a coin for the ferryman (winada)

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    • a coin for the ferryman (winada)

      @Winterhauch
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      Sacht fielen die letzten wenigen Regentropfen ob der Euphorie mit vorgehaltener Hand, diese schwülen Sommertage doch zumindest durch kühle Schauer erträglicher zu machen, von den Dachrinnen, Schindeln, Ecken und Kanten der grau verputzten und dunkel vertäfelten Häuserwänden. Es war eine ja beinahe schon frohe Melodie, das stete glucksende Tropfen des Wassers, welches sich vor wenigen Minuten noch in Sturzbächen vom Himmel ergossen hatte. Frauen, Männer und Kinder hatten Schutz gesucht unter jedem möglichen Dachvorsprung oder Torbögen in die engen Gassen hinein. Die Obrigkeit besaß sogar die Frechheit ganz unverholen ihre Regenschirme auszupacken und es dem Schmutz der Unterschicht mit einem gehässigen Grinsen vor die Nase zu halten, während eben jene arme Schlucker durch den Dreck und die Pfützen kriechen mussten, um den Kapriolen des relativ unsteten Sommerwetters zu entkommen. Ein Glück eigentlich, dass bei diesem Gewitter kein Blitz eingeschlagen hat. Letztes Jahr traf es die Curch of Bellham... des Nachts hat die Wut der aufgestauten Hitze seine Fluten zur Erde geschickt und mit Blitz und Donner ganz nebenbei, völlig unverfroren, den Dachstuhl des einzigen Glaubenshauses im East-District ausbrennen lassen. Sie wusste es noch... die Wehklagen des Paters, welcher diese Kirche liebte und hegte wie seinen Augapfel und somit Heim und Haus verloren hatte. Audra wischte sich somit die letzten Tropfen aus den Augen und sah gefasster als zuvor auf die Zerstörung hinab, die sich vor ihren Füßen ausbreitete... Stumm trat die galante Dame zwei Schritte nach links vor, behielt jedoch die mit Teppich belegten Holzdielen unter Argusaugen in Beobachtung. Raufaser, Handgewebt... wahrscheinlich aus Indien importiert... das Geschäft mit diesen feinen Textilien machte gerade die große Runde in London und nicht alle konnten sich dieses samtige Geschmeide leisten. Nicht so aber die Familie Kensington. Thomas und Bella Kensington ... Er ein respektabler Schmied, sie verkaufte Schmink- und Duftprodukte einzig und allein an die Reichen und Schönen... und die beiden Kinder, George und Gina, Zwillinge, Eineiig. Gepflegte Kinder, wohl genährt, nicht so verwahrlost wie das, was Audra in den Gassen und Gossen erblickte. Ein Seufzen kam der Braunhaarigen über die Lippen. Sie befand sich im Schlafzimmer. Schick eingerichtet, nur das feinste Holz, die besten Stoffe und das neueste Federbett. Ein breiter Schrank stand diesem gegenüber, links und rechts an den Kopfenden standen zuvor noch die wohl sonst sehr schicken Nachtkästchen, die nun aber zertrümmert in ihre Einzelteile, quer durch den Raum geflogen sind. Die Augen der jungen Dedektiven sondierten den Raum... geknickte Kerzen, zerwühlte Bettwäsche, umgeschlagene Ecken der Teppiche... Kleinkram der nicht mehr an seinem Platz lag, wenn man bedachte, dass Misses Kensington laut eigener Aussage eigentlich sehr auf Ordnung achtete. Vor der geöffneten Schlafzimmertüre drang leises Schluchzen an Audras Ohren, was sie erneut hadern ließ. Mit einem schmatzenden Geräusch, öffnete sie ihren Mund, holte tief Luft und fragte nochmals... "Hier hat also alles angefangen, Miss Kensington?", ja, schon zuvor war das die erste nötige Information gewesen, die die Dedektivin gebraucht hatte um sich von der Sachlage ein Bild zu machen. "Wie oft soll ich es Ihnen denn noch erklären... wir lagen im Bett, sprachen ü-über die nächsten Tage und dann... war Tom wie ausgewechselt... er-er begann zu schreien und zu toben... schrie mich an, warum ich mir dies und jenes einbildete und ... und...", währen das Wehklagen der gebeutelten Frau an ihre Ohren drang, lies Audra den ersten Raum des Tatortes hinter sich und trat auf den dimm beleuchteten Gang hinaus, wo ein Arzt sich um die Stich- und Schnittwunden von Bella kümmerte. Kurz beobachtete die Inspektorin sein Handeln, dann glitt ihr Blick aus gesenktem Haupt in das Zimmer gegenüber, wo die Kinder ihr Schlafgemach hatten. Die Türe war geöffnet, zumindest für einen Spalt und durch diesen konnte sie genau die Beine der beiden Siebenjährigen sehen, die starr von der Bettkante hingen, daneben war die Hand des Jungen fest in die Bettdecke vergraben.

      Audra strich sich mit ihrem Handballen über die gerunzelte Stirn, drehte sich nochmal um, um einen Blick in das Schlafzimmer zu werfen und ließ die Szenerie nun auf sich wirken. "Was hat ihr Mann dann gemacht?", sie wusste, auch wenn es eine Rückholung der traumatischen Ereignisse war, so kam die junge Frau nicht drumherum Miss Kensington den Tathergang erneut beschreiben zu lassen. Sie MUSSTE sich ein ordentliches Bild machen, ansonsten war ihre Zeit hier mehr als vergeudet. Vorsichtig ging Audra nun in die Hocke hinab um der vom Schicksal gezeichneten Blonden in die Augen zu sehen. Sie waren verquollen, das eigentliche Blau darin strahlte ihr verblasst entgegen und jegliche Farbe fehlte der jungen Mutter im Gesicht. Die Kleidung klebte an ihrer Haut, die schulterlangen Haare hangen wirr, ungeordnet und ebenfalls nass in ihr Gesicht. Der Tathergang konnte also keine Stunde her sein, gemessen an dem, wie lange es geregnet hat. Die Braunhaarige legte den Kopf schief und wartete geduldig auf eine Antwort. "Lassen Sie sich ruhig Zei-" - "Er begann wie ein Berserker das Zimmer zu verwüsten... er schrie und schrie und schrie... ich versuchte ihn zu beruhigen. Die Kinder kamen aus ihren Zimmern und fragten was los sei... da brüllte er auch sie an, dass sie verwöhnte kleine Blagen sind und das Leben nichts als den Tod für sie bereit hielte... dann... stürmte er in die Küche...", in ihrem Blick spiegelte sich nichts als Leere und Verlorenheit, eine Unendlichkeit die Audra nur schwer aushielt und den Blick abwandte. "... und dann kam er mit dem Messer zurück... ich war davor zu meinen Kindern in den Gang hinaus, wollte sie wieder ins Bett bringen... als sie zu schreien begannen... Dad hat ein Messer... und dann spürte ich bereits den ersten Stich... ich stieß die beiden ins Zimmer und rettete mich irgendwie an ihm vorbei, hinaus auf den Innenhof... er packte mich, er schlug mich, er versuchte wieder und wieder mich zu töten... als er in seiner blinden Wut stolperte und am Pflastersteinboden liegen blieb... er... er war ziemlich hart auf dem Boden aufgeschlagen, weshalb mir das Zeit gab um nach Hilfe zu schreien... aus den anderen Häusern traten Nachbarn, Bekannte... erkannten die Situation und hielten Thomas fest, der plötzlich wieder anfing zu randalieren... ich flüchtete hinein... ich hab... mich nicht mehr umgedreht und die Tür hinter mir verschlossen...", Bella war tapfer. Sie hielt durch, bis zum letzten Wort, wo ihr Geist ihrem Körper übermannte, ihre Stimme brach und Tränen sich den Weg aus ihren Augenwinkel über ihre Wangen suchten. Audra atmete tief durch, hatte sich zu dem ein oder anderen Merkmal ein paar Notizen gemacht und stand schwungvoll auf. "Ich danke Ihnen... ruhen Sie sich nun etwas aus... wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne noch mit George und Gina sprechen... nur kurz... der Abend war aufregend genug.", auch wenn die Braunhaarige bereits mit Widerstand gerechnet hatte, so schüttelte die Hausherrin bloß ihren Kopf. Es fehlte ihr die Kraft, jetzt noch ihr Veto einzulegen. Langsamen Schrittes nun schritt die Dedektivin in Richtung des Kinderzimmers und öffnete vorsichtig die quitschende Türe, nur um auf einem der beiden Betten die Geschwister sitzen zu sehen, welche wie Salzsäulen an Ort und Stelle erstarrt waren. Die gefassten Blicke richteten sich an die Wand gegenüber, doch saß ihnen der Schock des Verrats noch tief in den Augen. Audra fiel sofort das Fenster gegenüber der Tür auf. "Dürfte... ich kurz aus eurem Fenster schauen?", sie versuchte es mit unterschwelliger Kontaktaufnahme... etwas das meistens half, wenn Kinder involviert waren. Doch verblieben ihre Köpfe und Münder stumm. So schritt Audra mit Acht über den Holzboden, auf welchem verteilt Spielzeug und Stoffgetier lag. Erst beim Fenster angekommen, klärte sich für die junge Frau ein weiterer Aspekt, warum die Zwillinge so verstört waren. Von hier hatte man einen spitzen Blick auf den weitläufigen Innenhof... Sie mussten somit alles mitangesehen haben. Audra atmete tief durch. Sie waren in diesem Fall wohl auch die einzigen Zeugen, die die Aussage ihrer Mutter untermauern konnten. Doch noch bevor Audra etwas fragen konnte, erhob Gina ihre helle Stimme, die, wäre es nicht so derartig ruhig im Haus gewesen, in einer Menschenmenge wohl oder übel untergegangen wäre. Aber wer konnte es ihr verübeln... sie hat beobachtet, wie ihr Vater ihre Mutter und eventuell sogar sie selbst umbringen wollte. "Suchst du jetzt diesen Mann? Der, der Dad einschlafen ließ?" Wie war das? Verblüfft hob die Braunhaarige ihre Augenbrauen empor und drehte sich um, nur um in die tränenverschleierten Augen des Mädchens zu blicken.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.


    • There are two events in everybody's life that nobody remembers.
      Two moments experienced by every living thing,
      yet no one remembers anything about them.
      Nobody remembers being born and nobody remembers dying.
      Is that why we always stare into the eye sockets of a skull?
      Because we’re asking: "What was it like? Does it hurt? Are you still scared?"*

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      „Schrecklich! Die armen Kinder…Eine Tragödie sondergleichen.“, seufzte eine Dame mittleren Alters, die ihr gelocktes und rotbraunes Haar unter einem lächerlich winzigen Hut mit großer Fasanenfeder versteckte. Die Locken quollen kunstvoll aber ein wenig zur sehr bemüht unter der Hutkrempe hervor. Ihre Hände steckten in galant bestickten, dünnen, weißen Handschuhen, die bei diesen sommerlichen, stickeigen Temperaturen weniger dem Schutz vor Kälte und mehr der Zierde galten. Ihr Name war Mrs. Charlotte Bell und sie betrieb ein kleine, aber angesehene Schneiderei ein paar Häuser die Straße hinunter. Neben Mrs. Bell schnäuzte eine ältere Dame in ein blütenweises Taschentuch, das eigens mit Monogramm bestickt worden war und sie fest zwischen den knorrigen Fingern hielt. Deutliche Altersflecken zeichneten die langen Finger, die wohl einst die Nähnadel geschwungen hatten wie keine anderen Finger in diesem Viertel.
      „Ich mag mir den Kummer der guten Mrs. Kensington kaum ausmalen. Das Gepolter und Gekreische war die ganze Straße herunter zu hören. Selbst mit meinen schlechten Ohren!“, gab die ältere Dame zu verstehen und tippte sich mit dem Zeigefinger an ihr linkes Ohr.
      „Tragödie?“, schnaubte ein gedrungener Mann mit gezwirbeltem Schnäuzer und einer dicken Hornbrille auf der schiefen Hakennase. Vermutlich hatte sich der Gute eine ganze Weile einen guten Zusatzverdienst innerhalb eines Boxringes verdient. Oder es war schlicht die Ungeschicktheit zweier linker Füße daran schuld. „Es ist ein regelrechter Skandal für unserer schönes Viertel! Ein betrunkener Ehemann randaliert auf offener Straße!“
      „Hast du denn gar kein Mitleid mit der armen Frau, Henry? Zwei Kinder und von heute auf morgen auch noch Witwe“, beklagte sich Mrs. Bell und Henry Brown, Eigentümer eines kleinen Lebensmittelgeschäftes, zuckte gleichgültig mit den Achseln.
      „Ich habe gehört Mrs. Kensington soll nicht die tugendhafteste Ehefrau gewesen sein. Kein Wunder, dass es ihrem Ehemann irgendwann zu bunt wurde…“, mischte sich ein junges Ding ein, das eindeutig eine ungesunde Vorliebe für Klatsch und Tratsch besaß. Hinter den großen, runden Augen verbarg sich eine Boshaftigkeit, die sich mit dem hübschen, unschuldigen Gesicht gut verstecken ließ. Eliza Talbot war die verwöhnte Tochter eines Bankiers, der sich ein luxuriöses Stadthaus im Norden des Viertels leisten konnte. Dass Mr. Talbot sich selbst zahlreiche Affären gönnte, während sein braves Frauchen sich zu Hause um alles kümmerte, ließ sie gerne unter den Tisch fallen.
      „Wirklich!? Ihr Ruf wäre ruiniert! Du glaubst doch nicht sie hat selbst…“, Mrs. Bell lehnte sich mit vorgehaltener Hand zu der jungen Frau mit dem Porzellanpuppengesicht.
      „Ihr Lästermäuler solltet euch alle was schämen!“, zischte die alte Mrs. Moore - ihm war der Name der wohlhabenden Witwe wieder in den Sinn gekommen - und schnäuzte zum zweiten Mal geräuschvoll in ihr Taschentuch.

      Für Gabriel Hargreaves war das Getuschel der Schaulustigen lediglich belangloses Geschwätz. Wahrscheinlich war er die einzige Person in ganz London, der die Wahrheit hinter dieser 'Familientragödie' kannte. Nüchtern betrachtet waren die Ereignisse vermutlich als Tragödie zu bezeichnen, aber ein paar Schrammen und ein gehöriger Schock waren ein wirklich geringer Preis für die Vereitelung von schlimmeren Konsequenzen. Wie fast alle Leute, die sich neugierig vor der Absperrung von Scotland Yard drängten, trug auch Gabriel einen dunklen Regenschirm um sich vor dem Regen zu schützen. Es machte wenig Sinn, denn der hoch gewachsene Mann mit den ungewöhnlich hellblonden Haaren und dem bleichen Gesicht war komplett durchnässt als wäre er beim vorüberziehenden Wolkenbruch minutenlang durch den Regen gelaufen. Die Feuchtigkeit presste die dünnen Strähnen gegen Stirn und Schläfen. Er hatte Mantel- und Hemdkragen hochgeschlagen gegen einen kalten Wind, den es zu Sommerzeiten nicht gab. Es war weniger eine kühle Brise die er fürchtete, sondern schlicht die einfachste Möglichkeit die roten Kratzer an der rechten Seite seines Halses zu verbergen. Vorsichtig verlagerte er sein Körpergewicht auf sein linkes Bein und schonte damit das Knie auf der rechten Seite, dass einen üblen Tritt abbekommen hatte. Es war nicht seine klügste Idee gewesen, sich in das Handgemenge mit dem tobsüchtigen Ehemann und den anderen beherzten Männern zu stürzen. Aber verzweifelte Situationen verlangten verzweifelte Maßnahmen und er war ohnehin schon zu spät dran gewesen. Rückblickend war das Chaos eine glückliche Fügung gewesen, denn es hatte niemand darauf geachtet, dass er dem während des Kampfes gestürzten Mann eine Hand auf die Stirn gedrückt hatte. Danach war Ruhe gewesen und Gabriel hatte sich klammheimlich aber hinkend aus dem Knäul von Menschen zurückgezogen.
      Gabriel musterte die wispernden und tuschelnden Menschen um sich herum mit beinahe gleichgültiger Miene. Sein Gesicht war nahezu ausdruckslos, als würde er nicht dieselbe blutige Szenerie betrachten wie alle anderen. Als würde er den Mann, der dort am Boden lag nicht kennen. Als wäre er nicht in den vergangenen Wochen regelmäßig mit alten Schmuckstücken und Metallarbeiten, die etwas Zuwendung notwendig gehabt hatten, in seinem Haus ein und aus gegangen.
      Unmittelbar vor ihm auf dem nassen Kopfsteinpflaster des Innenhof lag die Leiche von Thomas Kensington. Der kräftige Schmied lag auf dem Rücken, alle Gliedmaßen von sich gestreckt und die toten Augen in den Himmel gerichtet. Er hatte sich bei seinem Tobsuchtsanfall mehrfach selbst mit dem langen Küchenmesser verletzt, das im Augenblick als Beweisstück von einem grünschnäbligen Wachtmeister gesichert wurde. Mehrere Schnitte an den Armen und über der Brust waren eindeutig selbst zugefügt worden. Blutige Schlieren trübten die Pfützen, die langsam mit den letzten Regentropfen in den Kanal gespült wurden.
      Das untrügliche Gefühl beobachtete zu werden, ließ ihn den Blick von der Leiche und den stumpfen, eingesunken Augen nehmen. Mrs. Bell hatte ihren Klienten entdeckt, der sie immer beehrte, wenn es galt an seinem Hemden kleine Ausbesserungen vorzunehmen. Aus Gewohnheit setzte Gabriel ein freundliches, einladendes Lächeln auf, wie er es immer tat, wenn er ihrem Geschäft einen Besuch abstattete. Sie mochte sein Lächeln, das war kein Geheimnis, aber Gabriel verspürte nie den Drang ihre Avancen zu erwidern. Nur schlug Charlotte Bell in diesem Moment nicht vergnügt und geschmeichelt wie erwartet den Blick nieder, sondern sah ihn sichtlich irritiert.
      Seinen Fehler bemerkte der Antiquar bedauerlicherweise zu spät.
      Träge glitt sein Blick über die Menschenansammlung, die allesamt bestürzte Gesichtsausdrücke zur Schau trugen. Ganz langsam sanken seine Mundwinkel nach unten und er drückte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich dezente, ernste Falten direkt über der Nasenwurzel. Der starre gar leere Ausdruck seiner Augen passte nicht zu der neuen Darstellung milder Bestürzung. Ungesehen von neugierigen Blicken schlossen sich seine Finger um den Penny, dessen Silber durch Witterung und häufigen Besitzerwechsel bereits arg angelaufen war. Das kleine Missgeschick und der rhythmische Puls der verkratzten Silbermünze waren das Zeichen zum Aufbruch.
      Das hier war weder der richtige Zeitpunkt und schon gar nicht der richtige Ort um zu tun, was getan werden musste.

      *[The Twelfth Doctor - Dr. Who]
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 3 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Ein perplexes Lächeln zuckte für den Bruchteil einer Sekunde über das festgefrorene Antlitz der Braunhaarigen, während sie in dem Gesicht des Mädchens versuchte, auch nur irgendeine Regung zu finden, die das eben gesagte untermauerte. Nach wie vor starrte der gelockte Schopf zurück in ihre Augen, regungslos. Audras Blick hüpfte kurz zu Ginas Bruder, George, der nach wie vor stumm neben seiner Schwester verweilte und teilnahmslos, weiterhin, an die Wand gegenüber starrte. Das vom Blau verdrängte Grün in ihren Augen glänzte jedoch neugierig hervor. Keinerlei Grund hatte die Kleine sie anzulügen. Ja, Kinder träumten sich als Schutz ihrer Seele oftmals etwas zusammen, doch sah die erfahrene Ermittlerin, das Gina ihr hier die Wahrheit sagte. Und dem musste sie unbedingt auf den Grund gehen. Audra holte Luft. "Was... was genau-" - "Den Mann... mit den weißen Haaren... den Engel...", leiser wurde die Stimme Ginas, ihren rechten Arm hob und mit vorgestrecktem Zeigefinger hinaus aus dem Fenster zeigte. Audras Körper hatte sich bereits herumgedreht, doch glitt ihr Blick als letztes hinaus, streifte nur kurz die wenigen Regentropfen die sich an der äußeren Scheibe versammelt hatten. "Ein Mann..?", der Dedektivin Gedanken rasten und sie pinnte ihre geschärften Augen von Person zu Person, welche sich nach wie vor in dieser aufgebrachten Menschenmenge im Hof befand. Alle waren sie großteils verhüllt, schützten ihre Häupter mit Hüten, Kaputzen oder Regenschirmen. So brauchte es für die junge Frau einen Moment, als sie jedoch wirklich unter einer der Mäntel den hellen Schein von weißen Strähnen aufblitzen sah. Ihr Herz machte einen Sprung, ihr gesamter Körper hob sich in die Höhe, der Blick geweitet, wie bei einem Raubtier, welches seine Beute im Blick hatte. Dann gab es für sie kein Halten mehr. Schnellen Schrittes eilte die Braunhaarige aus dem Kinderzimmer, an Miss Kensington vorbei in den Flur, bog - sich nun bereits im Laufschritt befindend - rechts in die Küche ab und stob nun weniger mit Eile als mit possesiver Arbeitshaltung durch die zweite Türe in den Innenhof hinaus. Das polternde Schlagen der Tür gegen die äußere Hauswand, ließ die Häupter aller sich noch anwesenden Personen für einen Moment in die Höhe fahren. Ein jedes Augenpaar war nun auf die junge Frau gerichtet, die in windeseile, schneller als ihr wohl selbst lieb war, die Individuen analysierte und in der Ferne, beinahe schon in der letzten Reihe, nur noch kurz das Schneeweiß der Haarpracht ausmachte, welches sie bereits von oben erspäht hatte. Doch war es die Neugier der Schaulustigen, welche der engagierten Inspektorin einen Strich durch die Rechnung machte. Eines der überaus hochnäsig wirkenden Pärchen schob sich in das Sichtfeld der Braunhaarigen und nahm Audra somit jegliche Möglichkeit den "Engel" im Blick zu behalten. Wut kochte ihr in der Kehle hoch und während sie ihren stolzen Laufschritt weiterführte, erklang ein erbostes: "AUS DEM WEG!" Scharf gewürzt preschten die Worte ihrer Figur voraus, doch reichte es um die Damen in der kleinen Schnatterrunde, ähnlich wie jene Hühner denen sie ähnelten, wegzuscheuchen. Es war auch nicht verwunderlich, dass eben jene Geschöpfe ähnlich dem tierisch gewählten Vergleich aufgebracht und gackernd die Arme in die Luft rissen und sich lautstark über diese ungehobelte Art und Weise der Inspektorin beschwerten, während sich eben jene durch die Masse an Körpern kämpfte, nur um am Ende in Leere zu stolpern und den einzigen Anhaltspunkt zu dem, was hier geschehen war, verloren hatte. "Verdammt...", knurrte Audra hervor und setzte die letzten Meter nach, stand somit nun auf der Hauptstraße, kehrte sich nach links und rechts um... doch ihr Gesuchter war verschwunden. Kurz tief durchatmend hob die Inspektorin ihre Arme in die Luft und verschränkte sie in ihrem Nacken. Ihre Finger gruben sich für einen Moment in ihre obere Schulterpartie... dieser Fisch, ging ihr durchs Netz.

      Geschlagen trat die Inspektorin zurück an den Tatort. Die gaffenden Fremden bildeten ihr eine Schneise, wohlgewahr wissend, vorbeugend, dass sie einem erneuten Ausbruch ihres Temperaments entgehen konnten. Eine surreale Stille hatte sich um die Gruppe gelegt, beinahe, als wollten sie nun doch Anteilnahme zeigen, an dem unausprechlich grausamen Tod des Herrn Kensingtons. Wo zuvor die Lästermäuler schimpften, krähte nun nur einsam und verlassen eine alte Krähe, die sich mit ihren Kumpanen als Begleiter des Unglücks auf den Regenrinnen der Dächer niedergelassen hatten. Audras Blick galt kurz diesen intelligenten Tieren, ehe sie den Ermittlern von Scottland Yard ihre Aufmerksamkeit schenkte. Sie waren wohl gerade dabei, den Verstorbenen für den Abtransport fertig zu machen. Erst einmal in der Gerichtsmedizin, war es für die Braunhaarige schwer, auch noch ein bisschen von dem Verschiedenen zu sehen. So trat die junge Frau nochmals näher und beugte sich über den Leichnam, welcher ihr mit glasigen, leeren Augen entgegenstarrte, jedoch eine Ewigkeit gefunden hatte, in welche sie nicht folgen konnte. Äußerlich war an Thomas Kensington nichts außergewöhnliches zu sehen. Die Abwehrspuren und die Schnitte des Messers zog sich wie feine rötliche Peitschenhiebe über seine weiße Nachtbekleidung. Es musste wohl ein ziemlicher Kampf gewesen sein, immerhin hatte der Tote ordentlich gewütet. "Bevor ihr geht, möchte ich nochmal einen genaueren Blick auf ihn werfen." - " Wir... wir sind eigentlich fertig... warten nur noch auf die Kutsche..." - "Nur einen Moment... ich... haltet den Kutscher einfach etwas für mich hin...", großgeschrieben stand diese Bitte auf Audras Stirn, die sich nach einem ernüchterten Seufzen des Inspektors von Scotland Yard mit einem Nicken bedankte und sich nun zum ersten Mal auf die schaulustige Menge konzentrierte. Erneut ging ein Tuscheln und Flüstern durch die Runde... neben dem Fingerzeig auf den Leichnahm, kam auch die junge Inspektorin nicht um den ein oder anderen skeptischen Blick herum. So trat die Braunhaarige einen Schritt nähter, griff in das Innere ihres Mantels und zückte ein kleines Notizheft. Eingebunden in minderwertiges Leder, glich es einem Zechprellerbüchlein, tat aber durchaus seinen Nutzen. "Hat... irgendjemand... egal ob Herr oder Frau... in dieser doch sehr... aufmerksamen Runde... etwas beobachtet, dass unseren Ermittlungen weiterhelfen könnte? Ganz egal ob Verhalten des Täters, Beziehung zum Opfer... andere, verdächtige Personen...", lautstark verlautbart zückte Audra ihren Bleistift und lehnte ihren Oberkörper mit einer leichten Süffisanz nach hinten. Sie hatten sich so ausführlich über die Kensingtons ausgelassen, da würde doch irgendjemand der anwesenden Personen etwas zum Tathergang sagen können. Doch... es folgte eine betretene Stille, die von ausweichenden Blicken gezeichnet war. "Was? Keiner von Ihnen hat auch nur ein wenig zu sagen? Denken sie doch mal an Miss Kensington... die Arme ist von jetzt an Witwe... und die beiden Kinder Halbwaisen...", aufgesetzte Trauer überzog die das feine Antlitz der Inspektorin und stellte sicher, dass sie einem jeden und einer jeden in die Augen sah, um auch nur irgendwas aus den Mündern herauszukitzeln. "Wirklich niemand? ... sehr... sehr schade!", theatralisch warf sie sich herum notierte sich scheinbar etwas. "Zeugen... unbrauchbar...", klang es gewollt in hörbarer Lautstärke aus ihrer Kehle, während sie eigentlich das Erscheinen des weißhaarigen Mannes laut Kindermund beschrieb, hoffend, dass diese unterbewusste Anstachelei vielleicht doch den Stolz der Ansässigen traf, sich eingebildet über den Vorfall zu äußern.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.


    • Henry Brown rümpfte abfällig die Nase über die Inspektorin, deren Verhalten an Impertinenz nicht zu überbieten war. Wie konnte es dieses dreiste Weibsbild wagen auf diese Art und Weise mit dem braven Bürgern dieses ehrbaren Stadtviertels zu sprechen und überhaupt, was hatte eine Frau bei Scotland Yard verloren? Der gedrungene, kleine Mann legte die verschränkten Arme auf seinem stolzen Bierbauch ab und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Selbst für den Fall, das er Kenntnisse zu der Tragödie besaß, würde er gegenüber dieser dummen und selbstgefälligen Gans nicht ein Wort verlieren. Das schien Henry Brown nicht der Einzige zu sein, denn um ihn herum, straften zahlreiche Bürger die junge Inspektorin mit eisigem Schweigen.
      Es war Charlotte Bell, die freundliche Schneiderin, die sich langsam durch die Menschen zwängte, um einen besseren Blick auf die Frau zu haben, die das skandalöse Gemurmel in den hinteren Reihen verursachte. Durch das Geflüster der Schaulustigen zog sich die wage Beschreibung eines unbekannten Mannes mit beinahe weißen Haaren und Mrs. Bell war ganz offenkundig nicht die Einzige gewesen, die von Gabriel Hargreaves Notiz genommen hatte. Die alte Witwe Mrs. Moore folgte der Schneiderin auf dem Fuß und wenn ihnen der Weg versperrt wurde, piekte sie die unaufmerksamen Männer und Frauen mit ihrem Gehstock spürbar in die Waden.
      "Entschuldigen Sie? Miss? Inspektor...in?", stotterte Mrs. Bell, die sich etwas uneins war, mit welchem Titel sie die Inspektorin ansprechen sollte. Es war mehr als ungewöhnlich eine Frau zwischen den Ermittlern von Scotland Yard zu sehen. "Sie sagten etwas von einem Mann mit weißen Haaren? Ich wüsste eventuell nach wem sie suchen."
      Charlotte Bell wartete nervös an der Absperrung darauf, dass die Ermittlerin sich ihr zuwandte und ihr Gehör schenkte.
      "Also...Ein Kunde von mir, Mr. Gabriel Hargreaves, könnte zu ihrer Beschreibung passen. Er wohnt erst seit kurzem in London, ein Stück die Brick Lane herunter besitzt er ein kleines Antiquitätengeschäft. Hauptsächlich alte, verstaubte Bücher. Er ist ein höflicher, junger Mann und unverschämt charmant dabei, wenn sie verstehen."
      "Charlotte, Liebes!", ertönte die Witwe Moore, die sich schockiert an die Brust griff. "Nur weil der Mann ungewöhnlich helle Haare hat, musst ihn noch lange nicht verdächtigen!"
      Mrs. Bell senkte schuldbewusst den Blick.
      "Sie haben ihn gerade nicht gesehen, Mrs. Moore", murmelte sie und wandte sich an die Inspektorin. "Sehen Sie,...Ma'am? Er mag charmant sein, aber manchmal wirkt er so, als sei er...dieser Welt entrückt? Verstehen sie? Wie jemand, der sich in Gedanken verliert, nur anders."
      "Anders?", erklang die hohe, nervtötende Stimme von Eliza Talbot.
      Mrs. Moore verdrehte die Augen.
      "Anders ist so ein nettes Wort", ergänzte Miss Talbot, und hielt elegant den mit feiner Spitze besetzte Schirm über ihren Kopf. "Unheimlich trifft es eher."
      "Ach, so ein Unsinn, Kind. Du bist nur eingeschnappt, weil er deine Avancen abgelehnt hat!", mischte sich die Witwe ein und drehte denn hinter vorgehaltener Hand den Kopf zu der jungen Inspektorin. "Wissen Sie, unsere liebe Miss Talbot ist es nicht gewöhnt, dass ein Mann Nein zur ihr sagt."
      Die alte Witwe zwinkerte Audra zu.
      "Aber er hat gelächelt!", platzte es untypisch vorlaut aus Mrs. Bell heraus. Verlegen schlug sie sich die Hand auf den Mund, so ein Verhalten ziemte sich für eine Dame nicht. "Er hat hier gestanden und gelächelt. Finden sie das nicht seltsam? Außerdem war er mit den Kensingtons bekannt! Er hat mir gegenüber erwähnt, dass Mr. Kensington ein paar alte Stücke für ihn restaurieren sollte."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
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    • Neu

      Sie wollte sich schon abwenden und dem Kutscher, welche die verstorbene Person von Mr. Kensington zur Obduktion ins Hauptquartier von Scotland Yard mitnahm, Bescheid geben, dass sie einfach später in der Gerichtsmedizin vorbeischauen wird um ihren Fall über die Raserei des toten Herren abzuschließen, als sich aus den hinteren Reihen der Zeugen eine etwas unsichere Stimme erhob. Audra hatte sich schon zum Gehen umgekehrt und sah nun doch wieder interessiert über ihre Schulter zurück, um eine jüngere Dame zu erkennen, welche sich mit erhobenen Zeigefinger aus der Masse schälte. Sie lächelte die wohl einzig Wissende in diesem kuriosen Fall kurz an. "Miss Dayton ist völlig in Ordnung.", sie nickte der Frau zu, die nun wohl endlich den Mut gefunden hatte, Details mit der Inspektorin zu teilen. Doch sprachen ihre nächsten Worte Bände und Audra wurde hellhörig. "Ja, ganz genau. Können Sie mir etwa ein wenig über ihn erzählen?", interessiert und mit erhobenen Augenbrauen schritt die Braunhaarige auf die Dame zu, die sich im späteren Gesprächsverlauf als Charlotte Bell herausstellte. Diesen Namen notierte sich Audra ganz oben auf der Liste und hörte der Dame gespannt zu. "Gabriel Hargreaves...", murmelte Audra vor sich dahin und schrieb diesen Namen ebenso ganz an den oberen Rand und kringelte ihn ein. Doch wusste die Inspektorin nicht, was für einen Umstand die junge Frau mit dem Benennen des Weißhaarigen und seiner Art und Weise wie er auf Miss Bell wirkte, auslösen würde. Denn nun lösten sich noch zwei andere Damen aus dem Trubel und mischten sich ja beinahe erbost wirkend in die Diskussion mit ein. Audra neigte den Kopf ein wenig nach unten, schickte den Blick aus ihrem geneigten Haupt nach vor, die drei Damen abwechselnd musternd. Es war schon ein wenig lustig, amüsant, wie sie untereinander diskutierten und der jungen Misses Bell wohl noch etwas anderes, wie die typischen Avancen eines hübschen Junggesellen zuschrieben. Der weißhaarige Unbekannte schien der jungen Frau wohl zu gefallen und dies machte Charlotte durch ihr überdrehtes Auftreten sichtbar. Audra musste zu guter Letzt jedoch nur schmunzeln und notierte sich nebenbei die ein oder andere Sache. Wie oft sie nur vergaß, dass gerade Zeugenbefragungen einer der wohl amüsantesten Teile ihrer Ermittlungsarbeit sein konnte. Nun aber hatte die Ermittlerin wohl genug gehört und atmete kurz scharf ein, die Aufmerksamkeit wieder auf sich ziehend. "Vielen Dank meien Damen, Sie waren mir eine große Hilfe. Miss Bell...", auch der jungen Dame nickte Audra nochmals kurz zu. Neben ihnen hatte sich in der Zwischenzeit mit klappernden Hufen die Kutsche in Bewegung gebracht, wogleich die brummende Stimme des Kutschers durch die Menge schrie, sie sollten ihm Platz machen und das Schauspiel war vorbei. Audra verzog nachdenklich ihre Sitrn. Der hatte wohl auch nicht den besten Tag heute.

      So aber drehte sie sich am Stand um und schritt nochmals, ihre Aufzeichnungen überfliegend zurück in Richtung Haus der Kensingtons. Es machte Mr. Hargreaves natürlich nicht sofort verdächtig, die Verbindung zu der Familie und dem Ableben des Herren Kensingtons... doch was Audra stutzig werden ließ, war das Auftauchen seinerseits am Tatort, als hätte er wohl etwas gewusst oder geahnt. Alle anderen waren ja nur zufällige Bewohner oder Passanten, die den Trubel der Rauferei mitbekommen hatten. Das andere was Audra nicht ganz verstand, war der Umstand, warum der Weißhaarige gelächelt hatte. Es rief nicht sofort nach Psychopathie, aber war der falsch verstandene, emotionale Umstand einer Situation, doch etwas besorgnisserregendes. Die Grauäugige unterstellte ihm in diesem Atemzug keinerlei Neigungen, aber passte es kaum ins Bild eines normalen, rational denkenden Menschen. Sie kratzte sich am Ohr, als ein einzelner Regentropfen sie an diesem erwischte. Audra führte ihre schlanken Beine nochmals zurück in das Anwesen... das abschließende Gespräch mit dem Amtsarzt, der Miss Kensington und die Kinder untersuchte stand noch aus, um eventuellen Tatverdacht der Ehefrau geschuldet auszuschließen. So trat Audra, sich etwas die Kälte des Tages abschüttelnd, wieder hinein und sah im Gang hinter der Küche bereits den Mediziner mit seiner ledernen Tasche stehen. Mit geschwellter Brust trat sie auf ihn zu, suchte seinen Blick und kräuselte neugierig ihre Stirn. Der Doktor aber atmete einmal kurz durch, als er die Inspektorin erkannte und räusperte sich, Audra weiter in den Gang hinein winkend, etwas Abstand nehmen wollend von der Frau und ihren Kindern. "Also... ich erkenne retrospektriv keine Anzeichen, dass Miss Kensington Mordgedanken oder gewaltvolle Fantasien gehabt hätte. Sie kommt mir im Moment natürlich absolut traumatisiert vor, es war schwer überhaupt etwas aus ihr rauszubekommen...", er seufzte kurz auf und kratze seine Nase. "Ich werde heute Abend nochmal nach ihnen schauen... die Kinder schweigen...", er zuckte mit den Schultern und wollte damit wohl sagen, dass er alles getan hatte was in seiner Macht stand. "Sie hat Beruhigungsmittel bekommen und ich habe ihr einen Tee für das Seelenheil dagelassen...", er suchte Bestätigung in dem Blick der Inspektorin, welche ihn mit weichgezeichnetem Blick ansah. "Danke für ihre Hilfe... ich erwarte ihren Bericht in meinem Büro...", sie schmunzelte und drehte sich nochmals in die Richtung des Kinderzimmers, wo wohl die gebeutelte Familie von drei nun ihren restlichen Tag verbringen würde.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.


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      Gabriel schleppte sich die Wendeltreppe hinauf. Es hatte ganze drei Tage und drei Nächte benötigt um die Seele von Mr. Kensington soweit zu beruhigen, dass er mit dem Reinigungsprozess hatte fortfahren können. Zornige und angsterfüllte Seelen waren am Schwierigsten zu bändigen und verlangten dem Reaper all sein Können ab. Da war es von Vorteil, dass die Mitglieder seiner Zunft keinen Schlaf benötigten. Zumindest nicht all zu oft. Müdigkeit und Hunger zeigte sich erst, wenn der Körper allmählich seine Funktion einstellte. Die Unsterblichkeit ging nicht Hand in Hand mit Unverwundbarkeit und die lange Zeit im Kellergewölbe hatte er den Hülle gezehrt, die er seinen Körper nannte. Er hatte es erst bemerkt, als das Sichtfeld vor seinen Augen langsam verschwamm. Gabriel, der plötzlich doppelt gesehen hatte, wusste, dass er sein Limit erreicht hatte. Einen Tag länger und alle Bemühungen wären umsonst gewesen. Dann hätte er von Vorne anfangen können.
      Beiläufig fuhr er sich durch das strähnige, weißblonde Haar, das ihm nun matt an der Stirn klebte. Es war noch früh am Morgen, beinahe noch Nacht, so wenig Licht fiel durch die Lücken in der Vorhängen der Ladenfront. Es war nicht ungewöhnlich, dass das kleine Antiquariat für mehrere Tage in Folge schloss. Gabriel arbeitete nur auf Termin und für eine besonders erlesene Kundschaft. Für alles andere fehlte ihm die Muße. Als Reaper mochte sein Verständnis für Emotionen auf einen Teelöffel passen, aber ermüdende Langeweile war ihm dennoch nicht fremd.
      Mit unbewegter Miene beäugte Gabriel die zweite Treppe, die in den ersten Stock führte. Dort befanden sich seine bescheidenen Privaträume. Er brauchte nicht viel zum Leben. Das Wichtigste, befand sich ein Stockwerk tiefer. Gabriel griff nach dem Treppengeländer und begann den mühevollen Aufstieg wobei er seine Füße kaum genug heben konnte, um nicht an den Stufen hängen zu bleiben.
      Bis zum Morgengrauen würde er ruhen. Das musste reichen.

      Die kleine Glocke über der Tür des Antiquariats klingelte aufdringlich in der allgegenwärtigen Stille der Räumlichkeiten. Gabriel, mit einem perfekt sitzenden Anzug und den nun wieder ordentlich zurückgekämmten Haaren, trat hinaus und mit der Ruhe war es schlagartig vorbei. Die belebte Brick Lane zeigte sich auch an diesem Morgen von ihrer besten oder schlimmsten Seite - es kam auf den Blickwinkel an. Kutschenräder und Hufen klapperten auf dem holprigen Kopfsteinpflaster, ratternd wurden die sperrigen Gitter vor den Ladenfenstern zurückgezogen, lebhafte Rufe von Zeitungsjungen und den ersten, offenen Straßenständen hallten durch das Chaos. Dieser Abschnitt der Brick Lane fehlte es...an Allem. Es war schmutzig, laut und aus den großen Schornsteinen der Fabriken quoll dunkler Rauch.
      Ein Geschäft wie das Antiquariat passte eigentlich nicht in diese Gegend und an Vermögen mangelte es dem Junggesellen auch nicht, aber dieses Viertel besaß einen entscheidenden Vorteil: Die Leute stellten keine Fragen. Hier kochte alle ihr eigenes Süppchen und waren froh darüber, dass niemand die neugierige Nase in Angelegenheiten steckte, die sie nicht anging.
      Neben der Tür hatte Gabriel eine schlichte, kleine Metallplakette befestigt, auf der in einfachen Lettern nur der Name Hargreaves prangte. Er hatte sich keine Mühe mit einem Namen für den Laden gegeben, es war ohnehin nicht von Dauer.
      "Sir! Ein Daily Telegraph für Sie?", begrüßte ihn ein Zeitungsjunge mit schmutzigen Wangen und Schiebermütze. "East End erschüttert durch Familientragödie! Schreckliche Morde in White Chapel weiterhin ohne Spuren! Scottland Yard in Erklärungsnot!"
      "Hier."
      Gabriel schnippte eine Münze aus seiner Hand, die der Junge gekonnt auffing. Er reichte ihm eine Zeitung, schnippte dankend gegen seine Schiebermütze und verschwand zwischen den Fußgängern. Tragödien, Morde, Seuchen...Die Zeitung war voll davon. Die Überbevölkerung der Arbeiterviertel schaffte ein regelrechtes Moloch für aller Art von schrecklichen Schicksalen. Es regte sich nichts in Gabriel, als er von hungernden Waisen und gefallenen Frauen las, doch die Zeitung diente als hervorragende Informationsquelle um sein nächsten Ziel auszuwählen.
      Der Artikel über die bedauernswerte Witwe Kensington ließ ihn kurz inne halten. Die schlechte Fotografie in Schwarz und Weiß zeigte eine junge Frau mit ernster und professioneller Miene vor dem Haus der Kensingtons. Eifrig schien ihr Stift über den Notizblock zu kratzen, während sie offensichtlich mit Zeugen am Tatort sprach. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie dort gesehen zu haben, aber erinnerte sich an Miss. Bell, die auf dem Foto eindeutig aufgeregt gestikulierte. Gabriel betrachtete das Gesicht der jungen Frau eingehend. Selbst ein schlampiger Fotograf schaffte es die scharfsinnigen Züge der Frau einzufangen. Durchdringende, aufmerksame Auge und eine Selbstsicherheit, die für eine gewöhnliche londoner Dame höchst ungewöhnlich waren.
      "Audra Dayton...", murmelte Gabriel und faltete die Zeitung säuberlich zusammen. "Inspektorin, hm?"
      Er würde die Augen aufhalten müssen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
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      Dreimal war sie dort gewesen. Dreimal in den letzten zwei Tagen. Und heute das vierte Mal. Nachdem Charlotte Bell der Inspektorin den Tipp gab, wo sie Mister Hargreaves finden konnte, lehnte der braunhaarigen Dame Körper schon gute zwei Stunden pro Tag an der bröckeligen Hausfassade dem Antiquitätengeschäft gegenüber, den Blick aus wachen Augen auf die verschlossene Türe des Hauses gerichtet, wo sie wohl den weißhaarigen Mann antreffen würde. Vor ihr liefen die Personen die Brick Lane auf und ab, sie sah alles möglich an Menschen heute zu ihren Füßen vorüberziehen... Gauner, Tagelöhner, Handwerker, Fabriksarbeiter, Frauen mit plärrenden Kindern - die Audra dann doch eine genervte Miene aus dem sonst so starren Gesicht lockten -, Geschäftsmänner im regen Gespräch mit ihren Partnern, auch klapperte die ein oder andere Kutsche an ihr vorbei. Und doch fanden ihre Augen nicht das, was sie suchten. Kein Licht ging an, keine Regung war hinter den von Eisen und Stahl versiegelten Toren des Antiquariats zu sehen, auch wenn das Türschild eindeutig den Namen des Gesuchten aushängte. Inspektorin Dayton presste ein jedes Mal die Lippen zusammen, als sie eine vermeintliche Bewegung hinter den dunklen Fensterscheiben erkannte... und doch war es nur ein Spiegelbild aus der Ferne, dass sie trügte. Nachdem sie an jenem schicksalshaften Abend den Hof der Familie Kensington verlassen hatte, der Witwe und den Waisenkindern ihre Adresse hinterließ, sollte ihnen noch irgendetwas zu dem Abend von damals einfallen oder sie sonst einfach Hilfe benötigten, war der Fall vorerst für die junge Frau ein großes Fragezeichen in all den Fällen, die sie bis jetzt gelöst hatte. Für normalerweise liefen Morde oder in diesem Fall vielleicht sogar Suizid immer nach einem bestimmten Muster ab... es gab einen Grund für die Tat, einen bestimmten Umweltfaktor welcher die Täterin oder den Täter begünstigte, einen Antrieb, etwas, dass den Gedanken zur Handlung werden ließ und sei es bloß der Affekt gewesen, der zuletzt den Tod des Herren Kensington herbeirief... Doch hier schien sich irgendwie alles im Kreis zu drehen. In tiefe Falten war ihre Stirn gerunzelt gewesen, während sie sich den Ablauf der Tat versuchte im Kopf zusammenzureimen. Nebenbei kritzelte Audra ihre Gedankengänge auf ihrem kleinen Notizblock zurecht, hoffend dadurch vielleicht den nötigen Hinweis oder den wichtigen Schlüsselfaktor zu entdecken, welcher den Fall auf die gerade Spur brachte, doch vergebens.

      Sie hatte ihre Beine übereinandergeschlagen, damals in ihrem Büro. "Ein Mann... zuvor unbescholten und verheiratet in einer wohl florierend schönen Ehe, verliert eines Abends aus dem Nichts seinen Verstand und beginnt wie ein tollwütiges Raubtier zu randalieren... zerstört Einrichtungsgegenstände, bedroht die Ehefrau und Kinder in einem Akt des Wahnsinns und sieht sein endgültiges Opfer in seiner Angetrauten, die er eiskalt gemeuchelt hätte... wäre da nicht das beherzte Eingreifen der Bürger gewesen... und doch, obwohl es möglich gewesen wäre, den Wutausbruch des Herren Kensington zu stoppen OHNE ihn dabei zu verletzen, lag er zuletzt verstorben auf dem nassen Pflastersteinen... keine der Wunden die bei der Obduktion festgestellt wurden, wären tötlich gewesen. Ja, die ein oder andere Schnittverletzung hätte zu regem Blutverlust geführt, aber auch das hätte er überlebt... kein Schwächeanfall, kein Herzanfall, kein... was auch immer sonst den sofortigen Tod herbeiführen könnte...", so vertieft in den rätselhaften Fall hatte die Dame damals sinniert, trug ihrem Sekretär, Alexander, ein junger Bursch von vielleicht 20 Jahren, die Situation rund um den Tod des Herren vor und starrte Löcher in die Decke, während ihr Verstand, ihre Logik auch nur einen Fetzen davon erfassen wollte und sich um diese herum die Wahrheit zu spinnen. Dieser sah seine Chefin aber nur schulterzuckend an, war er ja eigentlich gar nicht bewandert mit der Kriminalistik oder anderen polizeitechnischen Ermittlungsverfahren. "Vielleicht... war es auch einfach der Stress der ihn.. naja... sagten Sie nicht selbst, dass Miss Kensington meinte, zuletzt lief das Geschäft ihres verschiedenen Ehemannes etwas... zu gut?", der schwarzgelockte Jüngling kräuselte seine Augenbrauen und stellte der Inspektorin eine heiße Tasse Tee hin. "Mhm, daran hab ich auch schon gedacht... aber hätte er einfach seine Aufträge dezimieren können... oder zumindest nach hinten verschieben... das macht auch keinen Sinn.", in weißer Voraussicht nahm Audra die Tasse vorsichtig in die Hände und schlürfte die oberste Schicht ab. "Na, Sie werden es schon rausbekommen... wie immer Boss.", diese Worte waren es, die Audra gerade eben wieder durch den Kopf gingen, als sie ihren Blick wieder hob. Ein viertes Mal hatte es sie also in die Brick Lane verschlagen, ein viertes Mal wieder an den Platz gegenüber des Antiquariats und auch heute schien es so, als wäre der Gesuchte nicht aufzufinden.

      Und Audra wollte auch schon wieder beinahe am Stand kehrt machen. Immerhin hielt man es hier nicht viel länger aus als nötig. Es war ein Drecksviertel, niemand wollte hier freiwillig wohnen und doch waren die Mieten hier am günstigsten. Den Grund konnte man sich wohl selbst denken. Der Grauäugigen blick ging zu den schlohweißen Rauchwolken empor, die sich voluminös aus den meterhohen Kaminen der Fabriken quetschten und Himmel grau färbten. Kurz zuckte ihre Lippe nach oben, sie rümpfte ihre Nase, als sie aus dem Augenwinkel nun doch endlich Regung vernahm, dort, in dem Geschäft, welches sie seit drei Tagen aufsuchen wollte. Er trat nun wirklich in das abgestumpfte Sonnenlicht und sah sich um. Die Inspektorin atmete tief ein und stockte den Atem in den Lungen. Ein Junge kam noch vorbei, drehte dem Weißhaarigen eine Zeitung an, welche der Herr sich wohl sogleich ansah. Sie beobachtete ihn aus der Ferne, erkannte das markante Gesicht, welches sie auch zuvor in der Menge der Zeugen gesehen hatte und würde es wohl auch in einer Menge von hunderten Personen wiedererkennen. Als die Kutsche, die sich ratternd den Weg durch die Brick Lane suchte, an ihr vorbeigefahren war, sah Audra nur noch kurz von links nach rechts und hastete dann über die schlecht gepflasterte Straße, den Blick stets auf den Gesuchten gerichtet. "Mister Hargreaves!", rief sie dem jungen Herren dann schon von der Weite zu und hob entschuldigend den Arm. Der Blick den er ihr zuwarf sprach Bände, als hätte er nicht erwartet sie hier zu sehen... aber wer tat das schon. "Mister Hargreaves, guten Tag und entschuldigen Sie bitte, dass ich sie hier so einfach auf offener Straße überfalle. Wie geht es Ihnen heute? Audra Dayton mein Name, Scotland Yard. Hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit für mich? Es dauert auch nicht lange...", ein schmales Lächeln schob sich auf die Lippen der Dame, die den Weißhaarigen mit dem Stahlgrau ihrer Augen fixiert hatte. Ein Nein würde für sie nicht in Frage kommen und das ließ Audra allein durch ihre selbstsichere Mimik ihr Gegenüber spüren. Nebenbei hatte die Inspektorin ihren Dienstausweis hervorgekramt und hielt in gut sichtbar neben sich aus ihrer Manteltasche in die Luft, sodass der Herr ungehinderten Sichtkontakt auf das Token haben konnte. Immerhin könnte sie sich ja als wer weiß wer ausgeben.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.