue Augen blickten hinauf zu Violas Bittstellung und erneut ging ein Kichern, das den ganzen Saal einzunehmen schien.
      "Meriel ist meist recht schweigsam, wenn du verstehst", sagte der Schatten von Sylvar in beinahe überirdischer Lautstärke.
      Es glich keiner normalen Stimme, die ein Ohr erreichte. Es war vielmehr ein Gefühl, ein Puls nahe am Rand der Zeit selbst, der durch den Raum glitt und an den hohen, bewachsenen Wänden widerhallte.
      Ein Lächeln stand auf dem Gesicht des Magiers, als er ohne Mühe und mit einer Hand am Gewand, das ihm bis zu den Knöcheln reichte, die Treppe erklomm.
      "Ach, diese verfluchten Wurzeln...", murmelte Sylvar ein wenig verdrießlich und doch sah der Zauberer so jugendlich wie selten aus. Sein Leib war unversehrt und von keiner Korrumption gebeutelt. Vielmehr erschien er kraftvoll, als er neben Viola auf die Stufe trat und sie ansah.
      "Du batest um Führung und hier bin ich...", sagte er grinsend und versuchte nicht mal nach ihr zu greifen. Die Gestalt des Elfen war beinahe durchsichtig und doch erkennbar. "Du siehst nicht gut aus, liebes Kind. Was ist geschehen? Wie ist es dir ergangen?"

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    • Viola sprang auf und wirbelte herum.
      Der Wind trug eine vertraute Aura mit sich, die ihr Herz berührte. Zunächst erblickte die Heilerin die Quelle des Gefühls nichts. Der Tempel erschien vollkommen unberührt, von den merkwürdigen Schwingungen. Lediglich die Blätter in den Baumkronen, die sich über die imposanten Steinsäulen wölbten, raschelten in der sanften Brise. Sie schienen von einer Ankunft zu flüstern. Viola wagte einen Blick zurück über die Schulter, doch allein das gesichtslose Antlitz der Göttin grüßte zurück. Wieder ertönte der hallende Rhythmus eines Holzstabes auf nacktem Stein. Zögerlich, als traute sich Viola nicht hinzusehen, drehte sie den Kopf herum und richtete den Blick zum Fuß der Treppe. Die Frau hielt den Atem an, als sich zunächst ein Schatten manifestierte und die Gestalt eines Mannes annahm. Ein Stab formte sich aus knorrigen Wurzeln direkte zu seinen Füßen. Die Gesichtszüge waren noch nicht vollständig hergestellt, da wusste die Heilerin bereits, wer sich mit gebeugter Haltung näherte.
      Sylvar sah jung aus. Viel jünger, als Viola ihn in Erinnerung hatte.
      Sie hatte den Zauberer in seinen letzten Sekunden in dieser Welt nicht gesehen bevor Andvari seinen Bruder den Sternen übergeben hatte. In einem der traurigsten Augenblicke dieser schweren Reise hatte Viola es als Segen empfunden, dass sein lebloses Antlitz nicht das Letzte von Sylvar gewesen war, dass sich in ihr Gedächtnis einbrennen konnte. Der Elfenzauberer, eine überirdische Erscheinung seines sterblichen Leibes, erklomm die Treppen mühelos. Nichts erinnerte an die bedrückende Bürde, die der Magier stets auf den Schultern getragen hatte. Er sah frei aus. Friedlich.
      Und besorgt.
      "Sylvar", hauchte Viola.
      Die Silben seines Namens fühlten sich fremd an und gleichzeitig willkommen.
      Meriel hatte sich nicht von ihrem göttlichen Thron erhoben, um einer Tochter zu antworten, aber die Göttin hatte ihrem verlorenen Kind die Person geschickt, die sie in ihrer misslichen Lage am meisten brauchte. Jemand, der über das notwendige Wissen verfügte. Jemand, dem sie vertraute. Ein bekanntes Gesicht und nicht die Gestalt einer Gottheit, da Viola doch nie an die göttliche Natur der Dinge geglaubt hatte.
      "Wie ist das möglich?", wisperte sie.
      Aus einem Impuls heraus streckte sie die Hand aus und wollte den Unterarm des Elfen berühren, der unmittelbar vor ihr inne hielt und sie mit besorgten Augen musterte. Violas Hand glitt ohne Widerstand direkt durch die durchscheinende Gestalt des Elfenzauberers hindurch. Sie konnte Sylvar, ihren Freund und Mentor, nicht berühren. Mit gemischten Gefühlen betrachtete Viola ihre Finger, die nichts gespürt hatten außer ein kaum merkliches Prickeln unter den Fingerspitzen.
      Als Sylvar erneut das Wort erhob, traten Viola die Tränen in die Augen.
      "Es geht mir nicht gut. Keinem von uns geht es gut, seit du fort bist", gestand sie mit erstickter Stimme. "Faolan und Lysanthir haben Beleriand zerstört. Wir wurden getrennt und jetzt ist Andvari in Bourgone, direkt unter den Augen von dutzenden Menschen, die ihn töten wollen. Etwas stimmt nicht. Er heilt nicht wie gewöhnlich, obwohl ich seine Wunden verschloss. Unsere Freunde sind schwer verletzte. Symon ist dem Tode nahe und es gibt nichts, dass ich tun kann. Ich habe Angst."
      Sie hatte das Gefühl, dass Sylvar das bereits wusste.
      Viola schluckte schwer.
      "Meine Magie ist korrumpiert", presste sie noch hervor.
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    • "Wie er leibt und...Nun, nicht mehr lebt, fürchte ich", kicherte Sylvar und breitete die Arme von seinem Leib aus.
      Das Gewand, das der Zauberer trug, glich dem, mit welchem er gestorben war. Durchzogen von beinahe goldenen Fäden und mit einem satten Grün gezeichnet, schien er der leibhaftige Wald zu sein, der sich erhob. Sachte wehte ein Wind durch die Baumwipfel und Sträucher auf den Wegesplatten, als er sich zu Viola gesellte und besorgt drein sah.
      "Ah, wie ist das möglich", murmelte er und kratzte sich an der Nase. Das blonde Haar wehte von unsichtbarem Sturm getragen um seinen Kopf und machte es schwer, die leuchtenden Augen zu sehen. "Nun, ich denke, das Phänomen, nach dem du suchst, nennt sich Erscheinung. Wann immer ein magisch begabtes Wesen stirbt, ist es möglich, zurückzukehren als...Naja, das hier."
      Er wies an sich und seinem durchsichtigen Leib hinab.
      "Hach, es gäbe sicherlich schönere Anlässe und erquicklichere Zustände, mit denen man ein Wiedersehen ausgestalten kann, aber ich denke, ich habe mich in meinem Todeskampf an das verbliebene Leben geklammert, was mir erhalten blieb. Und anstatt weiter zu laufen, bin ich geblieben und hier erwacht, sozusagen. Vom Wunsche beseelt, dir noch einmal Führung und Kraft zu sein, Viola von den Menschen."
      Lächelnd sah er hinab und die Tränen in ihren Augen. Wie sehr hätte er sich gewünscht, sie berühren oder trösten zu können. Viel eher musste er sich ein Koglomerat an schlechten Nachrichten anhören und wusste selbst als Geist nicht recht, was er sagen sollte.
      "Das klingt grässlich", murmelte er und fuhr sich über die Stirn. "Also haben die beiden Monstren Beleriand doch erreicht. Eine Schande, dieses...Ich mochte das Dorf. Es war mir heimisch und diese Wirtin war wirklich etwas fürs Auge, wenn du verstehst."
      Besorgnis trat zu aller Überraschung jedoch gar nicht in sein Gesicht. Viel eher setzte er sich auf die Stufen und betrachtete Viola mit einem warmen Lächeln, als wüsste er alles, was sie erzählen wollte bereits.
      "Andvari ist also bei den Deinen", murmelte er und verwendete mit ABsicht nicht die Rassenbezeichnung. Sylvar musste sein Grinsen beibehalten, denn er fand, Viola klang bereits wie eine Elfe, wenn man es so wollte. Andvari war bei den Menschen. Das war gut und schlecht, nicht wahr?
      "Dass Andvari nicht heilt, hängt mit der Begegnung mit Faolan zusammen", berichtete Sylvar und seufzte. "Faolan ist ein Monster fernab jedes Verstandes. Seine Alptraumkreaturen, die er aus seinem Leib beschwört, tragen die Saat der Dunkelheit regelrecht in sich und verteilen sie unter ihresgleichen. Grässliche Fähigkeit, wenn du mich fragst. Und du..."
      Sylvar legte den Kopf schief und lächelte.
      "Ja, sie ist korrumpiert. Wer war es, Viola? Faolan selbst? Oder einer seiner Tiere? Mach dir keine Gedanken. Eine jede Aura ist rein in ihrem Kern. Ehe die Korrumption dies erreicht, vergehen Jahre. Und so lange das nicht geschehen ist, vermag ich dir zu helfen. Man muss die Aura nur daran erinnern, dass sie es kann."
      Ein Zwinkern glitt über sein Gesicht ehe er sich mit einem Stöhnen erhob.
      "Für alles andere tut es das Wasser. Aber deswegen bist du ja auch hier, oder nicht?!"

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    • Jegliche Kraft, die Viola über die lange Reise auf den Beinen gehalten hatte, erstarb.
      Unendlich müde ließ sich die Heilerin neben Sylvar auf den kalten, steinernen Treppenstufen nieder und lauschte der Stimme, die ihr einst in dunkler Stunde Mut zu gesprochen und einen Ausweg gezeigt hatte. Der Elfenzaubrer, höchster und mächtigster der Weißen Hand, mochte lediglich ein blasses Abbild seiner einstigen Gestalt sein, aber der Scharfsinn hatte sich nicht verändert. Ein schmales, halbherziges Lächeln spiegelte sich auf Violas Lippen.
      "Tilda ist am Leben und putzmunter, soweit ich weiß. Zumindest war sie das, als Lucien sie das letzte Mal sah. Sie hat auf Lhoris und mich geachtet, bis uns endlich Hilfe gefunden hatte", erzählte Viola. "Ich weiß wohin sie alle gegangen sind. Albert und Mael sind tot. Und die kleine Elise...hat zu viel gesehen für ihr kurzes Leben. Bei Tildas und ihrer Schwester ist das Mädchen in guten Händen."
      Viola schlang die Arme um die angezogenen Knie und verfluchte den steifen Brustpanzer, der ihr plötzlich unangenehm in die Rippen drückte. Sie trug die Teile der Elfenrüstung seit knapp zwei Tagen ohne Unterbrechung, hatte sogar darin geschlafen. Sie war erschöpft und vermisste die Gesichter ihrer Liebsten.
      Die Prognose des Zauberers klang nicht so aussichtslos wie befürchtet, aber schlechter als Viola gehofft hatte. Faolans albtraumhafte Schattenkreaturen vergifteten alles Gute in einem Ausmaß, das die Heilerin nicht erwartet hatte.
      Seufzend hob sie das Kinn von ihren Knien und sah Sylvar niedergeschlagen aus dem Augenwinkel an.
      "Was können wir tun um Andvari zu helfen?", stellte sie die wichtige Frage, vor der sie sich gleichzeitig fürchtete.
      Ohne den Lichtrufer und damit ihrem mächtigsten Feldherrn würde die Streunende Armee sich in alle Winde verstreuen. Viola konnte schwer einschätzen wie eng verzweigt die Treue unter den verschiedenen Völkern war, die mit Andvari zogen.
      Kopfschüttelnd sah sie ihren ehemaligen Mentor an.
      "Nicht Faolan", antwortete sie knapp. "Vaeril hat seine Schattenklauen in meinen Leib gegraben und mich damit beinahe geötet. Er hat die kleine, unschuldige Elise als Köder benutzt, weil er wusste, dass ich das Mädchen nicht seinen Schatten überlassen würde. Lhoris konnte die körperlichen Verletzungen heilen und ein Teil des Giftes herausbrennen, aber die Schatten haben sich an meinen Magiekern geheftet und saugen ihn aus wie ein Blutegel. Die Erschöpfung bei der Verwendung meiner Heilmagie setzt viel früher ein als vorher."
      Mit einem verzweifelten Unterton berichtete sie Sylvar von ihren Vermutungen.
      Der Elf erhob sich und Viola legte den Kopf in Nacken um ihn weiterhin ansehen zu können. Der Anblick war seltsam, die Gewölbe des Tempels schimmerten durch seine Erscheinung hindurch wie durch zu dünnes, abgewetztes Papier.
      Sie nickte.
      "Ja, ich bin wegen des Wassers gekommen. Wenn ich meine Freunde nicht heilen kann, war das die einzige Lösung, die mir einfallen wollte", gestand sie. "Ich hatte gehofft seine Kräfte reichten aus um wett zu machen, was ich verloren habe."
      Ein trauriges Funkeln schimmerte in den grünen Augen.
      Zwischen ihren Fingern hielt sie nun den schillernden Stein. Sie hatte ihn in einer versteckten, eingenähten Tasche des Hemdes aufbewahrt, das sie unter dem Brustpanzer trug.
      "Andvari sollte hier sein und mir dir sprechen. Nicht ich. Er vermisst dich", murmelte sie. "Ich hätte ihn nicht im Unklaren über meine Pläne lassen sollen. Faolan hat ein Treffen mit mir verlangt, allein. Er fordert, dass ich ihm Andvaris Sternenlicht bringe, dann würde er sich zurückziehen."
      “We all change, when you think about it.
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    • Bei Tildas Erwähnung hellte sich das durchscheinende Gesicht des Zauberers auf und ein lebenstaubes Herz machte einen Sprung. Lächelnd sah Sylvar in die Ferne des Tempels und auf den Eingang zu, vor dem sich die schönste Natur üppig auftürmte. In diesem Lächeln stand eine Sorglosigkeit wie sie nur Tote empfinden mochten, denn selbst ob der schlechten Nachrichten nickte er nur lächelnd.
      "Albert und Mael, soso", murmelte er. "Tragisch, aber sie werden geehrt im Kreise ihrer Lieben, da bin ich sicher. Und dass Tilda noch lebt ist eine Wohltat. Ich hoffe, sie wird ein gutes Leben haben. Und mach dir keine Sorgen um die kleine Elise. Kinderaugen mögen viel gesehen haben und doch werden sie es vergessen. Wenn die Zeit es gestattet, werden sie die Wirren des Krieges als tumben Traum empfinden. Das hat die Natur so an sich..."
      Sorgsam beschloss Sylvar, der Ausführung der Heilerin nicht zu unterbrechen. Viel eher lauschte er gespannt und aufmerksam, wenngleich nicht mit Augenkontakt. Seine Hände schlangen sich um den Stab, den er auf seinen Oberschenkeln abgelegt hatte und nickte hier und dort verständig.
      "Vaeril Baumschatten", sagte er und schüttelte den Kopf. "Wahrlich ein Monstrum, dieser hirnlose Nachfahre eines Wurzelkindes. Schattenmagie nimmt Einfluss auf Auren. Es gibt viel Gerede über diesen Stamm der Magie und vieles ist nicht wahr, aber einem sei es gewiss: Kommt eine reine Aura mit der Aura der Schatten in Berührung ist es wie ein Gift und ein Schwamm. Das Licht nimmt den Schatten auf in der Hoffnung, ihn im Keim zu ersticken. Ehe es scheitert. Eine Korrumption des Kerns deiner Aura ist eine gefährliche Krankheit, Viola, derer wir Herr werden. Die Lösung ist einfach. So einfach wie vergiftet zu werden."
      Er zwinkerte ihr und grinste breit.
      "Du musst stärker sein", erklärte er. "Nun schau nicht so verdattert, liebes Kind. Es ist wahrlich so einfach. Eine Korrumption geschieht dann, wenn der korrumpierende Teil kompatibel und gleichsam stark genug ist. Sofern du also deine Art der Kontrolle aufgibst und dich der Wildheit und Ungezähmtheit deiner Kraft bedienst, wird es sein wie eine helle Lichtquelle: Der Schatten wird vergehen und verbrennen im Licht."
      Nickend erhob sich der Zauberer und schwebte vor ihr auf und ab wie es seine Lebensangewohnheit war.
      "Nun...", begann er erneut und seufzte. "Das Wasser wird sicherlich helfen, ja. Es ist heilig und spendet Heilung. Aber es heilt nur Wunden fürchte ich. Andvaris Verletzungen jedoch rühren vom Kampf mit dem Leibhaftigen, wenn du mich fragst. Er unterliegt beinahe derselben Korrumption wie du selbst. Nur dass es vermutlich anders herum ist. Da Andvari ein Bündel an ungezähmter Energie ist, ernährt sich Faolans giftige Fäulnis von dem Licht, das Andvari hervorbringt. Wenn er also Kontrolle erlernt, sollte es ihm besser gehen und seine KRaft zurückkehren."
      Schweigsam wolte er sich bereits daran machen, entsprechende Pläne zu entwerfen, ehe er nochmals herum fuhr und neugierig einen Blick auf das Artefakt in ihrer Hand warf. Woher hatte Viola so etwas Mächtiges?! Sylvar richtete sich auf und sah sie neugierig und doch leicht verägert an, nachdem sie gesprochen hatte.
      "Ich verstehe", murmelte er. "Sei dir gewiss, Viola. Ich vermisse euch auch. Aber mir geht es gut, glaube mir. Es ist ein wunderbarer Ort und kein Schmerz sucht mich mehr heim. Ich lebe und atme nun mit meinen Vorfahren und kann euch so zu diensten sein. Wir werden uns alsbald alle wiedersehen, da bin ich sicher..."
      Kurz räusperte er sich und ein silbernes Glitzern in seinen Augen verriet das Vorhandensein von Tränen, wie es schien.
      "Wie dem auch sei"; begann er erneut und klatschte in die Hände. "Es ist sicherlich eine Option, Faolan das Sternenlicht zu geben. Es würde Andvari nur seiner magischen Kräfte berauben, ihn aber nicht umbringen. Viel eher ist es jedoch wahrscheinlich, dass dieser kleine Teufel sich damit nicht zufrieden gibt. Ja, vielleicht zieht er sich zurück, aber was dann? Dann erobert er das Elfenreich und dann? Er wird keinen Halt machen. Nicht, wenn ich ihn recht einschätze."

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Die Zuversicht spendete Viola wenig Trost.
      Allzu gerne hätte sie sich auf seine Worte verlassen, dass Elise ohne nächtliche Albträume aufwuchs, deren Herkunft sie verdrängt hatte. Sie sollte sich nicht ihr Leben lang die Frage stellen, was in den frühen Tagen ihres Lebens mit ihr geschehen war. Viola wusste, wie sehr das Wissen quälen konnte, weil es nichts gab, das dagegen getan werden konnte. Den eigenen Bruder sterben zu sehen, grausam hingerichtet von fürchterlichen Schattenmonstern, vergaß der Geist nicht. Es würde Elise bis ans Ende ihrer Tage begleiten, so wie es die Heilerin begleitete. Nacht für Nacht. Tag für Tag. Wenn die Götter es so wollten, würde das lebensfrohe Mädchen eines Tages jemandem begegnen, der ihr half, die Bürde der Vergangenheit zu schultern.
      Viola stutzte.
      Die Traurigkeit im Blick des Elfenzauberers überraschte die junge Frau. Hatte er gerade gesagt, sie würden sich bald wiedersehen? Die Worte kamen ihr nicht länger tröstlich vor, sondern eher wie ein unheilvolles Vorzeichen. Sie nannte sich im Stillen eine Närrin. Natürlich würde sie Sylvar bald wiedersehen, wenn die elfischen Götter ihr gewogen waren. Sie war sterblich und ihr Leben nicht mit als ein flüchtiger Augenblick in dieser Welt. Viola nickte stumm.
      Sie ließ sich all das Gesagte gründlich durch den Kopf gehen und kam zu einem Entschluss. Vielleicht war es ein besserer, als Andvari allein in Bourgone der Ungewissheit zu überlassen. Vielleicht war es klüger, als seine Freunde dem Zorn des Lichtrufers auszusetzen.
      "Wenn dem so ist, dürfen wir keine Zeit verlieren, Sylvar", murmelte sie.
      Viola legte zwei Finger an die Lippen und stieß einen gellenden Pfiff aus, der durch die Tempelruine hallte. Wenige Augenblicke später ertönte das helle Kreischen eines Raubvogel über ihren Köpfen. Aus luftiger Höhe stürzte Isobelle aus dem Himmel und durch die Baumkronen hinab, die das Dach des Tempels bildeten. Beinahe sanft landete der Greifvogel auf dem ausgestreckten Arm der Heilerin.
      "Faolan hat mir eine Frist von einer Woche eingeräumt um eine Entscheidung zu treffen. Wenn ich ihm am Ende dieser Frist nicht das Sternenlicht aushändige wird er Bourgone dem Erdboden gleichmachen. Wir brauchen Andvari in voller Stärke, um eine Chance zu haben. Die Streunende Armee muss sehen, dass ihre Führung nicht machtlos ist. Die Generäle müssen bereit sein für eine Schlacht."
      Sie zückte ein zerknittertes Blatt Papier aus ihrer Tasche, das sie in aller Hast beschrieb.
      Etwas umständlich mit Isobelle auf dem Arm, aber am Ende befestigte sie die Nachricht sicher an Fuß der Vogels.
      "Andvari muss zum Tempel kommen. Irgendwie. Er benötigt die Quelle und deine Weisheit ebenso sehr wie ich. Vielleicht noch dringender. Ob er es will oder nicht, auf ihm liegt unsere gesamte Hoffnung."
      Mit einem Ruck beförderte sie Isobelle zurück in die Luft, die sogleich gen Horizont davon schoss. Sie kannte den Weg nach Hause.
      "Wir können nur hoffen, dass er einen Weg findet", murmelte Viola.
      Sie wusste nicht, dass im Schatten der anbrechenden Dunkelheit eine zierliche, langgliedrige Gestalt in das Zimmer des weißhaarigen Elfen einbrach um den perfiden Plan einer verzweifelten Frau auszuführen. Die Comtesse hatte ihre fähigste Spinne mit einer vergifteten Nadel ausgesandt um die Bedrohung auf ihre Macht auszumerzen. Ein winziger Stich, kaum sichtbar und unauffällig am Haaransatz platziert und niemand würde wissen, was den Elf im Schlaf dahin gerafft hatte.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Die meisten Fenster starren blind und leer zu dir empor
      Wie Augen, die auch Münder sind
      Sie schreien stumm im Chor
      Die Fenster rufen stumm und blind



      Der Elf schlief.
      Schmerzgebeutelt, verwirrt und wütend hatte man ihm am späten Abend von der Rückkehr seiner Freunde berichtet. Der Rückkehr von Melion, Volgast und Alarion. Sie alle waren wohlauf und wirkten nicht angetastet von dem Wahnsinn, der sie alle ergriffen hatte. Zu sagen, Andvari wäre gnädig mit den Seinen gewesen, sollte eine Untertreibung bleiben. Bereits am vorherigen Morgen, als er die Wärme seiner Geliebten schmerzlich vermisste, hatte er gewusst, dass sie diesmal den Weg alleine bestreiten wollte. Dieses Mal? Schulterte sie nicht immer die Last ihres Seins ohne Gesuch nach Hilfe und Unterstützung? Dunkle Gedanken hatten ihn über Stunden verzehrt, als er sich selbst in Vorwürfen und Wut zerfleischte. Lhoris und Lucien hatten die gesammelte Wut des Fürstensohnes abbekommen, als dieser aus dem Nichts zu schreien begonnen hatte und beinahe seine Magie in den Wirren seiner Schmerzen wieder fand. Mit brennenden Lohen hatte er die Dekorationen der Zimmer völlig verwüstet und den Stein versenkt, welcher die Türzarge trug.
      Erst nach Stunden hatte er sich beruhigen lassen, ehe man ihm sein Schwert nicht hatte bringen wollen und er auch die Rüstung, mit der er angekommen war, nicht mehr alleine anziehen konnte. Der Tempel der Meriel.
      Warum in vieler Bäume Namen wollte sie dahin? Sicherlich, das Wasser beschleunigte die Heilung, aber die Reise war gefährlich und beschwerlich. Und der Handel von Faolan...Das alles war zu viel für Andvari für diesen Abend gewesen. In einem letzten Schrei der Wut, der selbst die Heilungsbrüder verschreckt hatte war er unter blutigem Husten und Schwäche zusammen gebrochen und gerade so an einer schweren Kopfverletzung vorbei geschrammt. Lhoris hatte ihn gefangen, ja das stimmt. Sein Freund hatte ihn aufgefangen und ins BEtt gelegt. Und jetzt lag er hier, verborgen unter einer Felldecke und mit Schmerzen am ganzen Leib.
      Zerfressen von Wut und Trauer hinsichtlich der Geheimniskrämerei, welche die Frau, die er liebte...
      War es recht, sich aufzuregen? War es recht, ihr vorzuwerfen? Ja, war es! Sie hatte gelogen. Willentlich. War erneut alleine aufgebrochen und sich mit seinem Bruder, dem Erzdämon des Elfenreiches getroffen, um einen Handel auszuloten, der ihm seine Magie kosten würde.
      Der Schlaf war leicht und beinahe nicht vorhanden. Andvari spürte die kühle Luft im Raum, welches eine Brise des Windes von den Bergen einließ. Beinahe war es ihm, als könnte er den eiskalten Hauch seines Bruders vernehmen, wenn er sich genau konzentrierte.
      Der Körper des Elfen war beiernd schwer und kaum in der Lage, sich zu regen, ehe er ein Geräusch vernahm.
      Windesgleich und beinahe nicht zu hören, aber dort war es. Hinten in der Ecke, unweit der Tür und dem offenen Fenster, das noch Brandspuren zierte. Geschulte Augen vermochte zu erkennen, was ein Aurenstoß eines wütenden Prinzen auswirken konnte, wenn man die verschobenen Möbel und gleichsam versenkten Fensterkanten betrachtete.
      Jemand war hier.
      Es war schwer zu hören, aber da war ein Atem. Flach, geübt und flüstergleich. Und er kam näher. Doch auch wenn die Gefahr gegenwärtig erschien, konnte er sich nicht bewegen oder dem entgegen wirken. Er spürte denjenigen. Roch ihn. Hörte ihn. Und doch...Er konnte die Augen nicht öffnen...Noch nicht.
      Andvari spürte die die Kraft, schwach und gezielt in seine Hand schoss und sich bewegen ließ.
      Just in dem Moment, in welchem die Spinne ihren Stich anzusetzen suchte, griff er nach dem schlanken Handgelenk und öffnete ein Auge.
      "Wer bist du?", zischte er und warf die Spinne mit einem Ruck seines Leibes zurück, ehe er sich aufsetzte und die Beine aus dem Bett schwang.

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Unheilvoll blitzte die silbrige Nadel im Dämmerlicht.
      Ein winziges Stückchen noch und das Schicksal des Elfen wäre besiegelt. Das Gift, das die Nadel überzog, war so potent, dass ein winziger Stick vollkommen ausreichte. Die Lähmung und Atemnot stetzten binnen des Bruchteils einer Sekunde ein und lähmten zunächst den gesamten Bewegungsapparat. Erreichte das Gift die inneren Organe, führten deren Versagen und letztentlich das Kollabieren der Lunge zum Tod. Ein schnelles Ende innerhalb weniger Sekunden und ein Rätsel für alle Heilkundigen, da es keine offensichtliche Verletzung gab. Den kleinen Einstich im Haaransatz hatte noch niemand gefunden, denn die Nadel war dünn, gläsern aber in ihrer gesamten Länge mit einer Stricknadel zu vergleichen.
      Die lautlose Spinne konzentrierte sich darauf, die eigene Atmung so flach wie möglich zu halten. Sie wusste um die geschäften Sinne der vermaledeiten Spitzohren und ging deshalb mit äußerster Vorsicht vor. Die zierlichen Füße steckten nicht in festem Schuhwerk, sondern stabilen Bandagen, die sich bis über die Knöchel schlängelten um das Gelenk beim Klettern genügend zu stabilisieren. Das war auch der Grund, warum niemand die kleine Gestalt bemerkt hatte. Die Spinne war über die Dächer der Abtei in den Innenhof gelangt und durch die Gärten zu seinem Ziel geschlichen. Da die Dunkelheit langsam um sich griff, hatte niemand den flinken Schatten zwischen Sträuchern, Mauern und Häuserwänden bemerkt. Durch das fahrlässig geöffnete Fenster, um die von Krankheit und Verletzung stickige Luft aus dem Zimmer zu lassen, war sie hinein gelangt. Die Mission hatte ein Kinderspiel werden sollen, doch da machte das Spitzohr ihr einen Strich durch die Rechnung.
      Ein kräftiger Griff, erstaunlich stark für einen kränklichen Elf, packte ihr Handgelenk.
      Die Spinne schnappte erschrocken nach Luft und wurde im selben Augenblick bereits im hohen Bogen vom Bett geschleudert. Ächzend rollte die zierliche Gestalt über den Steinboden und blieb mit dem Gesicht zur Wand liegen. Regungslos verharrte der kleine Leib am Boden bis ein Zucken durch die Schulterblätter der Spinne fuhr. Die vermummte Gestalt rappelte sich stöhnend auf, denn Rücken und Schultern schmerzten vom Aufprall.
      "Dein Ende, Spitzohr...", zischte es unter der Kapuze.
      Die Spinne zog die Beine an und stieß sich vom Boden ab. Leichtfüßig stürzte sie auf den Bett zu, die Nadel noch immer fest in den Händen.
      Tatsächlich lief diese Spinne auf zwei Beinen und hatte im Grunde nichts mit den achtbeinigen Krabbeltieren gemein außer der Vorliebe für Gift und der Angewohnheit sich ihren Opfern hinterrücks und pfeilschnell zu nähern. Der Vorteil eines Hinterhaltes war zwar verpufft, aber flink war die menschliche Spinne dennoch. Bei dem nun offensiveren Angriff fiel die Kapuze etwas zurück und offenbarte das Gesicht eines hageren Jungen mit stechend, blaugrüne Augen. Er war dem Kindesalter entwachsen, aber hatte auch das Mannesalter noch längst nicht erreicht. Sommerspoßen besprenkelten seine Wangenknochen und ein paar Strähnen kastanienbraunen Haares, das im Dämmerlicht einen deutlichen Rotstich besaß, lugten unter der verruschten Kapuze hervor.
      Er prallte gegen den geschwächten Elf und versuchte die Nadel erneut in seinen Hals zu stechen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Der Tod.
      Es war einfach, eine Kriegerausbildung in den Elfenlanden zu erhalten. Die meisten Elfen wurden in der Kunst des Krieges unterwiesen und unterwarfen sich zumeist einem Leben lang der Krücke des Kampfes. Man erlernte die Basiskämpfe mit dem Schwert, dem Bogen und anderer Kampfesarten, ehe man eine Spezialisierung nach drei Jahren antrat. Zumeist handelte es sich um Spezialisierungen mit seiner Lieblingswaffe oder anderen Kampfesarten, die man bevorzugte. Andvari jedoch hatte diesen Luxus nicht genossen. Seit seiner Geburt und seiner Aufnahme in das Königshaus von Tirion war er als General ausgebildet worden. Kampf und Ehre waren die höchsten Güter, die man seiner Ausbildung angedeihen ließ und selten wurde ein Fehler verziehen. Ein gut ausgebildeter Soldat vermochte nicht nur einen realistischen Einblick in seine Fähigkeiten geben, er vermochte es auch, die Stärke seines Gegners einzuschätzen, in Abwägung seiner eigenen Kraft.
      Und selten, sehr selten, war Andvari ein Feind begegnet, bei dem er den Tod im Hintergrund spüren konnte. Doch nun, da er geschwächt war und sich auf wackeligen Beinen aus dem Bett erhob, bemerkte er den Leistungsabfall seines Leibes nur noch deutlicher. Leeren Verstandes betrachtete er die Spinne, auf leisen, geschickten Sohlen ihren Angriff vollzog. Gekleidet war die Spinne wie ein Attentäter. Unauffällig und beweglich. Clever, betrachtete man die Lage, in welcher er oder sie arbeitete. Erst beim Herannahen bemerkte Andvari, dass sich die Kapuze gelöst und ein jungenhaftes Gesicht entlassen hatte.
      Kaum ein Mann, mehr noch ein Kind, dachte der Elf und überdachte einen Moment zu lange seine Position. Mit einem Ächzen prallte die Spinne gegen ihn und warf ihn zurück, gegen die Wand. Da war es wieder. Der Tod. Nahe und unbarmherzig konnte er den eisigen Griff um seine Kehle spüren, als der junge Mann angriff und seinen Hals mit der schönen Glasnadel suchte.
      Nicht in den Hals, dachte der Elf und riss den Kopf zurück, um dem Hieb auszuweichen. Mit einem Krachen prallte er mit dem Hinterkopf gegen die Wand des Baus und sah einen Moment lang rote Schmerzblitze vor Augen auftauchen. Stöhnend wankte Andvari ein wenig hin und her und vermochte dem zweiten Hieb des Jungen nicht mehr auszuweichen. Schmerzhaft bohrte sich die Nadel in seine rechte Schulter.
      Der Junge musste sie gedreht haben. Vielleicht auch nicht. Nichtsdestoweniger wurde Andvari übel just in der Sekunde, in welcher eine gleißende Hitze in seinem Fleisch spürte, der eine bittere Kälte folgte. Mit einem Stöhnen schoss die Hand des Elfen vor und ergriff das freie Handgelenk der Spinne.
      Die Wut in Andvaris Augen, die sich wie Speere in die der Spinne gruben, mochte nicht gemessen zu werden.
      "Ich nehme deine Hand", flüsterte er und drehte das Handgelenk des Jungen ruckartig in eine Richtung, der die Muskeln nicht folgen konnten.
      Erst zufrieden war der Elf, als er das jämmerliche Krachen im Handgelenk hörte und sogleich darauf die Knochen erblickte, welche die Haut des Jungen verbeulten.
      "Nimm es als Lehre, Kind", sagte Andvari und sah ihn an. "Mich tötet dein Gift nicht. Geh und scher dich fort. Lass mich dein Gesicht nicht mehr sehen, Bursche, sonst nehme ich das nächste Mal deinen Kopf."
      Nun, zumindest die letzte Sache war deutlich genug keine Lüge. Das mit dem Gift war eine andere Sache. Er spürte bereits die Kälte in seinem Arm und wie sie sich durch seinen Körper fraß.

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Das verdammte Spitzohr wollte einfach nicht still halten.
      Obwohl die vergiftete Nadel das eigentliche Ziele verfehlte, bohrte sich das heimtückische und zerbrechliche Mordwerkzeug in die rechte Schulter des Elfen. Frustriert aber mit dem ungebrochenen Willen zu töten, drehte der Bursche die Nadel ruckartig herum. Die Nadel trieb er damit noch tiefer in das geschwächte Fleisch, durchstach Muskeln und Blutgefäße. Der Junge wirkte wie besessen. Sein Griff um die Nadel verfestigte sich bis die Knöcheln auf auf seinem Handrücken weiß hervor stachen. Ein wenig Durck noch, nur ein kleines Bisschen. Die Sollbruchstellen im Glas gaben mit einem Knischen nach und die gläserne Nadel zersplitterte in winzigkleine Scherben, die sich überall auf dem Boden verteilten. Der restliche Teil blieb einfach in der Schulter des Elfen stecken. Der Versuch, die Überbleibsel der Nadel zu entfernen, würde allerdings nur dafür sorgen, dass das filigrane Instrument weiterbröckelte. Durch den ersten Bruch war die Struktur instabil und brüchig.
      Die Spinne konnte den Triumph nicht lang genug auskosten, da schlossen sich erstaunlich, kräftige Finger um sein anderen Handgelenk.
      Ein ekelerregendes Knacken erfüllte das spärlich eingerichtete Zimmer, gefolgt von einem gellenden Schmerzschrei des Jungen. Das ausgemerkelte Handgelenk schnappte entzwei wie ein dürrer Ast. Beim Anblick des Knochens verlor der Bursche jegliche Farbe im Gesicht. Er stolperte zurück und sackte jämmerlich am Boden zusammen. Vor Schock starrte er auf seine Hand, die in einem unnatürlichen Winkel zur Seite geknickt war. Ein zweiter Schrei hallte bis in den letzten Winkel des Gemäuers und endete in einem bitterlichen Wimmern.
      Trotzdem schimmerte der Wahn in den jugendlichen Augen.
      Ein merkwürdiges Geräusch zwischen Schluchzen und Lachen ertönte vom Boden, wo der Junge zusammengekauert saß. Tränen liefen ihm über die sommersprossigen Wangen.
      "Lügner", presste er zwischen den Zähnen hervor. "Ihr Spitzohren seid alle gleich. Denkst du wirklich, du bist der Erste? Spürst du die Kälte schon? Fällt das Atmen schwer?"
      Geräuschvoll flog in diesem Augenblick die Tür auf und Lucien stürmte in den Raum.
      Dicht auf den Fersen folgten Meister Greneau, Lhoris und zwei verblüffte Wache, die bis zum den schmerzerfüllten Gebrüll des Jungen nichts bemerkt hatten. Das würde Konsequenzen nach sich ziehen. Lucien näherte sich Andvari und riss den einfachen Wams an der betroffenen Schulter zur Seite.
      "Er ist vergiftet", zischte er.
      Greneau trat mit sorgenvoller Miene neben seinen Prinzen und stieß ein Seufzen aus. Aus den Taschen seiner Kutte zog er ein Tuch und schmierte eine zähe, grünliche Paste darauf, die er auf den Einstich drückte.
      "Ich kann die Ausbreitung verlangsamen und die Symptome lindern", stellte er die vernichtende Diagnose."Der Stich ist weit genug vom Herzen entfernt, um uns wenigstens ein wenig Zeit zu schenken. Aber nicht genug. Ich habe sowas schon einmal gesehen. Sobald wir versuchen die Überreste der Nadel herauszuziehen, bricht das Glas weiter. Die Splitter zu entfernen ist dann so gut wie unmöglich. Dafür brauchen wir Magie."
      Lucien kochte vor Wut und stampfte auf den wimmernden Jungen zu.
      "Du! Ich befehle dir, mir den Namen deines Auftragsgebers zu nennen!", pollterte der Menschenprinz. "Hast du deine Befehle von der Comtesse erhalten!? Bist du eine ihrer Spinnen!? Sprich, verdammt nochmal!"
      Der Junge presste die Lippen zusammen. Erst sah es aus, als würde er schweigen, dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem Grinsen, dass an Wahnsinn grenzte. Gleißender Schmerz und etwas viel Beunruhigenderes funkelte in seinen Augen.
      "Sie ist großzügig", wisperte er manisch. "Großzügig und gütig. Macht mit mir, was Ihr wollte. Ich werde Euch keinen Namen nennen, aber ich kann friedlich sterben, jetzt da ich den Mörder meiner Familie gefunden und zu Rechenschaft gezogen habe."
      "Was redest du für einen Unsinn, Junge...", fragte Lucien.
      "Der Bursche ist nicht bei Sinne, mein Prinz", gab Greneau zu bedenken, während er Andvari notdürftig versorgte.
      "Sie hat gesagt, er hat sie getötet. Meine Familie. Er ist der Mörder!", keifte die Spinne und zeigte mit einem knochigen Finger auf Andvari, ein irres Leuchten in den grünblauen Augen. "Mörder! Du hast sie alle abgeschlachtet. Du hast mir meine Eltern und meine Schwester weggenommen!"
      “We all change, when you think about it.
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      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Lhoris flog wie ein Derwisch hinter dem Prinzen der Menschen in den Raum.
      Die Wut stand einem stillen Mahnmal gleich auf dem hageren Gesicht des Elfen, dessen Augen fahrig durch den Raum glitten. Er sah das zerwühlte Bett, die ungeworfenen Möbel und einen Elfen, der sich den Arm hielt. Den Jungen in der Ecke bemerkte er erst gar nicht, ehe er zwei Schritte in den Raum unternahm.
      "Mein Fürst...", murmelte Lhoris und fuhr in dem Moment herum, als Lucien den Jungen in der Ecke ansprach.
      Bei den Bäumen, das war ein Kind! Die roten Haare, die Sommersprossen und dieser hagere Bau. Er war doch kaum dem Kindesalter entstiegen. Kurz sah er den Jungen an, wärhend dieser in Richtung von Andvari zu schimpfen begann. Rasend fuhr er herum und bemerkte, dass Greneau bereits bei seinem Fürsten war und die vermeindliche Einstichstelle begutachtete.
      Ein Attentäter...Vergiftet...Andvari war vergiftet...
      Lhoris Hirn schien nicht mehr fähig, weitere Gedanken zielsicher zu treffen. Er sah in die Augen des Prinzen und sah in Andvaris Blick nicht viel mehr als Angst. Der Junge hatte Recht. Das Atmen des Elfen war ruckartig, beinahe abgehackt. Der Arm hing nutzlos an seiner Seite herab und bei einer Berührung des Schmiedes fühlte die Stelle sich eiskalt an.
      "Du!", knurrte Lhoris und wirbelte zu dem Jungen herum, der weinend in der Ecke kauerte. "Ich scheiße auf Eure Befehle, Prinz!"
      Ein Krachen erfüllte den Raum. Fein zwar, jedoch gut hörbar platzte die Haut an seinen Unterarmen auf wie trockener Sandschein. Dazwischen schien frische Glut zu schimmern, die den Raum leicht aufheizte, während er näher zu dem Jungen kam. Er würde ihm seine Gedärme herausreißen und ihm selbst zu fressen geben. Wie konnte dieses Geschöpf, diese Kreatur, dieses...dieses...Diese Abart eines Menschen den Elfen angreifen, der sie alle schützen sollte und wollte?! Die Ungerechtigkeit durchfraß die Logik termitengleich, während Lhoris sich mehr und mehr dem Jungen näherte. Als er auf Reichweite angekommen war, holte er mit der Faust aus.
      "Ich trage deinen Kopf zu deiner Familie, Menschenkind!", zischte Lhoris.
      "LHORIS!"
      Andvaris Stimme war dünn geworden und notdürftig tat Grenau alles, was er konnte. Doch sein rechter Arm war bereits taub und kalt und reagierte nicht mehr auf Muskelbewegungen. Es wäre demnach vermessen gewesen, auch nur zu überlegen, in Richtung seines Freundes zu rennen und ihn aufzuhalten. Glücklicherweise ließ sich Lhoris vom Klang der Stimme zumindest aufhalten und ließ die Faust sinken.
      "Es reicht", murmelte Andvari und nickte dem Heiler Grenau zu. "Ich danke Euch, Meister. Es ist gut, wie es ist. Das Gift verteilt sich, aber dies tut es langsam und ich habe noch Zeit. Doch wenn du diesen Jungen jetzt tötest, Lhoris, sind wir nicht besser als diese anderen."
      "Er wollte dich töten!", empörte sich Lhoris und die Risse auf seinen Armen leuchteten intensiver und heißer.
      "Das ist wahr", nickte Andvari und versuchte zu kaschieren, dass ihn die Kraft verließ. "Das hat er versucht. Doch es ist ihm nicht gelungen. Also lassen wir es dabei. Er wird seine Hand eine Weile nicht nutzen können und Schmerzen leiden. Das sollte genug sein."
      Zu dem Jungen hingegen sah der Prinz hinüber und schleppte sich mit letzter Kraft zu der Spinne.
      "Deine Familie", begann er und sah hinab zu der kauernden Gestalt. "Wie starb sie? Wo starb sie?"

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    • Mit weit aufgerissenen Augen sah der verletzte Junge dem vor Wut rasenden Elf entgegen.
      Obwohl eine Hand völlige nutzlos in seinem Schoß lag, robbte der Bursche angsterfüllt vor Lhoris davon. Die Hitze, die von dessen Arm ausging und sich im gesamten Raum verteilte, glühte auf seinem Gesicht, als hätte die zum Schlag erhobene Hand ihn bereits getroffen. Wo zuvor lediglich Schmerz und Wahnsinn einen Schleier über seine Augen gelegt hatten, zeigte sich nun blanke Panik. Greneau, dem Gewalt gegen Kinder, und für ihn war der Junge trotz eines versuchten Attentats noch ein halbes Kind, wollte sich todesmutig dem zornigen Elf entgegen stellen. Da durchbrach eine dünne, geschwächte Stimme den Raum. Trotz der fehlenden Lautstärke, hielten plötzlich alle im Raum still. Lhoris schnaubender Atem und das Wimmern des Jungen waren ein paar die einzigen Geräusche im Raum.
      Die Spinne presste sich mit dem Rücken gegen die Wand und zog die Beine an den Körper. Er machte sich so klein wie möglich, vor dem weißhaarigen Elf, der sich mühevoll in seine Nähe schleppte. Verwunderung huschte über das hagere Gesicht mit den eingefallenen Wangen und den tiefen Augenringen. Er verstand nicht, dass der Elf immer noch auf beiden Füßen stand, da das Gift ihn eigentlich in die Knie zwingen sollte. Hatten sie ihn belogen und den Wölfen zum Fraß vorgeworfen? Eine Straßenratte, die niemand vermissen würde?
      Der Weißhaarige, der Mörder, den ihm alle präsentiert hatten, sah auf ihn herab.
      Seine Schritte waren schwer, er schlurfte mehr als dass er wirklich die Füße beim Gehen anhob. Der Junge leckte sich über die Aufgesprungenen Lippen und stierte lauernd zu dem Elf auf. Zorn flammte in den grünblauen Augen auf.
      "Du erinnerst Dich nicht einmal daran?", krächzte er. "Warum auch? Für Deinesgleichen sind wir nicht mehr als lästiges Ungeziefer!"
      Der Tonfall war abfällig und vollkommen uneinsichtig.
      Er hatte Schmerzen. Er hatte Angst.
      Sich dem Feind beugen, würde er allerdings nicht. Sollte der hochgewachsene Elfenkrieger mit dem glühenden Arm ihm ruhig den Hals umdrehen. Er hatte ein reines Gewissen.
      "Aber ich helfe deinem Gedächtnis gerne auf die Sprünge, Bastard", zischte er, die Stimme wackelig vom Schmerz und das Gesicht fast leichenblass. Greneaus hatte sich des kraftlosen Jungen bemächtigt, der in seinem Griff hoffnungslos strampelte und sich den helfenden Händen zu entwinden versuchte. Mit Müh und Not stoppte der alte Heiler die Blutung, die aus dem zerrissenen Handgelenk tröpfelte, schnürte einen Gürtel unterhalb des Ellbogen um den Arm. Eine Wache hielt den Jungen nun in einem eisernen Griff.
      "Ein kleines Dorf in der Bauernprovinz Rouen am Fuß des Schneegebirges. Bauern, Viehhirten...überrannt von deinen Soldaten und der Nachhut zum Fraß vorgeworfen! Meine Mutter sagte ich solle rennen, so schnell ich kann. Sie haben sie erschlagen, genau wie Vater. Und meine Schwester...ich konnte ihre Schreie hören. Sie haben sie durch die Asche unseren Zuhauses gezerrt wie ein Schaf zur Schlachtbank."
      Seine Stimme wurde leise, brüchig.
      Die Muskeln in Luciens Augenwinkel zuckten.
      "Setz dich, Andvari. Jede Anstrengung verteilt das Gift schneller. Wie haben keine Zeit für eine ausführliche Befragung. Er hat versucht dich zu töten und hat es vielleicht sogar geschafft. Wir brauchen eine Lösung. Jetzt. Ob er es abstreitet spielt keine Rolle. Dieser Angriff trägt die Handschrift der Comtesse und sie wird dafür bezahlen", sagte Lucien an den Elfen gewandt und sah wieder zurück zu dem jungen Mann, zu dem Kind.
      "Aber ich rannte. Weit, weit weg", wisperte dieser und begann unablässig zu murmeln, während er sich im Griff der Männer vor uns zurück wog. "Ich war nur Kind...ich war nur Kind."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
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    • Angst stand dem Jungen mehr als ausreichend gut. Und mit Genugtuung bemerkte Lhoris die Wirkung seiner Kraft auf das Menschenkind. Recht so, dachte der Schmied und lauschte gemeinsam mit den Anderen der Geschichte des Jungen.
      Und auch wenn er zugeben musste, dass diese nicht weniger tragisch als ihrer aller Geschichten war, so war es dennoch nicht recht, was er hier getan hatte. Andvari sah schrecklich aus. Bleich und grau im Gesicht und kaum fähig, sich selbst auf den Beinen zu halten. Es blieb ihnen nicht viel Zeit und noch weniger, wenn man sich diesem Jammerbündel von Mensch annahm.
      Doch der Elfenprinz lauschte aufmerksam.
      "Ich erinnere mich nicht", begann er mühsam und nickte. Die Zunge wurde ihm schwer. "Ich erinnere mich nicht an dein Dorf. Ich weiß und verstehe, dein Verlust ist groß, Menschenkind. Aber ich fürchte, ich bin der Falsche für deinen Zorn. Und ich weiß, dass es nichts gibt, was ich tun kann, um diesen zu lindern."
      Langsam tat er noch einen Schritt auf den Jungen zu und schüttelte den Kopf.
      "Nein, nichts macht es wieder gut und bringt zurück, was du verloren hast", sagte er weiterhin und legte den Kopf leicht schief. "Dennoch wird es nicht die Rache sein, die dir das zurückbringt was du verloren hast. Ich verspreche dir jedoch, dass ich den Mörder der Deinen finde und ihn seiner Strafe zuführe."
      Auf Luciens Ansprache hin nickte der Elf und seufzte unter der Last seines eigenen Leibs.
      "Es gibt keine Lösung, die Ihr mir anbieten könntet", murmelte Andvari.
      "Was meinst du damit?!", donnerte Lhoris.
      "Ich meine, dass dieses Gift bereits tief in mir ist und sich verbreitet wie eine Wildwurzel, alter Freund."
      "Und das heißt?!"
      "Das heißt, dass nichts, was Meister Greneau und die Heilkunst der Menschen aufbringen können, mir helfen werden. Ich spüre, dass mein Leib schwerer und kalt wird. Das Gift hat bald schon mein Herz in Beschlag und wird sich hindurch fressen...Es sei denn..."
      "Es sei was?!""
      "Meriel", flüsterte Andvari und seufzte. "Ich gehe zum Tempel. Wie Viola."
      Der Name fühlte sich bereits fremd auf seiner Zunge an. Noch immer war er wütend und gleichsam verletzt von dem Vertrauensbruch, den sie voillzogen hatte. Aber die Kräfte der Göttin waren das einzige, was helfen konnte.
      "Das ist viel zu weit, Andvari", sagte Lhoris und drehte sich zu seinem Freund um. "Comtesse hin oder her, du wirst die Reise nicht schaffen. Es sind zwei Tagesritte, alleine zum Treffpunkt. Und von dort aus nochmal das gleiche. Ehe du dort bist, ist dein Leib kalt."
      "Nicht mit dem Sprung. Ich springe durch das Licht."
      Energisch schüttelte Lhoris den Kopf.
      "Das ist Wahnsinn! Lucien! Sagt diesem Hornochsen, dass es wahnsinn ist!", krächzte Lhoris. "Deine magische Kraft reicht nicht aus für einen Sprung in dieser Weite. Das was jetzt noch das Gift zurückhält, wird verschwinden und du wirst binnen Sekunden sterben. Du kannst nicht mal deine Wunden heilen, wenn du dort aufschlägst. Du wirst leer und tot dort ankomen!"
      "Und doch ist es unsere einzige Wahl..:"

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell

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    • Mitleid und Bedauern spiegelte sich im Blick von Meister Greneau.
      Der oberste der Heilkundigen beobachtete äußerst besorgt, wie der Junge sich langsam der Realität entzog und der Zorn auf die heimtückische Comtesse wuchs ins Unermessliche. Ein traumatisiertes Kind für seine böswilligen Zwecke zu benutzen, war mehr als verwerflich. Die Adlige schreckte offensichtlich auch davor nicht zurück. Greneau machte nicht den Fehler, die Bedrohung als gebannt zu betrachten. Die Überzeugungskraft der Comtesse war nicht zu unterschätzen. Er glaubte nicht, dass ihr Einfluss auf den Jungen gebrochen war. Das Verständnis von Andvari überraschte den alten Heiler, zeugte aber auch von dem guten Herzen, das Viola ihm versichert hatte.
      Er seufzte lang und sorgenvoll als der vergiftete Elf seinen Entschluss fasste, blieb aber an der Seite des Jungen. Ein unablässiges Gemurmel entfloh den rissigen Lippen. Beruhigend redete er mit dem verletzten Burschen und schaffte es sogar einen prüfenden Blick auf das gebrochene Handgelenk zu werfen. Nichts, was die Zeit nicht heilen würde. Er machte sich mehr Sorgen um den Verstand des Jungen.
      "Kannst du mir deinen Namen sagen, Junge", murmelte der Alte.
      "Ich weiß ihn nicht mehr. Ich erinnere mich nicht...Ich, ich...", murmelte er fast kaum hörbar und beinahe manisch. Mit der unverletzten Hand griff er sich in den wilden Haarschopf. "Ich,...ich erinnere mich...? Val...Meine Schwester nannte mich Val."
      Lucien hingegen hatte sich abgewandt und sah Andvari ebenso verständnislos an wie dessen Schwertbruder.
      "Es ist Wahnsinn, Lhoris", raunte er. "Eine Alternative gibt es nicht. Andvari stirbt, wenn er bleibt. Was macht es also für einen Unterschied, wenn er diesen...Sprung wagt? Er sollte jede Chance ergreifen, die sich ihm bietet."
      Die Erfolgsaussichten waren mehr als ernüchternd.
      Lucien kannte den heiligen Tempel lediglich aus Kindergeschichten. Er stellte beschämt fest, dass er sich sein ganzes Leben lang nicht wirklich für die Legenden des Elfenvolkes interessiert hatte. Verpflichtungen gegenüber der Krone zwangen ihn sich diesen Dingen zu stellen, die er lange Zeit als nichtig empfunden hatte. Darüber hinaus brauchte er Andvari als seinen Verbündeten. Andvaris' Tod konnte das gesamte Kartenhaus zum Einsturz bringen.
      "Geh. Ich kümmere mich um die Comtesse", versprach er.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Andvari lauschte dem Gespräch nicht mehr wirklich.
      Seine Nerven lagen blank und waren sogleich doch ertaubt. Der Arm an seiner Seite war nutzlos und kalt und das Gift fraß sich durch seine Glieder gleich einem Parasiten, der nichts als einen Piepton in seinem Geist hinterließ. Schwerlich konnte er der Unterhaltung folgen. Die Stimmen klangen tumb und beinahe wie Vibrationen im Raum.
      Lange würde er nicht mehr stehen können. Geschweige den Atmen. Es fiel schwer. So unendlich schwer.
      Erst bei dem Namen des Jungen zuckte der Elf beinahe zusammen. Val. Ein Rumoren in seinem Hinterkopf ließ ihn schwanken und nur durch Lhoris Arm nicht fallen. Vielleicht rief der Elf seinen Namen. Vielleicht sprach er auch laut mit ihm. Für Andvari war es ein lautes Summen. Ein Schreien im Orkan. Ruhig lehnte er sich an seinen Freund und Kameraden und sah in Richtung des Jungen.
      Wie hatte er so blind sein können? Die Ähnlichkeit war nicht gerade frappierend aber die Geschichte des Jungen. Rouen. All diese Namen blieben ihm im Dunste scheinbar verborgen.
      Er konnte das Gesicht des Jungen nicht mehr sehen, als er zögerlich seine Schritte zu ihm machte. Lhoris stützte ihn und noch während Andvari nach dem kläglichen Rest seiner MAgie suchte, sah er zu dem Schatten hinunter, der Violas Bruder sein mochte. Oder auch nicht sein mochte.
      "Val...", sagte er, hörte aber seine eigene Stimme durch das Rauschen seines Blutes nicht mehr. Wie konnte er sich gleichsam müde und agitiert fühlen? "Ich kenne...Weiß...Viola...Wo sie ist..."
      Ruhig stolperte er leicht, doch fing sich mit einem raschen, kleinen Ausfallschritt. Er hatte nicht viel Zeit. Er musste springen.
      "Ich springe", sagte er. "Gebt mir den Jungen mit. Ich...Ich sehe euch nicht mehr."
      Andvari bemerkte nicht, dass er aus Reflex so laut sprach, dass seine müde und ausgezehrte Stimme einem Donnergrollen gleich kam, das selbst Lhoris erstarren ließ.
      "Ich nehme ihn mit..."
      Wie sollte er das anstellen? Es würde dem Jungen einige Knochen brechen, so wie es Andvari beinahe zerlegen würde. ein Sprung dieser Weite war kaum auszuhalten und würde panische Schmerzen bedeuten. Beinahe geistergleich griff er nach der vermeintlichen hand des Jungen.
      Und ohne zu spüren, ob er sie ergriffen hatte richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Magie, die seinen Körper durchfloss. Mit der letzten Körperkraft zog er vermeintlich den Jungen an sich und atmete schwer. Die Magie um seinen Leib begann sich zusammen und sirrte in der Luft, während das Licht ihre beiden Körper einhüllte und mit der Aura verschmelzen ließ. Bereits das zehrte sehr an seiner Kraft und Andvari unterdrückte mühsam ein Stöhnen, als die Hitze auf seiner Haut anstieg und ihn beinahe ohnmächtig werden ließ.
      Mit einem letzten Nicken zu seinen Freund verschwand der Elf mit oder ohne Fracht im Nichts.
      Erst sekündlich danach wurde die Wand, die Andvari fixiert hatte, beinahe aus den Angeln gerissen und exlodierte in Richtung der Straße hinaus. Hoffentlich hielte Viola eine Heilung für ihre Landung bereit.

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    • "Du lügst!". zischte der Bursche beim Namen seiner totgeglaubten Schwester.
      Val wehrte sich mit Leibeskräften gegen den Griff des Elfen und sackte erneut in sich zusammen, als Greneau den Burschen behutsam aber mit Nachdruck aus der Umklammerung des Elfenprinzen befreite. Was Andvari auch vorhatte, der Junge war in keiner Verfassung um ohne Aufsicht zu bleiben und nur die Götter wussten, was der Schock auslöste, sobald er seiner Schwester gegenüber stand.
      "Das ist Wahnsinn", gab Meister Greneau zu bedenken. "Ich werde ein Auge auf den Jungen haben. Sollten sich seine Worte bewahrheiten und er wirklich der Bruder unserer Viola sein, wird ihm kein Haar gekrümmt. Das verspreche ich Euch, Andvari."
      "Einem Elf kann niemand trauen! Meine Schwester ist tot!", murmelte Val in einem wahnhaften Mantra und Lucien fragte sich, ob es die Worte des Jungen waren oder die Überzeugung einer dritten Partei, die aus seinem Mund sprach. Die Zeit drängte und der Menschenprinz gedachte dem Mysterium um den von den Toten auferstandenen Bruder auf den Grund zu gehen, sobald Andvari seine einzige Chance auf Rettung ergriffen hatte.
      "Beeil dich, mein Freund", antwortete Lucien stattdessen und nickte Andvari zu. "Wir brauchen Dich hier wenn der Krieg unsere Tore erreicht."
      Mit einem ohrenbetäubenden Knall verschwand der weißhaarige Elf im Nichts und ließ einen besorgten Schwertbruder und ebenso bekümmerte Verbündete zurück. Lucien stieß einen Fluch aus, als die Außenwand des Zimmer bröckelte. Risse zogen sich wie Blitze durch das Mauerwerk ehe unter lärmenden Getöse die komplette Wand einbrach.
      "Was unternehmen wir jetzt?", fragte Meister Greneau die zurückgelassenen Männer im Raum.
      Lucien blickte sich besorgt um. In den edlen Gesichtszügen zeigte sich bitterer Ernst. Am Horizont erblickte er die vertraute Silhouette eines Greifvogel, der sich mit hoher Geschwindigkeit näherte. Isobelle hatte den Weg nach Hause gefunden. Zweifellos mit Nachricht aus den Gebirgen.
      "Wir warten", antwortete er.

      ____________________________________________________

      Im Tempel der Meriel kniete Viola neben der heiligen Quelle tief im Herzen der Ruinen.
      Dort am Ursprung der magischen Kräfte des Tempels füllte die Heilerin unzählige Phiolen aus Kristallglas. Sie war in Stille verfallen und blickte ebenso oft durch das Blätterdach in die Abenddämmerung wie es auch wohl Sylvar tat. Viola wartete und betete zu der Göttin für ein Zeichen der Hoffnung. Sorgfältig verkorkte Viola die letzte Phiole und verstaute die kostbare Fracht in einer alten Schatulle aus geöltem, dunklem Holz. Der Deckel der Schatulle war mit hübschen Efeuranken verziert und an den Seiten fand sie wellenartige Symbole. Viola hatte beides in den Tempelruinen gefunden und dankbar an sich genommen. Kurz zuvor hatte die Heilerin vor dem Problem gestanden, wie sie Proben der Quelle überhaupt sicher transportieren sollte. Der Fund war ein glücklicher Zufall gewesen.
      Eine plötzliche Erschütterung ließ den Boden unter ihren Füßen erbeben.
      Viola blickte sich alarmiert über die Schulter und fand im Gesicht des Elfenzauberers einen seltsamen Ausdruck der Ruhe. Fragend legte die junge Frau den Kopf schief. Sie selbst fühlte sich durch das Beben äußerst beunruhigt. Von den imposanten Steinsäulen bröckelten kleine Steinchen ab und rieselten zu Boden. Die Äste in den Baumkronen knarzten und ächzten.
      "Was ist das, Sylvar?", flüsterte Viola besorgt.
      Zügig verschloss die Heilerin die Schatulle und drückte sie wie einen Schatz gegen ihre Brust, damit die gläsernen Phiolen darin nicht zersplitterten. Stolpernd kam sie auf die Füße und eilte durch den Säulengang zurück zu der Statue der Meriel. Die einzelnen, natürlichen Becken zwischen den kräftigen Wurzeln der Bäume, die diesen Bereich des Tempels schmückten, plätscherten unruhig während das Beben immer stärker wurde.
      Ein Lichtblitz erfüllte den Tempel und blendete alle in seiner unmittelbaren Nähe.
      Viola stieß einen spitzen Schrei aus und riss einen Unterarm schützend vor die Augen. Selbst durch die geschlossenen Lieder spürte sie die Hitze des Lichtes und die gleißende Helligkeit. Ein dumpfer Aufprall beinahe direkt vor ihren Füßen, ließ sie blind einen Satz zurückspringen. Viola schlug die Augen auf und musste mehrmals hintereinander blinzeln bis sich ihre Augen wieder an normale Lichtverhältnisse gewöhnten. Zunächst erkannte sie nur einen schattenartigen Schemen, der vor ihr auf dem Boden kauerte. Der Schatten nahm die Konturen eines Mannes an...eines Mannes mit ungewöhnlich, schneeweißen Haaren und spitzen Ohren, die aus den Strähnen hervorlugten. Viola kannte nur einen Elf mit weißen Haaren und das Herz rutschte ihr in die Stiefel.
      "ANDVARI!", rief sie aus und hatte gerade noch genug Verstand die Schatulle vorsichtig am Boden abzustellen, ehe sie förmlich an die Seite ihres Liebsten stürzte.
      Ohne Zögern umfasste sie die bebenden Schultern und fuhr mit einer sanften Hand in seinen Nacken. Die Haut unter ihren Fingerspitzen glühte regelrecht und der Puls an seinem Hals drohte sämtliche Grenzwerte zu sprengen. Es roch nach angesengter Haut und Haaren.
      "Sylvar!?", rief sie in die Tiefen der Ruinen.
      Sie hatte nicht gesehen ob der...Geist?...ihr gefolgt war.
      "Andvari? Liebster?", murmelte sie. "Was ist passiert?"
      Viola berührte den blutigen, kleinen Einstich an seiner Schulter. Was für eine Waffe verursachte eine derart feine Wunde? Besorgt schob sie die flache Hand über seinen Brustkorb. Das Herz schlug unregelmäßig in der starken Brust, die sich ruckartig unter schweren Atemzügen hob, als würde eine unsichtbare Hand die Kehle des Elfen zuschnüren. Das unkontrollierten Zucken seiner Muskeln entging ihr nicht. Als sie ihm ins Gesicht sah überzog ein Schleier die bernsteinfarbenen Augen und die Lippen hatten bereist einen leichten, bläulichen Schimmer.
      "Gift...", murmelte sie entsetzt.
      Sofort drückte sie die Handfläche stärker gegen seine Brust und löste den eisernen Griff um ihre Magie, die daraufhin ungehindert in den geschwächten Leib des Elfen floss. Viola erspürte die Taubheit der Nerven, die Lähmung von Muskeln und Organen.
      "Wach bleiben, hörst Du?", flüsterte sie und drückte einen fürsorglichen Kuss auf seine Braue.
      Mit einem weiteren Impuls floss genug Magie aus ihrem Kern in Andvari um den Fluss des Giftes einzudämmen, aber sie konnte es nicht ausmerzen. Panik setzte ein.
      "SYLVAR!"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”