The Art of Survival [Codren feat. Pumi]

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • The Art of Survival [Codren feat. Pumi]

      “Erzählen Sie mir von Ihrem letzten Traum.”
      Isaac sah in die kühlen, intelligenten Augen seiner Therapeutin, Dr. Harver. Sie war eine Frau mittleren Alters, die ihre schulterlangen Haare immer in einem perfekten Pferdeschwanz nach hinten gebunden hatte und eine unnahbare Professionalität ausstrahlte. Ihre Miene war ganz gelassen und ihre Stimme jederzeit ruhig. Sie hielt sich ein Klemmbrett auf den überschlagenen Beinen, auf das sie sich manchmal Notizen machte. Im Moment sah sie ihn nur geduldig an.
      Isaac saß ihr gegenüber in einem gepolsterten Stuhl in ihrer Praxis, deren Geruch ihn fern an Weihrauch erinnerte. Er hatte die Beine gerade auf den Boden gestellt und die Ellbogen auf die Armlehnen gelegt. Seine falsche Hand lag auf seinem Oberschenkel, seine richtige auf seinem Bauch. Die falsche war wie ein totes Gewicht auf seinem Bein.
      Draußen schien die Sonne. Sonst wäre er gar nicht hergekommen.
      “Ich war im Wald”, sagte er nach einem Moment. Seine Stimme hatte etwas kratziges, tiefes in sich. Er redete in letzter Zeit nicht sehr häufig.
      “Da war ein Fluss und ich wollte trinken. Ich habe meine Hände reingesteckt, aber der Fluss war zu kalt für meine Linke. Das hat wehgetan.”
      Dr. Harver sah ihn nur mit ihrem unendlich geduldigen Ausdruck an und als sie begriff, dass da nichts mehr von ihm kommen würde, sagte sie:
      “Sie hatten Durst?”
      “Ja.”
      “Da war keine andere Quelle, die Sie hätten nutzen können?”
      “Nein.”
      “Haben Sie gesucht?”
      Isaac rutschte auf seinem Sessel von links nach rechts. Er konnte das sanfte Ticken einer Uhr im Gang ausmachen und an der Straße unten fuhren alle paar Minuten mal Autos vorbei. Ansonsten war es sehr still dort. Angenehm - beruhigend.
      “Nein.”
      “Daran haben Sie nicht gedacht?”
      “Nein.”
      Dr. Harver nickte gütig, aber sie schrieb nichts auf. Isaac sah auf ihr Klemmbrett hinab und fragte sich unweigerlich, ob er das richtig machte oder nicht. Manche ihre Fragen konnte er ergründen, andere nicht. Bei diesen anderen konnte er nicht anders als mit der Wahrheit zu antworten.
      “Denken Sie, es könnte auch etwas in Ihrem Leben geben, wonach Sie nicht suchen, weil Sie nicht daran denken?”
      Und da war es auch schon, das Thema dieser Stunde. Heute ging es mal nicht um seine Hand oder um den letzten Regen, um die Beziehung zu seiner Familie oder die Frage, was er mit seinem Leben anstellen sollte. Heute ging es um abstrakte Dinge.
      Und Isaac war so, so müde.

      Dr. Harvers Praxis lag eine Viertelstunde mit dem Auto von seiner Wohnung entfernt und war mit einem wöchentlichen Termin verbunden, den er Dienstags einhalten musste. Ausnahmen gab es nur für schlechte Wetterbedingungen unmittelbar davor, währenddessen oder unmittelbar danach. Sonst war es eine vom Department des VA auferlegte Pflicht, die Isaac einhalten musste, wenn er auch weiterhin seine disability compensation haben wollte. Was er tat, denn Isaac arbeitete nicht. Das war seine einzige Einkunftsquelle.
      Disability Compensation. Für ihn.
      Mittwochs war er in einer Selbsthilfegruppe für frisch zurückgekehrte Veterane, die zurück in das Leben finden mussten. Die Organisation bot ein ganzes Programm an, bei dem die Betroffenen sich wöchentlich trafen, über ihre Probleme redeten, sich gegenseitig zu helfen versuchten und dann gab es auch Unterrichtsstunden, in denen sie so etwas lernten wie Computer zu bedienen oder eine Banküberweisung zu tätigen. Der letzte Teil war natürlich an alle Veteranen ausgerichtet, von denen sehr viele 30 oder sogar noch mehr Jahre im Dienst hinter sich hatten, während Isaac nur fünf hatte. Nur fünf. Er konnte sehr wohl einen Computer bedienen und eine Banküberweisung tätigen. Deswegen ging er dort auch nicht mehr hin - ein Termin am Donnerstag weniger.
      Freitags ging er alle zwei Wochen ins Krankenhaus, Bewegungstherapie. Um sich an seine Hand zu gewöhnen. Seine Hand, was sich genauso lächerlich anhörte wie die disability compensation, die er bezog. Es war nicht seine Hand, es war ein Bolzen aus Stahl in seinem Armstumpf, der es irgendwie schaffte, seine Nervensignale in Fingerbewegungen zu übersetzen. Die Ärzte sagten, es dauerte gut ein Jahr, bis der Körper sich soweit an den fremden Eindringling gewöhnt hat, um nicht mehr ständig Warnsignale zu senden. Isaac hatte also noch ein gutes Vierteljahr vor sich, bis es besser wurde. Eine wahnsinnig ermunternde Aussicht.
      Ansonsten hatte er keine Pläne für die Woche, nicht für diese Woche, auch nicht die nächste oder die darauf. Er lebte, das war sein Plan, und an manchen Tagen funktionierte das ganz gut, während es an anderen Tagen nicht so gut lief. Heute war ein guter Tag, schätzte er, weil er nach draußen gekommen war. Weil er sich angezogen hatte, weil er jetzt hier saß. Er hatte zwar keine Zähne geputzt und seine Kleidung war auch nicht gewaschen, aber Dr. Harver pflegte zu sagen, dass ein Schritt nach dem anderen am wichtigsten war. Einer nach dem anderen.
      Sogar bei Isaac, der vor einem Jahr noch in der Basis zum Appell aufgekreuzt war, auf beiden Beinen stehend. Jetzt fühlte es sich eher an, als wäre er gestolpert und befände sich seitdem am Fallen. Die ganze Zeit.

      Nach der Sitzung stieg er in das Taxi, das vor der Tür wartete, und ließ sich nachhause fahren. Er lehnte sich gegen das Fenster und starrte nach draußen, starrte die grauen Betonblöcke an, die Familienhäuser darstellten und in seiner Fantasie nur dazu gemacht waren, die Tür aufzubrechen, die Fenster einzuwerfen, die Räume zu sprengen. Das war natürlich lange vorbei, diese Zeit, aber er erinnerte sich immernoch gerne daran. Wirklich gerne. Das war eine Erinnerung an seinen Dienst, die den Teil verdeckte, den er am liebsten vergessen wollte. Der Teil, der ihn zu dem gemacht hatte, was er heute war. Ein Veteran, der von Gehaltschecks des Staates lebte.
      Sein Zuhause war eigentlich kein richtiges Zuhause - nicht für Isaac. Es war eine Wohnung, in die ein paar Helfer Sachen gebracht hatten, die anscheinend einmal ihm gehört hatten. Früher einmal, wobei früher für Isaac kein Begriff der Zeit war. Früher hieß, dass es einmal ein Leben vor seinem jetzigen gegeben hatte, in dem er anders gelebt hatte, in dem er ein anderer Mensch gewesen war. Insgesamt gab es für Isaac drei Leben: Das Leben davor, währenddessen und danach. Und von seinem jetzigen Leben aus erschienen ihm die beiden anderen so weit entfernt, als wären sie gar nicht die eigenen.
      Er hatte sich noch nicht die Mühe gemacht, auszupacken. Im Flur stapelten sich die Kisten, in der Küche waren teilweise Boxen auf den Boden gestellt, im Wohnzimmer stand es um die Couch herum. Die Wohnung war möbliert gekommen, alles schon vorhanden, und Isaac hätte sie nur mit seinem Leben füllen müssen. Hätte. Aber er konnte sich einfach nicht dazu aufraffen, die Unordnung anzugehen. Er konnte einfach nicht.

      Er kam nachhause, trat ein, zog sich die Schuhe aus. Über die drei Monate hatte die Wohnung einen unangenehmen Muff entwickelt, den Isaac genauso wenig loswurde, weil er die Fenster nicht öffnete. Im Wohnzimmer, neben der Couch, da gab es ein Fenster, wodurch man auf den Gebäudeteil gegenüber blicken konnte und welches eigentlich Vorhänge bräuchte, die aber in irgendeiner Kiste verstaut waren. Er konnte sich sehr gut vorstellen, dass ihn dort auf der Couch, wo er sich jetzt auch fallen ließ, ein angenehmer Windzug treffen würde, der von genau diesem Fenster hereinkam. Nur hatte sich schon vor seinem Einzug eine Spinne dort niedergelassen und ihr Netz gewebt, sodass Isaac nicht einfach so das Fenster öffnen wollte. Er hasste Ungeziefer. Wenn er es also auf wollte, dann musste er sich erstmal um die Spinne kümmern, vielleicht mit einem Besen, oder noch viel besser, gleich einem Staubsauger. Er hatte auch einen, aber der Staubsauger war in einer Kiste auf der wiederum eine Kiste mit Geschirr stand - also musste er erst die obere Kiste wegräumen. Das hatte er auch versucht, anfangs mal, nur war sie für seine Hand zu schwer, also müsste er sie aufmachen und ausräumen. Nur müsste er dafür erst die Küche wieder instand bringen, denn im Waschbecken türmte sich das ungewaschene Geschirr und daneben stand alles mit leeren Konserven voll, die er nicht wegschmeißen konnte, weil der Müll schon überquoll. Also musste er den Müll rausbringen, er vergaß es nur. Jedes Mal. Und wenn er jetzt daran dachte, es einfach zu tun, damit er es hinter sich hatte, damit er endlich anfangen konnte mit… was auch immer ihn eigentlich erst soweit gebracht hatte, dann spürte er bereits eine Erschöpfung in sich aufkommen, als wäre er einen Marathon gelaufen. Jetzt nicht. Er würde sich schon irgendwann darum kümmern, aber jetzt nicht. Also blieb er doch dort auf der Couch sitzen und starrte den schwarzen Bildschirm des kleinen Fernsehers vor sich an.
      Irgendwann. Irgendwann würde es besser werden.
      Aber jetzt nicht.


      @Insane Pumpkin
    • Wildes Herumgefuchtel sprenkelte die A3 Leinwand in bunte Farbkleckse. Und auch den Boden drumherum, den kleinen Nick, und Kai auch noch. Kai lachte und fing die Hand des Jungen ein, der sich quietschend darüber freute, dass ein Vogel am Fenster vorbeigeflattert war. Immerhin versuchte der Knirps nicht, seinen Pinsel zu essen, nur weil er die gleiche Farbe hatte, wie ein Apfel.
      "Versuch das nächste Mal, die Leinwand zu treffen, Großer," meinte Kai mit einem Lächeln und schaffte es, die Aufmerksamkeit des Jungen wieder auf besagte Leinwand zu richten.
      Nick begann sofort, den Pinsel zu schwingen, was Kai die Möglichkeit gab, den elektronischen Rollstuhl sauber zu machen, in dem er saß. Die Eltern des Jungen würden ihn kreuzigen, sollte er das teure Ding ruinieren. Dabei könnte es ruhig ein bisschen Farbe vertragen. Es war einfach nur schwarz und grau - hübsch, wenn man auf den Terminator-Look stand, klar, aber ein zwölfjähriger Junge wollte vielleicht eher sowas wie Lightning McQueen haben und der war ja auch rot. Aber Kai war ja angeblich der verantwortungsbewusste Erwachsene hier, also bewaffnete er sich mit Küchenrolle und wischelte drauf los, bevor die Farbe Zeit hatte, zu trocknen.
      Neben Nick waren noch acht weitere Kinder mit einer Vielfalt an körperlichen oder geistigen Behinderungen hier. Die kleine Gruppe wurde betreut von Kai, dem Verantwortlichen für Kunst, und den beiden Erzieherinnen Rachel und Hailey, die beide spezifisch für Kinder mit special needs ausgebildet waren. Der Raum selbst war groß, viel zu groß für zehn Kinder, eigentlich. Aber mit all den medizinischen Geräten, die diese Kids mit sich brachten, war der Platz eigentlich gar nicht schlecht. Außerdem gab es auch größere Gruppen von Kindern, die vorbeikamen, und die Seniorengruppen waren auch größer. Es gab ein paar Regale, die mit allem Möglichen gefüllt waren, was man so für ein bisschen Kunst brauchte: Wasser-, Acryl-, und Fingerfarben in allen Möglichen Varianten, Leinwände in so ziemlich jeder Größe, Zeichenblöcke, Pinsel, Spachtel, Bunt-, Filz-, und Wachsmalstifte, und und und. Kai war beinahe aus allen Wolken gefallen, als man ihm freie Hand gelassen hatte, um diesen Raum hier zu füllen. Er hätte so viel Geld ausgeben können, wie er wollte, aber er war seiner eigenen Natur gefolgt und hatte sich alles hauptsächlich aus Second Hand und Charity Läden zusammengesucht. So konnte er was Gutes tun, wenn er was Gutes tat.
      "Vogel Vogel," trällerte Lindsey von ihrem Sitzplatz aus.
      Sie rutsche hin und her, wackelte dabei mit dem Kopf, und stach mit ihrem leuchtend blauen Pinsel wie wild auf die Leinwand ein. Kai schlenderte zu ihr rüber. Ihre Leinwand war gezeichnet von bluten Farbklecksen, die grob die Form von Blumen ergaben.
      "Soll ich dir helfen, einen Vogel zu malen?" fragte er und aus dem Hin und Her wurde ein kräftiges Nicken.
      "Vogel Vogel!"
      Kai schnappte sich einen Pinsel und mischte schnell ein Taubengrau zusammen, dann drückte er Lindey den Pinsel in die Hand. Er führte sie zum oberen Rand der Leinwand und half ihr, ein flaches McDonald's M zu zeichnen. Siehe da, ein Vogel.
      "Gar nicht so schwer, oder?" fragte er
      Lindsey lachte und quietsche, schüttelte ihre freie Hand wild, ließ ihre Beine schwingen.
      "Vogel Vogel!" rief sie freudig.
      Kai wusste, dass sie die nächste Stunde - vielleicht auch länger - nichts anderes sagen würde. Sprechen war nicht so ihr Ding. Sie kopierte hauptsächlich Worte, die sie hörte. Wie bewusst sie das machte, wusste keiner. Vielleicht mochte sie die Worte, die sie kopierte, einfach. Vielleicht blieb ihr Hirn aber auch einfach in einer Art Schleife stecken. Kai war das ehrlich gesagt egal, solange sie Spaß hatte. Und den hatte sie augenscheinlich.
      Sie malte noch ein paar McDonald's Vögel, alle ein bisschen schief auf ihre eigene Art und Weise, aber Lindsey freute sich, dass sie jetzt wusste, wie das ging. Kai ließ sie machen und beendete seine Runde durch die kleine Gruppe, bevor er sich ein bisschen abseits gegen das Fensterbrett lehnte. Die Sonne schien ihm durch das Glas in den Nacken, da er in weiser Vorraussicht seine Haare hochgebunden hatte. Draußen, auf der Wiese im Zentrum des Gebäudekomplexes, in dem er auch lebte, hüpften ein paar Vögel durch die Gegend auf der Suche nach etwas zu essen. Der Tag war wundervoll.
      Rachel gesellte sich zu ihm und schob ihr Smartphone zurück in ihre Hosentasche. Eigentlich waren sie zehn in dieser Gruppe, aber Clio war heute nicht aufgetaucht. Rachel hatte ihre Eltern angerufen, um herauszufinden, warum.
      "Krankenhaus," beantwortete Rachel die unausgesprochene Frage. "Schon wieder ein Darmverschluss."
      Kai seufzte. Clio kämpfte schon ihr ganzes Leben damit, dank einem Knick in ihrer Genetik. Eines Tages würde sie dieser Knick umbringen, so tragisch das auch war. Kai konnte nur hoffen, dass das noch ein bisschen auf sich warten ließ. Vielleicht sollte er ihr was malen? Clio mochte Katzen und sowas gab es im Krankenhaus ja bekanntlich nicht. Vielleicht könnte er ihr eine malen, die ihr dann Gesellschaft leistete?
      "Ich schreib's ins Protokoll, damit die anderen auch Bescheid wissen," meinte Rachel.
      Kai nickte schlicht. Sein Blick glitt über die Kinder in der Gruppe, bevor er nach draußen blickte. Wieder einmal wurde ihm klar, dass er seine Arbeit mochte - nein, liebte! Diese Kids hatten so viele Probleme am Hals und würden sie ihr Leben lang mit sich herumschleppen. Kai wollte ihnen so viele glückliche Momente schenken, wie er nur konnte. Jeder hatte das Recht darauf, glücklich zu sein. Auch wenn der Weg dahin manchmal ein bisschen schwieriger war oder anders aussah, als das, was die Leute als normal bezeichneten. Dann freuten sich Nick und Lindsey eben über einen Vogel! Vögel waren toll!

      Nach den Knirpsen hatte Kai noch eine Seniorengruppe, die er zusammen mit zwei Krankenpflegern betreute. Kai blieb immer hier, im City Meadow Center, während die Gruppen von ihrem entsprechenden Pflegepersonal und einem schicken Bus eingesammelt wurden. So gern Kai Menschen auch hatte, er konnte sich nicht vorstellen, diesen Job jemals zu machen. Zu viel los, zu wenig Kreativität. Er brauchte die Zeit, um seine Gedanken wandern zu lassen.
      Nach den Senioren, die alle große Fans von ihm waren, einfach nur weil er gelernt hatte, seine Elders zu respektieren, räumte Kai schnell auf. Danach gab es nicht mehr viel für ihn zu tun, also schloss er ab - er war immer der letzte im Center, weil er auch hier wohnte - und machte sich auf den langen Heimweg von ein paar Metern und einer Treppe nach oben. Er nahm zwei Stufen auf einmal und summte ein leises Liedchen vor sich hin.
      Seine Wohnung war wie immer ein einziges Desaster. Leinwände lehnten an der Wand und der Couch, eine dominierte sein Wohnzimmer. Er hatte sie da letzte Nacht liegen lassen, damit sie trocknen konnte. Das riesige Stück noch-nicht-ganz-Kunst lag auf einem Malerteppich, der auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Auf dem Küchentresen stapelten sich dreckige Pinsel, Becher, und Farbpaletten, auf seinem Couchtisch - den Kai in die Ecke geschoben hatte, um Platz für sein neustes Projekt zu haben - stand eine kleine Armee an Spray Paint. Eigentlich war seine Wohnung ziemlich aufgeräumt, wenn man mal den ganzen Kunstkram ignorierte.
      Kai tänzelte um die Leinwand herum und warf seine Umhängetasche auf das Sofa. Erste Amtshandlung: das große Fenster im Wohnzimmer aufreißen, um ein bisschen der warmen Nachmittagsluft reinzulassen. Und das wilde gezwitscher der Vögel. Gab es etwas herrlicheres? Unwahrscheinlich.
      Er hatte sein Mittagessen schon wieder ausgelassen, also beschloss Kai, dass er er jetzt schnell etwas in den Magen brauchte. Leider verriet ihm ein Blick in seinen Kühlschrank, dass er auch vergessen hatte, einkaufen zu gehen. Whoops. Mit einem Seufzen betrachtete Kai seine Küche in der Hoffnung, noch etwas zu finden. Einen Snack würde er hinbekommen, aber er hatte heute Abend eine Schicht im Rula Bula, der örtlichen Bar, also sollte er wahrscheinlich etwas richtiges Essen.
      "Dann eben einkaufen," beschloss Kai.
      Er tänzelte wieder um die Leinwand herum und schnappte sich seine Umhängetasche wieder. Sein Blick fiel auf sein unfertiges Werk und der Drang, es fertig zu machen, überkam ihn. Er musste sich aktiv davon losreißen, sonst würde er heute Abend leiden.
      "Erst essen, dann malen," erinnerte er sich selbst.
      Und daran hielt er sich. Er ließ sein Fenster offen - er wäre ja gleich wieder da, kein Ding - und hüpfte die Treppen wieder hinunter. Es gab einen Laden nicht weit entfernt, der so ziemlich alles hatte, was man spontan so gebrauchen könnte. Einen Großeinkauf könnte man hier wahrscheinlich nicht machen, aber für ein schnelles nicht-ganz-Abendessen war es okay. Ein kleines Liedchen pfeifend, machte sich Kai auf den Weg.
    • Seit ein paar Wochen benutzte Isaac nun schon die Waschmaschine nicht mehr.
      Er hatte eine, eine brandneue sogar - auch auf Kosten seines Onkels - aber er nutzte sie nicht mehr. Sie stand in dem kleinen Raum, der als Waschraum und Abstellkammer dienen sollte und jetzt - wie überall sonst - auch mit Kisten vollgestellt war. Doch seit ein paar Wochen lag dort auch sein Schlafsack.
      Isaac hatte ein Bett, ein recht ordentliches sogar. Es stand in seinem Schlafzimmer, zusammen mit einem kleinen Schreibtisch, einem großen Kleiderschrank und all den Kisten, in denen seine Kleidung gekommen waren. Es war auch eigentlich ein sehr gemütliches Bett, nur hatte es einen einzigen Makel: Über dem Kopfende war ein Fenster. Und Isaac hatte beim Einzug schon vorhergesagt, wie es enden würde.
      Es war an einem Nachmittag passiert. Die Wetterapp auf seinem Handy - eine bezahlte App, die beste unter den besten - hatte ihm minutengenau den Regen vorhergesagt und daher war Isaac den ganzen Tag schon aufgewühlt gewesen, immerzu mit dem Gedanken beschäftigt, dass es jetzt nicht so schlimm werden würde, dass jetzt der Moment gekommen war, an dem seine Rationalität endlich Überhand gewann. Immerhin lag der Einsatz nun schon ein dreiviertel Jahr zurück und er war durch so viele Therapiestunden gegangen, durch so viele Sitzungen, in denen er sich das Leid anderer angehört hatte, dass ihm schon längst aufgefallen war, wie lächerlich es war. Wie lächerlich er war. Isaac hatte Angst vor dem Regen. Wie ein gottverdammter Hund.
      Er war also auf der Couch sitzen geblieben, hatte nach draußen gestarrt, die Wolken beim Bewegen beobachtet und dabei die Meditation betrieben, die Dr. Harver ihm beigebracht hatte, um sich selbst zu erden und seine Gedanken zu beruhigen. Es war nur ein bisschen Regen, er war nicht zurück auf den Inseln, vor allem aber war er in seiner eigenen, abgeschlossenen Wohnung und niemand, auch wirklich niemand konnte dort hinein gelangen. Nicht durch die Tür, nicht durch die Fenster, nirgends. Isaac war ganz alleine und egal, was er sich bald einbilden mochte, das würde sich nicht ändern. Er war alleine, wirklich, ganz sicher alleine. Das machte er sich klar.
      Dann hatte der Regen gestartet und mit dem ersten hörbaren Geräusch von Tropfen, die auf den Boden und gegen das Fenster fielen, war Isaacs Herz in die Hose gerutscht. Sein Puls hatte zu rasen begonnen, er war in Schweiß ausgebrochen und dann hatte er es gehört - er hatte es wirklich gehört. Nein, er hatte sich das nicht eingebildet und nein, es war auch kein zufälliges Geräusch gewesen, er hatte es wirklich und wahrhaftig gehört und da war es mit ihm durchgegangen. Im Nachhinein konnte er sich nicht an alle Details erinnern, er wusste nur, dass er von der Couch aufgesprungen und mit einem Gefühl in den Gang gelaufen war, als würde er gleich einen Herzinfarkt erleiden - was ihn mittlerweile auch schon nicht mehr verwundert hätte. Er konnte sich von dem Tag nur noch an die abgrundtiefe Angst erinnern, die ihn fest gepackt hatte, und wie er in die Abstellkammer gestürzt war, wo er die Tür hinter sich zugeknallt und sich dagegen gelehnt hatte. In völliger Dunkelheit hatte er dort eine Ewigkeit verbracht, schwitzend und nach Luft schnappend, die einfach nicht kommen wollte, während er gewusst hatte, dass jeden Augenblick diese Klinke heruntergedrückt und die Tür sich öffnen würde. Er hatte sie aus aller Kraft mit Todesangst zugehalten und erst später, sehr viel später, als ihn die Kraft verließ und er sich sicher war, zwischendurch mindestens einmal umgekippt zu sein, war etwas von seiner Rationalität zurückgekommen. Er hatte es geschafft, das Wetter zu checken und zu begreifen, dass es bis in den Abend und die Nacht hindurch regnen würde. Da hatte er in einem todesmutigen Akt, der ihm beinahe das Leben gekostet hätte, die Tür geöffnet und war zu seinem Schlafsack gerannt, um sich gleich darauf wieder mit ihm zu verschließen. Damit er die Abstellkammer nicht mehr verlassen musste.
      Seitdem lag er dort, der Schlafsack, zwischen all den Kisten und der Waschmaschine, und wurde häufiger genutzt als das Bett. In der Abstellkammer gab es keine Fenster, da war Isaac aufgehoben und sicher, deswegen hatte er sich mehr und mehr darauf verlassen. Es war auch eigentlich ganz gemütlich dort, ganz besonders, wenn es regnete. Wenn er auf die Toilette musste, machte er in eine der Flaschen, die er dort stehen ließ. Das waren seine schlechten Tage und wenn es dann wieder gute Tage gab, dann leerte er die Flaschen auch wieder. Meistens. Manchmal vergaß er es.
      Deswegen konnte er die Waschmaschine nicht mehr nutzen und daher gab es in seiner Wohnung eigentlich keine sauberen Klamotten mehr, aber viele Sachen hatten keine Flecken und solange Isaac darauf achtete, nicht zu stark zu schwitzen - zum Beispiel bei dem Versuch Regen auszuhalten - konnte er sie auch wieder anziehen. Nicht, dass das seinem eigenen Körpergeruch helfen würde. Die Wohnung hatte nur eine Dusche und Isaac hatte sie noch kein einziges Mal genutzt. Er wusch sich mit einem Waschlappen.
      Das waren ein paar der Dinge, von denen Dr. Harver nichts wusste. Von denen sie auch nichts wissen musste, wenn es nach Isaac ging. Es war ja nur eine Phase, das alles. Irgendwann würde es besser werden.
      Gegenüber ging ein Fenster auf, was Isaac nur bemerkte, weil das Glas die Sonne für einen Moment reflektierte. Er sah hinüber und beneidete den Mann mit braunen Locken darum, dass er einfach so ein Fenster öffnen konnte. Isaac konnte das nicht.

      Nachdem er den Termin des Tages hinter sich hatte, hatte er nichts mehr zu tun. Morgen würde er die anderen wieder treffen, die ihm erzählen würden, wie schwierig es war, mit ihren Behinderungen zu leben, und dafür sollte er sich wohl Kleidung bereithalten, aber für den Moment konnte er sich nicht dazu aufraffen, sich umzuziehen. Er wollte auch gar nicht, denn er würde in eines der dreckigen Shirts und Hosen schlüpfen, damit er die noch einigermaßen sauberen nicht verunstaltete, und dann fühlte er sich immer noch viel schlimmer und schmutziger. Das war neben den Kisten und der Spinne ein weiterer Punkt auf seiner Liste, für den er einfach keine Energie fand. Er wusste auch noch nicht, was er machen würde, wenn er wirklich wieder waschen musste. Er wusste es wirklich nicht.
      Sein Handy vibrierte. Er zog es umständlich mit der Rechten hervor; eigentlich war er Linkshänder. Früher mal.
      Die meisten Nachrichten ignorierte er. Irgendwann würde er die Zeit nehmen, sie alle durchzugehen und zu beantworten, aber jetzt nicht. Nur die oberste ignorierte er nicht: Jack Burrow, einer der Vets. Sie hatten sich im Krankenhaus zwischenzeitlich ein Zimmer geteilt und waren dann beim selben Hilfecenter gelandet.
      - 8 Uhr RB
      Kein Hallo, kein Tschüss, keine Frage, kein “wie geht’s dir”. Jack war sehr direkt und hatte einen Knacks davongetragen, der größer war als Isaacs. Was kaum zu glauben war.
      Isaac hatte eigentlich keine Lust auf das Rula Bula. Sie gingen dort meistens nach dem Treffen am Mittwoch hin und er hatte immer das Gefühl, dass die anderen ihn riechen konnten, wenn er dort zu lange saß. Vielleicht konnten sie das auch und ignorierten es nur aus Höflichkeit - in jedem Fall fühlte er sich dort nach ein paar Stunden immer furchtbar. Auf der anderen Seite fühlte er sich Zuhause genauso furchtbar.
      Isaac dachte nach. Er war heute schon draußen gewesen, hatte seinen Soll schon erfüllt. Er hatte einen guten Tag, was bedeutete, dass er ihn wohl nutzen sollte, denn bald würde es wieder schlechte Tage geben. Die Wetterapp prophezeite es ihm schon. Vielleicht war das ja das “einen Schritt nach dem anderen”, was Dr. Harver meinte. Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, einen Schritt zu wagen.
      - OK
      Jack antwortete nicht, er würde um 8 schon vor Ort sein. Isaac überkam ein kleines Triumphgefühl, weil er eine soziale Interaktion erfolgreich hinter sich hatte. Wenn es nur immer so einfach gehen würde.

      Das Rula Bula war genau einen Block weiter, wo auch der kleine Laden stand, an dem Isaac sich regelmäßig seine Konserven besorgte. Auf der anderen Seite lag eine Tankstelle, die rund um die Uhr geöffnet hatte und das Krankenhaus war nur eine Viertelstunde weiter entfernt. Ein perfekter Ort für jemanden wie Isaac. Als hätte sein Onkel mit dem Kauf der Immobilie damit gerechnet, einmal in der Familie einen Fall wie diesen zu haben.
      Isaac trat in das düstere Innere. Um diese Zeit waren noch nicht viele da und fast der gesamte Tresen war frei bis auf Jack.
      Jack hatte die Maße eines Bodybuilders: Breite Arme, breite Schultern, schmale Hüften. Er war Pilot gewesen, sogar vier Jahre lang, bis er über feindlichem Gebiet abgestürzt und in Gefangenschaft geraten war. Es hatte Verhandlungen gegeben, irgendwelche Friedensabkommen und dann konnte Jack nachhause zurückkehren, aber was in dem Jahr dort geschehen war, das hatte er ihnen allen nicht eröffnet. Es musste aber schlimm gewesen sein, denn sein Hass auf die sogenannten “scheiß Hasenfresser” war jetzt genauso ausgeprägt wie schon im Krankenhaus. Wenn überhaupt hatte er sich sogar noch gesteigert.
      Isaac trat zu ihm.
      “Jack.”
      “Isaac, mein Mann.”
      Jack wandte sich ihm mit einem Grinsen zu und sie schlugen ein, auf die Unterarme, wie man es sich im Dienst so angewöhnte. Isaac nutzte seinen rechten, was sich scheußlich anfühlte. Er schob sich auf den Hocker neben Jack.
      “Was hast du?”, fragte er ihn und schaute auf das Glas, das vor ihm stand.
      “Whiskey. Pur. Saustarkes Gesöff. He, Barmann.”
      Jack sah den Mann hinter dem Tresen an und dann sah Isaac erst, dass es sein Nachbar war. Nun, nicht ganz sein Nachbar, aber es war der Mann mit den gewaltigen, braunen Locken, der sein Fenster so leicht öffnen konnte. Isaac starrte ihn an, dann nickte er ihm kurz zu, unsicher, ob der andere ihn überhaupt kannte. Isaac ging kaum vor die Tür.
      “Gib meinem Freund auch ein Gläschen.”
      “Nein”, sagte Isaac, mit den Gedanken bei seinem Geldbeutel. So groß war sein Scheck nicht und er hatte diesen Monat schon zu oft Pizza bestellt. “Ein Bier. Bitte.”
    • Kai war ein bisschen stolz auf sich, als er nach Hause kam und seinen Einkauf auspackte. Nicht nur hatte er sich alles geholt, was er für sein beinahe-Abendessen brauchte - er hatte auch daran gedacht, für morgen was zu holen, damit er nicht schon wieder Mahlzeiten ausließ. Das passierte ihm viel zu häufig, wenn er ein verlockendes, neues Projekt am Start hatte, so wie die riesige Leinwand, die sein Wohnzimmer beherrschte.
      Das Ding war eigentlich gar nicht für ihn. Es war ein Auftrag von der Klinik, die zum Krankenhaus ein paar Minuten entfernt gehörte. Sie hatten etwas für ihren Wartebereich gesucht, das nicht ganz so depressiv auf die Patienten wirkte, hatten aber nur ein winziges Budget. Eine der Pflegerinnen aus seiner Seniorengruppe hatte gefragt, ob er da was machen könnte und Kai hatte Ja gesagt. Er wurde dafür eigentlich nicht einmal bezahlt. Die Klinik sollte nur seine Ausgaben decken, der Rest war geschenkt. Da er noch einiges an Farben da hatte, bezahlte die Klinik eigentlich nur die übergroße Leinwand. Win Win in Kais Buch.
      Bewaffnet mit einem deftigen Nudel Salat mit Hühnchen setzte sich Kai auf seine Couch und faltete seine langen Beine unter sich. Er betrachtete die Leinwand. Noch war nicht viel darauf zu sehen - er hatte eigentlich erstmal nur das ganze Teil grundiert. Die Wände der Klinik waren in einem off-Orange gestrichen, was Kai vor die Frage stellte, ob er mit Kontrasten spielen wollte oder ob er sich der Umgebung anpassen sollte.
      "Kontrast," beschloss er laut. Er war sowie so noch nie ein Fan von Uniformität gewesen.
      Nach dem Essen bereitete er also seine Farben vor und legte los. Was genau er malte, wusste er nicht. Das wusste er selten. Er malte oftmals einfach drauf los und ließ das Endergebnis für sich sprechen. Zu viel Planen machte doch den ganzen Spaß kaputt.

      Um zehn vor sieben tauchte Kai hinter dem Rula Bula auf. Viel Vorbereitung brauchte er nicht. Er musste nur seine Tasche in seinem Spint verstauen und sich die schwarze Schürze mit dem Logo der Bar um die Hüften binden, dann war er eigentlich schon fertig. Viel los war noch nicht - der Stammtisch war noch nicht eingetroffen.
      "Du hast Farbe am Hals, Kleiner," brummte Frank, der Besitzer, als Kai hinter die Bar trat.
      "Oh. Tschuldige."
      Frank war genau das, was man sich unter dem jahrelangen Besitzer einer kleinen örtlichen Bar so vorstellte: graue Haare, ein kleiner Bierbauch, hochgewachsen, grummelige Stimme. Kai mochte den alten Mann. Er war sehr herzlich, auch wenn sein Gesichtsausdruck das nur selten zeigte.
      Grinsend wischte sich Kai die Farbe vom Hals, wozu er die Reflektion in einem der Zapfhähne nutzte. Er vergaß immer, seinen Pinsel hinzulegen, wenn er nachdachte. Er hatte nach seiner Zeit mit Nick auch nicht geduscht, also hatte er wahrscheinlich auch noch Farbe in den Haaren. Naja, Berufsrisiko.
      Es dauerte nicht lange und ein paar neue Kunden schlenderten herein. Eine Gruppe aus drei Leuten setzte sich an einen Tisch, ein Schrank von einem Mann setzte sich an den Tresen. Sein Name war Jack. Er war nicht das erste Mal hier und wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal. Er kam unregelmäßig, aber er kam immer mal wieder.
      "Hi," grüßte Kai mit einem freundlichen Lächeln. Leute redeten immer von ihrer Customer Service Stimme, aber Kai hatte keine. Er redete einfach so. "Was kann ich Ihnen bringen?"
      "Whiskey. Pur."
      "Kommt sofort."
      Mit geübten Bewegungen schnappte sich Kai ein Glas und eine der angefangenen Flaschen Whiskey und füllte einen Schluck um. Das Glas landete mitsamt einer Serviette drunter auf dem Tresen.
      Kai hatte ein Auge dafür entwickelt, wann Leute am Tresen sich unterhalten wollten und wann nicht. Das hier war ja nicht sein erster Barkeeper Job. Jack wirkte heute wie jemand, der es nicht darauf abgesehen hatte, mit dem Barkeeper zu quatschen, also ließ Kai ihn in Ruhe und füllte stattdessen die Biere ab, die der Tisch bestellt hatte, damit Frank sie ihnen bringen konnte. Scheinbar kannte der alte Mann die drei. Kai hatte sie hier noch nie gesehen.
      Eine kleine Weile später kam noch jemand: ein großgewachsener Kerl mit deutlichen Muskeln unter den zerknitterten Klamotten. Die Art wie er sich umsah, direkt nachdem er eingetreten war, verriet Kai, dass der Mann zu Jack gehörte. Noch ein Soldat also. Sekunde mal, Kai kannte den doch... das war sein neuer Nachbar! Naja, neu war ein dehnbarer Begriff. Die Möbelpacker waren vor knapp drei Monaten aufgetaucht und hatten Zeug in eine der Wohnungen gegenüber gebracht. Kai hatte den Mann, der danach aufgetaucht war, nur ein paar Mal gesehen. Hauptsächlich, weil er keinen Vorhang an sein Wohnzimmerfenster gemacht hatte und Kai viel Zeit in seinem verbrachte. Aber auch ein paar Mal unten an den Briefkästen für das Gebäude. Der Mann wirkte irgendwie immer ein bisschen gehetzt.
      "He, Barmann."
      "Hm?"
      Kai machte die zwei Schritte zu den beiden Soldaten rüber, Lächeln immer noch im Gesicht.
      "Gib meinem Freund auch ein Gläschen."
      Kai griff schon nach besagtem Gläschen, als sein Nachbar ihn mit einem einfachen Nein stoppte.
      "Ein Bier. Bitte."
      "Bier, geht klar. Hell oder dunkel? Wir haben auch ein richtig gutes Craftbier reinbekommen, das kommt aus einer kleinen Brauerei ein paar Blocks von hier? Schmeckt echt gut. Und das sag ich als jemand, der eigentlich gar kein Bier trinkt."
      Er hatte die Jungs hinter dem Craftbier mal getroffen; ein ziemlich cooler Haufen. Sie wollten ihre eigene Bar aufmachen, sobald das mit dem Bier richtig loslegte.
    • Isaac starrte den Barkeeper an. Er hatte eine geschmeidige Art zu reden, seine Stimme nicht so gestelzt, wie alle Leute, überall, aber er sagte so viel. So freundlich. Isaac war nicht darauf eingestellt gewesen, mit jemand anderem als Jack ein Gespräch zu führen. Er war sich unmittelbar seiner ungewaschenen Haare bewusst, seiner ungewaschener Kleidung, seines ungewaschenen alles. Deshalb kam er nicht gerne raus. Dabei war heute doch ein guter Tag.
      Er starrte ihn an, dann räusperte er sich. Er hatte ja auch keine Zähne geputzt. Ob man das über den Tresen riechen konnte?
      "Dunkel. Nur dunkel."
      Sein Augenmerk fiel auf einen blauen Fleck in den dunklen Haaren des Barkeepers. War das etwa Farbe? Er sprach ihn aber nicht darauf an und der andere kümmerte sich sowieso schon um sein Bier. Er benutzte den Zapfhahn, hielt das Glas aber gekippt. Isaac konnte keinen Tropfen hören.
      "Isaac."
      Er sah wieder zu Jack. Der sah ihn mit einem eigentümlich unruhigen Ausdruck im Gesicht an.
      "Ich habe Neuigkeiten."
      Neuigkeiten. Isaac hasste Neuigkeiten. Neuigkeiten waren das, was man nannte, wenn man jemandem von einem Todesfall erzählen wollte. "Ich habe Neuigkeiten, deine Mutter ist gerade gestorben". Sowas eben.
      Der Barkeeper stellte das Bier vor ihm ab und Isaac griff gleich danach. Mit der Rechten, die Linke ließ er auf seinem Schenkel liegen.
      "Und zwar?"
      "Aaron hat's erwischt."
      Isaac hielt auf dem Weg, das Glas zu den Lippen zu führen, inne. Er starrte Jack an, eindringlich, während er das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aaron hat's erwischt. Gerade Aaron.
      "Wie?", hauchte er.
      "Hat sich erhängt. Im Schlafzimmer. Wir waren heute morgen da, wollten ihn eigentlich abholen."
      Wir - Jack und ein paar anderen, die in einem Freiwilligendienst auf ein paar Vets aufpassten, die es schwierig hatten. Nicht Isaac natürlich, der hatte es nicht schwierig, nur ein bisschen Angst vor Regen. Jack sah nach den richtig schlimmen Fällen.
      "Auf dem Bett lag eine Knarre und ein Abschiedsbrief. Er meinte, er kann einfach nicht mehr. Alles fühlt sich falsch an, er kommt einfach nicht mehr weiter, es ist wie zu ertrinken, ohne dass das erlösende Ende kommt. Er wollte es wohl erst mit der Knarre versuchen, hat dann aber Schiss bekommen. Hat den einfachen Ausweg gewählt."
      "Oh."
      Isaac starrte den Tresen an. Aaron war einer der wenigen gewesen, der so gewirkt hatte, als würde er sein Leben in den Griff bekommen. Er hatte gleich einen Job bekommen, war regelmäßig zu allen möglichen Treffen gegangen, hatte sich für freiwillige Hilfe gemeldet, hatte ständig davon erzählt, dass er hier und dort Fortschritte erzielt hätte, dass er auf die Füße kam. Isaac hatte den alten Mann immer mit einem Gefühl von Neid und Faszination betrachtet, dass er es so schnell schaffen konnte, wieder auf die Beine zu kommen, während Isaac selbst strauchelte und strauchelte. Aber ganz anscheinend hatte er es doch nicht so einfach geschafft. Ganz anscheinend hatte er letzten Endes doch verloren.
      "Oh", sagte Isaac nochmal, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
      "Ich wollte, dass du es von mir erfährst, nicht erst morgen. Diese ganzen scheiß Hasenfresser werden bestimmt erzählen, was für ein toller Kerl er doch war und dass er so lange gekämpft hat, wie er nur konnte. Einen Scheiß hat er. Ein Feigling war er. Ein verdammter Feigling, der uns alle im Stich lässt."
      Jack machte ein Geräusch, als wolle er auf den Boden spucken, dann tat er es aber nicht und trank stattdessen. Isaac tat es ihm gleich. Das Bier kühlte seinen Hals und erfrischte ihn; er hatte lange nicht mehr getrunken. Den ganzen Tag schon nicht.
      "Weißt du, was wir in unserer Kompanie mit so jemandem getan hätten? Weißt du das? An den Schießstand hätten wir ihn gestellt. An den Pfosten und dann -"
      Er machte mit der Hand eine Geste, als würde er sich das Hirn wegpusten. Isaac ging darauf nicht ein. So war Jack eben manchmal.
      "Dann sind wir jetzt einer weniger", sagte Isaac schwach. Jack nickte dazu.
      "Einer weniger. Nur die Starken überleben in dieser Welt. Sei einer von den Starken, Zacky."
      Darauf wusste Isaac nichts zu antworten. Er würde Jack nicht erzählen, was mit ihm geschah, wenn es regnete.
    • "Dunkel. Nur dunkel."
      "Kommt sofort."
      Kai tänzelte zurück zu den Zapfhähnen, die ganze eineinhalb Schritte zu seiner Rechten standen und schnappte sich ein Bierglas. Den ganzen Tag schon hatte er diesen Ohrwurm, aber er kam nicht drauf, wo er diese Melodie schonmal gehört hatte. Ha! Weil es das Lied gar nicht gab! Kai hätte sich die Hand an die Stirn geschlagen, wäre er nicht gerade dabei, ein Bierglas zu füllen. Er hatte eine Melodie im Kopf, die ihm selbst eingefallen war! Manchmal war er ja wirklich ein Dussel.
      "Ich habe Neuigkeiten."
      "Und zwar?"
      "Aaron hat's erwischt."
      Kai stellte das Bier vor seinem Nachbarn ab, gerade als dem sämtliche Gesichtszüge zu entgleiten schienen. Scheinbar mochte er diesen Aaron, wer auch immer das war. Kai war Barkeeper, er würde sich also nicht einmischen, solange er nicht musste oder dazu aufgefordert wurde. Trotzdem empfand er Mitgefühl für seinen Nachbarn. Einen Freund zu betrauern war immer schwer. Innerlich stellte er sich darauf ein, die beiden Männer noch eine ganze Weile lang zu bedienen.
      "Wie?"
      "Hat sich erhängt. Im Schlafzimmer. Wir waren heute morgen da, wollten ihn eigentlich abholen. Auf dem Bett lag eine Knarre und ein Abschiedsbrief. Er meinte, er kann einfach nicht mehr. Alles fühlt sich falsch an, er kommt einfach nicht mehr weiter, es ist wie zu ertrinken, ohne dass das erlösende Ende kommt. Er wollte es wohl erst mit der Knarre versuchen, hat dann aber Schiss bekommen. Hat den einfachen Ausweg gewählt."
      Einfacher Ausweg? Naja, jedem die eigene Meinung, aber irgendwie klang Jack nicht besonders einfühlsam. Es war doch egal, wie es passiert war. Es war passiert. Und das war ein großer Schnitt für jeden, der diesen Aaron kannte. Selbst wenn er ein furchtbarer Mann gewesen war, ein bisschen Respekt konnte man doch wohl zeigen, oder? Zumindest gegenüber den Hinterbliebenen.
      "Ich wollte, dass du es von mir erfährst, nicht erst morgen. Diese ganzen scheiß Hasenfresser werden bestimmt erzählen, was für ein toller Kerl er doch war und dass er so lange gekämpft hat, wie er nur konnte. Einen Scheiß hat er. Ein Feigling war er. Ein verdammter Feigling, der uns alle im Stich lässt."
      Ah. Kai war zwar kein Psychologe, aber das klang dann doch ein bisschen nach dem Stadium der Wut im Trauerprozess. Jack verfluchte seinen Freund - Kollegen? - nur so sehr, weil er sich selbst allein gelassen fühlte. Okay, jetzt machte das Ganze schon ein bisschen mehr Sinn.
      Jack leerte sein Glas und Kai war gleich zur Stelle.
      "Noch einen?"
      Der Mann nickte und Kai füllte ganz brav nach. Innerlich machte er sich eine Notiz darauf zu achten, ob Jack mit dem Auto da war und ob er ihm die Schlüssel abnehmen musste.
      Irgendwie tat ihm sein Nachbar leid. Der war eindeutig noch nicht bei Wut angekommen, musste sich jetzt also mit Jacks Vortrag auseinandersetzen während er gleichzeitig zu verarbeiten versuchte, dass sein Freund tot war. Das da nur dummes Zeug aus seinem Mund purzelte machte eigentlich total Sinn. Kai wäre es sicher nicht anders ergangen.
      Er stellte eine kleine Schüssel mit Nüssen und Salzcrackern zwischen die beiden Männer.
      Frank kam hinter die Bar und legte Kai eine schwere Hand auf die Schulter.
      "Ich bin hinten und mach Papierkram. Sag Bescheid, wenn's voll wird."
      "Jup."
      Kai nickte und sah seinem Chef nach, wie der in den hinteren Räumen verschwand. Die Bar war immer noch praktisch leer. Da waren die drei an ihrem Tisch, Jack und sein Nachbar. Aber Kai wusste es besser, also deklarierte er das hier nicht als einen ruhigen Abend. Damit bestellte man sich nur eine extra Portion Ärger ins Haus. Stattdessen machte er sich daran, den Zapfhahn sauber zu machen und ein paar Gläser bereitzustellen. Der Stammtisch würde sicher jeden Moment einfallen und dann musste er loslegen.
      Exakt drei Minuten später polterten die ersten Mitglieder herein.
      "Kai!" grüßte Bertha, die Frau von Terry, dem Bruder von Harald. Harold's Tod, oder besser sein Sterben, war damals der Ursprung von diesem wöchentlichen Zusammentreffen gewesen. Zumindest hatte Frank ihm das erzählt.
      Vor zehn Jahren hatte Harold eine Krebsdiagnose bekommen und man gab ihm zwei Monate zu leben. Er hatte sich gewünscht, mit seiner Familie und seinen Freunden viel Zeit zu verbringen, also waren sie alle hier eingefallen. Und dann war Harold einfach nicht gestorben, also hatten sie sich Woche um Woche getroffen. Harold hatte noch drei Jahre gelebt; der Stammtisch lebte noch immer. Als Kai hier angefangen hatte, hatten sie ihn so herzlich begrüßt, als sei er unter all den älteren Herrschaften aufgewachsen. Kai liebte es, während dem Stammtisch Schicht zu haben.
      Bertha umarmte ihn etwas umständlich über den Tresen hinweg, Terry grüßte ihn mit einem einfachen Heben der Hand.
      "Wie geht es dir, Junge? Ach herrje, da ist ja Farbe in deinen Haaren! Waren die Kinder schon wieder wild?"
      Kai lächelte breit. "Ja. Wir haben uns über Vögel gefreut, da hat die Farbe eben fliegen gelernt."
      Bertha lachte und fischte ihm einen Klumpen blauer Farbe aus den Haaren. Lindsey...
      "Die anderen kommen auch gleich, du kannst also schonmal loslegen. Sag Bescheid, wenn wir dir was abnehmen sollen, ja?"
      "Ich pack das schon."
      Bertha und Terry gingen zu der Seite der Bar, wo Frank schon die Tische für die Gruppe zusammengeschoben hatte. Kai machte sich daran, Berthas und Terrys üblichen Bestellungen zu erfüllen. Die brachte er auch gleich rüber zu den beiden, bevor er anfing, die anderen üblichen Bestellungen vorzubereiten. Er zapfte Bier wie ein Weltmeister und mischte einen Apperol Spritz zusammen. Er packte alles auf ein Tablett, das viel zu voll aussah, als dass man es hätte tragen können. Doch er hob es gekonnt hoch und balancierte es zügig zu dem Stammtisch rüber, wo er es einfach nur abstellte - die Gruppe konnte sich selbst bedienen und er hatte noch eins zu füllen.
    • Jack bekam gleich ein neues Glas hingestellt. Isaac blieb bei seinem Bier.
      Die Nachricht von Aaron war schlimm. Jeden Monat erwischte es jemanden und ihre Gruppe wurde kleiner und kleiner. Isaac war seit gut einem halben Jahr dabei, hatte damit angefangen, als die OPs für seine Hand abgeschlossen waren, und seitdem hatten sich schon sieben Leute umgebracht. Mit Aaron waren es jetzt acht. Acht Menschen, die zu irgendeinem Punkt mit Isaac in einem Sitzkreis gesessen und erzählt hatten, wie gut oder schlecht es ihnen ging. Die alle durch den Prozess von "mir geht es schlecht, aber immerhin bin ich nicht tot" hatten gehen müssen, nur um zum Schluss doch dort zu landen. Isaac fand das schrecklich. Das Grauen saß tief in ihm, denn ein Teil von ihm fürchtete, dass auch er so enden könnte. Als wäre das ganze eine Seuche, für die er besonders anfällig war, weil er in einer Abstellkammer schlief.
      Er nahm einen großen Schluck von seinem Bier.
      Die Tür ging auf und ein paar Leute polterten herein. Der Barkeeper wurde mit einem herzlichen Kai begrüßt, oder die Frau sagte auch Hi, wobei Isaac sich nicht so sicher war. Wie hieß der Mann eigentlich? Sie waren ganz sicher Nachbarn, Isaac hatte ihn schon öfter gesehen, seine schlanke Gestalt, wie er durch sein Wohnzimmer gegenüber hüpfte, aber er hatte noch nie bei der Klingel unten nachgesehen, wie er eigentlich hieß. War das unhöflich? War Isaac unhöflich?
      "Wie geht es dir, Junge? Ach herrje, da ist ja Farbe in deinen Haaren! Waren die Kinder schon wieder wild?"
      Kinder? Isaac hatte einmal Kinder in Kais Wohnzimmer gesehen, wie sie dort irgendwas veranstaltet hatten. Er hätte sie auch sicher hören können, hätte er sein Fenster aufgemacht - wobei er wieder bei der Spinne war. Vielleicht ging sie eines Tages von selbst. Dann musste er aber trotzdem noch das Netz wegmachen.
      Jedenfalls hatte er mit der Farbe recht behalten und der Gedanke lenkte ihn ein bisschen von Aarons Schicksal ab. Er fragte sich jetzt, wie der Mann Farbe in die Haare bekommen hatte. Vielleicht hatte ein Kind ihn angemalt. Was taten die Kinder eigentlich bei ihm?
      "Scheiß Hasenfresser", kommentierte Jack leise neben ihm, starrte aber sein Glas an. "Jetzt weiß ich wieder, wieso ich Dienstags nie hierher komme. Zu viele scheiß Zivilisten."
      Isaac nickte nur stumm. Er sah der Gruppe nach, wie sie sich an einen der Tische verdrückte und wie Kai ihnen ein Tablett voller Getränke brachte. Bei dem Anblick packte Isaac ein Sehnen, ein Bedürfnis nach demselben sozialen Umfeld, nach Freunden, die sich mit ihm in die Bar hockten und sich über belanglose Dinge unterhielten, über Fußball vielleicht oder Filme oder... irgendwas, worüber man sich heutzutage eben unterhielt. Über normale Dinge, ohne, dass jemand erwähnte, wie sehr er den Dienst vermisste, wie wenig Sinn die Gesellschaft machte, wer gestorben war, wer ins Krankenhaus gekommen war, wer rückfällig geworden war. Einfach ein normales Leben mit normalen Leuten. Doch obwohl Isaac aufstehen, zu ihnen gehen und sich setzen könnte, klaffte eine derartige Schlucht zwischen ihm und diesem Tisch, dass selbst das nicht möglich war. Das waren nicht seine Freunde und das war auch nicht sein Leben, dass sie dort lebten. Eines Tages würde es das vielleicht sein, aber davon war er noch weit entfernt. Sehr weit.
      Jack stellte sein Glas mit Wucht wieder zurück auf den Tisch. Er hatte es schon wieder leer getrunken.
      "Ich gehe. Gar keine Lust auf den ganzen Lärm hier. Kein Anstand mehr, die Leute, heutzutage. Weißt du, was dieses Land braucht? Eine Wehrpflicht. Hätte niemals abgeschafft werden sollen."
      Isaac schwieg. Er sah zu, wie Jack ein zerschlissenes, ledernes Portemonnaie hervor kramte.
      "Was schulde ich dir, Kumpel?"
      Er bezahlte bei Kai seine beiden Whiskeys, gab ein bisschen Trinkgeld und schlug mit Isaac ein. Dann drehte er um und marschierte aus der Tür. Seine breiten Schultern warfen die Tür auf.
      Isaac blieb auf dem Hocker zurück. Er wollte eigentlich auch gehen, denn so langsam machte sich das Gefühl in ihm breit, dass alle ihn riechen konnten, dass er bis zum Himmel stank, dass man ihm ansah, dass er seit Monaten keine ordentliche Dusche genommen hatte. Nur erschütterte ihn die Sache mit Aaron so sehr, dass er noch nicht zurück in seine Wohnung wollte, wo nichts aufgeräumt war, wo nichts eingeräumt war, wo er nichts hatte als die Couch zum Sitzen und das Bett zum Schlafen. Er konnte dort jetzt nicht sein und daran denken, dass Aaron sich in seinem Schlafzimmer umgebracht hatte. Außerdem hatte er noch die Hälfte seines Biers und das Geld wollte er nicht verschwenden. Er nahm einen Schluck und griff dann zu den Salzstangen. Dabei versuchte er auch wirklich nur die anzufassen, die er sich dann in den Mund steckte.
      Aaron also. Beklommen starrte er in sein Glas, dann schielte er zu dem Tisch hinüber. Wie schön es gerade jetzt wäre, Freunde zu haben.
    • Nachdem Kai auch das zweite Tablett rüber zu dem sich stetig füllenden Stammtisch gebracht und sich ein paar Umarmungen abgeholt hatte, kehrte er zu seinem Posten hinter dem Tresen zurück. Jack bezahlte - und gab gutes Trinkgeld! - bevor er seinen Freund einfach zurückließ und verschwand. Schon ein bisschen gemein, ihn einfach so hier sitzen zu lassen, nachdem er so eine Bombe hatten fallen lassen.
      Kai schüttelte sein linkes Handgelenk aus - es zwickte immer ein bisschen, wenn er zu viel auf einmal hob - und packte das Geld weg. Über die Kasse hinweg betrachtete er seinen Nachbarn, der jetzt irgendwie noch verlorener aussah als vorher. Kurz debattierte Kai mit sich selbst, aber er konnte es einfach nicht übers Herz bringen, den Mann in seiner Trauer allein zu lassen, wenn er nicht wusste, dass er das auch wollte.
      "Hey, Nachbar. Alles okay? Ich hab nicht gelauscht oder so, aber naja... Barkeeper." Kai zuckte mit den Schultern. "Wir kriegen irgendwie alles mit. Ich nehm an, Aaron war ein Freund?"
      Manche mochten es als Mythos abschlagen, dass Barkeeper unterbezahlte Therapeuten waren. Tat Kai eigentlich auch. Was aber kein Mythos war, war die Tatsache, dass manche Leute einfach nur ein offenes Ohr brauchten, um sich Zeug von der Seele zu reden. Und Kai, als Mensch der half, wo er nur konnte, verlieh sein Ohr gern an diese Leute. Manchmal sogar eine Schulter, um sich auszuheulen. Er hatte mal in einer Straßenbahn gesessen und eine Studentin im wahrsten Sinne des Wortes seine Schulter vollheulen lassen, weil ihr Freund mir ihr an ihrem Geburtstag schlussgemacht hatte. Was für ein Arsch. Kai hatte an dem Tag nichts besseres zu tun gehabt, also hatte er sie auf ein Eis eingeladen. Sie war nett gewesen. Er hatte sie nach diesem Tag nie wieder gesehen.
    • "Hey, Nachbar."
      Isaac sah auf. Kai sprach ihn an und das fühlte sich irgendwie gut an. Hey, Nachbar. Als wäre er einfach irgendso ein Typ in der selben Nachbarschaft. Das wollte er auch sein, zumindest irgendso ein Typ, und kein armer, bemitleidenswerter Veteran, der sich nicht den eigenen Arsch abwischen konnte. Er wollte eben so normal sein wie die Leute dort drüben.
      "Alles okay? Ich hab nicht gelauscht oder so, aber naja... Barkeeper."
      Kai zuckte mit den Schultern auf eine lässige Weise, die Isaac sofort gefiel. Die Geste schien zu sagen "du weißt schon, wie das so ist", was Isaac definitiv nicht wusste, aber es fühlte sich damit so an, als würden sie sich schon kennen. Irgendso ein Typ eben. Kai war ihm irgendwie sympathisch.
      "Wir kriegen irgendwie alles mit. Ich nehm an, Aaron war ein Freund?"
      "Nein. Nicht wirklich. Nur ein Mensch mit ähnlichen Problemen."
      Für einen Moment dachte Isaac darüber nach, Kai die ganze Geschichte zu erzählen, wie optimistisch Aaron bei den Treffen immer gewesen war, wie viel er jede Woche zu erzählen hatte, wie viel Inspiration er damit verbreitet hatte, dass er so alt war und es trotzdem irgendwie noch schaffte, sich durchzuschlagen. Kai hatte so einen offenen Ausdruck in den Augen, der Isaac glauben ließ, dass er ihm alles erzählen konnte. Er dachte dabei an den Tisch an der Seite und öffnete schon den Mund um mehr zu sagen. Da fiel ihm erst ein, dass er dann auch erwähnen müsste, dass er selbst zu diesen Treffen ging, dass er selbst so wie Aaron war und vielleicht hatte Kai noch nicht begriffen, wer er war - was er war. Und für den Moment wollte Isaac eigentlich nur irgendso ein Typ sein. Der Nachbar. Kein... nichts anderes eben.
      "Ich will eigentlich nicht darüber reden. Uhm, hat die Frau dich vorhin Kai genannt? Oder habe ich das falsch verstanden?"
      Wow. Wie wäre es denn mit einem "wie heißt du eigentlich"? Hatte er jetzt auch noch verlernt, wie man sich richtig vorstellte?
      "'Tschuldigung. Ich bin Isaac."
    • "Nein. Nicht wirklich. Nur ein Mensch mit ähnlichen Problemen."
      Kai nickte. Manchmal war das alles, was man brauchte. Einfach nur jemanden, der verstand, was gerade so passierte. Was für Probleme das waren, die Aaron und sein Nachbar hier miteinander teilten, das konnte Kai nicht erahnen. Aber wenn sich einer von beiden das Leben genommen hatte... Kai nahm sich vor, ein Auge auf den Mann auf der anderen Seite des Tresens zu haben. Zumindest für heute Abend konnte er ihm halbwegs Gesellschaft leisten. Und wer weiß? Wenn der Kerl lange genug blieb, könnten sie sogar gemeinsam nach Hause gehen. das wäre doch was.
      "Ich will eigentlich nicht darüber reden. Uhm, hat die Frau dich vorhin Kai genannt? Oder habe ich das falsch verstanden? 'Tschuldigung. Ich bin Isaac."
      Kai winkte ab. "Ach was, kein Grund, dich zu entschuldigen. Ist ja nicht so, als ob man Bertha überhören könnte."
      Just in diesem Augenblick schwappte schallendes Gelächter von dem Stammtisch herüber - und am lautesten lachte natürlich die alte Dame. Sie schlug sogar ihrem Ehemann freundlich gegen den Oberarm. Terry schmunzelte nur in sein Craftbier hinein.
      Kai trocknete sich die Hand ab und reichte sie über den Tresen.
      "Makaio. Aber Kai reicht," meinte er mit einem ehrlich freundlichen Lächeln.
      Isaac also. Hübscher Name für einen hübschen Mann. Kai nahm sich endlich mal die Zeit, den Mann eingehend zu mustern. Wie er bereits erahnt hatte, verbargen sich unter den zerknitterten Klamotten - wer hatte schon lust zu bügeln, mal ehrlich? - ein paar ordentliche Muskeln. Isaac trug die Haare kurz, rockte keinen wirklichen Bart - war aber auch nicht nötig, er hatte kein wirkliches Bartgesicht. Kai erkannte die Haltung sofort wieder. Die Haltung, der suchende, müde Blick, dazu der Kontext von Jack... der Mann war Soldat. Kein Wunder, dass er nicht über seinen nicht-wirklich-Freund Aaron sprechen wollte. Die beiden kannten sich bestimmt aus der Truppe. Oder aus einer Selbsthilfegruppe. Egal. Isaac wollte nicht drüber sprechen, also würde Kai es auch nicht anschneiden.
      "Du hast meine ursprüngliche Frage noch nicht beantwortet, Isaac," meinte er stattdessen und machte sich daran, Jacks Whiskeyglas zu spülen. "Ist alles okay?"
    • Gelächter drang zu ihnen hinüber und Isaac musste sich willentlich davon abhalten, wieder zum Tisch zu sehen. Er wollte nicht verzweifelt wirken - nicht vor Kai. Sie kannten sich zwar gar nicht wirklich, aber das war doch eigentlich die perfekte Vorlage um... einen Schritt zu wagen, wenn er Dr. Harvers Ausdrucksweise verwenden wollte. Sie hätte die Situation bestimmt als weiße Leinwand beschrieben, die darauf wartete, bemalt zu werden.
      Nur war Isaac noch nie ein guter Künstler gewesen.
      "Makaio. Aber Kai reicht."
      Kai lächelte und das ließ seine Zähne aufblitzen. Isaac sah für einen Moment darauf hinab und spürte einen Stich Eifersucht. Der Mann konnte Fenster öffnen und sich die Zähne putzen. Sicher konnte er auch Kisten auspacken und seine Wohnung aufgeräumt halten. Alles, was Isaac nicht konnte.
      Makaio hieß er. Das hörte sich exotisch an. Er sah auch exotisch aus, wobei Isaac ihn nicht ganz zuordnen konnte. Kurz fragte er sich, ob Kai mal auf den Philippinen gewesen war; nicht, dass er ihn das ernsthaft fragen würde.
      Isaac lächelte nicht zurück. Er verpasste den Moment, zu sehr war er von Kais Zähnen und seinem Namen abgelenkt gewesen.
      "Du hast meine ursprüngliche Frage noch nicht beantwortet, Isaac."
      Aus seinem Mund hörte sich Isaacs Name so an, als wären sie schon lange befreundet. Fast wünschte er sich, er hätte auch einen Spitznamen wie Kai, den der andere benutzen konnte. Oder noch besser, er würde sich selbst einen für ihn einfallen lassen. Warum dachte er denn sowas?
      "Ist alles okay?"
      Isaac blinzelte. Das war eine Frage, die er immer auf dieselbe Weise beantwortete, denn alles andere machte keinen Sinn. Nur bei Kai hatte er das Gefühl, er könnte ihm eine ehrliche Antwort geben. Bestimmt tat er das aber nur für sein Trinkgeld, nicht weil er ernsthaft interessiert war. Isaac war immerhin, trotz allem, nur irgendso ein Typ.
      "Ja. Alles okay."
      Er lächelte knapp, ohne die Zähne dabei zu entblößen. Er bereute irgendwie, sie heute nicht geputzt zu haben. Er bereute immer vieles, wenn er doch mal aus dem Haus kam.
      "Ist trotzdem ein guter Tag. Heute."
      Er hatte keine Ahnung, wieso er das jetzt unbedingt sagen musste und nach Aaron hörte sich das richtig falsch an. Er fügte schnell hinzu:
      "Für mich. Ich habe einen guten Tag. Meine ich."
      Scheiße. Wo hatte er denn seine Fähigkeit zum Small Talk gelassen? Er schämte sich für das, was ihm da aus dem Mund kam. Wäre er doch besser mit Jack gegangen.
      Er nahm einen Schluck von seinem Bier, damit er nicht noch etwas sagen musste. Mittlerweile füllte sich die Bar langsam und auch der Tisch wurde voller und lauter. Ein paar Leute setzten sich an den Tresen, niemand direkt neben Isaac. Er hoffte, dass das so bleiben würde.
      Kai war zur Stelle, als sein Bier leer war, aber Isaac schüttelte den Kopf.
      "Kann ich ein Wasser haben - bitte."
    • "Ja. Alles okay. Ist trotzdem ein guter Tag. Heute. Für mich. Ich habe einen guten Tag. Meine ich."
      Kai nickte. Isaac hatte ja gesagt, dass er mit Aaron nicht wirklich befreundet gewesen war, also traf ihn die Nachricht vielleicht doch gar nicht so hart. Das war ja eigentlich ganz gut. Trotzdem glaubte Kai ihm das 'alles okay' nicht so ganz. Aber wer war er, einfach so nachzubohren? Er kannte den Mann ja kaum. Gar nicht, eigentlich.
      "Ich hatte auch einen guten Tag," meinte er und befüllte zwei weitere Biergläser, die er zur anderen Seite des Tresens trug, um sie zwei Männern hinzustellen, die in ein Gespräch über irgendwelche Sportclubs vertieft waren.
      "Auch wenn die kleine Clio wieder ins Krankenhaus musste," fuhr er fort, als er zu Isaac zurückkehrte. "Ist natürlich schade, und ich sorge mich ja auch um sie. Aber die anderen Kids in der Gruppe haben mich trotzdem zum Lachen gebracht. Noch ein Bier?"
      Kai nahm das leere Glas vom Tresen und wandte sich schon dem Zapfhahn zu, doch wieder überraschte ihn Isaac.
      "Kann ich ein Wasser haben - bitte."
      "Klar."
      Er stellte das Bierglas in die Spüle und griff sich stattdessen ein anderes, das er mit frischem Wasser füllte. Er stellte es vor Isaac - und mit einem breiten Lächeln hängte er eine Zitronenscheibe an den Glasrand und warf ein kleines Cocktailschirmchen mit rein.
      "Nicht, dass du noch nass wirst," scherzte er und zwinkerte Isaac zu.
      Irgendwie wollte er den Mann noch einmal lächeln sehen. Es stand ihm und Kai beschlich das Gefühl, dass er viel zu wenig lächelte. Und ein bisschen gute Laune hatte doch jeder verdient, oder?
    • "Ich hatte auch einen guten Tag."
      Isaac konnte gar nicht vermeiden an den Lippen des Mannes zu hängen, während er ihm von einer Clio erzählte, die ins Krankenhaus musste. Es war sowas normales, sowas alltägliches, was die Leute sich nunmal erzählten, er liebte es. Mit dem Gelächter im Hintergrund konnte er sich fast einbilden, dass er auch zu der Gruppe gehörte.
      Noch jemand kam zum Tresen und setzte sich neben Isaac, ignorierte ihn aber und wandte sich gleich seinen Begleitern zu. Isaac rutschte ein Stück zur Seite, nur zur Sicherheit. Da stellte Kai ihm ein Wasser hin und peppte es mit Zitronenscheibe und Cocktailschirm auf.
      "Nicht, dass du noch nass wirst."
      Er zwinkerte ihm zu, aber Isaac war für einen Moment zu entsetzt über diese Bemerkung, um es richtig zu bemerken. Dann konnte er ihn doch riechen? Konnte er ahnen, wie lange Isaac sich schon nicht geduscht hatte? Wann er sich das letzte Mal die Zähne geputzt hatte? Wollte er ihn damit aufziehen?
      "Danke."
      Er kaschierte das Zittern, das sich in seine Finger legte, und trank. Bestimmt meinte Kai es nicht so. Er wirkte nicht wie der Typ, der solche Kommentare von sich gab. Wenn überhaupt, würde er ihm wohl... keine Ahnung... freundlich mitteilen, dass er nicht angenehm roch. Nicht sowas von sich geben.
      Kai widmete sich wieder anderen Gästen und Isaac starrte wieder den Tresen an. Mit jeder verstreichenden Minute fühlte er sich schlechter. Und dann, als er gerade beschloss, dass es besser war zu gehen, bevor er sein Glück noch zu sehr ausreizte, lehnte sich sein Nachbar auf den Tresen und sagte zu Kai:
      "Ich glaube, die Toiletten riechen raus. Hier stinkt's irgendwie."
      Das war's. Nein, das war's. Isaac rutschte von seinem Hocker und stellte sich auf wackelige Beine. Sein Puls raste und er hatte das Gefühl, als würde die ganze Bar auf ihn aufmerksam werden. Sein Gestank hatte sich bestimmt schon in alle Ecken ausgebreitet.
      "Ich muss gehen."
      Er kramte sein Portemonnaie hervor. Seine Hände zitterten. Er bekam die Scheine nicht richtig zu fassen und zog in seiner Hast einfach zwei von hinten heraus. Das würde schon stimmen. Er wollte hier nur noch raus.
      "Hier. Das passt. Tschüss."
      Ungelenk warf er sie auf den Tresen und kümmerte sich nicht darum, dass einer davon auf den Boden flatterte. Dann flüchtete er nach draußen und rannte auf dem Weg nachhause. Es war ihm ganz egal, ob ihn die Leute sahen. Erst, als er in seiner sicheren Wohnung angekommen war, atmete er auf und warf einen Blick in sein Portemonnaie.
      Er hatte Kai 100 $ gegeben.
      Fucking fantastisch.
    • Zwei weitere Gäste gesellten sich an den Tresen und Kai wurde von seiner Unterhaltung mit Isaac weggezogen, als die beiden bestellten. Manchmal sehnte sich Kai nach seinen Tagen hinter der Bar in einem Club, wo er richtige Cocktails hatte mixen müssen. Allerdings wollte er seine Ohren noch ein paar Jährchen behalten und da war ein Club nicht unbedingt die beste Umgebung. Also füllte er einfach nur zwei weitere Whiskeys ab und präsentierte sie den beiden Neuankömmlingen. Einer von denen beugte sich über den Tresen, um Kais Aufmerksamkeit zu erregen.
      "Ich glaube, die Toiletten riechen raus. Hier stinkt's irgendwie."
      Wirklich? Kai ging rüber zu dem kurzen Flur, der nach hinten zu den Toiletten führte und schnupperte kurz. Ugh, jap. Der Kerl hatte absolut recht.
      "Ich muss gehen," meinte Isaac da plötzlich. "Hier. Das passt. Tschüss."
      Kai hatte kaum Zeit zu reagieren. Isaac bezahlte ein einfaches Bier und ein kostenloses Wasser mit einem Fünfziger... ach Mist, das waren sogar zwei Fünfziger! Das hatte er nie im Leben so gemeint. Kai wusste, dass er gute Trinkgelder verdiente, aber so gut? Nein. Erst recht nicht, wenn Isaac tatsächlich ein Soldat war. Nein, er würde ihm das Geld zurückgeben!

      Kai machte Frank auf die Toiletten aufmerksam, der sich gleich darum kümmerte. Und am Ende von Kais Schicht rechneten sie das hundert Dollar Bier aus, damit Kai seinem Nachbarn das Geld zurückgeben konnte. Frank vertraute ihm - und Kai würde dieses Vertrauen niemals missbrauchen! - also gab er ihm das Wechselgeld in einem Umschlag mit, als er ihm erzählte, dass der Biertrinker in seinem Gebäudekomplex lebte.
      So gegen Mitternacht erreicht Kai dann besagten Komplex. Ob es schon zu spät war, bei Isaac vorbeizuschauen? Wahrscheinlich. Mist. Dann eben morgen. Die ersten Kids würden erst so gegen zwei eintrudeln, er sollte also genug Zeit haben, Isaac sein Geld zurück zu geben und sich sein Mittagessen zu machen. Auf dass er letzteres nicht schon wieder vergaß.
      Mit einem Plan für den nächsten Tag ließ sich Isaac nach einer Dusche ins Bett fallen und schlief den Schlaf der Gerechten.

      Am nächsten Morgen weckte ihn sein Wecker um acht, was Kai gar nicht gefiel. Als ihn sein Wecker um kurz nach Acht daran erinnerte, dass er auch aufstehen musste, da ergab er sich mit einem Seufzen seinem Schicksal. Er schlurfte ins Badezimmer und löste als aller erstes seinen geflochtenen Zopf - eine viel geliebte Notlösung, wenn er einmal mehr super spät duschte und keine Lust hatte, seine Haare ordentlich zu trocknen. Das Ergebnis war meistens recht angsteinflößend, aber Kai weigerte sich strickt zu lernen, früher duschen zu gehen oder sich die Haare zu schneiden. Irgendwo gehörte es also schon mit zu seinem Charm, dass er immer aussah, als habe er gerade einen Hurricane überstanden.
      Während sein Teewasser aufkochte, öffnete er alle Fenster in seiner Wohnung, um frische Luft, die Morgensonne, und das Vogelgezwitscher reinzulassen. Dass er dabei auch ganz verstohlen einen Blick in Richtung Isaacs Wohnung warf, war nur, weil er wissen wollte, ob der Mann schon wach war. Wirklich sagen konnte Kai das nicht. Er konnte nur erfolgreich feststellen, dass sich in Isaacs Wohnzimmer nichts bewegte. Hmph.
      Sein Wasserkocher zischte ihn an und Kai goss sich seinen Matcha auf. Während der zog stellte Kai die große Leinwand auf und lehnte sie gegen seine Wohnzimmerwand. Das Bild kam langsam zustande. Irgendwann gestern, kurz bevor er zum Rula Bula aufgebrochen war, hatte er endlich herausgefunden, was er da eigentlich malte: Einen Hundepark voller spielender Vierbeiner. Natürlich war das ganze immer noch eine ziemlich abstrakte Angelegenheit und sah aktuell noch nach einem Haufen unförmiger, übergroßer Bohnen aus, die über ein paar grüne Streifen flogen, aber Kai wusste, wo er hin wollte und was er zu tun hatte. Er hatte bestimmt noch ein paar Stunden Zeit, bevor er zu Isaac rüber konnte...
      Kai stellte seinen Matcha beiseite und machte sich daran, das Bild weiter zu malen. Dabei summte er die Melodie von gestern weitern und saute seine Shorts - und sich selbst - einmal mehr ordentlich ein. Viel machte ihm das nicht aus. Er war einfach in der Stimmung, zu malen und ein bisschen hin und her zu tanzen, während er das tat. Was für ein herrlicher Morgen!

      Kai hatte mal wieder die Zeit vergessen. Er war so sehr darin aufgegangen, spielende Hunde zu malen, dass er alle um sich herum vergessen hatte. Statt also zu frühstücken oder gar seinen Matcha leer zu trinken, hatte er jetzt eine sehr realistisch aussehende Wiese und einen fertigen, realistisch aussehenden Hund. Der Rest sah jetzt zwar auch wie Hunde aus, aber die waren alle noch auf dem Cartoon Level. Der richtige Realismus brauchte seine Zeit. Zeit, die Kai nicht hatte.
      Schnell schmiss er ein ordentliches Mittagessen zusammen, das abkühlte, während er unter die Dusche sprang - erneut - und die Farbe von seinem Oberkörper zu waschen. Warum musste er auch immer mit dem Pinsel in der Hand nachdenken?!
      Nach der Dusche warf er sich schnell in ein einfaches T-Shirt, das gern ein paar Farbkleckse abbekommen durfte, und ein paar ripped Jeans, bevor er in seine ausgelatschten - und auch bekleckerten - Chucks schlüpfte. Das Mittagessen schaufelte er sich zwischen jedem Kleidungsstück in den Mund. Zum Schluss warf er sich seine Umhängetasche über und eilte zur Tür.
      "Halt! Stop!"
      Er drehte auf der Türschwelle um und schnappte sich den Umschlag von Frank. Er konnte ja schlecht zu Isaac rüber marschieren, um ihm sein Geld wiederzugeben, wenn er es zu Hause liegen ließ.
      "Jetzt aber. Schlüssel, Skizzenbuch, Wechselgeld... hab alles."
      Mit einem Lächeln im Gesicht verließ Kai seine Wohnung und machte sich auf die Suche nach den richtigen Fluren, um Isaacs Wohnung zu finden. Der Gebäudekomplex war... naja, komplex eben. Eigentlich waren es vier lange Gebäude, jedes fünf Stockwerke hoch, mit Wohnungen auf der Vorder- und Rückseite. Mitten drin gab es eine hübsche Grünanlage und sogar einen Pool. Aber die vier Gebäude waren alle miteinander verbunden - was Kais Arbeitsweg im Winter sehr angenehm machte, denn er musste nicht nach draußen in die Kälte, wenn er nicht wollte, auch wenn das der einfachere Weg war. Aber es verwandelte den gesamten Komplex auch in ein einziges Labyrinth.
      Kai wusste nur, dass Isaac im Gebäude gegenüber im gleichen Stockwerk wohnte. Das sollte nicht so schwer zu finden sein, dachte er sich, nur um sich dann dreimal zu verlaufen, bevor er endlich eine Treppe zum ersten Stock fand. und dann bog er noch zweimal falsch ab, bevor er auf dem richtigen Gang landete. Der sah dann so aus wie auf seiner Seite, also musste er nur vom Treppenhaus aus zählen.
      An dem Klingelschild außen an der Tür stand nur ein Nachname: Stafford. Hm. Kai zuckte mit den Schultern und klingelte. Es würde schon richtig sein, sagte er sich. Und wenn nicht, dann entschuldigte er sich eben für die Störung.
    • In dieser Nacht schlief Isaac in seinem Bett. Sein Rücken dankte es ihm und seine Hand auch, besonders, nachdem er bald wieder in der Abstellkammer schlafen würde. Er hatte nicht vor, dem nächsten Regen wieder mit dem Kopf voran zu begegnen. Nein, er würde brav sein, er würde es sich rechtzeitig in der Kammer gemütlich machen und dann konnte er dort in Ruhe ausharren, bis er sich sicher war, dass die Wohnung frei war. Insofern konnte er jetzt schonmal Energie dafür tanken.
      Nach dem Aufwachen versuchte er erstmal zu etablieren, ob es ein guter oder schlechter Tag war. Der Ausgang würde entscheiden, ob er zum Treffen ging, und außerdem könnte er dann den Tag über im Bett bleiben. Oder er war besonders abenteuerlustig und ging nochmal ins RB, was ihm gleich ein mulmiges Gefühl im Magen bescherte. Er hatte Kai 100 $ gegeben. Er konnte dort wahrscheinlich nie wieder aufkreuzen und außerdem musste er jetzt zusehen, wie er die letzte Woche des Monats über die Runden kam. Das war sein letzter 100er gewesen, sonst hatte er nur Kleinzeug. Vielleicht konnte er sich ja an einem schlechten Tag das Essen sparen.
      Er stand auf, ging ins Bad und erleichterte sich; vorsichtig, im sitzen, auf den Toilettenrand zielend. Danach spülte er, hielt sich sofort die Ohren zu und zählte gedanklich dreimal bis 10, bevor er die Hände wieder wegnahm. Soweit so gut. Als nächstes versuchte er seine Zähne trocken zu putzen - das war besser als gar nichts und vor allem lernte er aus seinen eigenen Fehlern. Manchmal. Also mehr Zähne putzen, auch wenn er die Zahnpasta schlucken musste. Widerlich, aber hey - es ging ihm gut. Der Morgen war geschafft. Jetzt musste er nur noch mit dem Rest des Tages klarkommen.
      Er schlurfte in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte sich den Rest einer Pizza von vorgestern heraus. Bis auf die Pizza, eine verschimmelte Packung Käse und unbenutztem Ketchup war der Kühlschrank leer. Isaac wusste, dass er den Käse besser wegwarf, aber dann war da ja wieder die Sache mit dem Müll und alles drum herum. Den hatte er auch immernoch nicht rausgebracht, er hatte es gestern wieder vergessen. Nachher, wenn er zum Treffen ging. Nachher würde er ihn sicher mitnehmen.
      Er setzte sich auf die Couch und aß seine kalte Pizza. Er hatte eine Mikrowelle, die ließ sich aber nicht öffnen mit dem ganzen Geschirr davor. Kalt schmeckte ihm sowieso alles besser, wie er fand.
      Danach saß er nur noch rum. Checkte das Wetter. Wartete. Fühlte sich, als könne er an diesem Tag gar nichts anfangen, solange er das Treffen nicht hinter sich hatte und frei war. Denn danach, da hätte er endlich Freizeit, weil er morgen schließlich nicht mehr zu diesem Programm ging. Vielleicht würde er sich einen Film anschauen. Ja, vielleicht würde er heute Abend den Fernseher anmachen und wie ein ganz normaler Kerl irgendeinen Film anschauen. Einen mit wenig Wasser.
      An der Tür klingelte es.
      Isaac wandte den Kopf und warf einen Blick auf sein Handy. Es stand zum Glück nicht so schlimm um ihn, dass er von einer Türklingel getriggert wurde, aber fremden Besuch wollte er trotzdem nicht haben. Und das war fremder Besuch, denn es gab genau zwei Leute, die für einen Besuch in Frage kämen, und die hatten ihm beide nicht geschrieben. Also war es ein Fremder.
      Er stand mit einem mulmigen Gefühl im Magen auf. Er mochte Unsicherheiten nicht. Er mochte es auch nicht, Menschen zu begegnen, wenn er nicht darauf vorbereitet war. Mental nicht vorbereitet.
      Aber er ging, entriegelte die Tür - er sperrte von innen auch immer ab - und zog sie ein Stück weit auf. Gerade so weit, dass er eine braune Mähne zu sehen bekam und dann zwei golden anmutende Augen, die zu ihm aufsahen.
      Kai. Es war Kai.
      "Oh. Hi."
      Er zog die Tür ein bisschen mehr auf, dann hielt er inne. Besser nicht zu viel. Im Flur standen noch immer die ganzen Kisten herum.
      "Uhm, kann ich dir helfen?"
    • Kai hielt für genau 0.2 Sekunden still, dann fing er an zu summen. Und auf seinen Fußballen zu wippen. Dann gesellte sich ein kleiner Beat dazu, den er mit seinen Fingern auf seinen Oberschenkel trommelte. Er war drauf und dran, sich an ein bisschen Beatboxing zu versuchen, als die Tür aufging. Kai verstummte.
      "Oh. Hi. Uhm, kann ich dir helfen?"
      "Hi!"
      Kai pustete sich eine verloren gegangene Strähne aus dem Gesicht.
      "Eigentlich bin ich hier, um dir zu helfen. Du hast zwar relativ enthusiastisch gerufen, dass es so stimmt, aber mein Boss und ich haben beide beschlossen, dass du falsch gelegen hast."
      Er kramte in seiner Umhängetasche herum. Schlüssel, Skizzenbuch, Kugelschreiber, Kugelschreiber, leerer Kugelschreiber, Ibuprofen Tabletten.... Da! Triumphierend zog er den Umschlag aus seiner Tasche und hielt ihn grinsend in die Höhe.
      "Dein Wechselgeld!"
      Er reichte Isaac den Umschlag.
      "Frank, mein Boss, hat ihn mir mitgegeben als ich ihm gesagt habe, dass wir im gleichen Gebäude wohnen. Dass du gegenüber wohnst? Eins von beidem hab ich ihm jedenfalls gesagt. Stimmt ja beides auch, eigentlich. Ich plappere schon wieder, sorry. Jedenfalls, wir haben's ausgerechnet und das ist dein Wechselgeld und ich hab's dir jetzt ganz offiziell zurückgegeben. Kann dir leider keinen Kassenzettel ausstellen."
      Lächelnd zuckte Kai mit den Schultern. Und dann, einem dummen Impuls folgend, den er gestern Nacht schon gehabt hatte, reichte er Isaac auch noch einen kleinen Cocktailschirm dazu.
      "Und? Ist heute ein guter Tag?" fragte er, als er sich an ihr kleines Gespräch von gestern erinnerte.
    • Kai versprühte eine Lebhaftigkeit, die für Isaac nur schwer nachvollziehbar war. Der Mann war eine einzige wandelnde... Eigenartigkeit. Auf seinem T-Shirt waren Farbklekse, seine Schuhe sahen ebenfalls farbig aus, seine Haare waren ein einziges Wirrwarr aus merkwürdigerweise sehr definierten Locken und sein ganzes Verhalten versprühte eine Aura von Lebendigkeit. Kai schien so... wach. So fröhlich. Isaac mochte wetten, dass er sich noch niemals vor dem Regen versteckt hatte.
      "Eigentlich bin ich hier, um dir zu helfen. Du hast zwar relativ enthusiastisch gerufen, dass es so stimmt, aber mein Boss und ich haben beide beschlossen, dass du falsch gelegen hast."
      Isaac verstand erst gar nicht, was gemeint war. Kai redete so schnell, so übereifrig. Als müsse er schnell alles aus dem Kopf kriegen, bevor es wieder weg war.
      Nach einem Moment begriff er erst, dass es um seine 100 $ ging. Da wurde ihm ganz heiß vor Scham.
      Kai fing an in seiner Umhängetasche zu kramen. Isaac wusste nicht, was er sagen sollte; er stand schweigend im Türspalt und starrte. Da kamen Schlüssel mit Anhängern aus der Tasche, ein oft benutzt aussehendes Notizbuch, ein alter Kugelschreiber und noch einer und... noch einer und Pillen und dann ein Umschlag. Merkwürdigerweise hielt Kai bei dem Umschlag an, wobei Isaac eher noch einen der Kugelschreiber akzeptiert hätte. Warum auch immer.
      "Dein Wechselgeld!"
      Jetzt wurde ihm erst richtig warm. Sein Wechselgeld. Doch keine 100 $, die er einfach aus dem Fenster geworfen hatte. Kai reichte ihn ihm und Isaac nahm ihn mit der Rechten entgegen. Der Mann hatte sich extra die Mühe gemacht, es ihm zu bringen.
      "Frank, mein Boss, hat ihn mir mitgegeben als ich ihm gesagt habe, dass wir im gleichen Gebäude wohnen. Dass du gegenüber wohnst?"
      "Uhm..." War das eine Frage?
      "Eins von beidem hab ich ihm jedenfalls gesagt. Stimmt ja beides auch, eigentlich."
      "Ja..." Worauf wollte er hinaus?
      "Ich plappere schon wieder, sorry."
      "Nichts für..."
      "Jedenfalls, wir haben's ausgerechnet und das ist dein Wechselgeld und ich hab's dir jetzt ganz offiziell zurückgegeben. Kann dir leider keinen Kassenzettel ausstellen."
      Er beendete seinen Schwall an Wörtern mit dem Lächeln, an das Isaac sich noch gut erinnern konnte und das jetzt, im Sonnenlicht, sogar noch viel besser aussah. Seine Zähne waren so weiß und sein Gesicht warf Falten an genau den richtigen Stellen. Kai war ein hübscher Mann.
      "Danke. Wirklich, danke. Das war..."
      Nein, er würde sich jetzt weder die Blöße geben erklären zu wollen, was ihn gestern getrieben hatte, noch würde er so eine lahme Aussage bringen wie "das war nicht gut". Manchmal war stillsein einfach besser. Klappe halten und zusehen, dass der Mann wieder verschwand, bevor er noch sah, was wirklich hinter Isaac steckte.
      "Danke."
      Wieder kramte der andere und diesmal hielt er ihm zu seiner großen Verblüffung ein Cocktailschirmchen hin. Isaac starrte es an.
      "Und? Ist heute ein guter Tag?"
      Isaac sah auf in Kais offene, warme Augen und seine Brust versetzte ihm einen Stich. Er wusste nicht warum, es war doch nur ein dummes Cocktailschirmchen, aber als er es mit spitzen Fingern entgegen nahm, glaubte er in dem Schirmchen mehr zu sehen. Vielleicht sogar die Antwort auf die Frage.
      "... Ja. Ich denke, heute ist ein guter Tag."
      Er lächelte ohne Zähne. Dann sagte er, weil ihn dieses dumme Schirmchen dazu zu verleiten schien:
      "Arbeitest du heute Abend wieder? Nur so, weil, ich komme auch. Vielleicht. Ich habe noch viel zu tun, aber..."
      Gott, was war nur los mit ihm? Was stimmte nicht mit ihm?
      "... vielleicht komme ich. Später. Heute Abend, meine ich."
      Ihm hatte ein Gespräch vermutlich noch nie so viel Schmerzen bereitet wie jetzt.
    • Mission geglückt! Isaac lächelte wieder und damit hatte Kai alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte. Geld? Ausgeliefert. Irgendwie traurig aussehender Soldat? Zum Lächeln gebracht. BÄM! Voller Erfolg!
      "Arbeitest du heute Abend wieder? Nur so, weil, ich komme auch. Vielleicht. Ich habe noch viel zu tun, aber vielleicht komme ich. Später. Heute Abend, meine ich."
      "Oh, cool. Du meinst im Rula Bula? Da arbeite ich heute Abend eigentlich nicht. Aber wenn du da bist, kann ich ja auch einfach kommen. Ist schon eine kleine Weile her, dass ich einfach mal für mich rausgegangen bin. Normalerweise schleppe ich immer irgendwas für irgendwen hin und hier. Hauptsächlich Leinwände... Oder eben Wechselgeld."
      Ja, der Gedanke gefiel ihm. Dafür, dass Kai sonst immer so ein sozialer Schmetterling war, waren die letzten zwei, drei Monate ganz schön introvertiert gewesen. Klar begegnete er einem Haufen Leuten sowohl im City Meadow Center als auch im Rula Bula, aber das war nicht das gleiche wie einfach mal auszugehen und Spaß zu haben. Natürlich machte ihm seine Arbeit Spaß, aber er wurde dafür bezahlt. Einen Abend also einfach mal so ausgehen klang also genau nach etwas, was er mal wieder tun sollte. Und vielleicht konnte er dann Isaac nochmal zum Lächeln bringen. Das wäre doch mal was!
      "Wenn wir zusammen gehen, dann kannst du mir sogar helfen," meinte er. "Julie, die andere Barkeeperin, die heute Schicht hat, versucht ständig, mich dazu zu überreden, ein Bild für die Bar zu malen. Frank hat ihr gesagt, wenn sie es schafft, mich zu überzeugen, dann hängt er's auch auf. Aber ich hab aktuell so viele Bilder zu malen, dass ich eigentlich - eigentlich - keine Zeit für noch eins hab. Erst recht nicht jetzt, wo ich für Clio auch noch eins machen will, damit ihr Zimmer im Krankenhaus nicht so furchtbar langweilig aussieht."
      Kai fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Seine Finger blieben kurz hängen, wo sich ein paar Knoten gebildet hatten, dann gingen sie durch. Autsch.
      "Im Gegenzug geb ich dir auch ein Bier aus, wie wär's?"
    • "Oh, cool. Du meinst im Rula Bula? Da arbeite ich heute Abend eigentlich nicht."
      Isaac spürte sofort einen Stich der Enttäuschung. Soviel zu der Idee, sozial zu werden. Er hatte sich ja auch ein bisschen angestellt mit seiner Bemerkung darüber. Kai hielt ihn vermutlich für einen Trottel.
      "Aber wenn du da bist, kann ich ja auch einfach kommen."
      Da horchte er aber sofort wieder auf. Das könnte er? Das würde er?
      "Ist schon eine kleine Weile her, dass ich einfach mal für mich rausgegangen bin. Normalerweise schleppe ich immer irgendwas für irgendwen hin und her. Hauptsächlich Leinwände... Oder eben Wechselgeld."
      Also war er Künstler - er malte. Und außerdem hatte er Humor und außerdem bot er an, mit Isaac ins RB zu gehen. Wie so ein... Freund. Ein Kumpel. Ein Bekannter. Guter Bekannter? Jedenfalls irgendetwas, bei dem man mit anderen in die Bar ging. Und in diesem Fall war Isaac der andere.
      "Ja. Okay, ja. Hört sich gut an."
      In seinem Magen kribbelte es. Er verspürte eine absurde Vorfreude darüber, so etwas alltägliches zu unternehmen. Er hatte es ja nicht einmal selbst angeboten, es war von Kai gekommen.
      "Wenn wir zusammen gehen, dann kannst du mir sogar helfen. Julie, die andere Barkeeperin, die heute Schicht hat, versucht ständig, mich dazu zu überreden, ein Bild für die Bar zu malen. Frank hat ihr gesagt, wenn sie es schafft, mich zu überzeugen, dann hängt er's auch auf. Aber ich hab aktuell so viele Bilder zu malen, dass ich eigentlich - eigentlich - keine Zeit für noch eins hab. Erst recht nicht jetzt, wo ich für Clio auch noch eins machen will, damit ihr Zimmer im Krankenhaus nicht so furchtbar langweilig aussieht."
      Kai redete wieder so viel und Isaac starrte einfach nur. Der Mann schien ihn in eine Trance zu ziehen, so sehr vereinnahmten ihn seine Lippenbewegungen, wie seine Augen funkelten, wie seine Haare wippten, wenn er den Kopf bewegte. Er war so abgelenkt davon, dass er gar nicht begriff, was Kai eigentlich von ihm wollte.
      "Im Gegenzug geb' ich dir auch ein Bier aus, wie wär's?"
      "Okay."
      Isaac hatte keine Ahnung worum es ging, aber er stimmte trotzdem zu. Irgendwas mit dem Bild für die Bar und... keine Ahnung. Es war ihm auch eigentlich egal. Er würde vermutlich alles in diesem Moment tun, nur damit Kai auch mit ihm in die Bar ging und ihm ein Bier ausgab. Wie so ein ganz gewöhnlicher, stinknormaler Typ.
      "Dann heute Abend. Um sieben."
      Er dachte noch daran, dass er das Treffen hatte und dass er sich danach besser nochmal wusch, bevor er mit Kai ging. Jack war an seinen Gestank vielleicht gewöhnt, aber Kai nicht. Da korrigierte er schnell:
      "Um acht. Halb acht. Um halb acht unten bei den Briefkästen."
      Kai schien gar nicht aufzufallen, wie wirr Isaac manchmal sprach, oder vielleicht ignorierte er es auch einfach. Denn jetzt lächelte er wieder und das war ein wirklich schöner Anblick. Isaac mochte seine Zähne. Er fand auch, dass der Mann besonders gut aussah, wenn er lächelte. Wie ein Kunstwerk.
      Sie verabschiedeten sich und Isaac schloss die Tür. Er wartete eine geschlagene Minute, bis er sich sicher sein konnte, dass Kai weg war, dann schloss er ab. Mit dem Cocktailschirmchen in der Hand ging er zurück ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und starrte es an. Heute war ein guter Tag. Wenn das Schirmchen offen war, dann war ein guter Tag, weil... das Schirmchen den Regen abhielt. Ja, ein kleiner Regenschirm. Und wenn ein schlechter Tag war, dann war das Schirmchen geschlossen und all der Regen kam runter. Isaac musste also nur dafür sorgen, dass das Schirmchen immer offen blieb und das war ja wohl sehr viel machbarer als all die anderen Sachen, die auf seiner Liste standen. Das Schirmchen konnte er offen halten.
      Er legte es behutsam auf seiner Pizzaschachtel ab. Dann bekam er Angst, dass er doch irgendwann mal den Müll aufräumen würde und das Schirmchen wegschmeißen könnte, also stand er stattdessen auf und legte es aufs Fensterbrett. Ja, da lag es gut, das Fenster machte er ja sowieso nie auf. Dort konnte es ihn immer daran erinnern, dass ein guter Tag war.
      Daraufhin ging er ins Bad und wusch sich für das Treffen.

      “Ich möchte, dass jeder einmal von einem Triggermoment in dieser Woche spricht. Ich mache den Anfang.”
      Gary Evans war ein liebenswürdiger, kleiner Mann, der beide Beine im Krieg verloren hatte und seitdem im Rollstuhl saß. Sein warmes Lächeln konnte von seinem ergrauenden Vollbart nicht eingedämmt werden und in seiner Gegenwart fühlte man sich immer automatisch besser. Ein bisschen erinnerte er an Aaron mit seinem Gehabe, aber vielleicht war das auch nur, weil Isaac unbewusst nach Überresten von Aaron suchte. Es hatte eine kleine Rede gegeben wegen Aaron, die Leute hatten ein bisschen geredet und dann war es auch schon wieder vorbei gewesen. Im RB würde man sich sicher das Maul darüber zerreißen, wie es dazu gekommen war, aber hier, im DAV, war es schon vorbei. Es war ganz so, als hätte Aaron niemals existiert.
      “Ich habe mir vorgestern ein Spiegelei gebraten und da ist mir doch tatsächlich der Henkel von der Pfanne abgebrochen, als ich sie vom Herd genommen habe. So ein Billigteil aber auch, wer rechnet denn schon damit? Das ganze Ding ist auf den Boden gefallen, hat einen gewaltigen Lärm verursacht, und dann hat auch noch der Hund angefangen zu bellen und das alles wurde mir einfach zu viel. Viel zu viel auf einmal, ihr versteht? Da habe ich Angstzustände bekommen. Meine arme Frau, die dachte, dass gleich die Welt untergeht.”
      Er lächelte auf diese liebenswürdige Art und der eine oder andere lächelte mit. Neben Isaac saß Jack, der sich mit den Ellbogen auf den Knien abstützte. Isaac selbst lächelte nicht; er hatte das Gefühl zu stinken. Mal wieder.
      “Das hat so zwanzig Minuten gedauert, da ging es mir schon wieder gut. Aber mit den Spiegeleiern war’s vorbei. Keine Eier für mich.”
      Er sah in die Runde und gab jedem die Gelegenheit, etwas zu sagen.
      “So, jetzt kommt jemand anderes dran. Kiera, wie wäre es mit dir? Erzähl uns deine kleine Geschichte.”
      Kiera Tyrell war eine große Frau mit schmalen Händen. Sie war Ex-Marinesoldatin und war in einem U-Boot gewesen, als der Unfall passiert war. Ob durch menschliches oder maschinliches Versagen wusste noch niemand, die Untersuchungen liefen noch, aber in jedem Fall war sie und ihre Mannschaft 80 Meter unter der Wasseroberfläche festgesteckt, während der Maschinenraum mit Wasser vollgelaufen war. Das U-Boot war nur sehr langsam nach oben getrieben und es hatte einem Wunder geglichen, dass es bis auf 20 Meter an die Oberfläche herangekommen war, ehe die Wände von dem Druck geplatzt waren und die Mannschaft nach draußen gezogen hatten. Kiera und ein paar andere hatten es nach oben geschafft, aber nicht alle hatten so viel Glück gehabt. Zumindest war ein Schiff in der Nähe gewesen, um sie aufzusammeln.
      Wie durch ein Wunder war Kiera unbescholten davongekommen und hätte ihren Dienst wohl weiterführen können, wenn sie nicht während der Untersuchungen im Krankenhaus erste Anzeichen von Parkinson gezeigt hätte. Die Symptome hatten sich schnell verschlimmert und jetzt saß sie da und zitterte. Sie war eine von ihnen geworden. Isaac kam der Gedanke ziemlich makaber vor, aber er konnte ihn nicht verhindern.
      “Vor drei Tagen haben Danielle und ich uns eine Doku über die neuesten Kommunikationsmodelle angesehen.”
      Danielle war ihre Freundin, eine Französin. Isaac beneidete die Frau deswegen. In letzter Zeit beneidete er sehr viele Leute.
      “Das war hochinteressant. Hat die jemand von euch gesehen? Auf NTV?”
      Ein paar schüttelten den Kopf und Kiera erzählte ein bisschen. Dabei zuckten und zitterten die Hände auf ihren Beinen und manchmal sprang ihr rechtes Bein mit. Es war schwierig zuzusehen, aber noch schwieriger musste es wohl sein, es selbst zu fühlen und nichts dagegen tun zu können.
      “Jedenfalls haben sie die in Kontrolltürmen gezeigt und dann auch noch die, die in der Raumfahrt eingesetzt werden und dann - stellt es euch vor - haben sie gesagt, dass das dieselben sind, die man auch unter Wasser zum Einsatz bringen will. Die von der Raumfahrt im Wasser. Und dann - wirklich - haben sie mein Boot gezeigt. Meins! Das war vielleicht toll.”
      Ihre Augen strahlten und ihre Hände zitterten. Kiera war nicht so wie die anderen. Sie war auch erst zwei Monate hier und würde kaum nochmal solange bleiben. Kiera war eine von jenen, die nicht anhalten mussten, sondern die immer weitergingen. Das hier war nur eine weitere Station für sie.
      “Das hat mir gefallen, mein altes Baby wiederzusehen. Also, einem Teil von mir hat das gefallen. Der andere hat Krämpfe bekommen.”
      Sie lächelte, als würde sie einen Witz machen, den ein paar auch lustig fanden. Makabre Witze eben. Wenn man seine Einschränkungen nicht mit Humor behandeln konnte, hatte man schon verloren.
      Isaac hatte vermutlich noch nie einen Witz über seine Prothese gerissen.
      “Habt ihr noch zu Ende geschaut? Das würde mich jetzt schon interessieren, was da noch alles gezeigt wurde”, sagte Gary in einem fröhlichen Tonfall und ein paar mehr lachten dazu. Stühle wurden kurzzeitig gerückt, Kleider raschelten. Die Leute entspannten sich.
      Isaac rührte sich nicht.
      “Ich nicht, aber Danielle hat mich ins Bett gebracht und dann noch schnell den Rest geschaut. Das kann ich nicht spoilern, das muss man mit eigenen Augen gesehen haben. Das gibt’s bestimmt im Internet.”
      Isaac rutschte auf seinem Stuhl ein bisschen tiefer. Das interessierte ihn schon, aber er wusste, dass er es sich nicht ansehen würde. Er würde sein Handy benutzen müssen und dann würde er ein schlechtes Gewissen bekommen, dass er all diese Nachrichten noch nicht beantwortet hatte, und dann würde es ihm zu viel werden. Das schien ein Problem zu sein, mit dem Isaac völlig alleine war. Kein anderer hatte in der Runde je davon berichtet, wie schwierig es war Nachrichten zu beantworten oder Kisten auszupacken. Nur Isaac stellte sich so an.
      Isaac und seine lächerlichen Problemchen.

      Die Truppe löste sich hinterher auf und Isaac stieg schnell in sein Taxi. Er musste nachhause sich nochmal waschen und dann wollte er sehen, ob er nicht irgendwo im Schlafzimmer noch saubere Kleidung übersehen hatte. Er wollte gut aussehen für Kai. Das war zwar kein Date, aber es war ihm wichtig, dass Kai sich nicht von ihm abgestoßen fühlte. Gerade Kai, der mit ihm ausging und anbot, ihm ein Bier auszugeben. Isaac musste sich von der absolut besten Seite zeigen.
      Er benötigte eine halbe Stunde mit kontinuierlichem Waschlappen nässen, Tropfen hören, Wasserhahn abdrehen, zwei Minuten warten, beruhigen, abreiben, wieder von vorne anfangen, bis er sich einigermaßen sauber fühlte. Sauber genug zumindest. Danach durchkämmte er nackt sein Schlafzimmer und legte sich auf eine passabel wirkende Jeans und ein dunkles Polohemd fest. Keine Unterhose und keine Socken, das war alles nicht frisch. Irgendwann würden natürlich seine Hosen auch definitiv nicht mehr anziehbar sein, aber bis dahin hätte Isaac hoffentlich herausbekommen, wie er die Waschmaschinen-Situation regelte. Irgendwas würde ihm schon einfallen. Irgendwann.
      Danach ging er nach unten und wartete auf Kai. Er hatte über den Tag hinweg sicher schon hundertmal seine Wetterapp gecheckt, aber er konnte einfach nicht verhindern, jetzt auch einen Blick darauf zu werden. Kein Regen angesagt. Er sah nach oben und beobachtete trotzdem ein paar weiße Wolken, wie sie sich träge über den Himmel schoben.
    • "Coolio. Dann seh ich dich um sieben halb acht acht," grinste Kai.
      Mit einem kleinen Winken wandte er sich ab und schlenderte den Gang wieder hinunter in Richtung Treppen. Auf der ersten Stufe pfiff er schon wieder ein Liedchen.
      Dankenderweise ware der Rückweg um einiges einfacher, als der Weg hin. Sein Hirn hatte sich also schon daran gewöhnt, einfach spiegelverkehrt denken zu müssen, um Isaacs Wohnung zu finden. Wirklich sehr praktisch.

      Der Tag im Center war so wie die meisten Tage im Center eben waren: chaotisch. Die erste Gruppe, die Kai betreute, bestand aus fünfzehn Kids, die alle das Down Syndrom hatten. Es äußerte sich ziemlich unterschiedlich bei den Kindern, aber Kai kannte jeden hier und kannte all die Tricks, um die Kinder motiviert und gut gelaunt zu halten, auch wenn Frustrationen mal überkochten. Und diese Kinder waren echt lustig!
      Er hatte mehrere große Zeichenblöcke auf dem Boden ausgebreitet, daneben lagen Wasserfarben, Buntstifte, ein Becher mit Pinseln und eine halb geschmolzene Dose Wachsmalstifte, die wie kleine bunte Meteoriten aussahen. Die Kinder saßen oder lagen um ihn herum, einige hielten schon Pinsel, andere kicherten in ihre Ärmel. Sie hatten sich heute darauf geeinigt, dass Stühle doof waren.
      "Kai, warum ist der Pinsel traurig?" fragte Leana mit strahlenden Augen, während sie versuchte, einen lila Elefanten zu malen, der aussah wie ein sehr fröhlicher Luftballon.
      "Keine Ahnung, warum?" fragte Kai und lächelte.
      "Weil er immer Haare verliert!" rief sie, bevor sie selbst über ihren Witz in schallendes Gelächter ausbrach. Die anderen stimmten mit ein, einige klatschten begeistert in die Hände.
      "Und weißt du, warum der Frosch nicht in den Kunstunterricht durfte?" rief Paul, der sich gerade mit blauer Farbe einen Schnurrbart malte.
      "Sag du’s mir," antwortete Kai und tat, als wäre er hochgespannt.
      "Weil er zu hüpfend war für den Rahmen!"
      Wieder prustete die Gruppe los. Einer fiel dabei um – absichtlich natürlich – was das Lachen nur noch steigerte.
      Kai lachte mit ihnen, aber er lachte nicht über sie, sondern mit ihnen – aus vollem Herzen. Ihre Witze waren manchmal schräg, manchmal überraschend clever, aber immer voller Freude. Und diese Freude war ansteckend. In solchen Momenten fühlte sich Kai nicht wie ein Betreuer oder ein Lehrer - was er ja auch nie sein wollte - sondern wie ein Mitreisender auf einem kunterbunten Abenteuer durch Wortspiele, Farben und kleine Weltwunder.
      Als der Nachmittag sich dem Ende neigte, lagen viele der Kinder halb auf den Teppichen, müde vom Lachen, vom Malen und vom wilden Erzählen. Kai sammelte langsam die Stifte ein, während ein kleiner Junge mit dem Namen Eric ihm ein zerknittertes Bild hinhielt: ein großes, strahlendes Herz inmitten eines Wirbels aus bunten Linien.
      "Das bist du, Kai. Weil du gute Ohren hast. Für Lachen," sagte Emil.
      Kai schluckte. Dann nickte er und erwiderte leise: "Danke, Eric. Das ist das schönste Bild, das ich heute gesehen habe."
      Der Junge strahlte.
      "Kannst du mir helfen und allen sagen, dass sie ihre Schuhe anziehen sollen?"
      Eric nickte wild, dann drehte er sich um und rannte zu jedem einzeln, um ihnen zu sagen, dass sie ihre Schuhe anziehen sollten. Niemand beschwerte sich. Irgendwie hatte Kai die Magie, Kinder dazu zu kriegen, was er als Erwachsener ihnen sagte. Wahrscheinlich lag es daran, dass er nur selten jemanden dazu zwang etwas zu tun, was sie nicht tun wollten.
      Die Kids wurden von ihren Eltern direkt eingesammelt, während Kai aufräumte. Sie alle erzählten stolz von ihren künstlerischen Errungenschaften oder wiederholten ihre Witze. Kai lächelte einfach nur in sich hinein, während er die Zeichenblöcke zurück in den Schrank schob und anfing, ein paar Leinwände aufzustellen.
      Seine nächste Gruppe bestand aus Senioren, die eigentlich alle noch gut zu Fuß waren, die aber nicht wussten, wohin mit ihrer ganzen Zeit. Diese Gruppe war tatsächlich mehr wie eine Klasse, und sie bestand aus zahlenden Mitgliedern. Ein notwendiges Übel, sozusagen, um die Dinge hier am Laufen zu halten, auch wenn der Besitzer des Gebäudes bereit war, für alle Unkosten aufzukommen. Hatte wohl irgendwas mit Steuern zu tun oder so, Kai hatte keine Ahnung. Solange er hier Spaß haben konnte, war es ihm auch ehrlich gesagt egal.
      Die Senioren kamen nach und nach an und suchten sich einen Platz vor einer der Leinwände. Sie unterhielten sich entspannt miteinander und mit Kai, der locker vierzig Jahre jünger war als der jüngste Senior hier. Kai machte das nichts aus. Diese Leute waren freundlich und er hörte ihnen gern zu, wenn sie von ihrem Leben erzählten oder sich einfach mal wieder über ihren Arzt beschweren mussten, der ihnen schon wieder neue Pillen andrehen wollte.
      Was Kai an dieser Gruppe so mochte war, dass er selbst Zeit zum Malen hatte. Er konnte sich einfach dazusetzen und lospinseln. Hin und wieder stand er auf und half hier und da mit größeren Ambitionen, aber eigentlich war es mehr ein malerischer Kaffeeklatsch als eine wirkliche Klasse. Also verbrachte Kai seine Zeit damit, das Bild für Clio anzufangen. Sie war ein großer Fan von Paw Patrol, also versuchte er, den Stil der Fernsehserie zu kopieren, nur eben mit Katzen. Laut dem Internet gab es sogar ein Team an Katzen, die eine weitreichende Rivalität mit den Hunden hatten.
      "Was malst du denn heute feines, Kai?" fragte Lori, als sie eine Runde durch den Raum drehte, damit ihre Beine nicht so steif wurden.
      "Ein paar Katzen für Clio. Sie musste schon wieder ins Krankenhaus."
      Die Senioren waren nicht die einzigen, die über ihr Leben sprachen, während sie ihre Leinwände bearbeiteten. Diese Leute kannten Kai und sein Leben und seine Passion für die Kids hier im Zentrum genauso gut wie Kai all die Enkelkinder und deren Probleme kannte.
      "Oh je. Ich hoffe es geht ihr gut?" fragte Lori.
      "Weiß ich nicht," gestand Kai. "Sie war gestern nicht da und bleibt wahrscheinlich noch eine Weile weg. Da dachte ich mir, ich mal ihr was für's Krankenhaus."
      "Das ist aber toll von dir," meinte Lori und drückte kurz seine Schulter.
      "Ja, Krankenhäuser sind immer so depressiv," stimmte Carl mit ein. "Die sagen immer, dass die Farben beruhigend wirken, aber das glaub ich denen nicht. Nichts macht mich wütender als die pastell grünen und beigen Wände im Wartezimmer, ich sag's euch."
      "Wie stehst du zu Hunden, die über die Wiese flitzen? An Krankenhauswänden, meine ich," fragte Kai mit einem Lächeln.
      "Das wär doch mal was! Kein doofes Motivationsposter, hoffe ich doch?"
      "Och, ich wollte da eigentlich einen dämlichen Spruch draufklatschen, wenn ich fertig bin."
      "Bloß nicht, Junge! Damit machst du dir Leute nur zum Feind."
      Der Rest des Nachmittags war ähnlich entspannt, bis der nicht-wirklich-Kunstkurs vorbei war. Ein paar Bilder waren noch nicht fertig, also versprach Kai, sie wegzuräumen, wenn sie trocken waren. Hände wurden geschüttelt, Umarmungen gegeben, dann war Kai wie immer allein. Er checkte nochmal alle Räume, räumte hier und da ein paar Kleinigkeiten auf, dann schloss er ab und huschte zurück zu seiner Wohnung.
      Da er heute Mittag mehr gekocht hatte, als nötig, musste er nur ein paar Reste in die Mikrowelle packen und schon hatte er sein Abendessen. Er machte ein bisschen Musik an und tanzte durch seine Wohnung, während er auf sein Essen wartete. Und dann tanzte er mit dem Teller in der Hand weiter. Er hatte so viel gesessen, er musste sich einfach mal ein bisschen bewegen.
      Um sieben war seine Küche dann wieder aufgeräumt und er machte sich daran, seine Haare ein bisschen zu bändigen. Ein relativ fruchtloses Unterfangen, also gab er sich damit zufrieden, schnell einen groben Zopf in seinem Nacken zu flechten, damit er wenigstens nicht überall hängen blieb.

      Er war ein paar Minuten zu spät, als er die letzten paar Stufen hinunterhüpfte und zu den Briefkästen rüberjoggte. Isaac war schon da.
      "Sorry!" meinte Kai als erstes. "Hab mal wieder mein Zeitgefühl verlegt."
      Er wandte sich kurz den Briefkästen zu, suchte sich seinen raus und leerte ihn. Werbung, Werbung, Werbegeschenk einer neuen Firma, die er nicht kannte und auch nicht brauchte - er war kein Brillenträger - ein Brief seiner Krankenkasse, und eine Postkarte. Kai stopfte alles in seine Umhängetasche. Nur die Postkarte, die schob er vorsichtig hinten in sein Skizzenbuch. Die würde er nachher lesen.
      "Okay, bin soweit. Oh..."
      Kai deutete auf den Kragen von Isaacs Poloshirt.
      "Dein Kragen. Der ist schief. Darf ich?"
      Er deutete an, ihm den Kragen zu richten. Natürlich würde er den Mann nicht einfach in der Nähe seines Halses anfassen. Das wäre seltsam und richtig unhöflich. Aber aus seinem Blickwinkel konnte Isaac das Problem ja gar nicht richtig sehen.