the wolf and the lamb [concorde x yumia]

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    • the wolf and the lamb [concorde x yumia]

      the wolf and the lamb


      "He should have devoured her, but instead he guarded her like the only piece of peace he’d ever known."


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      Genre: Romanze, SoL, Drama
      Rollen:
      X - @Yumia
      Y - @Concorde
      Vorstellung

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      X ist das schüchternes, liebevolles und zurückhaltendes Mädchen. Sie hat bis heute noch keinen Anschluss in der Schule gefunden und verbringt ihre Pause alleine. Aufgrund ihrer Schüchternheit traut sie sich nicht andere anzusprechen und da alle ihre Freunde und Gruppen gefunden haben, sieht sie keine Hoffnung sich integrieren zu können. So verbringt sie die meiste Zeit mit dem Zeichnen oder lesen. In der Schule schreibt sie sehr gute Noten und hat ansonsten ein unbeschwertes Schulleben.

      Y dagegen ist ihr Gegenteil. Viele Freunde, offen und doch der troublemaker der Schule. Ein gewisser Ruf verfolgt ihm, meist geprägt von Streitigkeiten, Schlägerei oder Gerüchte über Treffen in der Nacht. Y hatte versucht seinen Ruf zu retten, doch egal was er machte, man missverstand ihn und die Geschehnisse werden oft übertriebener erzählt. Plötzlich sprach man davon, dass Y eine Schlägerei angefangen hat, weil er angeblich das Essensgeld eines Mitschülers haben wollte, doch eigentlich wollte er ihn nur von seinen Mobbern retten. Mittlerweile hat Y aufgegeben etwas klar zu stellen. So folgen ihm die Gerüchte. Während er bei den einen beliebt ist, ist bei anderen gefürchtet. Jedoch ist er der Star seiner Mannschaft in der Schule. Dass er Zuhause Probleme hat, versucht er zu vertuschen. Seine Verletzungen, die plötzlich auftauchen, lassen natürlich die Gerüchteküche brodeln.

      Doch was verbindet X und Y, abgesehen von der Schule, auf die sie zusammen gehen? Weder haben sie die gleichen Freunde, noch sehen sie sich häufig. Sie kommen, unwissend, in Kontakt miteinander, durch eine App. Aus Zufall und Langeweile schrieb der eine den andere an und da man sich gut verstand, hielt der Kontakt an. Man kam sich näher, erzählte dem einen etwas, dem sie jemand anderen noch nie erzählt haben und verbringen gerne die Zeit miteinander zu schreiben. Aus Spaß, haben sie sich sogar Spitznamen gegeben.

      Doch es sollte nicht nur bei einer Verneinung durch die App stattfinden. Ihre Wege kreuzen sich immer häufiger und wie es das Schicksal will, haben sie bald auch miteinander etwas zu tun. X fällt in Sport durch und die einzige Möglichkeit ihre Note zu retten, ist der Schulmannschaft beizutreten. Nicht als eine Mitspielerin, sondern als eine Aushilfe für die Mannschaft. Und da Y auch in der Schule schlechte Noten schreibt, kommt es auch dazu, dass X ihm Nachhilfe gibt.

      Werden beide jemals erfahren, dass sie sich eigentlich schon kannten? Wenn ja, wie wird ihre Beziehung entwickeln? Wird X hinter dem Schleier, welches Y alles aufsetzt, hinterblicken und ihn so akzeptieren, wie er nun ist und nicht wie die anderen Menschen ihn durch Gerüchte und Erzählungen formen?


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      Selene
      Im warmen Dämmerlicht eines frühen Morgens stand Selene auf. Der leise, aber unerbittliche Ton ihres Weckers hatte sie geweckt, obwohl ihre Augen sich noch schwer anfühlten vom Schlaf, der kaum seinen Platz gefunden hatte in der Nacht. Ihre blonden Haare fielen ihr lose über die Schultern, während sie sich aufrichtete, gähnte und blinzelnd in das weiche Licht blickte, das durch die halb geschlossenen Vorhänge in ihr Zimmer fiel.
      Noch während sie sich reckte, huschte ihr Gedanke zurück zu dem Gespräch der letzten Nacht. Zu Knox. Eine digitale Bekanntschaft, die durch eine social media app zustande kam, und doch fühlte es sich manchmal fast echter an als das, was ihr im echten Leben begegnete. Sie hatten lange geschrieben, vielleicht zu lange. Er hatte Humor, verstand sie, fragte nach. Ein wohltuender Kontrast zu der Stille, die in ihrem Zuhause oft lauter war als jedes Wort. Es war auch einer ihrer Zufluchtsorte für sie in der Schule. Wenn sie mal keinen Stift oder Buch zur Hand hatte, griff sie oft genug nach ihrem Handy. Die Beziehung zu der unbekannten, doch bekannt zugleich, Person, war das Nahste, was sie als einen Freund zählen konnte.
      Verschlafen griff sie nach ihrem Handy, der Daumen glitt über den Bildschirm. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihm eine Guten-Morgen-Nachricht schreiben sollte. Nur ein einfaches "Hey, bist du schon wach?", doch in ihr regte sich der Zweifel. Vielleicht wirkte es zu eifrig, zu fordernd. Vielleicht war es besser, nichts zu schreiben. Noch nicht.
      Sie legte das Handy zur Seite, erhob sich und zog sich langsam an. Ihre Wahl fiel auf ein gemütliches, weiches Kleid in einem sanften Farbton, etwas, das sich wie Geborgenheit anfühlte. Dann verließ sie ihr Zimmer und ging barfuß, mit leisen Schritten, die Treppe hinunter in die Küche.
      Dort herrschte dieselbe morgendliche Stille wie immer. Sie nahm sich etwas zu essen, kaute langsam, während die Gedanken weiter um Knox kreisten und sie zugleich versuchte, die Müdigkeit abzuschütteln.
      Ein paar Minuten später hörte sie Schritte auf der Treppe. Ihr Vater kam herein. Groß, kantig, mit zerzaustem Haar und einem Gesicht, das keine Regung zeigte. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging er direkt zur Kaffeemaschine, stellte sie an, wartete schweigend und verließ den Raum wieder, kaum dass der erste Schluck genommen war. Kein "Guten Morgen", kein Nicken, kein Zeichen, dass sie da war.
      Selene sah ihm hinterher. Es war nicht neu, nicht überraschend und doch traf es sie jedes Mal. Sie kannte es nicht anders, aber das machte es nicht leichter. Sie wünschte sich, er wäre anders. Kein Held, kein Märchenvater, nur... normal. Jemand, der sie ansah, wenn er mit ihr sprach. Jemand, der überhaupt mit ihr sprach.
      Sie atmete tief ein, nahm ihren Teller, räumte ihn leise weg und ging wieder hinauf in ihr Zimmer. Dort griff sie erneut nach ihrem Handy, ihre Finger flogen über das Display. Diesmal schrieb sie Knox: Na, auch so KO und unmotivert wie ich? Sie konnte es sich nicht erklären, jedoch aus irgendeinem Grund konnte sie sich bei ihm fallen lassen. So sein wie sie war, wie sie wirklich war. Wo sie ihre Schüchternhelt abgeschuppt ist und sich ohne Angst zeigen konnte. Etwas, was sie weder in der Schule noch Zuhause sein konnte.Schließlich schnappte sie sich ihre Tasche, schob das Handy in die Seitentasche, setzte ihre Kopfhörer auf. Die Musik schloss sich wie ein Kokon um sie. Und dann trat sie hinaus, in den neuen Tag, der mit all seiner Kühle und seinen Möglichkeiten vor ihr lag. Während dem Laufen hoffte sie auf Knox Nachricht. Da er ihr einziger Freund war, erwischte sie sich immer wieder dabei, wie sie immer auf seine Nachricht wartete und sich freute, wenn er ihr zurückschrieb.
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    • Kian wachte zu spät auf. Erst ein Blick auf sein Handy verriet ihm dies, was seine Augen weit werden ließ. "Fuck man!", fluchte er und sprang auf. Manchmal wünschte er sich, dass seine Eltern schonmal nach ihm sehen würden, doch sie hatten ihre eigene Welt mit ihren eigenen Problemen. Er duschte sich schnell, schnappte sich dann seinen Rucksack und die Sporttasche fürs heutige Training und ging dann die Treppe hinunter in den Flur. Dabei starrte er auf das Handy. Ob er Moon schreiben sollte? Sie gab ihm immer so ein gutes umkümmerndes Gefühl und brachte ihn in Momenten wie jetzt, wo er total aufgeschmissen war, hinunter. Als ob sie seine Gedanken lesen konnte, schrieb sie ihm. "Na auch so KO und unmotiviert wie ich?" Er musste grinsen. "Schön wär's, wenn es nur das wäre! Habe voll verschlafen und bin gerade aufm Weg zur Schule. Melde mich gleich nochmal." Er betrat die unterster Stufe der Treppe während er das schrieb, ehe sich ein großer Schatten im Flur auftat. Sein Vater verschränkte die Arme vor der Brust.
      "Na du Nichtsnutz? Hast wohl wieder verpennt? Kein Wunder, dass du so schlecht in der Schule bist."

      Kian atmete schwer und ignorierte die Sticheleien. Er ging wortlos an ihm vorbei in die Küche und ließ sich etwas Wasser in seine Trinkflasche. "Hey? Ich rede mit dir! Ich bin dein Vater!" Der Schüler, der seine Flasche fertig aufgefüllt hatte, ging wieder zu seinem Vater. Er roch den Schweiß und den Alkohol. Sein Vater musste die Nacht wieder durchgemacht haben. Er wollte eigentlich keinen Stress mit seinem Alten, doch wenn er es so darauf anlegte: "Wirklich? Du bist mein Vater? Merkt man nichts von. Ich rieche hier nur Alkohol und Schweiß." Er zuckte lässig mit den Schultern und ging dann zu Tür, denn er wusste was folgt. "Was? Was fällt dir ein? Komm her!" Er torkelte ihm hinterher, doch zu langsam. Der Braunhaarige ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und sein Vater kam nicht schnell genug hinterher. Draußen an der frischen Luft atmete er einmal tief ein und ging dann zu dem alten rostigen Wagen seines Vaters. Er hatte sich die Schlüssel vor einem Jahr "ausgeliehen" und fuhr nun mit dem in die Jahre gekommenen Wagen zur Schule. Besser er fuhr das Ding als sein Vater.

      Während er zum Wagen ging, schaute er nochmals aufs Handy und schrieb Moon nochmal. "Hey, sorry fürs Abwimmeln. Echt wieder ein beschissener Start in den Tag. Ich hoffe bei dir läuft der Tag besser?" Mit diesen Worten steckte er das Handy ein und ging in den Wagen. Er startete den alten PKW und fuhr Richtung Highschool. Ein wenig erfolgreicher Start in den Tag und Kian ahnte nicht, dass es noch schlimmer kommen würde.
    • Der Weg zur Schule war ihr vertraut. Kopf leicht geneigt, Haare wehten im sanften Morgenwind, während die Sonne warm über die Dächer kroch und die ersten Lichtflecken auf dem Asphalt tanzen ließ. Selene hatte Glück, ihre Highschool lag nur ein paar Straßen entfernt, gerade nah genug, um morgens nicht hetzen zu müssen, und weit genug, um auf dem Weg ein paar Minuten mit sich und der Musik allein zu sein.
      Die Stimmen in ihren Ohren übertönten alles andere. Gerade als sie um die Ecke bog, spürte sie ein sanftes Vibrieren an ihrer Hüfte. Sie zog ihr Handy hervor, Knox.
      Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Seine Nachricht war chaotisch und charmant, wie er sie wohl gemeint hatte, und brachte sie zum Lachen. In ihrem Kopf formte sich das Bild einer gesichtslosen Figur – vielleicht nur ein Umriss mit struppigem Haar – wie er quer durch ein unordentliches Zimmer stolperte, gleichzeitig Socken suchte, versuchte, sein Shirt über den Kopf zu ziehen, während eine Zahnbürste aus seinem Mund ragte. Die Szene war skurril und irgendwie... niedlich.
      Sie tippte fast automatisch auf das Antwortfeld, doch ihre Finger hielten inne. Er hatte geschrieben, dass er gleich wieder schreiben würde. Also wartete sie. Wie so oft, hielt sie sich zurück. Nicht aus Desinteresse, sondern aus Angst, zu viel zu sein. Zu schnell. Sie wollte nicht, dass er glaubte, sie säße den ganzen Tag auf sein "Ping!" wartend. Auch wenn das manchmal ziemlich nah an der Wahrheit war.
      „Mach dir da keinen Kopf. Pass lieber auf, dass dir nichts wegen der Hektik passiert“, schrieb sie schließlich, zögerte einen Moment und schickte es dann ab. Danach, ein wenig beiläufiger: „Naja so wie immer, nichts Besonderes. Aber ich nehme an, entspannter als deiner haha.“
      Kurz darauf noch eine Nachricht: "Heute was Großes geplant?"
      Sie mochte es, von seinem Alltag zu hören, selbst wenn es nur banale Kleinigkeiten waren. Sein Leben wirkte voller, bunter, bewegter. Im Vergleich dazu erschien ihr eigenes wie in Graustufen, routiniert, leise, fast unsichtbar. Und die dunkleren Gedanken, die manchmal in ihr schlichen, teilte sie nicht. Niemand mochte Leute, die sich zu oft beklagten, und sie wollte für Knox kein Klotz am Bein sein.
      Mit einem leichten Seufzer schob sie das Handy wieder zurück in ihre Tasche und ließ sich von der Musik wieder einhüllen. Der letzte Block des Schulwegs lag vor ihr. Als sie die Schule erreichte, sah sie sie alle: Schüler in kleinen Grüppchen, lachend, schubsenden, laut. Sie gehörte zu keiner dieser Gruppen. Tat sie nie. Manchmal wünschte sie es sich, manchmal nicht. Es war einfacher, allein zu sein, als falsch verbunden.
      Sie ging wie ein Schatten an ihnen vorbei, öffnete die schwere Eingangstür und trat in den Flur. Ihr Spind war der erste Halt. Mit einer geübten Bewegung drehte sie die Zahlenkombination, holte ihre Bücher und legte die Tasche hinein. Keine Hektik, kein Zögern. Alles wie gewohnt.
      Dann machte sie sich auf in den Mathe-Raum. Nicht ihr Lieblingsfach, aber eines, in dem sie sich sicher fühlte.
      Da noch Zeit bis zum Unterricht war, setzte sie sich auf ihren Platz am Fenster, nahm einen der Ohrstöpsel heraus, ließ die Musik nur halb weiterlaufen und zog den kleinen Skizzenblock hervor, den sie meist bei sich trug. Keine großen Kunstwerke, nur Linien, Kreise, Gedanken in Bleistiftform.
      Während sie kritzelte, schielte sie immer wieder zum Handy. Vielleicht kam ja gleich eine Antwort von Knox. Und vielleicht, nur vielleicht, war es genau das, was diesen Tag ein kleines bisschen heller machte. Eine andere Beschäftigung hatte sie nicht. Sie kam zur Schule um zu lernen und ihre Zeit abzusitzen, damit sie wieder nach Hause gehen kann, um wieder zu zeichnen, lesen oder auf irgendeine App scrollte.
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    • Kian hörte beim Autofahren die App dreimal pingen und er musste inutitiv grinsen. Vermutlich war es Moon. Sie schrieb oft mehrmals - manchmal auch mit einem Zögern in den Nachrichten. Das machte sie irgendwie nachdenklich und wenn Kian ehrlich war, fand er das irgendwie anziehend - ohne zu wissen, wie Moon exakt aussah und er hatte sich darüber eigentlich auch nie Gedanken gemacht, doch Frauen spielten in seinem Leben eine große Rolle. Ständig wollten irgendwelche Cheerleaderinnen etwas von ihm, die Jungs in der Kabine prahlten ständig mit ihren Bettgeschichten und wollten natürlich auch immer das Neuste von Kian hören. Er hatte sich bereits ausprobiert und genug Geschichten von alten Freundinnen auf Lager. Doch mittlerweile war er single und irgendwie froh, auch wenn ihn das zur begehrten Trophäe machte. Doch die Mädchen, die versuchten bei ihm zu landen, lösten nicht sein Interesse aus. Doch wenn er so über Moon nachdachte ... *HUP* Es hupte hinter ihm! Ganz im Träumen hatte er vergessen an der Ampel weiter zu fahren. Hastig fuhr er mit dem Wagen über die Kreuzung und nahm die letzte Viertelstunde zur Schule. Dort angekommen, stieg er aus und zückte sein Handy. Er wollte sehen, was sie ihm geschrieben hatte. Erneut lächelte er sanft über ihre Worte und der Stress, mit dem er in den Tag gestartet war, wich etwas von ihm.

      "Mir passiert nie was, bin geübt im Umgang mit Stress! ;)
      Gut zu lesen, dass zumindest dein Tag entspannt war."

      Er wartete eine Minute, da er bereits eine bekannte Stimme hörte, die ihn störte. Es konnte sich dabei nur um Isabella oder Penny handeln und in der Ferne sah er die beiden schon winken. "Argh", raunte der Basketballer, ging an den Kofferraum des Wagens und holte seinen Rucksack und seine Sporttasche heraus. Er startte aufs Handy und wollte Moon wenigstens noch antworten. "Großes? Nein wie üblich nur Schule und anschließend Training. Wir haben jedoch ab nächster Woche wieder Highschool League, das ist die heiße Phase. Ich hoffe du drückst mir dir Daumen?" Mit diesen Worten erreichte er die Stufen. Oben standen diese beiden Lästermäuler - Isabelle und Penny. Kian hoffte ihnen aufgrund der Vielzahl, der Schüler die gerade mit ihm die Treppe zum Schuleingang hinaufgehen, die beiden abschütteln zu können.

      Bedacht darauf ging er möglichst weit entfernt von beiden am Rand und tat so als ob er sie bisher nicht gesehen hatte. Er schien in der Masse an Schülern unterzugehen, was bei seiner Größe eigentlich nicht möglich ist und zu früh gefreut. Penny deutete auf ihn und gab dann Isabella einen Stoß in die Seite. "Fuck", fluchte er und nahm eine mit einem Sprung, um durch dein Eingang zur Schule zu hechten und den beiden zu entgehen. Doch exakt in dem Moment rempelte er einen Siebtklässer an und dieser fiel zu Boden. Dabei schlug er sich das Gesicht an der Wand auf. "Oh sorry, Bro", entschuldigte sich Kian und reichte dem Siebtklässer die Hand. Der hielt sich jedoch die aufgerissene Haut im Gesicht und sah ihn nur verängstigt an. "Lass mich bloß in Ruhe, Kian! Echt unnötig von dir! Du bist hier schon der Größte und schubst mich dennoch!" Kian wollte die Lage beruhigen, doch der Siebtklässler wimmelte ihn ab, stand hastig auf und rannte ins Schulgebäude. "Was für ein Tag", raunte Kian und hörte dann Penny.
      "Mach dir nichts draus, ich kenn den. Scott ist 'nen Schisser, der wird dich nicht verpetzen. Ich kümmer mich gleich darum, dass er seinen Strebermund hält." Sie ließ eine Pause, die sie cool wirken lassen sollte, doch Kian hob nur fragend die Augenbraue. Als ob das seinen ramponierten Ruf hier bessern würde ... "Aber ziemlich cool, dass du dir so deinen Respekt einforderst", kicherte sie und sah dann zu Isabella.
    • Natürlich hatte sie auf Knox’ Nachricht gewartet. Wie hätte sie auch nicht? Ihr Skizzenblock lag zwar noch offen vor ihr, doch die Linien darauf waren inzwischen ziellos, ohne Form, fast wie Gedanken, die nirgendwohin wollten. Das Schreiben mit ihm war längst mehr als nur ein Zeitvertreib geworden. Es war eine warme Stimme inmitten der täglichen Stille, eine Art Fluchtweg aus der blassen Routine, die ihr Leben bestimmte. Wenn sie mit ihm schrieb, fühlte sie sich weniger allein. Nicht laut oder lebendig vielleicht, aber... da.
      Ihr Blick glitt immer wieder zum Handy, das leise auf dem Tisch vibrierte, als die ersehnte Nachricht schließlich eintraf. Ein kaum hörbarer Ton unter der Musik, doch sie hatte ihn sofort wahrgenommen. Natürlich. Ihre Finger schlichen sich zum Gerät, wie von selbst, doch sie zwang sich, nicht direkt in die App zu gehen. Stattdessen zog sie bloß die Benachrichtigungsleiste runter, las die ersten Zeilen, ohne den Chat zu öffnen. So würde er nicht sehen, dass sie es gelesen hatte. Noch nicht.
      Du antwortest zu schnell, erinnerte sie sich selbst. Es war eine Erkenntnis, die ihr schon vor Tagen gekommen war, vielleicht Wochen. Und so sehr sie den Austausch genoss – Knox war der einzige Mensch, mit dem sie täglich sprach –, so sehr wollte sie diesen einen Lichtpunkt in ihrem Alltag nicht verlieren. Ihre Unsicherheiten nagten: War sie zu schnell? Zu viel? Zu verfügbar? Würde sie ihn nerven, wenn sie wieder sofort reagierte?
      Das Handy lag warm in ihrer Hand, als wolle es sie dazu drängen, einfach zu schreiben. Doch sie ließ es sinken. Stattdessen lenkte sie sich ab, sah zum Fenster hinaus und konzentrierte sich auf den Ast eines Baumes, der sich sanft im Wind bewegte. Ein dünner, fast zerbrechlich wirkender Zweig mit winzigen, hellgrünen Blättern, die sich im Sonnenlicht leicht kräuselten. Sie zwang sich, jedes Detail zu erfassen – die dunklen Linien der Rinde, das zarte Zittern der Blätter, die Art, wie das Licht kleine Glanzpunkte auf die Rinde warf.
      Ihre Musik dröhnte in ihrem Ohr und half dabei, den Rest der Welt auszublenden. Nur gelegentlich warf sie einen Blick zur Tür. Denn sie wusste: Sobald der Lehrer den Raum betrat, würde eine plötzliche Stille einkehren.
      Immer wieder tasteten ihre Gedanken zu Knox zurück. Sie zermarterte sich das Hirn, als müsste sie die perfekte Antwort formulieren, obwohl es doch nur ein flüchtiger, digitaler Austausch war. Und trotzdem bedeutete er ihr viel. Vielleicht zu viel.
      Sie stellte sich vor, wie er irgendwo auf einer anderen Highschool war, vielleicht gerade über denselben Pausenhof lief, wie sie es sonst tat. Wie er mit zerzausten Haaren ein paar Freunde ansprach, vielleicht mit einem Ball in der Hand, laut lachend, lebendig – ein Bild, das sie sich selbst aus Bruchstücken zusammenreimte. Es war absurd, und doch wünschte sie sich, einfach nur da zu sein. Als Schatten am Rand des Spielfelds.
      Aber sie kannten nicht einmal die Namen des anderen. Keine Gesichter, keine Orte. Nur Worte, Pixel, eine Verbindung irgendwo dazwischen. Damals hatte es sich nach Freiheit angefühlt. Heute fluchte sie leise darüber, schließlich wäre sie gerne bei seinem Spiel dabei gewesen und ihn persönlich angefeuert.
      Wie gerne würde sie wissen, wie er aussieht, wie seine Stimme klingt, ob sein Lachen so ist, wie sie es sich ausmalt.
      Stattdessen blieb ihr nur sein Text, sein digitales Echo – und das Kribbeln in den Fingern, das sie fast zwang, endlich zu antworten. Doch sie hielt sich noch zurück. Noch ein bisschen. Damit der Moment nicht zu schnell verflog. Sie griff doch nach dem Handy, jedoch nicht um ihm zurück zu schreiben, sondern um ihr Handy lautlos zu stellen. Zu ungern wollte sie ihr Handy beschlagnahmt werden. Daher war es bereits Routine geworden vor Beginn der ersten Stunde ihr Handy auf lautlos zu stellen.

      Isabella war ungeduldig. Es fühlte sich an, als sei es eine Ewigkeit her, dass sie ihren Fokus endlich auf jemanden richten konnte. Eigentlich war es gar nicht so lange her, aber sie redete es sich gerne ein. Nun hatte sie jemanden gefunden: Kian.
      Er war groß, gut gebaut, attraktiv, in aller Munde – und hatte sie schon erwähnt, wie gut aussehend er war? Was konnte man sich mehr wünschen? Dass er kein Vermögen hatte, störte sie kein bisschen. Ihre Eltern besaßen genug Geld, das würde für sie beide reichen.
      Ein kleines Hindernis gab es allerdings. Kian gehörte offenbar zu den Männern, die selbst erobert werden wollten. Doch gerade das machte ihn für Isabella noch interessanter. Es wäre ihr viel zu langweilig gewesen, wenn er ihr sofort verfallen wäre. Der Reiz lag in der Herausforderung.
      Sie wartete also mit gespannter Vorfreude darauf, Kian noch vor Unterrichtsbeginn zu erwischen. Als sie ihn schließlich sah, schenkte sie ihm ein charmantes Lächeln.
      „Selbst schuld, wenn der Kleine seine Augen nicht offen halten kann. Du bist ja nicht zu übersehen“, sagte sie neckend, während sie unbewusst eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte.
      Isabella wusste genau, wie attraktiv sie war, und sie scheute sich nicht, dieses Wissen gezielt einzusetzen.
      „Guten Morgen, Kian“, flüsterte sie mit leicht gesenkter Stimme und sah ihn intensiv an. „Wir sehen uns später beim Essen.“

      Sie blieb nicht länger als nötig. Zu anhänglich wollte sie keinesfalls wirken. Verfügbarkeit war keine Strategie, die sie verfolgte.
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    • Kian hätte es kommen sehen müssen. Es war der typische Schulmorgen, das Gedränge am Eingang, das unübersehbare Winken aus dem Augenwinkel – und dann diese Stimme. „Guten Morgen, Kian“, hauchte Isabella, kaum dass er die letzten Stufen zur Tür genommen hatte. Ihr Tonfall war weich, fast flüssig, und er fühlte sich davon mehr genervt als geschmeichelt. Sie stand da wie aus dem Katalog gefallen – perfekt gestylt, als wäre selbst die Lockere-Frisur-und-Thermosbecher-Nummer einem internen Stilkompass entsprungen. Jede Bewegung schien berechnet, jeder Blick einstudiert. Ein Lächeln, das eher nach Plan wirkte als nach Gefühl. Er warf ihr nur einen flüchtigen Seitenblick zu. „Morgen“, murmelte er, ohne stehenzubleiben. Kein Grund, das Schauspiel noch zu füttern.Doch natürlich ließ sie nicht locker. „Wir sehen uns später beim Essen“, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das vermutlich tödlich wirken sollte – zumindest auf jemanden, der auf sowas stand.

      Er tat so, als hätte er sie nicht gehört. In seinem Kopf allerdings brodelte es. Isabella. Immer wieder Isabella. Sie war wie ein Parfüm, das man nicht loswurde – zu laut, zu süß, zu aufdringlich. Eine dieser Personen, die nie merkten, wann genug war. Immer das perfekte Make-up, das perfekte Timing, das perfekte Opfer, das sie spielen konnte, wenn jemand sich ihrem Charme entzog. Sie war die Art Mädchen, bei der sich alles darum drehte, gesehen zu werden – und zwar nur von denen, die sie selbst als ebenbürtig einstufte. Und obwohl er wusste, dass sie ihn genau deshalb wollte – weil er nicht nachgab, nicht fiel, nicht reagierte –, machte es das Ganze nicht weniger anstrengend. Im Gegenteil: Es war ein Spiel, das er nie spielen wollte. Eines, in dem er keine Spielfigur sein wollte. Er wusste genau, was sie sah: Status. Aufmerksamkeit. Vielleicht auch einfach eine neue Story. Der Typ mit dem miesen Ruf, der Ärger anzog wie ein Magnet. Ein Projekt. Ein Tier, das man zähmen konnte. Aber Kian war keine Challenge. Kein Mythos. Und schon gar nicht ihrs.

      Und dann noch Penny. Die Schlange. Sie saugte Tratsch auf wie ein Schwamm und verteilte ihn dann mit einem süffisanten Lächeln wie Gift unter den anderen Schülerinnen. Sie schlich sich durch Gespräche, durch Pausen, durch Flure – immer auf der Suche nach einem neuen Brocken, den sie zerpflücken konnte. Seit sie mit Jackson zusammen war, fiel es Kian zunehmend schwer, ihr aus dem Weg zu gehen. Die beiden waren wie Schimmel in der Wand – schwer loszuwerden, und selbst wenn man sie nicht direkt sah, spürte man, dass sie da waren. Meist begegneten sie ihm nur flüchtig – ein Blick, ein Kichern, ein geflüstertes Wort, das mit seinem Namen endete. Es reichte. Mehr als genug. Lediglich ein Objekt, das war er für viele hier. Ein Ruf. Eine Story. Ein Bild. Der Mensch dahinter – er – den sah kaum jemand. Und vielleicht hatte er sich daran gewöhnt. Vielleicht hatte er sich selbst auch schon ein Stück davon abgekapselt. Er schüttelte den Kopf, wollte keinen weiteren Gedanken daran verschwenden.

      Kian war längst weitergegangen, hatte sich zwischen die restlichen Schüler geschoben und suchte förmlich den Lärm, die Gesichter, das Gedränge – irgendetwas, das ihn von dem ekligen Gefühl befreite, das Isabellas Nähe immer bei ihm hinterließ. Es war nicht Angst. Es war Abwehr. Der Reflex eines Menschen, der gelernt hatte, sich zu schützen, bevor etwas zu nah kam.

      Als er endlich seinen Platz im Klassenzimmer erreichte, ließ er sich schwer auf den Stuhl sinken, warf seine Tasche daneben und lehnte sich erschöpft nach hinten. Das erste Licht der Morgensonne fiel schräg durchs Fenster und zeichnete ein Muster aus Staubpartikeln in die Luft – irgendwie schön, irgendwie belanglos. Ein Kollege aus dem Basketball-Team tippte ihm auf die Schulter und erzählte irgendwas von seiner geplanten Poolparty am Wochenende. Wahrscheinlich wieder mit zu viel Alkohol, zu vielen falschen Leuten und zu lauter Musik. Früher hätte ihn das interessiert. Heute war es bloß ein weiterer Abend, den er am liebsten verpassen würde. Kian nickte halbherzig, aber seine Augen blieben starr nach vorn auf die Tafel gerichtet. Sein Blick flackerte hinüber zum Handy auf dem Tisch. Er hatte es schon dreimal gedreht, zweimal entsperrt, ohne wirklich etwas zu tun. Beiläufig schaute er wieder darauf – nichts Neues. Noch keine Nachricht von Moon.

      Er ertappte sich. ‘Das ist echt nicht gesund, Kian’, ermahnte er sich selbst. Und doch – ihr letztes „Pass auf dich auf“ hallte immer noch in seinem Kopf nach. Wie schräg war das eigentlich? Sie hatte kein Gesicht für ihn. Keine Stimme. Nur Worte. Und dennoch gaben ihm genau diese Worte in seiner grauen Welt gerade mehr Kraft als alles andere. Er zwang sich, das Handy wegzuschieben. Atmete durch. Schließlich drehte er sich halbherzig zu seinem Teamkollegen um, nickte etwas deutlicher – nur damit es nicht auffiel, wie sehr er geistig abwesend war.

      Erst als der Erdkunde-Lehrer hereinkam und die beiden mit einem genervten Blick ermahnte – wie er es immer tat, weil Leute wie Kian für ihn nichts weiter waren als störendes Rauschen –, wurde er endgültig zurück in die Realität geschleudert. Kein Wunder, dass ihn keiner mochte. Kein Wunder, dass Lehrer ihn direkt in die Schublade „Prolet mit Basketballbonus“ steckten.

      Kian senkte den Blick, zog sein Heft raus und klappte es auf. Seine Gedanken blieben trotzdem woanders. Bei der, die ihn nicht wegen seines Körpers sah. Nicht wegen seiner Vergangenheit. Sondern wegen der Sätze dazwischen.

      Moon.

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    • Selene zeichnete weiter, ohne sich bewusst zu sein, wie viel Zeit vergangen war. Die Linien auf dem Papier verloren sich ineinander, Gedankenfäden, die sich in Form verwandelten. Ihre Musik rauschte noch immer leise aus einem der Kopfhörer, doch der Rest ihrer Wahrnehmung war nach innen gerichtet. Erst als ihr Blick zufällig an der großen Uhr über der Tafel hängen blieb und das eigentlich nur, um zu prüfen, ob der Lehrer vielleicht schon unbemerkt den Raum betreten hatte und kehrte sie wieder in die Gegenwart zurück.
      Es war fast so weit. Der Unterricht würde jeden Moment beginnen. Mit einem leisen Seufzer legte sie ihren Stift beiseite, strich flüchtig über das Papier, das nun von halbfertigen Figuren, Kreisen und kleinen Mustern geziert war. Dann griff sie nach ihrem Handy.
      Da sie Knox' Nachricht zuvor schon gelesen hatte, wusste sie, was sie ihm schreiben wollte. Endlich ließ sie ihre Finger über das Display gleiten und tippte:
      "Was sagt man so schön: Sag niemals nie. Du bist zu jung, um graue Haare zu bekommen. =) "
      Sie lächelte leicht bei ihren eigenen Worten, auch wenn sie wusste, dass dieser Morgen für sie alles andere als entspannt gewesen war. Vielleicht hatte sie körperlich wenig tun müssen, ein einfacher Start in den Tag, doch in ihrem Kopf war es laut gewesen. Wie jeden Morgen. Das erwähnte sie ihm aber nicht. Wer wollte schon gleich früh über die Probleme eines Mädchens lesen, das man nicht einmal persönlich kannte? Und wenn sie ehrlich war, war sie sich oft nicht sicher, ob ihre Sorgen überhaupt „echte“ Probleme waren oder bloß Empfindlichkeiten, die niemand ernst nehmen würde.
      Sie schüttelte innerlich den Kopf. Besser, sie folgte diesem Gedankengang nicht weiter, sonst würde er sie, wie so oft, in eine endlose Schleife ziehen.
      Stattdessen dachte sie wieder an Knox. Wie er wohl spielte? Er hatte mal durchblicken lassen, dass er im Team war, doch nie groß damit geprahlt. Ihre eigene Highschool hatte auch eine Mannschaft, sie hatte ihnen nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt. Doch seit Knox davon sprach, hatte das Thema für sie einen neuen Klang bekommen. Nicht, dass sie plötzlich Interesse an Basketball hatte. Aber ihm würde sie zusehen. Ihn würde sie anfeuern.
      Sie öffnete seinen letzten Text, markierte ihn, lächelte leicht und schrieb dann:
      „Wird wohl ziemlich stressig für euch dann. Natürlich drück ich dir die Daumen. Wäre ich nicht unglaublich unsportlich, hätte ich dich von meinem Zimmer aus angefeuert. *nick*
      Bei der Vorstellung, wie sie in einem Cheerleader-Outfit irgendwo herumtanzte, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Nein. Ganz sicher nicht. Das war ein Bild, das in keinem Paralleluniversum funktionierte. Selene war ihr Leben lang unsportlich gewesen. Ihre Ausdauer war katastrophal, ihre Bewegungskoordination bestenfalls durchschnittlich.
      Morgen war wieder Sportunterricht. Der Gedanke daran drückte schlagartig auf ihre Stimmung. Eine Leichtathletikprüfung stand bevor, ein Begriff, der in ihr nur Verzweiflung auslöste. Sie wusste jetzt schon, dass sie durchfallen würde.
      In allen anderen Fächern war sie gut. Sogar sehr gut. Lehrer mochten sie, baten sie oft, Nachhilfe zu geben, lobten ihre ruhige Art. Aber Sport... das war ihr Stolperstein. Ihr ewiger Schatten.
      Bevor sie sich tiefer in diesen Gedanken verlieren konnte, trat der Mathelehrer in den Raum. Die Geräusche um sie herum ebbten sofort ab, Gespräche verstummten wie auf Kommando. Der Lehrer nickte kurz in die Runde, dann stellte er seine Tasche ab.
      Selene richtete sich auf, überprüfte ein letztes Mal, ob ihr Handy auf stumm geschaltet war, und schob es in die Innentasche ihres Rucksacks. Dann schlug sie ein neues Blatt ihres Blocks auf, atmete leise durch. Wie gerne sie sich mit Knox austauschen wollte, wusste sie ihre Prioritäten zu setzen, zumal er auch selbst im Unterricht gleich sitzen müsste.
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    • Der Erdkundeunterricht zog sich wie Kaugummi am Schuh. Der Lehrer sprach mit seiner üblichen schläfrigen Stimme über Kontinentalplatten, als hinge das Überleben der Klasse von der Unterscheidung zwischen Subduktionszone und Transformstörung ab. Kian kritzelte mit seinem Kugelschreiber ein paar Kringel aufs Blatt, warf hin und wieder einen Blick aus dem Fenster – und wünschte sich, er könnte einfach rausgehen, laufen, springen, irgendetwas tun, was sich nicht so tot anfühlte wie dieser Unterricht. Seine Gedanken schweiften zu Moon ab. Er sah unauffällig unter dem Tisch in sein Handy - und siehe da er hatte Nachrichten von Moon. Er grinste als er ihren Spruch mit den Haaren las und als er noch las, dass sie ihm die Daumen drückte freute er sich umso mehr. Kurz blickte er hoch. Der langweilige Lehrer zeigte gerade eine viel zu detaillierte Karte an der Tafel. Genau der richtige Moment, dachte sich Kian. Er tippte unauffällig unter dem Tisch: „Ich schwöre, ich bin gleich reif für die Pause. Wünschte, du wärst hier. Dann wär der Mist wenigstens halb so langweilig.“

      Er schickte die Nachricht mit einem kaum merklichen Grinsen ab. Die Tatsache, dass sie sich immer mal wieder gegenseitig durch den Tag halfen, machte diesen Schulalltag irgendwie erträglicher. Wenn auch nur in Pixeln. Als der Gong endlich durch die Lautsprecher krächzte, war Kian als einer der ersten auf den Beinen. Er verstaute sein Heft, warf sich den Rucksack über die Schulter und streckte sich beim Gehen demonstrativ. Sein Körper schrie förmlich nach Bewegung. Auf dem Weg nach draußen klatschte er ein paar Teamkollegen ab, nahm sich einen Basketball aus dem Spind eines Freundes – ungefragt natürlich – und steuerte wie selbstverständlich den Sportplatz an, der zwischen Schultrakt und Turnhalle lag. Die Sonne stand hoch, war warm auf seiner Haut, und für einen Moment konnte er vergessen, was hinter ihm lag.

      Die Jungs bildeten wie von selbst ein lockeres Zwei-gegen-Zwei. Keine Regeln, kein Lehrer, nur Körbe, Pässe, Gelächter. Kian spielte wie immer mit dem nötigen Ernst, als würde selbst das Pausenspiel Einfluss auf seinen Ruf haben. Dunk, Sprungwurf, schneller Move – es war sein Element. Hier sah man ihn wenigstens für das, was er wirklich konnte, nicht nur für das, was andere über ihn erzählten.
      Ein paar Cheerleaderinnen lehnten am Zaun, kicherten und warfen Blicke. Er bemerkte sie, schenkte ihnen jedoch keine weitere Beachtung. Sein Blick glitt immer wieder zu seinem Handy, das er auf der Tribüne in sein T-Shirt eingewickelt hatte. Ein kurzes Vibrieren ließ ihn hoffen. Vielleicht hatte sie geantwortet, doch er sollte auch nicht zu hastig antworten. Am Ende hielt sie ihn noch für irgendeinen hobbylosen Spinner.

      Als der zweite Gong zur nächsten Stunde ertönte, ließ Kian den Ball in die Hände eines Mitspielers fallen, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und atmete tief durch. Zurück in den Betonalltag. Englisch. Er ging mit den anderen zurück ins Schulgebäude, durch die flirrenden Gänge, vorbei an Gruppen, Flüstern, schrillem Lachen. Die typische Schulgeräuschkulisse. Vor dem Englischraum blieb er kurz stehen, fuhr sich durch die verschwitzten Haare, ehe er eintrat. Isabella stand schon da. Natürlich. Penny tauchte auch auf – zu laut, zu überdreht, wie immer.
    • Mathe war für viele ein anstrengendes und langweiliges Fach. Selene fand es zwar nicht sonderlich spannend, doch sie fühlte sich darin sicher. Und das war für sie das Wichtigste in der Schule: gute Noten zu bekommen. Wie viel von dem Stoff sie später im Leben wirklich brauchen würde, war natürlich fraglich – doch darum würde sie sich kümmern, wenn die Zeit gekommen war.
      Konzentriert und still schrieb sie mit, arbeitete an den vom Lehrer gestellten Aufgaben und markierte sich Stellen, die sie noch nicht ganz verinnerlicht hatte. Ehe sie sich versah, war die Stunde vorbei. Die Zeit verging schneller, wenn sie konzentriert mitarbeitete. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, wie quälend es für sie wäre, wenn sich die Zeit langweilig zog.
      Dennoch war sie froh, endlich Pause zu haben. Erst packte sie ihre Sachen zusammen, verließ das Zimmer, da der Lehrer es hinter ihr abschließen musste, und ging zu ihrem Spind, um ihre Bücher dort abzulegen.
      Erst danach sah sie auf ihr Handy. Noch bevor sie die Nachricht öffnen konnte, rempelte sie jemand an. Erschrocken blickte sie auf, doch zwei unbekannte Jungs lachten nur, als sie ihren Blick bemerkten, und gingen weiter. Nichts Neues, aber trotzdem ärgerlich.
      Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Handy. Nachdem sie die Nachricht gelesen hatte, spürte sie zwei entgegengesetzte Gefühle gleichzeitig: Zum einen Freude, dass er ihr geschrieben hatte und dass er wohl ihre Art als angenehm genug empfand, um den „Mist“ weniger langweilig zu finden. Doch zum anderen rutschte ihr Herz in die Hose. Sie kannte sich selbst zu gut, vor allem in Gegenwart von Menschen, die sie nicht kannte. Sie war langweilig, schüchtern, zurückhaltend und unsicher. Sie brauchte Zeit und Vertrauen, um aufzutauen. Doch wer würde sich die Mühe machen? Selenes Finger schwebten über dem Bildschirm. Er meinte es nur gut, doch sie wusste: Wenn er sie jetzt hier sähe, würde er seine Aussage wohl wieder zurücknehmen. Ein bittersüßes Gefühl breitete sich in ihr Herz aus.

      Schon nahm Selene die Bücher für die nächsten Stunden, sodass sie nicht wie die anderen zum Spind rennen musste. Sie verließ das Schulgebäude und setzte sich auf eine der vielen Bänke, die im Schatten standen. Die Bank neben ihr war bereits von zwei Schülern besetzt, doch das störte sie nicht.
      Bevor sie ihre Kopfhörer in die Ohren stecken konnte, fing sie das Gespräch der beiden auf – und aus unerklärlichem Grund hörte sie zu.
      „Ich hab gehört, Kian hat wieder jemanden gemobbt, weil er ihm im Weg stand. Angeblich hat er ihn so heftig gegen die Wand geschubst, dass der sich was aufgerieben hat.“
      Selene kannte den Namen und das dazugehörige Gesicht. Wenn sie sich richtig erinnerte, teilten sie sich sogar ein Fach. Er war der Star der Schulmannschaft, beliebt und umschwärmt, umgeben von allerlei Gerüchten. Er lebte in einer ganz anderen Welt als sie, war ihr genaues Gegenteil. Trotzdem kam er ihr nie wirklich aggressiv vor – eher gelangweilt im Unterricht, aber weder protzig noch angriffslustig. Doch sie kannte ihn zu wenig, um zu urteilen. Und sie wusste, dass manche Gerüchte hier schnell übertrieben wurden. Wie viel von dem, was man über Kian erzählte, tatsächlich stimmte, wusste sie nicht – und es interessierte sie auch nicht groß, schließlich hatten sie bis heute nie etwas miteinander zu tun gehabt.
      Sie steckte sich die Ohrstöpsel rein und hörte Musik. Während sie am Handy war, öffnete sie die Chat-App.
      „Ich denke, die Lehrer würden uns auseinandernehmen, wenn die sehen, dass wir uns gegenseitig ablenken lassen, haha.“
      Sie bezweifelte es, doch irgendwo in einer Ecke ihres Geistes malte sie sich aus, wie sie mit ihm in einem gemeinsamen Heft herumkritzelten und leise lachten.
      „Manchmal frage ich mich, ob die Lehrer den Unterricht spannender gestalten würden, wenn sie für ihre Arbeit mehr Gehalt bekommen würden.“
      Sie dachte sich dabei: Dann wären die Schüler vielleicht motivierter, in die Schule zu gehen und zu lernen.
      „Aber lass mich raten: Dein Lieblingsfach ist Sport, hm?“
      Selene legte das Handy weg und begann wieder zu zeichnen. Zu lesen lohnte sich für die kurze Zeit nicht.

      Den Gong hörte sie gerade noch durch ihre Musik. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg zum Physikraum. Wie es der Zufall wollte, lief sie hinter einigen Schülern her und musste an der Person vorbeigehen, die in der Pause schon erwähnt worden war: Kian und die Cheerleader. Ihr Blick blieb eine Sekunde lang bei den Cheerleadern hängen, doch die Grimasse, die eines der Mädchen ihr bei ihrem Blick zuwarf, ließ Selene schnell wieder wegsehen und eilig weitergehen.
      Die Cheerleader gehörten ebenso zu einer anderen Welt wie sie selbst – gelenkig, beliebt, attraktiv und sportlich. Selene schüttelte kaum merklich den Kopf. Lieber blieb sie in ihrer eigenen Welt als in der der Cheerleader.
      Am Physikraum angekommen setzte sie sich an einen der Tische. Wenn sie sich richtig erinnerte, sollten sie heute ein Experiment mit ihrem Sitznachbarn durchführen. Den kannte sie seit einigen Monaten, und sie verstanden sich gut – zumindest so gut, dass man ein Buch teilen und sich gegenseitig nach der Mitschrift fragen konnte. Aber das war die meiste Interaktion, die sie mit anderen Mitschüler hatte.
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    • Isabella und Penny beobachteten Kian wie er den Raum betrat. Er würdigte sie jedoch keines Blickes und setzt sich neben einen Basketball-Teamkollegen an den Platz. "Hey hab gehört du hast wieder wem die Fresse poliert?", grinste der Gegenüber und streckte dem Basketballer die Hand aus, damit dieser einklatschte. Für einen Moment starrte der Braunhaarige sein Mannschaftskameraden nur an. Er war genervt und würde am liebsten laut werden, brüllen und sagen, dass das alles ein Missverständnis war und dennoch ... es würde ihm eh keiner glauben. Er hatte seinen Ruf und wie der heutige Morgen bereits zeigte, egal wie er sich verhielt, wurde er sowieso abgestempelt. "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert", raunte er also auf den Kommentar seines Gegenübers, verweigerte aber den Handschlag und setzte sich stattdessen auf den Platz. Allmählich traten auch die anderen Schüler ein. Penny und Isabella gingen durch den Gang der Schultische. Dabei legte Penny Kian eine Nachricht auf den Platz. Er wollte sie erst gar nicht öffnen, doch so länger sein Kollege neben ihm auf ihn starrte, desto unwohler fühlte er sich. Den kleinen Zettel mit seinen großen Händen öffnend, spürte er doch wie Penny und Isabella ihn von hinten im Raum zu beobachten schienen. Er las den Zettel. Eine Einladung zur Poolplarty am kommenden Freitag. Kian hob die Augenbraue, ehe er sich jedoch Gedanken machen konnte, was er davon halten sollte, trat die Lehrerin in den Raum. Der Sportler sinkte tiefer in seinen Stuhl und seufzte. Das Handy auf seinem Platz, hatte er seit dem Spiel auf dem Hof nicht mehr berührt. Er griff vorsichtig danach und schaute unter dem Tisch nach Moon.

      Im Gedanken war er nochmals bei der Party. Es wäre besser als zuhause bei seinem Vater und seiner Mutter zu bleiben ... doch so viel Alkohol und diese Mädels. Bei dem Gedanken wurde ihm leicht schummrig. Moons Nachricht, die er auf dem Bildschrim sah, erdete ihn jedoch. Er grinste amüsiert auf ihre Nachrichten. "Ja mein Lieblingsfach ist Sport und voraussichtlich wäre ich sogar ein ganz guter Sportlehrer - ist so ähnlich wie ein Team zu trainieren, denke ich. Bloß dass ich fieser als mein Sportlehrer wäre."
      Er legte das Handy wieder zur Seite und der Kollege neben ihm beugte sich zu ihm. Leise flüsterte er: "Welcher Schnalle schreibst du denn? Ständig grinst du und diese Einladung zur Poolparty von Penny und Isabella lässt du links liegen? Ich hoffe die hat dich schon rangelassen." Kian verzog das Gesicht. "Ach Dean weißt du manchmal geht es um mehr als nur Spaß." Er erwartete nicht, dass sein Kollege - er würde ihn nicht Freund nennen - das verstand. Der fragende Gesichtsausdruck seines Gegenübers bestätigte das, doch Kian war das egal. Er hatte hier sowieso nichts zu verlieren und er konnte gefühlt sagen, was er wollte, er blieb eh der beliebte Jock, den jedes Mädchen wollte, aber sonst keiner außerhalb des Sportteams ausstand. Wenigstens der Sport blieb ihm.

      Der Englischunterricht verlief kaum schneller als Erdkunde und mehrmals seufzte Kian genervt. Er hatte es aufgegeben im Unterricht wirklich mitzuarbeiten. Vielmehr kritzelte er wieder auf seinem Block rum oder starrte in die Leere ungeduldig mit dem Bein auf dem Boden wippend. Im Anschluss an diese Doppelstunde war zum Glück eine große Pause mit Mittagsessen und danach nochmals Unterricht ehe er zum späten Nachmittag endlich ins Training konnte. Als der Gong den Unterricht beendetem sprang er genauso schnell auf wie zuvor in Erdkunde, schnappte sich seinen Rucksack und ging mit Dean in die Mensa. Hier angekommen nahm er sich einen Salat und einen Softdrink und setzte sich mit drei weiteren Jungs an eine freie Bank im großen Saal. Die Szenerie war wie gewohnt quirlig, viele Schüler, wenig begehrtes Essen und zu viel Salat. Kian musste amüsiert lachen: "Jedes Mal derselbe Scheiß, weil alle die Pizza wollen." Er nahm sich etwas von seinem Salat, ehe am Tisch der Junge von heute Morgen vorbeilief. Kian verschluckte sich fast an seinem Mittagessen, ehe ihn wie eine Art Automatismus packte und er aufstand. Er ging auf den Jungen zu und blieb demonstrativ vor ihm stehen. "Hey, du", stotterte er etwas verlegen, "wegen heute morgen. Ich wollte mich nur ..." Ihm fehlten irgendwie die Worte und der Junge mit einer sichtbaren Wunde im Gesicht brüstete die Wangen. "Ach, Kian. Lass mich bloß alleine. Ich will nichts von dir!" Er versuchte an Kian vorbei zu kommen, dieser wollte ihn jedoch aufhalten. Dabei stolperte der Schüler über Kians Bein- Ein lauter Knall und nach folgendes Klirren: der Schüler legte sich mit seinem Tablett in der Mensa hin. Tosendes Gelächter. Der Braunhaarige wollte ihm aufhelfen, doch der Schüler schlug seine Hand weg und rannte aus dem großen Saal. Kian fluchte, doch seine Worte gingen in der Masse unter. Genervt setzte er sich an den Tisch. Die schlechte Stimmung spürten seine Team-Kollegen gar nicht und machten kräftig Witze über den Schülerschreck Kian. "Nun brauchen wir kein starkes Team mehr für die Liga. Die pissen sich eh alle ins Hemd wegen dir.", scherzte einer in der Runde.
    • Selene wartete ruhig, bis der Lehrer den Raum betrat. Währenddessen kam auch ihr Sitznachbar an, nickte ihr freundlich zur Begrüßung zu, was sie mit einem kurzen, höflichen Nicken erwiderte. Sie fing weder an zu zeichnen noch las sie etwas, sobald jemand neben ihr saß, fühlte sie sich seltsam angespannt. Es war, als würde jede Bewegung, jedes Geräusch, das sie von sich gab, in ihrem eigenen Kopf verstärkt widerhallen. Sie nahm die Gegenwart anderer dann auf eine hypersensible Weise wahr, fast so, als müsste sie sich für ihre bloße Existenz entschuldigen.
      Also schaute sie lieber aus dem Fenster, ließ ihren Blick in die Ferne schweifen, während ihre Gedanken immer wieder zum Handy glitten. Vielleicht hatte Knox inzwischen geantwortet? Doch die ersehnte Nachricht blieb aus, bis schließlich der Lehrer hereinkam und die Klasse sich setzte. Wie sie vermutet hatte, sollte eine kleine Partneraufgabe im Physikunterricht durchgeführt werden. Der Lehrer verteilte Arbeitsblätter, und Selene überflog sie sofort. Physik zählte zu den Fächern, die ihr lagen, solange sie die Grundlagen verstanden hatte und die Formeln Sinn ergaben, war vieles logisch für sie.
      Gemeinsam mit ihrem Sitznachbarn begann sie die Aufgaben zu bearbeiten. Sie tauschten sich aus, arbeiteten effizient und ruhig, ohne große Umwege. Am Ende besprach die Klasse die Ergebnisse gemeinsam mit dem Lehrer, für Selene war es eine solide Stunde gewesen. Nicht aufregend, aber zufriedenstellend.
      Nach zwei intensiven Stunden war sie dennoch froh, dass nun endlich die Mittagspause bevorstand. Während sich viele Mitschüler fast überstürzt erhoben und wie ein Strom in Richtung Mensa fluteten, blieb Selene noch sitzen. Sie mochte es nicht, in Menschenmengen eingezwängt zu sein, vielleicht lag es an ihrer zierlichen Größe oder daran, dass sie sich körperlich nie besonders durchsetzen konnte. Also ließ sie sich Zeit, schritt langsam durch den Flur und war unter den Letzten, die die Mensa erreichten.
      Sie hatte ohnehin nicht vor, dort zu essen. Allein an einem Tisch zu sitzen, während um sie herum Gruppen lachten und redeten, war ihr unangenehm. Stattdessen kaufte sie sich ein Sandwich und einen Apfel, bezahlte leise und wollte gerade Richtung Ausgang, um draußen zu essen, als sie eine kleine Aufregung bemerkte.
      Verwundert blieb sie stehen und wandte den Blick zur Seite, dort stand Kian, der berühmte Basketballspieler der Schule, zusammen mit einem anderen Jungen, der gerade zu Boden stolperte. Es dauerte einen Moment, bis Selene eins und eins zusammenzählte: War das der Junge, von dem heute Morgen die Rede gewesen war? Der, den Kian angeblich verletzt hatte? Die Wunde sah genauso aus, wie sie es sich anhand der Erzählung vorgestellt hatte.
      Doch als sie Kians Gesicht betrachtete, erkannte sie keine Böswilligkeit. Er sah eher überrascht aus, vielleicht sogar betroffen. Kein höhnisches Lachen, kein triumphierender Blick. Selene verstand, warum sich die Gerüchte um ihn wie ein Lauffeuer verbreiteten, er war eine auffällige Figur. Doch sie hatte zu wenig gesehen, um sich ein Urteil zu bilden, und die Wahrheit lag oft irgendwo dazwischen. Und selbst wenn – was zählte schon ihre Meinung? Sie hatte keinen Einfluss, niemand hörte auf sie. Also wandte sie sich ab und verließ das Schulgebäude.
      Draußen war es angenehm. Sie setzte sich auf dieselbe Bank wie zuvor, leicht abgeschirmt und ruhig. Ihr Buch hatte sie bei sich, aber bevor sie es aufschlug, griff sie noch einmal zum Handy. Eine neue Nachricht blinkte auf. Knox hatte geschrieben:
      „So habe ich das gar nicht betrachtet. Coach Knox. Hat doch einen schönen Klang. Bin ich froh, dass ich später nicht zufällig deine Schülerin bin.“
      Selene musste leise lachen. Mit einem amüsierten Funkeln in den Augen tippte sie ihre Antwort:
      „Aber manchmal brauchen Jugendliche jemanden, der ihnen in den Arsch tritt, yk.“
      Auch wenn sie nicht wusste, wie er wirklich mit Jugendlichen umging oder ob er diesen Weg ernsthaft verfolgte, wenn sie seine Art und seinen Humor berücksichtigte, konnte sie sich vorstellen, dass er eine Mischung aus streng und kumpelhaft sein würde. Jemand, der klare Grenzen setzte, aber dennoch auf Augenhöhe blieb.
      „Aber hast du mal darüber nachgedacht, professionell nach der High School zu spielen? Mit Stipendium oder so?“
      Sie interessierte sich wirklich für ihn. Nicht nur für den Chat-Knox, sondern für die Person dahinter.
      Weil sie annahm, dass auch er gerade Pause hatte, legte sie ihr Handy wieder zur Seite. Dann packte sie ihr Sandwich aus, nahm kleine Bisse, während ihre andere Hand das Buch aufschlug, das sie schon den ganzen Tag mit sich trug. Es war ein Buch gewesen, in dem es um einer herzzerreißende Liebesgeschichte in einer Fantasie Welt geht. Es blieben nur wenige Seiten übrig, die sie bis Ende des Schultages sicherlich fertig gelesen hatte. Ein neues Buch lag bereits auf ihrem Bett. EIn Buch, welches sie blind online gekauft hatte und nicht wirklich wusste worum es ging. Der Kauf geschah 2 Uhr morgens. Doch Selene bevorzugte Geschichten mit Romanze, etwas was sie bis heute leider noch nicht erlebt hatte und wusste, dass sie es wähend ihrer high school Zeit es auch nicht mehr erleben wird.
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    • Kian ließ das Handy langsam in seine Tasche gleiten, während der letzte Bissen seines mittlerweile durchweichten Salats sich kaum noch motivierend anfühlte. Moons Nachricht hallte nach – nicht laut, nicht fordernd, eher wie ein warmer Hauch inmitten all des lärmenden Chaos, das ihn umgab. Ihre Worte hatten etwas Leichtes, Ehrliches, und gerade das war es, was ihn traf. Weil er es nicht gewohnt war. Ein Schatten fiel auf den Tisch. Penny und Isabella, die gerade vorbeikamen und für einen Moment anheilten. „Du warst ja heute wieder der Knaller.“ Pennys Stimme war süßlich, doch der Ton zu gezwungen, als dass er ihn nicht als taktisch durchschaubar empfand. Kian hob nicht einmal den Blick, sondern schob seinen Teller wortlos zur Seite. Ihre Augen blitzten herausfordernd, fast gierig nach einer Reaktion. Doch er hatte keine Lust, ihr diesen Triumph zu gönnen. Stattdessen lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme über der Brust und ließ ein schiefes Grinsen aufblitzen. „Sagen wir, ich steh heute einfach nicht auf Groupies.“ Der Ton war gelassen, fast beiläufig. Penny jedoch zog nur eine Augenbraue hoch, ließ sich davon nicht beeindrucken.

      „Ach Kian, du tust immer so, als hättest du kein Interesse – und doch sieht man dir an, dass du nur darauf wartest, dass jemand durch deine Fassade bricht.“
      „Das sagen alle, die glauben, sie wären genau die Richtigen dafür.“ Er sah ihr nun direkt in die Augen, ohne ein Lächeln. Dann zu Isabella. Ein kurzes Schweigen trat ein. Sie lachte leise, nicht verlegen, sondern taktisch. „Du weißt gar nicht, was du verpasst“, murmelte sie, sah zu Isabella und trank einen Schluck aus der geklauten Dose. Dann stand sie auf, streifte ihm im Vorbeigehen wie zufällig mit den Fingern über die Schulter und warf ihm noch ein: „Denk über die Einladung nach. Vielleicht brauchst du mal ’ne Abwechslung. Von deinen ganzen Schatten.“ Mit diesen Worten verschwanden die beiden. Kian sah ihnen nicht nach. Er rührte sich nicht. Erst, als sie weit genug weg war, ließ er den Kopf leicht in den Nacken fallen, schloss die Augen für einen Moment. Die Stimmen um ihn herum waren nur Hintergrundrauschen. Kurz fragte er sich, was Moon wohl von einem Mädchen wie Penny halten würde. Wahrscheinlich dasselbe wie er. Er verließ genervt den Tisch, brachte sein Tablett weg und ging nach draußen in die Sonne, auf den Hof. Hier setzte er sich auf eine Tischtennisplatte.

      Er zog sein Handy hervor, überflog Moons letzte Nachricht noch einmal und tippte dann:
      „Du wärst die Sorte Coach, die einem Schokolade in die Hand drückt und gleichzeitig sagt ‚Jetzt sprint mal los!‘ Klingt fair, oder?“
      Ein kurzes Zögern. Dann fügte er hinzu:
      „Stipendium? Vielleicht... Aber sowas ist weit weg. An sich wäre das eine mega Idee, aber dafür brauchst du auch oft nen spitzen Lebenslauf und ich habe außer des Sports nicht so viel und ich bräuchte ohnehin zwei Lehrkräfte, die mich vorschlagen. Bei meiner aktuellen Situation als Raufbold? ;) Eher unmöglich.“ Die heutigen Vorfälle würden sicherlich nicht dazu führen, dass neben dem Sportlehrer noch jemand anderes für ihn Partei ergreifen würde.
    • Selene wusste nicht, ob sie das Buch jetzt in der Pause wirklich fertiglesen sollte – immerhin war sie fast durch, doch gleichzeitig reizte sie der Gedanke, heute Abend ein neues Buch zu beginnen. Es lag bereits auf ihrem Bett, der erste Satz schwirrte ihr im Kopf herum, seit sie den Klappentext gelesen hatte. Schließlich entschied sie sich: Ja. Jetzt zu Ende lesen. Dann konnte sie sich heute Abend ganz dem neuen Roman widmen.
      Sie lehnte sich etwas zurück, schätzte den kühlen Schatten über ihr, der sie vor der Mittagssonne schützte. Das Buch lag angenehm leicht in ihren Händen, ihre rechte Hand ruhte auf dem Schoß, genau dort, wo auch ihr Handy lag. So würde sie sofort spüren, wenn Knox zurückschrieb.
      Und tatsächlich, nur wenige Minuten später begann das Handy zu vibrieren. Doch Selene war gerade mitten in einer spannenden Szene. Sie zwang sich, weiterzulesen. Noch drei Seiten bis zum Kapitelende. Erst als sie die letzte Zeile las, das Kapitel endete und sie das Buch sachte zuklappte, hob sie das Handy auf und öffnete die Nachricht.

      Kaum hatte sie die erste Zeile gelesen, musste sie unwillkürlich auflachen. Ein leises Prusten entkam ihr, und reflexartig schlug sie sich mit der freien Hand vor den Mund, damit nicht mehr herausrutschte. Es war zu komisch.
      Sie grinste, während ihre Finger über den Bildschirm flogen:
      „Waaas? Gar nicht wahr, wie kommst du jetzt darauf? o.O, schrieb sie scherzhaft zurück.
      „Ich mag zwar unsportlich sein und keine Ahnung von Sport haben, aber ich weiß zumindest, dass Schokolade da nichts zu suchen hat.“

      Sie konnte sich richtig vorstellen, wie er grinste, als er das tippte, was sie so zum Lachen gebracht hatte. Und dann las sie weiter, die Nachricht über das Sportstipendium, die Sache mit den zwei Lehrkräften, die sich für ihn einsetzen müssten.
      Selene runzelte nachdenklich die Stirn. Er? Ein Raufbold? Das passte für sie nicht zusammen.
      „Hmm, das hört sich doof an. Aber wie du gesagt hast, es ist etwas hin. Vielleicht ändert sich ja was an der Situation. Und bestimmt spricht dein Coach noch mal mit einem anderen Lehrer, um sich überzeugen zu lassen – wenn er dein Potential sieht. Wie doof ist das denn, ein Talent verschwenden zu lassen wegen so etwas Banalem?

      Es ärgerte sie wirklich. Es war so typisch Schule – Menschen für Fehler aus der Vergangenheit abstempeln, als würden sie sich nicht verändern können. Dann tippte sie weiter und ohne groß darüber nachzudenken, schrieb sie:
      "Du und Raufbold? Das kann ich mir nicht vorstellen. Dafür bist du zu witzig und charmant.“
      Kaum hatte sie die Nachricht abgeschickt, wurde ihr bewusst, was sie da gerade geschrieben hatte. Charmant? Ihr Herz setzte gefühlt kurz aus. Mit einer panischen Geschwindigkeit legte sie das Handy weg und griff schnell wieder zum Buch, als könnte das ihre eigene Scham auslöschen. Sie zwang sich, die Zeilen zu lesen, aber die Worte tanzten nur halbherzig vor ihren Augen.
      Ihr Kopf wurde warm. Diese typische, kribbelnde Wärme, die sie kannte, wenn ihr etwas unangenehm war. Nicht, weil sie es nicht meinte, sondern weil sie es zu ehrlich gemeint hatte. Und jetzt fürchtete sie seine Reaktion. Vielleicht würde er es albern finden. Oder lachen.
      Sie biss sich auf die Unterlippe.
      "Warum hast du das geschrieben, Selene…“, murmelte sie leise in sich hinein, während sie versuchte, sich wieder aufs Buch zu konzentrieren. Doch ihr Blick wanderte immer wieder zum Handy. Sekunden schienen sich in Minuten zu dehnen.
      Im besten Fall, dachte sie, würde er es einfach mit Humor nehmen. Vielleicht mit einem Zwinkern antworten. Oder so tun, als wäre es gar nicht aufgefallen.
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    • Kian saß noch auf der Tischtennisplatte, als sein Handy erneut vibrierte. Das Display leuchtete auf – Moon. Wie immer hatte sie es geschafft, ihm ein Grinsen zu entlocken, noch bevor er überhaupt alles gelesen hatte. Ihre Worte waren wie kleine Rettungsringe, die ihn über den Tag trugen, selbst wenn er manchmal nicht wusste, wohin genau.
      „Aber manchmal brauchen Jugendliche jemanden, der ihnen in den Arsch tritt, yk.“
      „Hast du mal darüber nachgedacht, professionell nach der High School zu spielen? Mit Stipendium oder so?“
      Er lehnte sich zurück, ließ die Beine baumeln, das Handy über sich in den Himmel gestreckt. Für einen Moment blinzelte er in das Sonnenlicht, das zwischen den Blättern über ihm flackerte. Ihre Fragen trafen genau die Stellen, über die er sonst kaum mit jemandem sprach. Über die er selbst kaum nachdachte, weil sie zu viel Mut erforderten.
      Er tippte:
      „Ich hab schon drüber nachgedacht, klar. Aber ich hab halt das Gefühl, ich müsste erst mein ganzes Leben umschreiben, bevor das jemand ernst nimmt. Du brauchst gute Noten, Leute, die für dich sprechen… Stattdessen sammel ich eher Schlagzeilen als Empfehlungen.“
      Ehe er den Text absendete, las er ihn nochmal, löschte ihn und antwortete nur kurz:
      „Danke, dass du trotzdem dran glaubst. Echt.“

      Mit einem tiefen Atemzug glitt das Handy wieder in seine Jackentasche. Dann rutschte er von der Tischtennisplatte und schlenderte zurück zum Schulgebäude. Der Wind spielte mit ein paar Papierfetzen am Boden, irgendwo rief jemand nach einem Ball, den er aus Versehen über den Zaun geschossen hatte. Für Kian klangen all diese Stimmen weit weg. Als er das Klassenzimmer erreichte, war es schon gut gefüllt. Er ließ sich in die eine der ersten Reihen fallen, die Tasche achtlos auf den Boden geworfen, den Stuhl schräg gekippt, als müsste er gegen die Wand lehnen. Wer wollte schon freiwillig so weit vorne sitzen, fragte er sich.

      Für einen Moment war da nur Stille. Die Art von Stille, in der man durchatmen konnte. Er fuhr sich durch die Haare, lehnte den Kopf gegen die Wand hinter sich und schloss kurz die Augen. Dann öffnete sich die Tür. Schritte. Zart. Zögerlich. Sein Blick glitt zur Seite – Selene. Er kanntw ihren namen nicht und hatte sie auch noch nie hier wahrgenommen, doch Schule war für Kian eher eine Bürde als eine Freude. Blass, fast unsichtbar in ihrer Präsenz, und doch nahm er sie nun wahr. Vielleicht, weil sie eine der wenigen Schülerinnen war, die nicht versuchten, etwas darzustellen. Kein Lächeln, das ihn beeindrucken sollte. Kein Kichern, kein Spiel. Ihr Blick glitt durch den Raum – jeder Platz besetzt. Bis auf der neben ihm. Kian senkte automatisch den Blick, rutschte auf seinem Stuhl ein Stück zur Seite, als würde er ihr wortlos signalisieren: Wenn du willst. Keine Geste, kein Grinsen – nur dieses kleine, kaum merkliche Nicken, das zwischen zwei Menschen stand, die keine Worte brauchten.

      Sie setzte sich. Vorsichtig. Still. Fast so, als wolle sie nicht stören. Ein oder zwei Mädchen hinter ihnen tuschelten, doch der Basketballer war es längst gewöhnt und überhörte dies. Stattdessen starrte wieder nach vorne, doch er spürte Selenes Anwesenheit deutlicher als gedacht. Ihr Duft – leicht, frisch, kaum wahrnehmbar. Ihr Buch, das sie zurechtrückte. Die Art, wie sie sich klein machte, um niemandem im Weg zu sein. Er beugte sich leicht vor, öffnete sein Heft und schrieb ein paar Zeilen mit – mechanisch. Ohne echtes Interesse. Doch er konnte es sich nicht verkneifen, kurz seitlich zu sehen. Ihre Handschrift war ordentlich, fast filigran.

      Schließlich flüsterte er, ohne sie direkt anzusehen, mit rauer Stimme, die mehr Ironie als echte Frage trug: „Wenn ich gleich einschlafe, weckst du mich dann bitte nicht?“ Keine Antwort abwartend, lehnte er sich zurück, als wäre der Satz einfach in den Raum gefallen. Wie eine Feder, die entscheiden durfte, ob sie liegen blieb – oder wieder aufflog.
    • Selene hatte sich so sehr bemüht, sich vom Gedanken an ihre eigene Unbedachtheit abzulenken, dass es ihr schließlich auch gelang. Ihr Buch riss sie wieder in seinen Bann, als hätte es nur darauf gewartet, dass sie sich ihm erneut mit voller Aufmerksamkeit widmete. Die Seiten flogen unter ihren Fingern dahin, Seiten um Seiten. Sie vergaß die Zeit, vergaß ihr Handy, vergaß sogar für einen Moment Knox.
      Erst das schrille Läuten der Schulklingel riss sie zurück in die Realität. Reflexartig hob sie den Kopf. Alle Schüler in der Nähe begannen sich bereits zu bewegen. Ein flüchtiger Blick auf die Seiten zeigte ihr, dass ihr noch drei Seiten fehlten, die sie in aller Eile las. In ihrem Kopf fluchte sie am Ende, nahm das Buch in die Hand, nahm ihren Müll und machte sich eilig auf den Weg zum Spind.
      Die Gänge waren bereits größtenteils leer. Ihre Schritte hallten zwischen den Schließfächern wider, während sie sich beeilte. Doch plötzlich fiel ihr etwas ein. Ihr Handy. Sie hatte es nach der letzten Nachricht nicht mehr in die Hand genommen.
      Mitten im Gang blieb sie stehen, ignorierte den Zeitdruck und zog das Handy aus der Tasche. Ein kurzer Vibrationston war das Einzige, was sie verpasst hatte: eine Nachricht von Knox. Die Antwort war knapp. Viel zu knapp für das, was sie ihm geschrieben hatte.
      Selene las sie noch einmal. Und noch einmal. Kein offensichtlicher Sarkasmus, kein Witz, keine ironische Bemerkung. Einfach nur kurz. Und doch spürte sie etwas darin. Vielleicht bildete sie es sich ein aber es fühlte sich an, als würde er bewusst Abstand zu dem Thema halten. Es war kein Thema, über das er jetzt sprechen wollte. Vielleicht generell nicht. Und das war okay.
      Sie war nicht jemand, der anderen Dinge entlocken wollte, die sie nicht teilen wollten. Wenn es der richtige Moment war, würde er reden. Bis dahin wollte sie ihm das Gefühl geben, dass sie da war, ohne zu drängen. Vielleicht hatte er niemanden, dem er bisher etwas anvertraut hatte. Vielleicht war es nicht ihr, sondern sich selbst, dem er nicht traute.
      Selene schob das Handy wortlos zurück in ihre Tasche und setzte ihren Weg fort, bevor sie noch zu spät kam.
      Im Klassenzimmer angekommen, war es bereits zu spät für eine unauffällige Platzwahl. Fast alle waren da. Es gab nur einen freien Platz neben Kian. Für einen Moment erstarrte sie. Es war nicht, dass sie Angst vor ihm hatte, er hatte ihr nie etwas getan. Doch die Blicke. Die unausgesprochenen Worte, die vielleicht mitgedacht wurden. Jeder wusste, wer Kian war. Und niemand, niemand, setzte sich zufällig neben ihn.
      Einige Köpfe hoben sich. Ihre Schritte wurden leiser, zögerlicher. Sie spürte die Blicke auf ihrem Rücken, als sie zum Platz schritt. Kian jedoch machte keine abwehrende Bewegung, zog seinen Stuhl etwas zur Seite, als Zeichen, dass es für ihn kein Problem war.
      Selene setzte sich vorsichtig, ließ den Blick auf ihren Tisch gerichtet. Keine Worte. Kein Blick zur Seite. Es fühlte sich surreal an, hier zu sitzen neben ihm. Das erste und wahrscheinlich einzige Mal in ihrem ganzen Schulleben.
      Sie holte ihre Sachen raus, legte ihre Bücher ordentlich hin und bemühte sich, nicht aufzufallen. Der Unterricht begann, und sie zwang sich, mitzuschreiben. Doch immer wieder drifteten ihre Gedanken ab, zurück zu Knox, zu seinem einen Satz. Warum sie das so beschäftigte, wusste sie nicht genau. Vielleicht weil sie es gespürt hatte. Diese unterschwellige... Traurigkeit?
      Plötzlich hörte sie eine Stimme neben sich. Leise. Nicht direkt an sie gerichtet und doch konnte er nur sie meinen. Ihr Körper zuckte leicht zusammen, völlig überrumpelt. Sie schaute nicht zu ihm. Stattdessen atmete sie hörbar durch die Nase aus, nicht genervt, eher amüsiert. Die Bemerkung, so unauffällig sie auch war, erinnerte sie seltsam stark an Knox. Dieselbe Art von ironischem, beiläufigem Humor.
      Sie nickte leicht, fast unmerklich, und schrieb weiter mit. Kian sagte nichts weiter. Und auch sie blieb stumm.
      Die Minuten vergingen. Der Lehrer schrieb an die Tafel, erklärte etwas zu einem Diagramm, das sie nur halb verstand. Ihre Gedanken flackerten hin und her, bis sie – ohne groß nachzudenken – ihr Buch aus der Tasche zog, es auf die Tischkante stellte und es so leicht schräg öffnete, dass es Kian aus dem Blickfeld des Lehrers nahm. Zumindest hoffte sie das.
      Wieso sie das tat, wusste sie selbst nicht. Vielleicht war es instinktiv. Vielleicht, weil er sie angesprochen hatte. Vielleicht, weil sie spürte, dass er einfach seine Ruhe wollte. Sie wusste nur: Manchmal musste man keine Worte sagen, um einem anderen Menschen ein kleines Stück Raum zu geben.
      Sie war nie jemand gewesen, der gern im Unterricht schlief. Aber sie war auch niemand, der über andere urteilte. Und sie hatte nicht vor, jemanden wie Kian zum Feind zu machen – nicht in einer Schule, in der Gerüchte schneller liefen als das Licht.
      Also sagte sie nichts. Es war ihr gleich was er von ihrer Aktion hielt, denn schließlich hatte sie keine böswillige Hintergedanke gehabt. Vielleicht würde er die Situation nutzen, um seine AUgen für wenige Minuten zu schlieén, oder aber auch hatte er diese bereits geschlossen. Die Blondine traute sich nicht zur Seite zublicken, Angst vor der möglichen Aufmerksamkeit anderer hinter ihrem Rücken. Dennoch konnte die Situation nicht surrealer für sie wirken. Aufgrund ihrer vollbrachten Tat wurde Kians Präsenz ihr schmerzhaft bewusst.
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    • Kian hatte Selene nicht weiter beachtet. Nicht, weil sie ihm egal war – sondern weil sein Kopf in einer anderen Welt festhing. In einer Welt, die nur durch ein paar digitale Worte bestand. Moons letzte Nachricht hallte in ihm nach, und obwohl ihre Worte alles andere als vorwurfsvoll gewesen waren, hatte er das Gefühl, sie enttäuscht zu haben. Hatte er zu schroff reagiert? Er mochte es nicht, wenn man ihm zu nahekam. Wenn Fragen zu persönlich wurden. Wenn Worte dort entlangschrammten, wo alles nur noch aus Splittern bestand. Seine Familie war kein Fundament – sie war ein Scherbenhaufen. Und wer auf Scherben trat, blutete.

      Ein Sportstipendium… dafür brauchte man mehr als Talent. Man brauchte Lehrer, die an einen glaubten. Und Eltern, die unterschrieben, die förderten, die präsentabel waren. Keine alkoholgeschwängerten Flüche am Frühstückstisch. Kein Vater, der vergessen hatte, was Verantwortung bedeutete. Kein Zuhause, bei dem man ständig das Gefühl hatte, man müsse auf Zehenspitzen leben, um nicht alles einstürzen zu lassen.
      Er schluckte schwer. Ein Kloß hatte sich in seiner Kehle festgesetzt, der nicht weichen wollte. Schuldgefühle krochen ihm den Nacken hoch wie kalte Finger. Er hatte Moon abgewimmelt. Schon wieder. Dabei war sie der einzige Mensch, der ihn nicht sofort in eine Schublade steckte. Er wollte nach seinem Handy greifen, doch da bewegte sich etwas neben ihm. Selene – das leise Mädchen, das sich nie in den Vordergrund drängte – schob ihr Buch ein wenig vor sich auf, sodass es auch in Kians Sichtfeld rückte. Ein unscheinbarer Moment, kaum beachtlich für Außenstehende. Doch für ihn reichte es, um schwach zu lächeln. Er drehte leicht den Kopf zu ihr, sah sie für einen Moment aus dem Augenwinkel an. Da war nichts Aufgesetztes. Kein Versuch, Aufmerksamkeit zu erzwingen. Sie war einfach nur… da.

      Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Vielleicht ein Dank. Oder einfach nur ein "Hey". Doch die Worte blieben stecken. Stattdessen nickte er ihr nur leicht zu – fast unmerklich – und wandte sich wieder nach vorne. Er ließ den Kopf auf seine verschränkten Arme sinken, das Gesicht halb verborgen, die Augen geschlossen. Nur für ein paar Minuten. Nur, um der Welt kurz zu entfliehen. Er atmete tief ein, hörbar und schwer, als würde der Sauerstoff in seinen Lungen nicht ausreichen, um den Druck auf seiner Brust zu lösen. Es war nicht Müdigkeit. Nicht Hunger. Nicht einmal Wut.
      Es war diese Leere, die sich meldete, wenn man das Gefühl hatte, jemandem wehgetan zu haben, der es nicht verdient hatte. Moon. Die Minuten verstrichen langsam, der Unterricht zog sich zäh dahin, Worte des Lehrers prallten wie Gummibälle an ihm ab. In seinem Inneren formte sich eine Entscheidung. Er konnte das nicht so stehen lassen.

      Er griff nach seinem Handy, schob es unter dem Tisch auf den Schoß und entsperrte es. Die App war noch offen. Ihre Nachricht als gelesen markiert. Keine Antwort. Und plötzlich fühlte er sich wie der Typ, der vor verschlossener Tür stand – diesmal auf der anderen Seite. Er tippte:
      „Hey, sorry für meine kurze Antwort. Ist 'n nicht so einfaches Thema.“ Er stockte, biss sich auf die Lippe. Dann ergänzte er:
      „Lass uns lieber über was Schöneres reden: Bringst du mir eine Schokolade vorbei? ;)“
      Ein schelmisches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, als er den Text abschickte. Allein der Gedanke an sie – an ihre Wärme, ihren Humor, dieses stille Verständnis – war wie ein Pflaster auf seiner aufgeschürften Stimmung. Moon sah ihn nicht als Rüpel. Nicht als Pokal. Nicht als Problem. Sie sah ihn als den, der er war, wenn niemand hinsah. Als Knox. Er ließ das Handy wieder in seine Hosentasche gleiten, legte den Kopf an die kühle Tischplatte und schloss für einen Moment die Augen. Es war erstaunlich, wie beruhigend allein ihre virtuelle Nähe wirkte. Eine seltsame, digitale Zuflucht. Und doch: echt.

      Dann ertönte der ersehnte Gong. Endlich. Kian hob den Kopf, richtete sich auf. Seine Bewegungen waren träge, als würde er sich aus einem Traum lösen müssen. Der Lehrer hatte den Unterricht bereits beendet, Schüler packten ihre Sachen, Stühle rückten. Er fuhr sich durch die Haare, raffte seine Sachen zusammen und stand langsam auf. Bevor er den Raum verließ, fiel sein Blick erneut auf Selene. Wie sie dort saß, fast schon scheu, aber irgendwie geerdet. Nicht verloren – nur leise. Und genau das irritierte ihn. Weil sie so anders war. So unaufdringlich und doch nicht unsichtbar. Ihre Anwesenheit hatte ihn nicht gestört. Im Gegenteil. Irgendetwas an ihr wirkte… friedlich. Vielleicht war es das. Eine Art von Stille, die nicht leer war, sondern voll. Voll mit Dingen, die man nicht sah, aber spürte, wenn man genau hinsah. Ein Gefühl zog kurz durch seine Brust – flüchtig, kaum greifbar. Kein Verlangen, keine Schwärmerei. Eher… Neugier. Eine Ahnung davon, dass da jemand saß, der vielleicht mehr verstand, als sie selbst glaubte. Er hielt ihren Blick nicht fest. Er nickte nur leicht, kaum sichtbar – wie ein stilles „Bis später“, das keine Worte brauchte. Dann verließ er den Raum. Training wartete. Und ein neuer Gedanke, der ihn leiser begleitete als alles andere an diesem Tag.
    • Selene versuchte, sich auf den Unterricht zu konzentrieren und der Versuchung zu widerstehen, zu Kian hinüberzuschauen, seit sie bemerkt hatte, dass ihre Aufmerksamkeit auf ihn gedanklich ruhte. Mit der rechten Hand spielte sie unbewusst mit dem kleinen Mondanhänger an ihrem Armband, der ihr half, sich zu beruhigen und nicht abzuschweifen.
      Nach einer Weile gelang es ihr, in den Unterrichtsstoff einzutauchen, und die Stunde verging schneller, als sie erwartet hatte. Die Nachricht von Knox bemerkte sie nicht, da sie wie immer vor Unterrichtsbeginn ihr Handy stumm geschaltet hatte. Eine Gewohnheit, die ihr half, den Fokus zu behalten und dass die Lehrer ihr Handy nicht beschlagnahmen.
      Penibel und mit beinahe mechanischer Präzision schrieb sie alles von der Tafel ab. In diesem Moment dachte sie weder an Kian noch an Knox. Nur ab und zu fragte sie sich, wie sie auf Knox' Nachricht antworten sollte, aber sie schob die Gedanken schnell beiseite.
      Die Zeit verstrich, der Unterricht neigte sich dem Ende zu. Um sie herum packten bereits viele ihre Sachen, als könnten sie es kaum erwarten, dem stickigen Klassenzimmer zu entkommen. Selene jedoch ließ sich Zeit. Sie wollte keinesfalls gleichzeitig mit Kian aufstehen, um unangenehme Blicke oder missverständliche Situationen zu vermeiden. Ihre Bewegungen waren bedacht, fast vorsichtig, während sich in ihrem Kopf langsam, aber stetig eine Antwort auf Knox' Nachricht formte.
      Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung neben sich wahr, eine Präsenz, die groß und eindeutig war. Sie konnte nicht anders, als kurz zu ihm hinüberzusehen. Ob er die Zeit genutzt hatte, um wirklich zur Ruhe zu kommen? Jemand wie er, beliebt und ständig von Menschen umgeben, brauchte vermutlich auch seinen Rückzugsort. Selene stellte es sich anstrengend vor, jeden Tag mit der Aufmerksamkeit anderer umgehen zu müssen und dabei stets zu unterscheiden, wer es ehrlich mit einem meinte.
      Ihre Welten hätten unterschiedlicher nicht sein können, und sie war dankbar, nicht in seiner leben zu müssen. Selene brauchte ihre Ruhe, ihren eigenen Raum. Sie war es gewohnt, allein zu sein, sowohl in der Schule als auch zu Hause. Unterstützung hatte sie keine, und wenn etwas schiefging, musste sie selbst die Konsequenzen tragen. Vielleicht war genau das der Grund, weshalb sie sich so sehr anstrengte, die Schule mit Bravour zu bestehen. Auch wenn sie es sich nicht eingestand, hoffte sie doch, mit ihren guten Noten ein kleines Stück Anerkennung von ihrem Vater zu bekommen. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie wahrscheinlich vergeblich wartete.
      Als Kian ihren Blick bemerkte, kreuzten sich ihre Augen. Eigentlich war das nichts Besonderes, nichts, das in einem Schulalltag nicht ständig geschah. Doch für Selene fühlte es sich in diesem Moment viel zu intensiv an, als hätte man sie bei etwas Verbotenem erwischt. Vielleicht lag es an der Kluft zwischen ihnen, an dem Gefühl, nicht in seine Welt zu gehören.
      Er schenkte ihr keine besondere Aufmerksamkeit. Und doch blieb ihr Blick an ihm hängen. Sie bemerkte Kleinigkeiten. Den ruhigen Ausdruck in seinem Gesicht, die Haltung seiner Schultern. Hatte er ihr gerade zugeknickt? Oder bildete sie sich das nur ein? Wenn er es getan hatte, war es sicher nur Höflichkeit. Oder eine Art stiller Dank für die Geste von vorhin. Eine Antwort würde sie darauf wohl nie bekommen.
      Ohne zu zögern verließ Kian den Raum. Selene atmete kaum merklich aus. Sie wollte keine neuen Gerüchte, keine unnötigen Geschichten, die durch die Flure schwirrten. Doch entgegen dem typischen Bild eines Sportlers hatte Kian sich während des Unterrichts ruhig und respektvoll verhalten. Kein Laut, kein Witz, kein Stören. Einfach präsent.
      Selene war eine der Letzten, die das Klassenzimmer verließen. Ohne Umweg ging sie zu ihrem Spind und verstaute ihre Bücher sorgfältig. Sie hätte jetzt nach Hause gehen können, doch sie entschied sich dafür, noch in die Bibliothek zu gehen. Zu groß war die Versuchung, zu Hause sofort mit dem neuen Buch zu beginnen. Hier hingegen, zwischen alten Seiten und stillen Gedanken, konnte sie lernen.
      Mit den nötigen Büchern unter dem Arm machte sie sich auf den Weg zur Bibliothek und suchte sich dort einen Platz am Fenster. Sonnenlicht fiel in schrägen Streifen auf den Tisch. Sie setzte sich, holte ihre Unterlagen hervor, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und nahm ihr Handy in die Hand.
      Ohne zu zögern öffnete sie die App, um Knox’ Nachricht zu lesen. Um ehrlich zu sein, hatte sie gar nicht mit einer Nachricht von ihm gerechnet. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer, als sie seinen Namen sah. Rasch überflog sie seine Worte, und ein leises Lachen durchbrach die Stille um sie herum. Ihre Vermutung war richtig gewesen. Das Thema war wirklich schwierig. Sie machte sich innerlich eine Notiz, es in Zukunft vorsichtiger anzusprechen.
      Sie antwortete zuerst auf seine frühere Nachricht. "Alles gut, mach dir keinen Kopf. Wenn du jemanden brauchst, um darüber zu reden, ich bin gerne für dich da." Den zweiten Satz hätte sie sich vielleicht sparen können, aber er war ihr wichtig. Sie wollte, dass er wusste, dass sie für ihn da war, wenn er sich öffnen wollte. Aus freien Stücken.
      Dann hielt sie kurz inne, ihr Blick wanderte hinaus zum Sportplatz. Die Sonne schien inzwischen kräftiger, und irgendwo lief Musik aus einem entfernten Lautsprecher. Sie begann zu tippen. "Wenn du für mich fünf Runden um den Sportplatz rennst, gerne. Ich habe gehört, dunkle Schokolade ab siebzig Prozent hat positive Effekte auf das Herz-Kreislauf-System. Also finde ich es eigentlich gar nicht so schlecht, Schokolade in den Sport zu integrieren."
      Ein kleines Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Sie wusste selbst, wie unsinnig ihre Nachricht war. Doch bei Knox konnte sie solche Dinge sagen, ohne Angst vor Urteil zu haben. Bei ihm musste sie nicht ständig kontrollieren, wie sie wirkte. Ihr Humor war nicht der beste, das wusste sie. Deshalb versuchte sie ihn selten bewusst einzusetzen. Doch bei ihm fiel ihr vieles leichter.
      Sie legte das Handy beiseite, ließ die Vibration an und wandte sich wieder ihren Unterlagen zu. Sie konzentrierte sich auf den Stoff, den sie heute im Unterricht nicht ganz verstanden hatte. Jene Themen, die sie noch vertiefen wollte. Wenn sie sich richtig erinnerte, würde Knox heute noch trainieren. Vielleicht draußen. Vielleicht drinnen.
      Manchmal stellte sie sich vor, wie sie ihm beim Training zusah. Auch wenn sie nicht wusste, wie er aussah. Ein seltsamer Gedanke. Doch innerlich hoffte sie, dass Knox die Kraft finden würde, seinem Wunsch mit Ehrgeiz zu folgen.
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    • Der Ball flog mit einem satten Geräusch gegen das Brett, prallte ab, wurde eingefangen, zurückgepasst. Kian sprintete die Linie entlang, nahm den Pass auf, drehte sich, Korbleger. Treffer. Kein Jubel, kein Kommentar – nur Atem, Schweiß, Konzentration. Er hatte das Training nicht geschwänzt. Das hätte er nie. Nicht bei all dem, was das Spiel ihm bedeutete. Basketball war das Einzige, was sich konstant richtig anfühlte – egal, wie kaputt der Rest war. Die Halle war stickig, die Luft schwer. Der Coach brüllte Kommandos, während die Jungs sich gegenseitig antrieben. Für Kian war das wie ein Reinigungsritual. Jeder Sprint, jede Finte, jeder Treffer war ein Schlag gegen das Chaos in seinem Kopf. Gegen den Krach zuhause. Gegen Penny. Gegen das Gefühl, Moon vor den Kopf gestoßen zu haben.

      Gerade, als der Coach zur nächsten Übung ansetzte, vibrierte sein Handy in der Hosentasche der Jogginghose. Ein flüchtiger Blick: Moon.
      Er fischte es in einer Trinkpause raus, ließ sich gegen die kühle Wand neben der Bank sinken. Seine Finger glitten über das Display, ein müdes, aber echtes Lächeln huschte über seine Lippen. „Fünf Runden? Und was krieg ich, wenn ich zehn laufe?“ Er grinste.
      „Danke… ehrlich. Für die Worte. Ich weiß nicht, ob ich gut darin bin, über das zu reden, was mich wirklich beschäftigt. Aber allein zu wissen, dass du da wärst, falls ich’s irgendwann doch versuch – das ist mehr, als die meisten je angeboten haben.“ Und dann – leise, fast zögerlich:
      „Vielleicht ist es dumm, sich bei jemandem fallen zu lassen, den man noch nie gesehen hat. Aber wenn ich ehrlich bin… mit dir fühlt es sich nicht falsch an.“

      Er atmete durch, steckte das Handy weg, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und sprang wieder auf die Füße. Weiter. Immer weiter. Das Spiel wartete nicht. Das Training zog sich. Schweiß rann ihm den Nacken hinab, seine Schuhe quietschten über das Parkett, seine Muskeln brannten – doch das war genau das, was er jetzt brauchte. Kein Denken. Nur Bewegung. Er ging an seine Grenzen, wurde vom Coach mehrfach gelobt – was selten war – und ließ sich auch von den schiefen Kommentaren seiner Teamkollegen nicht aus dem Rhythmus bringen. Dieses Mal spielte er nicht für sie. Auch nicht für die Scouts. Dieses Mal spielte er für sich. Für das, was in seinem Kopf brodelte. Und vielleicht… ein bisschen für sie. Als der Schlusspfiff ertönte und der Coach das Training beendete, stand Kian keuchend am Rand, das Shirt durchgeschwitzt, die Haare verklebt. Er stützte sich auf die Knie, atmete schwer, während seine Gedanken langsam zur Ruhe kamen. Später, geduscht, Tasche über die Schulter geworfen, trat er hinaus auf den Parkplatz. Die Sonne stand bereits tief, warf lange Schatten über den Asphalt. Es war dieser Moment, in dem der Tag atmete, bevor er endgültig verstummte.

      Er grinste leise, ging weiter zu seinem Wagen – ein alter, silberner Toyota mit verbeultem Kotflügel, der mehr durchhielt, als er sollte. Kian warf die Tasche auf den Beifahrersitz, ließ sich hinter das Steuer fallen und startete den Motor. Der Bass vibrierte leise durch die Boxen, irgendwas mit langsamen Drums und tiefem Beat. Der Tag war zu Ende – aber etwas in ihm war noch nicht zur Ruhe gekommen. Vielleicht… weil er das Gefühl hatte, dass da noch etwas auf ihn wartete. Etwas, das er nicht verlieren wollte.
    • Da Knox trainierte, nahm Selene an, dass er ihr für eine Weile nicht zurückschreiben würde. Sie legte das Handy zur Seite und konzentrierte sich wieder auf ihre Notizen. Doch anders als vorhin im Unterricht fiel es ihr nun überraschend leicht, sich auf den Stoff einzulassen. Der Text von Knox hatte etwas in ihr gelöst, vielleicht war es die Aufrichtigkeit seiner Worte oder das Gefühl, wirklich gesehen worden zu sein.
      Sie vertiefte sich in ihre Aufgaben, ließ Zahlen und Konzepte durch ihren Kopf wandern, bis das leise Vibrieren auf dem Tisch sie zurück in die Realität holte. Ihr Handy-Display leuchtete auf. Reflexartig griff sie danach und blinzelte verwundert. Er hatte tatsächlich geantwortet. Während des Trainings.
      Die Nachricht, die sie nun las, ließ sie einen Moment lang die Luft anhalten. Es war nichts Spektakuläres, keine blumige Sprache, kein dramatisches Geständnis aber es war ehrlich. So ehrlich, dass es sie traf wie ein Windstoß, der alles zum Stillstand brachte.
      Sie hatte nicht erwartet, dass er während des Trainings die Zeit oder überhaupt den Impuls finden würde, ihr zu schreiben. Und schon gar nicht mit einer solchen Offenheit. Es war nicht so, dass sie ihm das nicht zugetraut hätte. Vielmehr war sie überrascht, dass er sich traute, ein Thema anzusprechen, das ihm offenbar schwerfiel. Zwischen den Zeilen las sie Dankbarkeit, aber auch etwas anderes, Einsamkeit.
      Er hatte geschrieben, dass es mehr war, als die meisten ihm je angeboten hatten. Und das nur, weil sie ihm gesagt hatte, dass sie für ihn da sei. Etwas, das für sie selbstverständlich gewesen war obwohl sie sich nicht einmal persönlich kannten. Und doch schien es ihn mehr berührt zu haben als jedes gut gemeinte Schulterklopfen aus seinem engeren Umfeld. Vielleicht hatten seine Freunde ihm nie ausdrücklich gesagt, dass sie für ihn da wären. Vielleicht dachten sie, dass das ohnehin klar sei. Selene konnte nur mutmaßen.
      Doch was sie wirklich aus dem Gleichgewicht brachte, waren seine letzten Sätze. Sie hatten etwas Intimes an sich, nicht im romantischen Sinne, sondern in ihrer schonungslosen Direktheit. Niemand hatte je so etwas zu ihr gesagt. Keine Floskel, kein oberflächliches Kompliment. Es war einfach echt. Und das machte es so besonders.
      Ein kleiner Kloß bildete sich in ihrem Hals. Dass sie mit einem einfachen Satz so viel in ihm ausgelöst hatte, rührte sie. Und dass er ihr das mitteilte, ließ sie seinen Mut erkennen. Mut, den sie selbst nicht aufgebracht hätte. Immer und immer wieder las sie seine Worte, als müsste sie sicherstellen, dass sie wirklich dort standen. Als wolle sie sich jede Silbe einprägen.
      Sie wusste, dass sie jetzt nicht einfach spontan antworten konnte. Dafür war das, was sie gerade teilten, zu wichtig. Sie wollte mit Bedacht reagieren, ihm zeigen, dass sie seine Offenheit schätzte, dass sie ihn nicht überging. Also legte sie das Handy zur Seite und wandte sich erneut dem Stoff zu. Doch diesmal begleitete sie ein leises Lächeln.
      Nach etwa einer halben Stunde beschloss sie, eine Pause zu machen. Sie streckte sich leicht, atmete tief durch, griff erneut nach dem Handy und begann zu tippen.
      „Vielleicht zwei Tafeln Schokolade. Oder eine Zeichnung von mir als Trostpreis.“
      Sie lächelte leise über ihre eigene Nachricht. Ein bisschen neckend, aber dennoch ehrlich. Dann fuhr sie fort:
      „Du musst nicht gut darin sein. Das erwartet keiner. Manchmal hilft es, einfach alles aufzuschreiben, was einem durch den Kopf geht – egal, ob es Sinn ergibt oder nicht.“
      Sie zögerte, als sie zum letzten Punkt kam. Die Antwort auf seine Offenheit. Schließlich schrieb sie:
      „Deine Ehrlichkeit bedeutet mir sehr viel. Danke, dass du dich mir so geöffnet hast. Ich finde das unglaublich stark von dir – und irgendwie bewundere ich das. Ehrlich gesagt würde ich mir wünschen, auch so mutig zu sein wie du.“
      Und sie meinte jedes Wort so, wie sie es schrieb. Knox hatte ihr mit seiner Offenheit gezeigt, dass Verletzlichkeit kein Zeichen von Schwäche war, sondern ein Beweis von Stärke. Vielleicht sah er das selbst gar nicht so.
      Noch eine dreiviertel Stunde blieb sie in der Bibliothek. Sie ging den Stoff erneut durch, wiederholte Aufgaben, sah sich Erklärvideos an, bis sie schließlich das Gefühl hatte, genug geschafft zu haben. Die Stille war inzwischen fast greifbar. Als Letzte in der Bibliothek packte sie ihre Sachen zusammen, verließ den Raum und trat in den kühlen Abend hinaus.
      Obwohl sie wusste, dass sie zu einem leeren, stillen Zuhause zurückkehren würde, freute sie sich. Nicht nur auf ihr neues Buch, sondern auch auf die wenigen Momente, in denen sie einfach sie selbst sein durfte.
      Auf dem Weg nach Hause tippte sie eine kurze Nachricht:
      „Wie lief das Training?“
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    • Ehe er wegfuhr kamen bereits Moons Nachrichten, die ihn erneut im Halbdunkeln des Wagen grinsen ließen. Wie der Bildschirm des Smartphones das Innere des Wagens erleuchtete, so erleuchteten ihre Nachrichten auch seinen Alltag. Moon gab ihm immer wieder einen Grund zum Lächeln oder um sich zumindest leichter zu fühlen. Er sank im Fahrzeugsitz etwas ein, während er ihre Nachrichten las. Er tippte amüsiert: "Eine Zeichnung? Du hast mir noch nicht gezeigt, wie du zeichnest!" Er lächelte bei dem Gedanken, stellte sich ein Mädchen vor, das fest über einem Block mit einem feinen Bleistift hing und eine schöne Bleistiftschraffur des Blicks aus dem Fenster hinaus in die Natur zeichnete. "Alles aufschreiben, hm?", nuschelte er vor sich hin und runzelte die Stirn. Das würde ihm wohl kaum mit seiner verkorksten Familie und seiner schulischen Leistung helfen. Er seufzte und fand es dennoch süß von Moon, dass sie ihm helfen wollte. Doch ihm war nicht mehr zu helfen und das wusste er.

      Als sie seine Ehrlichkeit lobte, wurde er für einen kurzen Moment rot und musste sich kurz fassen und nachdenken, wie er darauf reagierte. "Du darfst bei mir mutig sein und wenn es ein Problem ist, bin ich dir eine schützende Schulter", tippte er, aber schickte es nicht ab. Er las es nochmal und nochmal. Wirkte das zu fest? Zu Kitschig? Er spürte sein Herz aufgeregt pochen und doch es fühlte sich so richtig an. Er schickte die Nachricht ab. Dann startete er den Wagen und fuhr los.

      Die Sonne war längst untergegangen als Kian das Haus seiner Eltern erreichte. Sein Handy vibrierte nochmals: Wie lief das Trainig?
      Eine einfache Frage. Und doch ließ sie ihn innehalten. Weil sie ehrlich gemeint war. Weil sie ausgerechnet jetzt kam, wo er sich selbst wieder nicht sicher war, wie genau der Abend überhaupt laufen sollte.
      „Training war okay“, wollte er zuerst tippen. War wie immer. War hart. Aber nichts davon fühlte sich richtig an. Also ließ er das Handy sinken. Nicht, weil er nicht antworten wollte – sondern weil er spürte, dass das hier nicht der Moment war. Nicht in dieser Auffahrt. Nicht mit diesem dumpfen Gefühl im Bauch. Er nahm die Sporttasche, stieg aus und schloss den Wagen ab. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Der Hausflur roch nach kaltem Zigarettenrauch und fadem Bier – nicht neu, aber jedes Mal ein kleiner Faustschlag in die Magengrube.
      Als er die Wohnungstür öffnete, schlug ihm sofort eine Welle aus Lautstärke, Dunst und Chaos entgegen. Die Flasche flog. Nicht direkt auf ihn, aber nah genug. Er hörte seinen Vater toben, hörte die schluchzende Stimme seiner Mutter im Hintergrund, die etwas Unverständliches sagte – etwas Beschwichtigendes. Wie immer. Es war wie ein Film, den man hundertmal gesehen hatte, aber trotzdem nicht abschalten konnte. „Du kümmerst dich nie um dein Kind, du sitzt nur rum wie’n Schatten!“, brüllte sein Vater, ehe die Tür knallte. Kian sah noch, wie der Schatten seines alten Herrn über den Flur wankte, das Geräusch der sich schließenden Wohnungstür hallte nach wie ein Echo aus früheren Nächten.

      Zurück blieb nur Stille. Und seine Mutter. Sie saß auf dem Sofa, wie eingefroren, die Augen gerötet, die Haare zerzaust. Eine dieser stillen Zusammenbrüche, die niemand sah, aber jeder spürte. Kian sah sie an. Nur für einen Moment. Und obwohl ein Teil von ihm sie fragen wollte, ob alles okay war, ließ er es bleiben. Nicht aus Gleichgültigkeit. Sondern aus Wut. Aus Scham. Und weil er es satt war, sich verantwortlich zu fühlen für etwas, das er nie kaputt gemacht hatte. Du hast mich nie beschützt, dachte er. Nie. Er sagte kein Wort. Nicht zu ihr. Nicht zu sich selbst. Stattdessen ging er die Treppe hoch, drei Stufen auf einmal. Warf die Tür zu seinem Zimmer zu, schleuderte die Sporttasche in die Ecke. Seine Fäuste ballten sich, und im nächsten Moment donnerte die Rechte gegen den Kleiderschrank. Kein Laut, nur ein dumpfer Schlag, der durch das Holz vibrierte. Dann sackte er aufs Bett. Ließ sich einfach fallen. Noch immer atemlos, noch immer voller Restwut. Doch sie ebbte ab – langsam. Und ließ Leere zurück.

      Er griff nach dem Handy, entsperrte es. Moons Nachricht war immer noch offen. Er las sie. Wieder. Und nochmal. Und spürte, wie sein Brustkorb sich weicher anfühlte. Wie etwas in ihm nachgab. Er schrieb:
      „War okay. Hat gut getan, den Kopf frei zu kriegen. Ich hab heute viel zu viel im Kopf gehabt.“
      Kurze Pause. Dann fügte er hinzu:
      „Danke, dass du gefragt hast. Mehr, als ich verdient hab heute Abend.“ Er schickte es ab, legte das Handy beiseite und ließ sich tiefer ins Bett sinken. Der Geruch von Waschmittel, das seine Mutter trotz allem noch benutzte, hing in der Bettdecke. Er hasste es. Und gleichzeitig gab es ihm Sicherheit. Seine Augen fielen zu. Irgendwann.