a coin for the ferryman (winada)

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    • a coin for the ferryman (winada)

      @Winterhauch
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      Sacht fielen die letzten wenigen Regentropfen ob der Euphorie mit vorgehaltener Hand, diese schwülen Sommertage doch zumindest durch kühle Schauer erträglicher zu machen, von den Dachrinnen, Schindeln, Ecken und Kanten der grau verputzten und dunkel vertäfelten Häuserwänden. Es war eine ja beinahe schon frohe Melodie, das stete glucksende Tropfen des Wassers, welches sich vor wenigen Minuten noch in Sturzbächen vom Himmel ergossen hatte. Frauen, Männer und Kinder hatten Schutz gesucht unter jedem möglichen Dachvorsprung oder Torbögen in die engen Gassen hinein. Die Obrigkeit besaß sogar die Frechheit ganz unverholen ihre Regenschirme auszupacken und es dem Schmutz der Unterschicht mit einem gehässigen Grinsen vor die Nase zu halten, während eben jene arme Schlucker durch den Dreck und die Pfützen kriechen mussten, um den Kapriolen des relativ unsteten Sommerwetters zu entkommen. Ein Glück eigentlich, dass bei diesem Gewitter kein Blitz eingeschlagen hat. Letztes Jahr traf es die Curch of Bellham... des Nachts hat die Wut der aufgestauten Hitze seine Fluten zur Erde geschickt und mit Blitz und Donner ganz nebenbei, völlig unverfroren, den Dachstuhl des einzigen Glaubenshauses im East-District ausbrennen lassen. Sie wusste es noch... die Wehklagen des Paters, welcher diese Kirche liebte und hegte wie seinen Augapfel und somit Heim und Haus verloren hatte. Audra wischte sich somit die letzten Tropfen aus den Augen und sah gefasster als zuvor auf die Zerstörung hinab, die sich vor ihren Füßen ausbreitete... Stumm trat die galante Dame zwei Schritte nach links vor, behielt jedoch die mit Teppich belegten Holzdielen unter Argusaugen in Beobachtung. Raufaser, Handgewebt... wahrscheinlich aus Indien importiert... das Geschäft mit diesen feinen Textilien machte gerade die große Runde in London und nicht alle konnten sich dieses samtige Geschmeide leisten. Nicht so aber die Familie Kensington. Thomas und Bella Kensington ... Er ein respektabler Schmied, sie verkaufte Schmink- und Duftprodukte einzig und allein an die Reichen und Schönen... und die beiden Kinder, George und Gina, Zwillinge, Eineiig. Gepflegte Kinder, wohl genährt, nicht so verwahrlost wie das, was Audra in den Gassen und Gossen erblickte. Ein Seufzen kam der Braunhaarigen über die Lippen. Sie befand sich im Schlafzimmer. Schick eingerichtet, nur das feinste Holz, die besten Stoffe und das neueste Federbett. Ein breiter Schrank stand diesem gegenüber, links und rechts an den Kopfenden standen zuvor noch die wohl sonst sehr schicken Nachtkästchen, die nun aber zertrümmert in ihre Einzelteile, quer durch den Raum geflogen sind. Die Augen der jungen Dedektiven sondierten den Raum... geknickte Kerzen, zerwühlte Bettwäsche, umgeschlagene Ecken der Teppiche... Kleinkram der nicht mehr an seinem Platz lag, wenn man bedachte, dass Misses Kensington laut eigener Aussage eigentlich sehr auf Ordnung achtete. Vor der geöffneten Schlafzimmertüre drang leises Schluchzen an Audras Ohren, was sie erneut hadern ließ. Mit einem schmatzenden Geräusch, öffnete sie ihren Mund, holte tief Luft und fragte nochmals... "Hier hat also alles angefangen, Miss Kensington?", ja, schon zuvor war das die erste nötige Information gewesen, die die Dedektivin gebraucht hatte um sich von der Sachlage ein Bild zu machen. "Wie oft soll ich es Ihnen denn noch erklären... wir lagen im Bett, sprachen ü-über die nächsten Tage und dann... war Tom wie ausgewechselt... er-er begann zu schreien und zu toben... schrie mich an, warum ich mir dies und jenes einbildete und ... und...", währen das Wehklagen der gebeutelten Frau an ihre Ohren drang, lies Audra den ersten Raum des Tatortes hinter sich und trat auf den dimm beleuchteten Gang hinaus, wo ein Arzt sich um die Stich- und Schnittwunden von Bella kümmerte. Kurz beobachtete die Inspektorin sein Handeln, dann glitt ihr Blick aus gesenktem Haupt in das Zimmer gegenüber, wo die Kinder ihr Schlafgemach hatten. Die Türe war geöffnet, zumindest für einen Spalt und durch diesen konnte sie genau die Beine der beiden Siebenjährigen sehen, die starr von der Bettkante hingen, daneben war die Hand des Jungen fest in die Bettdecke vergraben.

      Audra strich sich mit ihrem Handballen über die gerunzelte Stirn, drehte sich nochmal um, um einen Blick in das Schlafzimmer zu werfen und ließ die Szenerie nun auf sich wirken. "Was hat ihr Mann dann gemacht?", sie wusste, auch wenn es eine Rückholung der traumatischen Ereignisse war, so kam die junge Frau nicht drumherum Miss Kensington den Tathergang erneut beschreiben zu lassen. Sie MUSSTE sich ein ordentliches Bild machen, ansonsten war ihre Zeit hier mehr als vergeudet. Vorsichtig ging Audra nun in die Hocke hinab um der vom Schicksal gezeichneten Blonden in die Augen zu sehen. Sie waren verquollen, das eigentliche Blau darin strahlte ihr verblasst entgegen und jegliche Farbe fehlte der jungen Mutter im Gesicht. Die Kleidung klebte an ihrer Haut, die schulterlangen Haare hangen wirr, ungeordnet und ebenfalls nass in ihr Gesicht. Der Tathergang konnte also keine Stunde her sein, gemessen an dem, wie lange es geregnet hat. Die Braunhaarige legte den Kopf schief und wartete geduldig auf eine Antwort. "Lassen Sie sich ruhig Zei-" - "Er begann wie ein Berserker das Zimmer zu verwüsten... er schrie und schrie und schrie... ich versuchte ihn zu beruhigen. Die Kinder kamen aus ihren Zimmern und fragten was los sei... da brüllte er auch sie an, dass sie verwöhnte kleine Blagen sind und das Leben nichts als den Tod für sie bereit hielte... dann... stürmte er in die Küche...", in ihrem Blick spiegelte sich nichts als Leere und Verlorenheit, eine Unendlichkeit die Audra nur schwer aushielt und den Blick abwandte. "... und dann kam er mit dem Messer zurück... ich war davor zu meinen Kindern in den Gang hinaus, wollte sie wieder ins Bett bringen... als sie zu schreien begannen... Dad hat ein Messer... und dann spürte ich bereits den ersten Stich... ich stieß die beiden ins Zimmer und rettete mich irgendwie an ihm vorbei, hinaus auf den Innenhof... er packte mich, er schlug mich, er versuchte wieder und wieder mich zu töten... als er in seiner blinden Wut stolperte und am Pflastersteinboden liegen blieb... er... er war ziemlich hart auf dem Boden aufgeschlagen, weshalb mir das Zeit gab um nach Hilfe zu schreien... aus den anderen Häusern traten Nachbarn, Bekannte... erkannten die Situation und hielten Thomas fest, der plötzlich wieder anfing zu randalieren... ich flüchtete hinein... ich hab... mich nicht mehr umgedreht und die Tür hinter mir verschlossen...", Bella war tapfer. Sie hielt durch, bis zum letzten Wort, wo ihr Geist ihrem Körper übermannte, ihre Stimme brach und Tränen sich den Weg aus ihren Augenwinkel über ihre Wangen suchten. Audra atmete tief durch, hatte sich zu dem ein oder anderen Merkmal ein paar Notizen gemacht und stand schwungvoll auf. "Ich danke Ihnen... ruhen Sie sich nun etwas aus... wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gerne noch mit George und Gina sprechen... nur kurz... der Abend war aufregend genug.", auch wenn die Braunhaarige bereits mit Widerstand gerechnet hatte, so schüttelte die Hausherrin bloß ihren Kopf. Es fehlte ihr die Kraft, jetzt noch ihr Veto einzulegen. Langsamen Schrittes nun schritt die Dedektivin in Richtung des Kinderzimmers und öffnete vorsichtig die quitschende Türe, nur um auf einem der beiden Betten die Geschwister sitzen zu sehen, welche wie Salzsäulen an Ort und Stelle erstarrt waren. Die gefassten Blicke richteten sich an die Wand gegenüber, doch saß ihnen der Schock des Verrats noch tief in den Augen. Audra fiel sofort das Fenster gegenüber der Tür auf. "Dürfte... ich kurz aus eurem Fenster schauen?", sie versuchte es mit unterschwelliger Kontaktaufnahme... etwas das meistens half, wenn Kinder involviert waren. Doch verblieben ihre Köpfe und Münder stumm. So schritt Audra mit Acht über den Holzboden, auf welchem verteilt Spielzeug und Stoffgetier lag. Erst beim Fenster angekommen, klärte sich für die junge Frau ein weiterer Aspekt, warum die Zwillinge so verstört waren. Von hier hatte man einen spitzen Blick auf den weitläufigen Innenhof... Sie mussten somit alles mitangesehen haben. Audra atmete tief durch. Sie waren in diesem Fall wohl auch die einzigen Zeugen, die die Aussage ihrer Mutter untermauern konnten. Doch noch bevor Audra etwas fragen konnte, erhob Gina ihre helle Stimme, die, wäre es nicht so derartig ruhig im Haus gewesen, in einer Menschenmenge wohl oder übel untergegangen wäre. Aber wer konnte es ihr verübeln... sie hat beobachtet, wie ihr Vater ihre Mutter und eventuell sogar sie selbst umbringen wollte. "Suchst du jetzt diesen Mann? Der, der Dad einschlafen ließ?" Wie war das? Verblüfft hob die Braunhaarige ihre Augenbrauen empor und drehte sich um, nur um in die tränenverschleierten Augen des Mädchens zu blicken.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.
    • There are two events in everybody's life that nobody remembers.
      Two moments experienced by every living thing,
      yet no one remembers anything about them.
      Nobody remembers being born and nobody remembers dying.
      Is that why we always stare into the eye sockets of a skull?
      Because we’re asking: "What was it like? Does it hurt? Are you still scared?"*

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      „Schrecklich! Die armen Kinder…Eine Tragödie sondergleichen.“, seufzte eine Dame mittleren Alters, die ihr gelocktes und rotbraunes Haar unter einem lächerlich winzigen Hut mit großer Fasanenfeder versteckte. Die Locken quollen kunstvoll aber ein wenig zur sehr bemüht unter der Hutkrempe hervor. Ihre Hände steckten in galant bestickten, dünnen, weißen Handschuhen, die bei diesen sommerlichen, stickeigen Temperaturen weniger dem Schutz vor Kälte und mehr der Zierde galten. Ihr Name war Mrs. Charlotte Bell und sie betrieb ein kleine, aber angesehene Schneiderei ein paar Häuser die Straße hinunter. Neben Mrs. Bell schnäuzte eine ältere Dame in ein blütenweises Taschentuch, das eigens mit Monogramm bestickt worden war und sie fest zwischen den knorrigen Fingern hielt. Deutliche Altersflecken zeichneten die langen Finger, die wohl einst die Nähnadel geschwungen hatten wie keine anderen Finger in diesem Viertel.
      „Ich mag mir den Kummer der guten Mrs. Kensington kaum ausmalen. Das Gepolter und Gekreische war die ganze Straße herunter zu hören. Selbst mit meinen schlechten Ohren!“, gab die ältere Dame zu verstehen und tippte sich mit dem Zeigefinger an ihr linkes Ohr.
      „Tragödie?“, schnaubte ein gedrungener Mann mit gezwirbeltem Schnäuzer und einer dicken Hornbrille auf der schiefen Hakennase. Vermutlich hatte sich der Gute eine ganze Weile einen guten Zusatzverdienst innerhalb eines Boxringes verdient. Oder es war schlicht die Ungeschicktheit zweier linker Füße daran schuld. „Es ist ein regelrechter Skandal für unserer schönes Viertel! Ein betrunkener Ehemann randaliert auf offener Straße!“
      „Hast du denn gar kein Mitleid mit der armen Frau, Henry? Zwei Kinder und von heute auf morgen auch noch Witwe“, beklagte sich Mrs. Bell und Henry Brown, Eigentümer eines kleinen Lebensmittelgeschäftes, zuckte gleichgültig mit den Achseln.
      „Ich habe gehört Mrs. Kensington soll nicht die tugendhafteste Ehefrau gewesen sein. Kein Wunder, dass es ihrem Ehemann irgendwann zu bunt wurde…“, mischte sich ein junges Ding ein, das eindeutig eine ungesunde Vorliebe für Klatsch und Tratsch besaß. Hinter den großen, runden Augen verbarg sich eine Boshaftigkeit, die sich mit dem hübschen, unschuldigen Gesicht gut verstecken ließ. Eliza Talbot war die verwöhnte Tochter eines Bankiers, der sich ein luxuriöses Stadthaus im Norden des Viertels leisten konnte. Dass Mr. Talbot sich selbst zahlreiche Affären gönnte, während sein braves Frauchen sich zu Hause um alles kümmerte, ließ sie gerne unter den Tisch fallen.
      „Wirklich!? Ihr Ruf wäre ruiniert! Du glaubst doch nicht sie hat selbst…“, Mrs. Bell lehnte sich mit vorgehaltener Hand zu der jungen Frau mit dem Porzellanpuppengesicht.
      „Ihr Lästermäuler solltet euch alle was schämen!“, zischte die alte Mrs. Moore - ihm war der Name der wohlhabenden Witwe wieder in den Sinn gekommen - und schnäuzte zum zweiten Mal geräuschvoll in ihr Taschentuch.

      Für Gabriel Hargreaves war das Getuschel der Schaulustigen lediglich belangloses Geschwätz. Wahrscheinlich war er die einzige Person in ganz London, der die Wahrheit hinter dieser 'Familientragödie' kannte. Nüchtern betrachtet waren die Ereignisse vermutlich als Tragödie zu bezeichnen, aber ein paar Schrammen und ein gehöriger Schock waren ein wirklich geringer Preis für die Vereitelung von schlimmeren Konsequenzen. Wie fast alle Leute, die sich neugierig vor der Absperrung von Scotland Yard drängten, trug auch Gabriel einen dunklen Regenschirm um sich vor dem Regen zu schützen. Es machte wenig Sinn, denn der hoch gewachsene Mann mit den ungewöhnlich hellblonden Haaren und dem bleichen Gesicht war komplett durchnässt als wäre er beim vorüberziehenden Wolkenbruch minutenlang durch den Regen gelaufen. Die Feuchtigkeit presste die dünnen Strähnen gegen Stirn und Schläfen. Er hatte Mantel- und Hemdkragen hochgeschlagen gegen einen kalten Wind, den es zu Sommerzeiten nicht gab. Es war weniger eine kühle Brise die er fürchtete, sondern schlicht die einfachste Möglichkeit die roten Kratzer an der rechten Seite seines Halses zu verbergen. Vorsichtig verlagerte er sein Körpergewicht auf sein linkes Bein und schonte damit das Knie auf der rechten Seite, dass einen üblen Tritt abbekommen hatte. Es war nicht seine klügste Idee gewesen, sich in das Handgemenge mit dem tobsüchtigen Ehemann und den anderen beherzten Männern zu stürzen. Aber verzweifelte Situationen verlangten verzweifelte Maßnahmen und er war ohnehin schon zu spät dran gewesen. Rückblickend war das Chaos eine glückliche Fügung gewesen, denn es hatte niemand darauf geachtet, dass er dem während des Kampfes gestürzten Mann eine Hand auf die Stirn gedrückt hatte. Danach war Ruhe gewesen und Gabriel hatte sich klammheimlich aber hinkend aus dem Knäul von Menschen zurückgezogen.
      Gabriel musterte die wispernden und tuschelnden Menschen um sich herum mit beinahe gleichgültiger Miene. Sein Gesicht war nahezu ausdruckslos, als würde er nicht dieselbe blutige Szenerie betrachten wie alle anderen. Als würde er den Mann, der dort am Boden lag nicht kennen. Als wäre er nicht in den vergangenen Wochen regelmäßig mit alten Schmuckstücken und Metallarbeiten, die etwas Zuwendung notwendig gehabt hatten, in seinem Haus ein und aus gegangen.
      Unmittelbar vor ihm auf dem nassen Kopfsteinpflaster des Innenhof lag die Leiche von Thomas Kensington. Der kräftige Schmied lag auf dem Rücken, alle Gliedmaßen von sich gestreckt und die toten Augen in den Himmel gerichtet. Er hatte sich bei seinem Tobsuchtsanfall mehrfach selbst mit dem langen Küchenmesser verletzt, das im Augenblick als Beweisstück von einem grünschnäbligen Wachtmeister gesichert wurde. Mehrere Schnitte an den Armen und über der Brust waren eindeutig selbst zugefügt worden. Blutige Schlieren trübten die Pfützen, die langsam mit den letzten Regentropfen in den Kanal gespült wurden.
      Das untrügliche Gefühl beobachtete zu werden, ließ ihn den Blick von der Leiche und den stumpfen, eingesunken Augen nehmen. Mrs. Bell hatte ihren Klienten entdeckt, der sie immer beehrte, wenn es galt an seinem Hemden kleine Ausbesserungen vorzunehmen. Aus Gewohnheit setzte Gabriel ein freundliches, einladendes Lächeln auf, wie er es immer tat, wenn er ihrem Geschäft einen Besuch abstattete. Sie mochte sein Lächeln, das war kein Geheimnis, aber Gabriel verspürte nie den Drang ihre Avancen zu erwidern. Nur schlug Charlotte Bell in diesem Moment nicht vergnügt und geschmeichelt wie erwartet den Blick nieder, sondern sah ihn sichtlich irritiert.
      Seinen Fehler bemerkte der Antiquar bedauerlicherweise zu spät.
      Träge glitt sein Blick über die Menschenansammlung, die allesamt bestürzte Gesichtsausdrücke zur Schau trugen. Ganz langsam sanken seine Mundwinkel nach unten und er drückte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich dezente, ernste Falten direkt über der Nasenwurzel. Der starre gar leere Ausdruck seiner Augen passte nicht zu der neuen Darstellung milder Bestürzung. Ungesehen von neugierigen Blicken schlossen sich seine Finger um den Penny, dessen Silber durch Witterung und häufigen Besitzerwechsel bereits arg angelaufen war. Das kleine Missgeschick und der rhythmische Puls der verkratzten Silbermünze waren das Zeichen zum Aufbruch.
      Das hier war weder der richtige Zeitpunkt und schon gar nicht der richtige Ort um zu tun, was getan werden musste.

      *[The Twelfth Doctor - Dr. Who]
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 3 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Ein perplexes Lächeln zuckte für den Bruchteil einer Sekunde über das festgefrorene Antlitz der Braunhaarigen, während sie in dem Gesicht des Mädchens versuchte, auch nur irgendeine Regung zu finden, die das eben gesagte untermauerte. Nach wie vor starrte der gelockte Schopf zurück in ihre Augen, regungslos. Audras Blick hüpfte kurz zu Ginas Bruder, George, der nach wie vor stumm neben seiner Schwester verweilte und teilnahmslos, weiterhin, an die Wand gegenüber starrte. Das vom Blau verdrängte Grün in ihren Augen glänzte jedoch neugierig hervor. Keinerlei Grund hatte die Kleine sie anzulügen. Ja, Kinder träumten sich als Schutz ihrer Seele oftmals etwas zusammen, doch sah die erfahrene Ermittlerin, das Gina ihr hier die Wahrheit sagte. Und dem musste sie unbedingt auf den Grund gehen. Audra holte Luft. "Was... was genau-" - "Den Mann... mit den weißen Haaren... den Engel...", leiser wurde die Stimme Ginas, ihren rechten Arm hob und mit vorgestrecktem Zeigefinger hinaus aus dem Fenster zeigte. Audras Körper hatte sich bereits herumgedreht, doch glitt ihr Blick als letztes hinaus, streifte nur kurz die wenigen Regentropfen die sich an der äußeren Scheibe versammelt hatten. "Ein Mann..?", der Dedektivin Gedanken rasten und sie pinnte ihre geschärften Augen von Person zu Person, welche sich nach wie vor in dieser aufgebrachten Menschenmenge im Hof befand. Alle waren sie großteils verhüllt, schützten ihre Häupter mit Hüten, Kaputzen oder Regenschirmen. So brauchte es für die junge Frau einen Moment, als sie jedoch wirklich unter einer der Mäntel den hellen Schein von weißen Strähnen aufblitzen sah. Ihr Herz machte einen Sprung, ihr gesamter Körper hob sich in die Höhe, der Blick geweitet, wie bei einem Raubtier, welches seine Beute im Blick hatte. Dann gab es für sie kein Halten mehr. Schnellen Schrittes eilte die Braunhaarige aus dem Kinderzimmer, an Miss Kensington vorbei in den Flur, bog - sich nun bereits im Laufschritt befindend - rechts in die Küche ab und stob nun weniger mit Eile als mit possesiver Arbeitshaltung durch die zweite Türe in den Innenhof hinaus. Das polternde Schlagen der Tür gegen die äußere Hauswand, ließ die Häupter aller sich noch anwesenden Personen für einen Moment in die Höhe fahren. Ein jedes Augenpaar war nun auf die junge Frau gerichtet, die in windeseile, schneller als ihr wohl selbst lieb war, die Individuen analysierte und in der Ferne, beinahe schon in der letzten Reihe, nur noch kurz das Schneeweiß der Haarpracht ausmachte, welches sie bereits von oben erspäht hatte. Doch war es die Neugier der Schaulustigen, welche der engagierten Inspektorin einen Strich durch die Rechnung machte. Eines der überaus hochnäsig wirkenden Pärchen schob sich in das Sichtfeld der Braunhaarigen und nahm Audra somit jegliche Möglichkeit den "Engel" im Blick zu behalten. Wut kochte ihr in der Kehle hoch und während sie ihren stolzen Laufschritt weiterführte, erklang ein erbostes: "AUS DEM WEG!" Scharf gewürzt preschten die Worte ihrer Figur voraus, doch reichte es um die Damen in der kleinen Schnatterrunde, ähnlich wie jene Hühner denen sie ähnelten, wegzuscheuchen. Es war auch nicht verwunderlich, dass eben jene Geschöpfe ähnlich dem tierisch gewählten Vergleich aufgebracht und gackernd die Arme in die Luft rissen und sich lautstark über diese ungehobelte Art und Weise der Inspektorin beschwerten, während sich eben jene durch die Masse an Körpern kämpfte, nur um am Ende in Leere zu stolpern und den einzigen Anhaltspunkt zu dem, was hier geschehen war, verloren hatte. "Verdammt...", knurrte Audra hervor und setzte die letzten Meter nach, stand somit nun auf der Hauptstraße, kehrte sich nach links und rechts um... doch ihr Gesuchter war verschwunden. Kurz tief durchatmend hob die Inspektorin ihre Arme in die Luft und verschränkte sie in ihrem Nacken. Ihre Finger gruben sich für einen Moment in ihre obere Schulterpartie... dieser Fisch, ging ihr durchs Netz.

      Geschlagen trat die Inspektorin zurück an den Tatort. Die gaffenden Fremden bildeten ihr eine Schneise, wohlgewahr wissend, vorbeugend, dass sie einem erneuten Ausbruch ihres Temperaments entgehen konnten. Eine surreale Stille hatte sich um die Gruppe gelegt, beinahe, als wollten sie nun doch Anteilnahme zeigen, an dem unausprechlich grausamen Tod des Herrn Kensingtons. Wo zuvor die Lästermäuler schimpften, krähte nun nur einsam und verlassen eine alte Krähe, die sich mit ihren Kumpanen als Begleiter des Unglücks auf den Regenrinnen der Dächer niedergelassen hatten. Audras Blick galt kurz diesen intelligenten Tieren, ehe sie den Ermittlern von Scottland Yard ihre Aufmerksamkeit schenkte. Sie waren wohl gerade dabei, den Verstorbenen für den Abtransport fertig zu machen. Erst einmal in der Gerichtsmedizin, war es für die Braunhaarige schwer, auch noch ein bisschen von dem Verschiedenen zu sehen. So trat die junge Frau nochmals näher und beugte sich über den Leichnam, welcher ihr mit glasigen, leeren Augen entgegenstarrte, jedoch eine Ewigkeit gefunden hatte, in welche sie nicht folgen konnte. Äußerlich war an Thomas Kensington nichts außergewöhnliches zu sehen. Die Abwehrspuren und die Schnitte des Messers zog sich wie feine rötliche Peitschenhiebe über seine weiße Nachtbekleidung. Es musste wohl ein ziemlicher Kampf gewesen sein, immerhin hatte der Tote ordentlich gewütet. "Bevor ihr geht, möchte ich nochmal einen genaueren Blick auf ihn werfen." - " Wir... wir sind eigentlich fertig... warten nur noch auf die Kutsche..." - "Nur einen Moment... ich... haltet den Kutscher einfach etwas für mich hin...", großgeschrieben stand diese Bitte auf Audras Stirn, die sich nach einem ernüchterten Seufzen des Inspektors von Scotland Yard mit einem Nicken bedankte und sich nun zum ersten Mal auf die schaulustige Menge konzentrierte. Erneut ging ein Tuscheln und Flüstern durch die Runde... neben dem Fingerzeig auf den Leichnahm, kam auch die junge Inspektorin nicht um den ein oder anderen skeptischen Blick herum. So trat die Braunhaarige einen Schritt nähter, griff in das Innere ihres Mantels und zückte ein kleines Notizheft. Eingebunden in minderwertiges Leder, glich es einem Zechprellerbüchlein, tat aber durchaus seinen Nutzen. "Hat... irgendjemand... egal ob Herr oder Frau... in dieser doch sehr... aufmerksamen Runde... etwas beobachtet, dass unseren Ermittlungen weiterhelfen könnte? Ganz egal ob Verhalten des Täters, Beziehung zum Opfer... andere, verdächtige Personen...", lautstark verlautbart zückte Audra ihren Bleistift und lehnte ihren Oberkörper mit einer leichten Süffisanz nach hinten. Sie hatten sich so ausführlich über die Kensingtons ausgelassen, da würde doch irgendjemand der anwesenden Personen etwas zum Tathergang sagen können. Doch... es folgte eine betretene Stille, die von ausweichenden Blicken gezeichnet war. "Was? Keiner von Ihnen hat auch nur ein wenig zu sagen? Denken sie doch mal an Miss Kensington... die Arme ist von jetzt an Witwe... und die beiden Kinder Halbwaisen...", aufgesetzte Trauer überzog die das feine Antlitz der Inspektorin und stellte sicher, dass sie einem jeden und einer jeden in die Augen sah, um auch nur irgendwas aus den Mündern herauszukitzeln. "Wirklich niemand? ... sehr... sehr schade!", theatralisch warf sie sich herum notierte sich scheinbar etwas. "Zeugen... unbrauchbar...", klang es gewollt in hörbarer Lautstärke aus ihrer Kehle, während sie eigentlich das Erscheinen des weißhaarigen Mannes laut Kindermund beschrieb, hoffend, dass diese unterbewusste Anstachelei vielleicht doch den Stolz der Ansässigen traf, sich eingebildet über den Vorfall zu äußern.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.
    • Henry Brown rümpfte abfällig die Nase über die Inspektorin, deren Verhalten an Impertinenz nicht zu überbieten war. Wie konnte es dieses dreiste Weibsbild wagen auf diese Art und Weise mit dem braven Bürgern dieses ehrbaren Stadtviertels zu sprechen und überhaupt, was hatte eine Frau bei Scotland Yard verloren? Der gedrungene, kleine Mann legte die verschränkten Arme auf seinem stolzen Bierbauch ab und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Selbst für den Fall, das er Kenntnisse zu der Tragödie besaß, würde er gegenüber dieser dummen und selbstgefälligen Gans nicht ein Wort verlieren. Das schien Henry Brown nicht der Einzige zu sein, denn um ihn herum, straften zahlreiche Bürger die junge Inspektorin mit eisigem Schweigen.
      Es war Charlotte Bell, die freundliche Schneiderin, die sich langsam durch die Menschen zwängte, um einen besseren Blick auf die Frau zu haben, die das skandalöse Gemurmel in den hinteren Reihen verursachte. Durch das Geflüster der Schaulustigen zog sich die wage Beschreibung eines unbekannten Mannes mit beinahe weißen Haaren und Mrs. Bell war ganz offenkundig nicht die Einzige gewesen, die von Gabriel Hargreaves Notiz genommen hatte. Die alte Witwe Mrs. Moore folgte der Schneiderin auf dem Fuß und wenn ihnen der Weg versperrt wurde, piekte sie die unaufmerksamen Männer und Frauen mit ihrem Gehstock spürbar in die Waden.
      "Entschuldigen Sie? Miss? Inspektor...in?", stotterte Mrs. Bell, die sich etwas uneins war, mit welchem Titel sie die Inspektorin ansprechen sollte. Es war mehr als ungewöhnlich eine Frau zwischen den Ermittlern von Scotland Yard zu sehen. "Sie sagten etwas von einem Mann mit weißen Haaren? Ich wüsste eventuell nach wem sie suchen."
      Charlotte Bell wartete nervös an der Absperrung darauf, dass die Ermittlerin sich ihr zuwandte und ihr Gehör schenkte.
      "Also...Ein Kunde von mir, Mr. Gabriel Hargreaves, könnte zu ihrer Beschreibung passen. Er wohnt erst seit kurzem in London, ein Stück die Brick Lane herunter besitzt er ein kleines Antiquitätengeschäft. Hauptsächlich alte, verstaubte Bücher. Er ist ein höflicher, junger Mann und unverschämt charmant dabei, wenn sie verstehen."
      "Charlotte, Liebes!", ertönte die Witwe Moore, die sich schockiert an die Brust griff. "Nur weil der Mann ungewöhnlich helle Haare hat, musst ihn noch lange nicht verdächtigen!"
      Mrs. Bell senkte schuldbewusst den Blick.
      "Sie haben ihn gerade nicht gesehen, Mrs. Moore", murmelte sie und wandte sich an die Inspektorin. "Sehen Sie,...Ma'am? Er mag charmant sein, aber manchmal wirkt er so, als sei er...dieser Welt entrückt? Verstehen sie? Wie jemand, der sich in Gedanken verliert, nur anders."
      "Anders?", erklang die hohe, nervtötende Stimme von Eliza Talbot.
      Mrs. Moore verdrehte die Augen.
      "Anders ist so ein nettes Wort", ergänzte Miss Talbot, und hielt elegant den mit feiner Spitze besetzte Schirm über ihren Kopf. "Unheimlich trifft es eher."
      "Ach, so ein Unsinn, Kind. Du bist nur eingeschnappt, weil er deine Avancen abgelehnt hat!", mischte sich die Witwe ein und drehte denn hinter vorgehaltener Hand den Kopf zu der jungen Inspektorin. "Wissen Sie, unsere liebe Miss Talbot ist es nicht gewöhnt, dass ein Mann Nein zur ihr sagt."
      Die alte Witwe zwinkerte Audra zu.
      "Aber er hat gelächelt!", platzte es untypisch vorlaut aus Mrs. Bell heraus. Verlegen schlug sie sich die Hand auf den Mund, so ein Verhalten ziemte sich für eine Dame nicht. "Er hat hier gestanden und gelächelt. Finden sie das nicht seltsam? Außerdem war er mit den Kensingtons bekannt! Er hat mir gegenüber erwähnt, dass Mr. Kensington ein paar alte Stücke für ihn restaurieren sollte."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sie wollte sich schon abwenden und dem Kutscher, welche die verstorbene Person von Mr. Kensington zur Obduktion ins Hauptquartier von Scotland Yard mitnahm, Bescheid geben, dass sie einfach später in der Gerichtsmedizin vorbeischauen wird um ihren Fall über die Raserei des toten Herren abzuschließen, als sich aus den hinteren Reihen der Zeugen eine etwas unsichere Stimme erhob. Audra hatte sich schon zum Gehen umgekehrt und sah nun doch wieder interessiert über ihre Schulter zurück, um eine jüngere Dame zu erkennen, welche sich mit erhobenen Zeigefinger aus der Masse schälte. Sie lächelte die wohl einzig Wissende in diesem kuriosen Fall kurz an. "Miss Dayton ist völlig in Ordnung.", sie nickte der Frau zu, die nun wohl endlich den Mut gefunden hatte, Details mit der Inspektorin zu teilen. Doch sprachen ihre nächsten Worte Bände und Audra wurde hellhörig. "Ja, ganz genau. Können Sie mir etwa ein wenig über ihn erzählen?", interessiert und mit erhobenen Augenbrauen schritt die Braunhaarige auf die Dame zu, die sich im späteren Gesprächsverlauf als Charlotte Bell herausstellte. Diesen Namen notierte sich Audra ganz oben auf der Liste und hörte der Dame gespannt zu. "Gabriel Hargreaves...", murmelte Audra vor sich dahin und schrieb diesen Namen ebenso ganz an den oberen Rand und kringelte ihn ein. Doch wusste die Inspektorin nicht, was für einen Umstand die junge Frau mit dem Benennen des Weißhaarigen und seiner Art und Weise wie er auf Miss Bell wirkte, auslösen würde. Denn nun lösten sich noch zwei andere Damen aus dem Trubel und mischten sich ja beinahe erbost wirkend in die Diskussion mit ein. Audra neigte den Kopf ein wenig nach unten, schickte den Blick aus ihrem geneigten Haupt nach vor, die drei Damen abwechselnd musternd. Es war schon ein wenig lustig, amüsant, wie sie untereinander diskutierten und der jungen Misses Bell wohl noch etwas anderes, wie die typischen Avancen eines hübschen Junggesellen zuschrieben. Der weißhaarige Unbekannte schien der jungen Frau wohl zu gefallen und dies machte Charlotte durch ihr überdrehtes Auftreten sichtbar. Audra musste zu guter Letzt jedoch nur schmunzeln und notierte sich nebenbei die ein oder andere Sache. Wie oft sie nur vergaß, dass gerade Zeugenbefragungen einer der wohl amüsantesten Teile ihrer Ermittlungsarbeit sein konnte. Nun aber hatte die Ermittlerin wohl genug gehört und atmete kurz scharf ein, die Aufmerksamkeit wieder auf sich ziehend. "Vielen Dank meien Damen, Sie waren mir eine große Hilfe. Miss Bell...", auch der jungen Dame nickte Audra nochmals kurz zu. Neben ihnen hatte sich in der Zwischenzeit mit klappernden Hufen die Kutsche in Bewegung gebracht, wogleich die brummende Stimme des Kutschers durch die Menge schrie, sie sollten ihm Platz machen und das Schauspiel war vorbei. Audra verzog nachdenklich ihre Sitrn. Der hatte wohl auch nicht den besten Tag heute.

      So aber drehte sie sich am Stand um und schritt nochmals, ihre Aufzeichnungen überfliegend zurück in Richtung Haus der Kensingtons. Es machte Mr. Hargreaves natürlich nicht sofort verdächtig, die Verbindung zu der Familie und dem Ableben des Herren Kensingtons... doch was Audra stutzig werden ließ, war das Auftauchen seinerseits am Tatort, als hätte er wohl etwas gewusst oder geahnt. Alle anderen waren ja nur zufällige Bewohner oder Passanten, die den Trubel der Rauferei mitbekommen hatten. Das andere was Audra nicht ganz verstand, war der Umstand, warum der Weißhaarige gelächelt hatte. Es rief nicht sofort nach Psychopathie, aber war der falsch verstandene, emotionale Umstand einer Situation, doch etwas besorgnisserregendes. Die Grauäugige unterstellte ihm in diesem Atemzug keinerlei Neigungen, aber passte es kaum ins Bild eines normalen, rational denkenden Menschen. Sie kratzte sich am Ohr, als ein einzelner Regentropfen sie an diesem erwischte. Audra führte ihre schlanken Beine nochmals zurück in das Anwesen... das abschließende Gespräch mit dem Amtsarzt, der Miss Kensington und die Kinder untersuchte stand noch aus, um eventuellen Tatverdacht der Ehefrau geschuldet auszuschließen. So trat Audra, sich etwas die Kälte des Tages abschüttelnd, wieder hinein und sah im Gang hinter der Küche bereits den Mediziner mit seiner ledernen Tasche stehen. Mit geschwellter Brust trat sie auf ihn zu, suchte seinen Blick und kräuselte neugierig ihre Stirn. Der Doktor aber atmete einmal kurz durch, als er die Inspektorin erkannte und räusperte sich, Audra weiter in den Gang hinein winkend, etwas Abstand nehmen wollend von der Frau und ihren Kindern. "Also... ich erkenne retrospektriv keine Anzeichen, dass Miss Kensington Mordgedanken oder gewaltvolle Fantasien gehabt hätte. Sie kommt mir im Moment natürlich absolut traumatisiert vor, es war schwer überhaupt etwas aus ihr rauszubekommen...", er seufzte kurz auf und kratze seine Nase. "Ich werde heute Abend nochmal nach ihnen schauen... die Kinder schweigen...", er zuckte mit den Schultern und wollte damit wohl sagen, dass er alles getan hatte was in seiner Macht stand. "Sie hat Beruhigungsmittel bekommen und ich habe ihr einen Tee für das Seelenheil dagelassen...", er suchte Bestätigung in dem Blick der Inspektorin, welche ihn mit weichgezeichnetem Blick ansah. "Danke für ihre Hilfe... ich erwarte ihren Bericht in meinem Büro...", sie schmunzelte und drehte sich nochmals in die Richtung des Kinderzimmers, wo wohl die gebeutelte Familie von drei nun ihren restlichen Tag verbringen würde.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.
    • Gabriel schleppte sich die Wendeltreppe hinauf. Es hatte ganze drei Tage und drei Nächte benötigt um die Seele von Mr. Kensington soweit zu beruhigen, dass er mit dem Reinigungsprozess hatte fortfahren können. Zornige und angsterfüllte Seelen waren am Schwierigsten zu bändigen und verlangten dem Reaper all sein Können ab. Da war es von Vorteil, dass die Mitglieder seiner Zunft keinen Schlaf benötigten. Zumindest nicht all zu oft. Müdigkeit und Hunger zeigte sich erst, wenn der Körper allmählich seine Funktion einstellte. Die Unsterblichkeit ging nicht Hand in Hand mit Unverwundbarkeit und die lange Zeit im Kellergewölbe hatte er den Hülle gezehrt, die er seinen Körper nannte. Er hatte es erst bemerkt, als das Sichtfeld vor seinen Augen langsam verschwamm. Gabriel, der plötzlich doppelt gesehen hatte, wusste, dass er sein Limit erreicht hatte. Einen Tag länger und alle Bemühungen wären umsonst gewesen. Dann hätte er von Vorne anfangen können.
      Beiläufig fuhr er sich durch das strähnige, weißblonde Haar, das ihm nun matt an der Stirn klebte. Es war noch früh am Morgen, beinahe noch Nacht, so wenig Licht fiel durch die Lücken in der Vorhängen der Ladenfront. Es war nicht ungewöhnlich, dass das kleine Antiquariat für mehrere Tage in Folge schloss. Gabriel arbeitete nur auf Termin und für eine besonders erlesene Kundschaft. Für alles andere fehlte ihm die Muße. Als Reaper mochte sein Verständnis für Emotionen auf einen Teelöffel passen, aber ermüdende Langeweile war ihm dennoch nicht fremd.
      Mit unbewegter Miene beäugte Gabriel die zweite Treppe, die in den ersten Stock führte. Dort befanden sich seine bescheidenen Privaträume. Er brauchte nicht viel zum Leben. Das Wichtigste, befand sich ein Stockwerk tiefer. Gabriel griff nach dem Treppengeländer und begann den mühevollen Aufstieg wobei er seine Füße kaum genug heben konnte, um nicht an den Stufen hängen zu bleiben.
      Bis zum Morgengrauen würde er ruhen. Das musste reichen.

      Die kleine Glocke über der Tür des Antiquariats klingelte aufdringlich in der allgegenwärtigen Stille der Räumlichkeiten. Gabriel, mit einem perfekt sitzenden Anzug und den nun wieder ordentlich zurückgekämmten Haaren, trat hinaus und mit der Ruhe war es schlagartig vorbei. Die belebte Brick Lane zeigte sich auch an diesem Morgen von ihrer besten oder schlimmsten Seite - es kam auf den Blickwinkel an. Kutschenräder und Hufen klapperten auf dem holprigen Kopfsteinpflaster, ratternd wurden die sperrigen Gitter vor den Ladenfenstern zurückgezogen, lebhafte Rufe von Zeitungsjungen und den ersten, offenen Straßenständen hallten durch das Chaos. Dieser Abschnitt der Brick Lane fehlte es...an Allem. Es war schmutzig, laut und aus den großen Schornsteinen der Fabriken quoll dunkler Rauch.
      Ein Geschäft wie das Antiquariat passte eigentlich nicht in diese Gegend und an Vermögen mangelte es dem Junggesellen auch nicht, aber dieses Viertel besaß einen entscheidenden Vorteil: Die Leute stellten keine Fragen. Hier kochte alle ihr eigenes Süppchen und waren froh darüber, dass niemand die neugierige Nase in Angelegenheiten steckte, die sie nicht anging.
      Neben der Tür hatte Gabriel eine schlichte, kleine Metallplakette befestigt, auf der in einfachen Lettern nur der Name Hargreaves prangte. Er hatte sich keine Mühe mit einem Namen für den Laden gegeben, es war ohnehin nicht von Dauer.
      "Sir! Ein Daily Telegraph für Sie?", begrüßte ihn ein Zeitungsjunge mit schmutzigen Wangen und Schiebermütze. "East End erschüttert durch Familientragödie! Schreckliche Morde in White Chapel weiterhin ohne Spuren! Scottland Yard in Erklärungsnot!"
      "Hier."
      Gabriel schnippte eine Münze aus seiner Hand, die der Junge gekonnt auffing. Er reichte ihm eine Zeitung, schnippte dankend gegen seine Schiebermütze und verschwand zwischen den Fußgängern. Tragödien, Morde, Seuchen...Die Zeitung war voll davon. Die Überbevölkerung der Arbeiterviertel schaffte ein regelrechtes Moloch für aller Art von schrecklichen Schicksalen. Es regte sich nichts in Gabriel, als er von hungernden Waisen und gefallenen Frauen las, doch die Zeitung diente als hervorragende Informationsquelle um sein nächsten Ziel auszuwählen.
      Der Artikel über die bedauernswerte Witwe Kensington ließ ihn kurz inne halten. Die schlechte Fotografie in Schwarz und Weiß zeigte eine junge Frau mit ernster und professioneller Miene vor dem Haus der Kensingtons. Eifrig schien ihr Stift über den Notizblock zu kratzen, während sie offensichtlich mit Zeugen am Tatort sprach. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie dort gesehen zu haben, aber erinnerte sich an Miss. Bell, die auf dem Foto eindeutig aufgeregt gestikulierte. Gabriel betrachtete das Gesicht der jungen Frau eingehend. Selbst ein schlampiger Fotograf schaffte es die scharfsinnigen Züge der Frau einzufangen. Durchdringende, aufmerksame Auge und eine Selbstsicherheit, die für eine gewöhnliche londoner Dame höchst ungewöhnlich waren.
      "Audra Dayton...", murmelte Gabriel und faltete die Zeitung säuberlich zusammen. "Inspektorin, hm?"
      Er würde die Augen aufhalten müssen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Dreimal war sie dort gewesen. Dreimal in den letzten zwei Tagen. Und heute das vierte Mal. Nachdem Charlotte Bell der Inspektorin den Tipp gab, wo sie Mister Hargreaves finden konnte, lehnte der braunhaarigen Dame Körper schon gute zwei Stunden pro Tag an der bröckeligen Hausfassade dem Antiquitätengeschäft gegenüber, den Blick aus wachen Augen auf die verschlossene Türe des Hauses gerichtet, wo sie wohl den weißhaarigen Mann antreffen würde. Vor ihr liefen die Personen die Brick Lane auf und ab, sie sah alles möglich an Menschen heute zu ihren Füßen vorüberziehen... Gauner, Tagelöhner, Handwerker, Fabriksarbeiter, Frauen mit plärrenden Kindern - die Audra dann doch eine genervte Miene aus dem sonst so starren Gesicht lockten -, Geschäftsmänner im regen Gespräch mit ihren Partnern, auch klapperte die ein oder andere Kutsche an ihr vorbei. Und doch fanden ihre Augen nicht das, was sie suchten. Kein Licht ging an, keine Regung war hinter den von Eisen und Stahl versiegelten Toren des Antiquariats zu sehen, auch wenn das Türschild eindeutig den Namen des Gesuchten aushängte. Inspektorin Dayton presste ein jedes Mal die Lippen zusammen, als sie eine vermeintliche Bewegung hinter den dunklen Fensterscheiben erkannte... und doch war es nur ein Spiegelbild aus der Ferne, dass sie trügte. Nachdem sie an jenem schicksalshaften Abend den Hof der Familie Kensington verlassen hatte, der Witwe und den Waisenkindern ihre Adresse hinterließ, sollte ihnen noch irgendetwas zu dem Abend von damals einfallen oder sie sonst einfach Hilfe benötigten, war der Fall vorerst für die junge Frau ein großes Fragezeichen in all den Fällen, die sie bis jetzt gelöst hatte. Für normalerweise liefen Morde oder in diesem Fall vielleicht sogar Suizid immer nach einem bestimmten Muster ab... es gab einen Grund für die Tat, einen bestimmten Umweltfaktor welcher die Täterin oder den Täter begünstigte, einen Antrieb, etwas, dass den Gedanken zur Handlung werden ließ und sei es bloß der Affekt gewesen, der zuletzt den Tod des Herren Kensington herbeirief... Doch hier schien sich irgendwie alles im Kreis zu drehen. In tiefe Falten war ihre Stirn gerunzelt gewesen, während sie sich den Ablauf der Tat versuchte im Kopf zusammenzureimen. Nebenbei kritzelte Audra ihre Gedankengänge auf ihrem kleinen Notizblock zurecht, hoffend dadurch vielleicht den nötigen Hinweis oder den wichtigen Schlüsselfaktor zu entdecken, welcher den Fall auf die gerade Spur brachte, doch vergebens.

      Sie hatte ihre Beine übereinandergeschlagen, damals in ihrem Büro. "Ein Mann... zuvor unbescholten und verheiratet in einer wohl florierend schönen Ehe, verliert eines Abends aus dem Nichts seinen Verstand und beginnt wie ein tollwütiges Raubtier zu randalieren... zerstört Einrichtungsgegenstände, bedroht die Ehefrau und Kinder in einem Akt des Wahnsinns und sieht sein endgültiges Opfer in seiner Angetrauten, die er eiskalt gemeuchelt hätte... wäre da nicht das beherzte Eingreifen der Bürger gewesen... und doch, obwohl es möglich gewesen wäre, den Wutausbruch des Herren Kensington zu stoppen OHNE ihn dabei zu verletzen, lag er zuletzt verstorben auf dem nassen Pflastersteinen... keine der Wunden die bei der Obduktion festgestellt wurden, wären tötlich gewesen. Ja, die ein oder andere Schnittverletzung hätte zu regem Blutverlust geführt, aber auch das hätte er überlebt... kein Schwächeanfall, kein Herzanfall, kein... was auch immer sonst den sofortigen Tod herbeiführen könnte...", so vertieft in den rätselhaften Fall hatte die Dame damals sinniert, trug ihrem Sekretär, Alexander, ein junger Bursch von vielleicht 20 Jahren, die Situation rund um den Tod des Herren vor und starrte Löcher in die Decke, während ihr Verstand, ihre Logik auch nur einen Fetzen davon erfassen wollte und sich um diese herum die Wahrheit zu spinnen. Dieser sah seine Chefin aber nur schulterzuckend an, war er ja eigentlich gar nicht bewandert mit der Kriminalistik oder anderen polizeitechnischen Ermittlungsverfahren. "Vielleicht... war es auch einfach der Stress der ihn.. naja... sagten Sie nicht selbst, dass Miss Kensington meinte, zuletzt lief das Geschäft ihres verschiedenen Ehemannes etwas... zu gut?", der schwarzgelockte Jüngling kräuselte seine Augenbrauen und stellte der Inspektorin eine heiße Tasse Tee hin. "Mhm, daran hab ich auch schon gedacht... aber hätte er einfach seine Aufträge dezimieren können... oder zumindest nach hinten verschieben... das macht auch keinen Sinn.", in weißer Voraussicht nahm Audra die Tasse vorsichtig in die Hände und schlürfte die oberste Schicht ab. "Na, Sie werden es schon rausbekommen... wie immer Boss.", diese Worte waren es, die Audra gerade eben wieder durch den Kopf gingen, als sie ihren Blick wieder hob. Ein viertes Mal hatte es sie also in die Brick Lane verschlagen, ein viertes Mal wieder an den Platz gegenüber des Antiquariats und auch heute schien es so, als wäre der Gesuchte nicht aufzufinden.

      Und Audra wollte auch schon wieder beinahe am Stand kehrt machen. Immerhin hielt man es hier nicht viel länger aus als nötig. Es war ein Drecksviertel, niemand wollte hier freiwillig wohnen und doch waren die Mieten hier am günstigsten. Den Grund konnte man sich wohl selbst denken. Der Grauäugigen blick ging zu den schlohweißen Rauchwolken empor, die sich voluminös aus den meterhohen Kaminen der Fabriken quetschten und Himmel grau färbten. Kurz zuckte ihre Lippe nach oben, sie rümpfte ihre Nase, als sie aus dem Augenwinkel nun doch endlich Regung vernahm, dort, in dem Geschäft, welches sie seit drei Tagen aufsuchen wollte. Er trat nun wirklich in das abgestumpfte Sonnenlicht und sah sich um. Die Inspektorin atmete tief ein und stockte den Atem in den Lungen. Ein Junge kam noch vorbei, drehte dem Weißhaarigen eine Zeitung an, welche der Herr sich wohl sogleich ansah. Sie beobachtete ihn aus der Ferne, erkannte das markante Gesicht, welches sie auch zuvor in der Menge der Zeugen gesehen hatte und würde es wohl auch in einer Menge von hunderten Personen wiedererkennen. Als die Kutsche, die sich ratternd den Weg durch die Brick Lane suchte, an ihr vorbeigefahren war, sah Audra nur noch kurz von links nach rechts und hastete dann über die schlecht gepflasterte Straße, den Blick stets auf den Gesuchten gerichtet. "Mister Hargreaves!", rief sie dem jungen Herren dann schon von der Weite zu und hob entschuldigend den Arm. Der Blick den er ihr zuwarf sprach Bände, als hätte er nicht erwartet sie hier zu sehen... aber wer tat das schon. "Mister Hargreaves, guten Tag und entschuldigen Sie bitte, dass ich sie hier so einfach auf offener Straße überfalle. Wie geht es Ihnen heute? Audra Dayton mein Name, Scotland Yard. Hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit für mich? Es dauert auch nicht lange...", ein schmales Lächeln schob sich auf die Lippen der Dame, die den Weißhaarigen mit dem Stahlgrau ihrer Augen fixiert hatte. Ein Nein würde für sie nicht in Frage kommen und das ließ Audra allein durch ihre selbstsichere Mimik ihr Gegenüber spüren. Nebenbei hatte die Inspektorin ihren Dienstausweis hervorgekramt und hielt in gut sichtbar neben sich aus ihrer Manteltasche in die Luft, sodass der Herr ungehinderten Sichtkontakt auf das Token haben konnte. Immerhin könnte sie sich ja als wer weiß wer ausgeben.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.
    • Als hätte die Nennung ihres Namens die engagierte Ermittlerin aus dem Nichts heraufbeschworen, kam sie nun in zügigen Schritten direkt auf ihn zu. Gabriel glaubte keinesfalls an glückliche Zufälle, weshalb er augenblicklich daraus schloss, dass die junge Frau sein Geschäft bereits seit ein paar Tagen observierte. Er klemmte sich die Zeitung unter den Arm und schenkte der Inspektorin ein gut einstudiertes Stirnrunzeln, dass die meisten Menschen als milde Verwunderung interpretierten. Immerhin, wer rechnete schon in den frühen Morgenstunden mit dem Besuch der einzigen, weiblichen Ermittlerin des Scottland Yard, das sich doch so fest patriarchalischer Hand befand. Es mochte ein Gesichtsausdruck sein, an den Audra Dayton sicherlich gewöhnt war. Ein gesunde Portion Skepsis bezüglich ihres selbstbewussten und für eine brave englische Dame ungewöhnlich lauten Auftretens. Dass sie keineswegs folgsam war und sich an Konventionen hielt, lag durch ihre Tätigkeit bei Scottland Yard bereit auf der Hand. Sie musste ein helles Köpfchen sein, wenn die Behörden ihr dieses Privileg gestatteten. Gabriel musterte das durchaus hübsche Gesicht, dass durch die Verbissenheit jedoch an klassischer Sanftheit verlor, die die Allgemeinheit bei Frauen ihres jungen Alters so sehr schätzte. Dass Audra kein zartes Blümchen war, stand völlig außer Frage.
      „Natürlich. Bitte treten Sie doch ein“, bot Gabriel an und schenkte ihr dabei dieses unaufdringliche Lächeln, dass Mrs. Bell gerne ein wenig Verlegenheit ins Gesicht zauberte.
      Das und die Tatsache, dass er ihr ganz galant die Tür offenhielt wie es von einem Gentleman erwartet wurde, ließ die Frau jedoch kalt. Mit erhobenem Haupt stolzierte sie in seinen Laden. Gabriel folgte ihr nur einen Augenblick später, schloss unter dem Klingeln des kleinen Glöckchens die Tür.
      Das kleine Antiquariat, das Audra Dayton betrat, war bis unter die vertäfelte Holzdecke mit Bücherregalen vollgestopft. Der Geruch, der den Raum einnahm, assoziierten die meisten Menschen mit Staub, altem Papier und Tinte. Das künstliche Licht der wenigen Glühbirnen - ein kleiner Luxus dieser Zeit - war gedämpft und die Vorhänge an allen Fenster sorgfältig zugezogen, damit das Sonnenlicht den Einbänden nicht schadete.
      Augenscheinlich herrschte keinerlei System innerhalb der Regale, doch Gabriel wusste haargenau, an welchen Stellen er bei Nachfrage suchen müsste. In dem augenscheinliches Chaos verbarg sich ein sehr ausgeklügeltes System. Deshalb kümmerte sich Gabriel auch selbst um die Sauberkeit seines Ladens. Er hatte es einmal mit einer Dame probiert, die für ein paar Pence in der Woche saubermachen sollte, aber da sie die Bücher fortwährend durcheinanderbrachte, hatte sich diese Geschäftsbeziehung schnell erledigt.
      Dabei waren viele der kostbaren und alten Werke nicht zum Verkauf ausgestellt. Tatsächlich bestand ein Großteil der beeindruckenden Schriften aus seiner persönlichen Sammlung. Lehrbücher über Theologie und Psychologie säumten die ersten Regalreihen, doch weiter hinten eröffnete sich ein weitaus ungewöhnlicheres Themenfeld. Diese Werke beschäftigten sich mit den Dunklen Künste. Eine Bezeichnung, der Gabriel nichts abgewinnen konnte, die sich in den Hörsälen aber großer Beliebtheit erfreute. Es gab den Dingen etwas Gefährliches, etwas Verbotenes. Okkultismus und wenig erforschte Felder wie Parapsychologie erschlossen sich nur einem sehr erlesenen Kundenkreis - vor allem anderen Reapern.
      Gabriel schlenderte hinter den Verkaufstresen und bedeutete Audra schweigend doch näher heranzutreten. Die Zeitung legte er neben der schweren, wuchtigen Kasse ab. Sein Blick war kurz auf einen Punkt irgendwo hinter dem Tresen gerichtet, ehe er wieder in das Gesicht seiner Besucherin sah. Ein wenig, die Regung war kaum der Rede wert, legte Gabriel den Kopf zur Seite. Ein dezenter Ausdruck, der seine nächsten Worte unterstreichen sollte.
      „Also, Miss Dayton, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Er nahm automatisch an, dass die Frau, die ihn eingehend musterte, nicht verheiratet war. Jedenfalls nicht bei ihrer beruflichen Karriere. „Oder heißt es Inspektor Dayton? Ich möchte nicht unhöflich erscheinen. Scottland Yard gehört für gewöhnlich nicht zum Kreis meiner Klienten. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee vielleicht?“
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    • Fast schon zu höflich wurde die junge Frau von dem Gesuchten begrüßt. Sie betrachtete das schneeweiße Haar nur einen Moment länger, ehe sich ihr geradliniger Blick in den freundlich wirkenden Zügen des Herren verlor. Ein aufrichtiges Lächeln umspielte die Lippen des Herren, welches Audra im Augenwinkel durchaus vernahm und nun auch den Wahnsinn von Charlotte Bell verstand, die sich durch dieses leichte, besonnen wirkende Auftreten des Herren, wohl durchaus bezirzt fühlte. Aber Audra lies sich davon nicht hinreissen. Immerhin war sie wegen ihrer Arbeit hier und nicht um irgendwelchen vermeintlichen Schönlingen - und würde es in diesem Falle auch zutreffen - hinterher zu gaffen. Somit nickte die Braunhaarige dem Inhaber nur dankend zu und schritt, ohne auch nur die kleinste Regung in ihr mattes Gesicht zu lassen, an Herrn Hargreaves vorbei ins Innere seines Hab und Gutes. Natürlich ging ihr interessierter Blick im Raum herum. Audra würden lügen, wenn sie behaupten würde, hier nicht auch selbst in das ein oder andere Buch ihre Nase stecken zu wollen. Es schien durchaus chaotisch, doch kannte die junge Frau dies von sich selbst, wer Meister der Entropie war, konnte selbst im Sturm die Stille finden. Die Arme galant im Rücken verschränkt, erklangen leicht klackend ihre Schritte auf dem hölzernen Boden. Ja, auch wenn sie für die Täterverfolgung oder anderweitige Aufgaben die mit Laufen oder sportlicher Aktivität zu tun hatte schlichtweg die schlechtere Wahl waren, so brachten die hohen Stiefel mit dem kleinen Absatz der Inspektoren zusätzliche zwei Inch an Größe dazu, was ihre sonst schon hochgewachsene Figur noch ein wenig mehr an Größe schenkte und gleichzeitig den Faktor der körperlichen Überlegenheit maximierte. Wenn man als größerer Mensch etwas auf die Kleineren hinabsehen konnte, war das ein Vorteil, den die Inspektorin unter keinen Umständen mehr missen wollte... zu viele der harten Brocken hatte sie allein dadurch, gepaart mit einer wundervollen Taktik, schon klein gekriegt.

      Während Audras Blick nun über die verschiedenen Waren glitt, griff sie sich beinahe automatisch in das innere Seitenfach ihres Mantels und zückte den kleinen Notizblock und den Bleistift hervor, jener, der auch auf diesem verwackelten Pressefoto von ihr zu sehen war. Ruhig schlug sie die nächste freie Seite auf, ihr Blick aber lag immer noch auf dem unzählbaren Inventar des Weißhaarigen, welcher durchaus wusste, mit was und folgedessen mit wem er hier handeln konnte. Es gab nur eine sehr kleine Oberschicht zurzeit in London. Jene die bei ihm einkauften, mussten das Geld auch wirklich haben, ansonsten wirkten die Verkaufsgüter, als wären sie in einer Preisklasse angesiedelt, die sich ein normaler Sterblicher hier wohl nur eträumen konnte. Als sie die Stimme des jungen Mannes vor ihr vernahm, der sich hinter den Verkaufsthresen geschummelt hatte, legte Audra ihren hellwachen Blick aus dem Grau ihrer Augen, die in dem matten Licht im Raum eine stählerne Härte aufwiesen, auf Gabriel Hargreaves. Miss Dayton... beinahe unverkennbar zuckten der Inspektorin Mundwinkel empor und sie sah mit erhobenen Augenbrauen auf ihren kleinen Block hinab, auf dessen oberen Rand sie den Namen des Herren, welchen sie nun die nächsten paar Minuten befragen würde in Blockbuchstaben, hinschrieb. "Inspektor Dayton ist angemessen, vielen Dank...", meinte die Braunhaarige dann nur mit einem leichten Schmunzeln in der Stimme, ehe sie ihre unaufgeregten Augen wieder auf den Weißhaarigen vor ihr richtete. "Der Tee wird nicht nötig sein... ich werde mich auch ganz kurz halten, Mister Hargreaves und Sie versuchen mir bitte einfach so faktgenau wie möglich meine Fragen zu beantworten...", kurz suchte die junge Frau noch den Blick des Weißhaarigen und verbohrte den ihren beinahe in dem seinen. Es war der Inspektorin durchaus wichtig, dass sie respektiert wurde. Ihrer Erfahrung nach, war es bei kurzweiligen Verhören im Grunde das beste, wenn man den Informationsfluss kurz und knackig hielt. Zu viele Wörter und Wendungen würden alle Beteiligten nur verwirren und Fakten ans Tageslicht holen, die im Grunde für die Geschichte keinerlei Relevanz hatten. Und das war das letzte was Audra wollte... sich mit Unwichtigem die Zeit um die Ohren schlagen.

      Somit kam ein kleines, beinahe künstlerisches Räuspern aus ihrer Kehle, ehe sie begann, den Ladenbesitzer vor ihr, zur Nacht des Todes von Mr. Kensington zu befragen. "Am Abend... wo Mister Thomas Kensington tot im Innenhof seines Zuhauses gefunden wurde, waren sie laut einer Zeugin anwesend... ich würde von Ihnen gerne wissen, in welcher Beziehung Sie zu den Kensingtons standen und ob Sie zuletzt für den verschiedenen Herrn Kensington auch Aufträge erledigt haben. Laut meines Wissen war der Verstorbene einer der besten, wenn nicht DER beste Schmied in ganz London. Um welche Aufträge handelt es sich hierbei und waren Sie auch außerhalb der geschäftlichen Beziehungen irgendwie in das Leben der Kensingtons involviert?", keine Spur der Unprofessionalität war in der bescheiden ruhigen Stimme der jungen Dame zu hören, während sie gekonnt geschmeidig auf den weißhaarigen Herren vor ihr einredete. Natürlich bedurfte es auch von ihrer Seite ein wenig der Vorbereitung, aber war Audra gut in ihrem Job und wusste, wo sie die Hebel ansetzten musste, um aus ihren Zeugen die Antworten rauszukitzeln, die Informationen oder Geheimnisse zu erfahren, die sie für eine gute Dedektivarbeit brauchte. Immerhin verlies sich gesamt Scotland Yard auf sie, in diesem doch sehr mysteriösen Fall Klarheit zu bringen und herauszufinden, was Thomas Kensington das junge Leben gekostet hatte.


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    • Gabriel zückte eine blütenweiße Porzellantasse unter dem Tresen hervor, die in seinen großen aber eleganten Händen lächerlich winzig aussah.
      Er musterte Audra Dayton aus dem Augenwinkel ohne sie wirklich dabei direkt anzusehen. Seine kleine Provokation hatte sie mit bemerkenswerter Professionalität hingenommen, obwohl er der entschlossenen Frau eigentlich etwas mehr Temperament angedacht hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde studierte er ihre ernste Mimik. Den Ehrgeiz, der in den aufmerksamen Augen lag und sie irgendwann zerfressen würde. Gabriel kannte diesen Blick. Weshalb er nun das tat, was jeder unbescholtene Bürger in ganze London, der das beklemmende Gefühl bekam unter Verdacht zu stehen und mit Scottland Yard konfrontiert war, an seiner Stelle tun würde. Er schmälerte das vorhandene Lächeln auf seinen Lippen und ließ zu, dass sich bei ihren Fragen ein milder Ausdruck von Besorgnis in seinem Gesicht spiegelte. Zwischen seinen Augenbrauen zeichnete sich die ersten Schatten dezenter Falten ab. Er hielt seine Stimme ruhig, als versuchte er diese Sorge – die er überhaupt nicht spürte – zu überspielen.
      „Wie ich bemerke, haben Sie ihre Hausaufgaben gemacht, Inspektor. Meinen ehrlichsten Respekt vor ihrer Gründlichkeit. Ja, ich war an diesem Abend in der Nähe des Wohnsitzes der Familie Kensington, um mich nach dem Fortschritt einer Auftragsarbeit zu erkundigen. An diesem Punkt muss ich Sie auch korrigieren, Inspektor. Ich habe nicht für Mr. Kensington gearbeitet. Er hat für mich Aufträge erledigt. Zwar bezieht sich mein Fachgebiet auf historische Schriftstücke und außergewöhnliche Studien, aber hin und wieder finden auch alte Schmuckstücke anderer Art den Weg in meine Hände. Mr. Kensington hat eine Sammlung antiker Ritualdolche für mich restauriert. Sie sind vor ein paar Monaten aus einem Schiffswrack geborgen worden, das aus bisher unbekannten Gründen vor der Küste sank, und wurden von einem sehr geschätzten Kunden vor wenigen Wochen vertrauensvoll in meine Verantwortung übergeben. Das Salzwasser hatte bereits erhebliche Schäden angerichtet, aber der Ruf von Mr. Kensington hat mich zuversichtlich gestimmt.“
      Tatsächlich entsprach die Aussage der Wahrheit.
      Die Ritualdolche existierten und bei weiteren Erimittunlgen würden diese auch in der kleinen Wekrstatt des Verstorbenen auftauchen. Es gab sorgfältig und rechtens ausgestellte Nachweise über die Lohnzahlungen an Mr. Kensingten. Gabriel hatte ihn für diese Arbeit ausgewählt. Aber eben nicht nur aufgrund seines Talents als Schmied.
      Mr. Kensington war krank gewesen. Schwer krank und hatte hatte es vor seiner Familie verheimlicht oder vielleicht wusste er es nicht einmal selbst. Wenn Scottland Yard und dessen Leichenärzte wirklich gründlich arbeiteten, wüssten sie von dem Aneurysma, dass ursächlich für das ganze Dilemma gewesen war. Gabriel hatte es gespürt, den nahenden Tod, bevor die Blutgefäße überhaupt geplatzt waren. Mr. Kensignton hatte sich mit voranschreiten seines Zustandes immer wieder während seiner Anwesenheit über Kopfschmerzen beklagt. Gabriel hatte nur warten müssen. Faktisch war der Mann bereits tot gewesen, als er seine Familie terrorisierte und auf den Straßen randalierte.
      Er drehte sich kurz als der Teekessel in der kleinen Nische hinter dem Tresen ein schrilles Pfeifen von sich gab. Als der Lärm verstummte, sprach er weiter.
      „Darüber hinauf pflegte ich keinen engeren Kontakt mit der Familie. Die Beziehung zwischen Mr. Kensington und mir war rein geschäftlicher und nicht freundschaftlicher Natur. Ich werde mir wohl oder übel einen neuen Geschäftspartner suchen müssen.“
      Eine Pause entstand, die den natürlichen und beinahe geschäftigen Redefluss unterbrach. Keinerlei Bewegung herrschte auf dem Gesicht des Blonden bis sich seine Mundwinkel träge weiter absenkten. Er wirkte ehrlich betroffen und sah Audra dieses Mal unvermittelt in die Augen, damit sie das Mitgefühl auch nicht übersah.
      „Natürlich ist es sehr bedauerlich für die Familie. Mrs. Kensington und die armen Kinder müssen davon völlig traumatisiert sein.“, schob er hinterher.
      Mit ruhigen Händen, trotz des kleinen Verhörs und einer aufmerksamen Ermittlerin, goss er etwas von dem dampfenden Tee in die Tasse. Eine orientalische Duftnote erfüllte den Verkaufsraum, der nicht zu den klassischen, herben Teevorlieben der feinen, englischen Oberschicht passte.
      „Sicher, dass ich Ihnen keinen Tee anbieten kann?“, fragte Gabriel mit einer weichen beinahe versöhnlichen Nuance in der Stimme. Er senkte seine Tonlage etwas ab und zauberte damit eine neue Rauheit in seine Silben. Es war eine Stimmlage die bei so manch junge Dame ein nervöses Kichern ausgelöst hätte. „Diese Mischung wurde mir von einem guten Freund aus den Kolonien in Indien geschenkt. Etwas Vergleichbares werden Sie in ganze London nicht finden.“
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ruhig betrachtete die Inspektorin ihr Verhöhrziel und prägte sich jegliche kleine Handlung die er vollführte ein. Die Art und Weiße wie er seinen Kopf drehte und wand, ob er die Tasse, welche Gabrieal Hargreaves wie von Zauberhand unter dem Tresen hervorholte, fest oder gar schludrig in die Hände nahm, welche von seinen Händen so also auch die stärkere wäre... wie er seinen Torso bewegte. Waren die Bewegungen abgehakt oder doch eher in einem geschmeidigen Lauf zu sehen... wie veränderte sich seine Mimik, während er der festen Stimme der jungen Frau zuhörte und was aus diesen Regungen war aufschlussreich für die Inspektorin. Es gab eine Menge, was Audra nur anhand dieser wenigen Sekunden seines Handelns aus dem Weißhaarigen lesen konnte, gab sich aber stets bedeckt und sah dem Antiquar in gewohnt ernster Manier entgegen. Auch als der Seitenhieb seinerseits kam, welcher wohl in keinster Weise kränkend wirkend sollte, verzog Audra keine Miene und doch fühlte die Inspektorin sich im ersten Moment ein klein wenig an den Pranger gestellt... fast schon so, als hätte der jung wirkende Herr ihr gegenüber damit gerechnet, dass diese Fragen auf ihn zukämen. Berechnend... beinahe unsichtbar zuckte die rechte Augenbraue Audras empor, die ihren Kopf nun leicht schräg bettete, während ihr Gehör auf die Aussage des Herren wartete und diese dann auch in ausführlicher Weise bekam. Schon bevor er zu sprechen begann, hatte die Inspektorin von Scotland Yard ihren Stift gezückt und begann nebenbei die für sie wichtigten Punkte herauszuschreiben und sie in gehabt krakeliger Schönschrift auf dem beige des Blockes niederzuschreiben. Nur Bruchteile von Sekunden glitt das Grau ihrer Augen auf das feste Papier hinab, immerhin wollte Audra kaum Information über Information schreiben, nur um im Endeffekt dann von all dem Erfahrenen hier gar nichts mehr zu haben und Haareraufend über ihren eigenen Notizen zu sitzen, weil sie sich einmal nicht an ihre Regel der Geradlinigkeit gehalten hatte.

      Es war jedoch äußerst überraschend und durchaus interessant zu hören, als Mister Hargreaves der Braunhaarigen eröffnete, das der Verstorbene für den Weißhaarigen gearbeitet hatte und Gabriel erklärte ihr in wenigen Sätzen auch warum. Sogar die beiläufige Geschichte einer unvermuteten Schatzbergung webte sich in die Aussage des Herren vor ihr, was Audra einen Moment zögern ließ. Ihr stetes Kratzen auf dem Papier verstummte, doch entschied sie diese Information als Randnotiz in die Beweislage aufzunehmen und führte mit einem galanten Strich ans Seitenende, die Ritualdolche als "möglicherweise wichtig" an. Ein nachdenklicher Schatten breitete sich dann auf der Inspektorin Gesicht aus. Jenes Antlitz, dass sich sonst in ebener Glätte spiegelte und sämtlichen Gefühlsregungen keine Chance gab, erschien mit einmal gedankenverloren, fast so, als wäre ihr der Faden, welcher zur Zündung führte, entglitten und in der endlosen Entropie ihres Kopfes verschwunden. Gabriel entschied sich dann dazu, die Beziehung zur Familie Kensington etwas näher zu beleuchten und versicherte der Dame somit beinahe, dass er neben den geschätlichen Machenschaften keinerlei Habe mit der gebeutelten Familie hatte. Nun hob sich Audras Blick wieder ein wenig an und sie sah dem stattlich gekleideten, jungen Herren auf die Kehle, die sich beim sprechen ein wenig hob und senkte. In Schritten hob die Braunhaarige dann ihr Augenmerk wieder in das Antlitz des Weißhaarigen empor, sah zuerst auf sein Kinn, stoppte dann an seinem Mund, seiner Nase und schlussendlich in seinen Augen. Die Betroffenheit die sich in seiner Stimme wiederspiegeln sollte, stimmte nur für den Bruchteil eines Moments nicht mit der Klangfarbe jener überein, obwohl seine Mimik eine andere Sprache sprach, was Audra stutzig werden ließ... wohl wahr, es ging dem Antiquariat wahrscheinlich wirklich einfach um sein Geld. Warum sich über einen Mann den Kopf zerbrechen, der im Grunde nur Mittel zum Zweck war und sonst keinerlei Bedarf für das persönliche Weiterkommen hatte? Sie standen wohl in keiner engeren Beziehung.

      Audra lockerte nun aber ihre Haltung ein wenig. Zu verkrampft hatten sich ihre Finger zuletzt um den Stift gelegt. Schweigend beobachtete sie den Herren vor ihr, wie er sich den dampfenden Tee einschenkte und ja, die Inspektorin würde lügen, wenn ihr das durchaus exzellente Aroma nicht auch aufgefallen wäre, wenn sie das versöhnliche Säuseln des Herren ihr gegenüber nicht vernommen hätte - erneut drang die verzückte Miss Bell in ihre Gedanken - dennoch... "... nein, vielen Dank. Hätte ich die Gesellschaft eines netten Plausches bei einem Teekränzchen gesucht, wäre ich doch zu meiner Großmutter gefahren.", so reckte sich der jungen Frau Kinn ein wenig empor und ein Glitzern unbestimmter Art von Erhabenheit legte sich in das Grau ihres Blickes. Ruhig atmtete die Inspektorin einmal durch. "Was können sie mir über den Zeitpunkt erzählen, wo sie Mr. Kensington im Hof angetroffen hatten? War er bereits verschieden oder haben sie ihn noch in seinem randalierenden Zustand erlebt? Wie wirkte der Verschiedene auf Sie? War neben dieser offensichtlichen Raserei seinerseits noch etwas ungewöhnlich an ihm? Wie war er im Kontakt zu Ihnen? Freundlich, aufgeschlossen, fair?", der schiefgelegte Kopf der jungen Frau begradigte sich wieder, ihr Körper verlagerte ihr Gewicht von links nach rechts, was nun auch das Profil der jungen Frau änderte. Härte und Kantigkeit lag in ihren Zügen, aber erkannte man hinter der festgemauerten Fassade an Strenge und Professionalität weichgezeichnete Augen, den Hauch von Sanftheit in ihren erstarrten Mundwinkeln und scheue Freundlichkeit auf der Zunge.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.
    • Jeglicher Versuch Audra Dayton mit der perfekten Imitation von Charme von ihren Ermittlungen abzulenken, prallte an der jungen Inspektorin ab. Mit einer Schlagfertigkeit, die vollkommen natürlich und nicht übertrieben aufgesetzt wirkte, schlug sie seine Versuche in den Wind und den angebotenen Tee aus. Ihr Schneid hätte Gabriel beeindrucken können, aber es gab nicht mehr viel, dass überhaupt irgendeine Gefühlsregung in dem Mann auslöste. Ihm blieben nur die Erinnerungen daran, wie sich gewisse Dinge anzufühlen hatten. Deshalb lehnte er sich auch jetzt ein Stückchen vom Tresen zurück und bedachte Audra mit einem milden Ausdruck der stillen Anerkennung. Nicht viele junge Frauen besaßen eine derart scharfe Zunge und dazu den Mut, sie auch zu benutzen. Es war…erfrischend. Zumindest sollte es das sein, erinnerte sich Gabriel.
      Am Ende seiner Aussage hatte er einen Hauch von Enttäuschung in ihren Augen gesehen. Sie hatte sich wohl mehr von ihm erhofft, was diesen brisanten und seltsamen Fall anging. Deshalb war sie aber noch lange nicht am Ende ihrer Befragung angekommen. Ein zweites Mal prasselte eine Verkettung von Fragen auf Gabriel ein, der beiläufig und zweifellos unbeeindruckt, an der indischen Teemischung nippte. So wie ihn noch wenig beeindruckte, löste auch kaum etwas noch Freude in ihm aus. Doch der Spross der Hargreaves-Familie mochte sich einbilden beim süßlichen und vollmundigen Duft des Tees einen schwachen Funken davon zu spüren. Das kurze Aufflackern war kaum der Rede wert und bereits verschwunden, als er die Tasse mit einem leisen ‚Klick‘ des feinen Porzellans auf dem Tresen abstellte.
      „Mr. Kensington hat auf mich einen sehr ausgeglichenen Eindruck gemacht. Während unserer kurzen Geschäftsbeziehung war er immer äußerst professionell und zuverlässig. Weshalb ich auch bereit war ein kleines Vermögen für seine Dienste zu bezahlen. Er sprach immer liebevoll von seiner Familie und vor allem von seinen bezaubernden Kindern. Ich kann mir nicht vorstellen, was diesen Mann dazu trieb, seine Familie anzugreifen. Aber er beklagte sich regelmäßig über starke Kopfschmerzen. Ich entsinne mich an ein Fläschchen Laudanum, das er bei sich trug. Er versicherte mir, dass es seine Arbeit nicht beeinträchtigte und er nur ein wenig davon nahm um die Kopfschmerzen zu mildern.“
      Gabriel verließ seinen bisherigen Platz hinter dem Tresen und schlenderte entspannt auf eines der Bücherregale zu. Hervor zog er ein Nachschlagewerk für Medizinstudenten. Es war kostbares und seltenes Exemplar in einem edlen Ledereinband, das sich nur wenige der Studenten an den Universitäten in London leisten konnten.
      „Kopfschmerzen erscheinen zumeist harmlos, aber bohrt man ein wenig tiefer, könnte dahinter ein ernsthaftes Problem stecken“, fuhr er ungerührt fort und blätterte durch das Verzeichnis.
      Über die Schulter hinweg warf er einen Blick zurück zu Audra, die jeden seiner Schritte mit Argusaugen verfolgte
      „Ihr geschätzter Kollege und Leichenarzt wird das sicherlich schon überprüft haben.“
      Ein beinahe provokantes Grinsen zuckte um seine Mundwinkel, das jedoch nicht seine Augen erreichte. Bei Scotland Yard steckten genügend Stümper in Uniformen und zu viele Metzger in den weißen Kitteln eines Mediziners. Gabriel wusste das, weshalb es bisher erschreckend leicht gewesen war, sich die Behörden vom Hals zu halten.
      „Bedauerlicherweise muss sich Sie ein weiteres Mal enttäuschen, Inspektor. Der gute Mr. Kensington war bereits tot, als ich eintraf um mich nach dem Fortschritt meines Auftrages zu erkundigen. Zumindest nehme ich an, dass er bereits nicht mehr unter den Lebenden wandelte. Er lag regungslos auf der Straße umringt von Schaulustigen. Ich gebe zu, dass ich mich von einer gewissen makabren Neugier nicht vollkommen freisprechen kann…“
      Gabriel schlug die Augen nieder, als fühlte er einen Anflug von Scham darüber und fixierte die Zeilen des aufgeschlagenen Buches.
      „Gibt es sonst noch etwas, dass ich für Sie tun kann, Inspektor? Es ist nicht so, dass ich Ihre charmante Gesellschaft nicht genieße, aber ich erwarte in Kürze einen Klienten, dem ich möglichst schonend beibringen muss, dass das Ergebnis seiner Investition sich noch etwas verzögern wird.“
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Eilig, ja beinahe getrieben, rutschte der Stift der Inspektorin wieder über das Papier, als Gabriel vor ihr wieder zu sprechen begann. Die junge Frau konnte es ihm nicht absprechen, doch verschlug es seine Stimme doch in ein wortgewandtes, der Singkünste schon sehr nahekommendes Geschnurre, wie ein Kätzchen, das auf sein Leckerli wartete. Die Augen ihrerseits kehrtwendend von ihrem Block auf den Weißhaarigen vor ihr legend, das Grau welches aus jenem stach mit frigidem Eifer schmückend, zuckten Audras Ohren beinahe empor, als der junge Mann hinter dem Tresen ihr Information um Information zukommen lassen konnte. Es war eine sichtliche Wohltat, endlich mit jemanden zu sprechen, der, obwohl er doch ein wenig ZU sicher mit den Worten um sich warf, wusste von er was er sprach. So empfand es zumindest die braunhaarige Inspektorin, die nach vier halbwegs unbrauchbaren Zeugenaussagen, nach Mister Hargreaves, welcher ihr die Neuigkeiten des Tattages auf dem Silbertablett servierte, noch zwei Personen auf der Liste hatte, welche sich ähnlich den ersten eher... In Mühsal wanden. Beiläufig entkam Audra Dayton dann ein unterbewusstes Seufzen und doch wurde sie hellhörig, als der Herr einen Umstand ansprach, welcher tatsächlich erst kürzlich in dokumentarischer Form ihr Büro erreicht hatte. Die Kopfschmerzen... Audra stoppte einen Moment und legte ihr Haupt, welches bis zum Hals hoch zugeknöpft war von ihrer eher streng wirkenden Uniform, in den Nacken, nur um den Blick ein wenig zu verengen und das Grau, welches sich hinter den schmalen Lidern versteckte, wie eine prophetische Weißsagung, scheu aber doch stark, hervor glitzern zu lassen.

      Was genau der weißhaarige Herr mit dieser Posse bezwecken wollte, blieb Audra fern im Geiste. Verwirrt zwinkerte sie dem jungen Mann entgegen und ließ nun doch, professionell angetan davon, dass sich Gabriel Hargreaves möglicherweise doch besser als zugegeben in der Materie vergraben hatte, ihre Züge etwas entgleiten und hob die Augenbrauen überrascht empor. Jedoch schwieg die Dame, mit dem von nussbraun gesegneten Haar und sah unbeeindruckt auf ihre Notizen hinab, welche sich kreuz und quer über den Block schummelten. Verärgert schob Audra ihren Lippen zusammen und biss sich vorwurfsvoll auf die Unterlippe. In Gedanken wünschte sich die junge Frau jetzt schon viel Spaß beim Entziffern ihrer eigenen Sauklaue. Es war ihr schon fast entfallen, das Gespräch zwischen ihr und dem Zeugen, welcher zuletzt so offen über die sichtliche Erkrankung des Herren Kensington gesprochen hatten, denn erst als Gabriel mit einem Grinsen, dass vor Süffisanz nur so triefte, wohl versuchen die junge Frau somit aus der Reserve zu locken, im Unterton seiner Stimme Scotland Yard Schlamperei unterstellte, hob sich der Blick der Inspektorin wieder empor und sie nagelte den jungen Mann, der gerade etwas an Sympathie gewonnen hatte, mit einem stechenden Blick an eine unsichtbare Wand. Ruhig, Audra, ruhig... ein leises Schnauben war von Seiten der Dame zu hören, die hier und jetzt nicht den Ermittlungserfolg ihrerseits offenlegen durfte. Immerhin war er kein Angehöriger und das Ableben des Opfers, war und blieb Sache der Kensingtons. Und doch rang sich die Inspektorin zu einer kleinen, wohlbehüteten Antwort durch. "Da ich Ihnen keine Informationen ermittlungstechnischen Ursprungs nennen darf, können Sie gerne weiterhin bei einer schönen Tasse Tee darüber sinnieren, was oder was auch nicht dem Verstorbenen gefehlt hat.", im Sekundenbruchteil schob sich ein Lächeln auf die Lippen der Braunhaarigen, die, in Stille fasziniert von der Spitzzüngigkeit des jungen Mannes, wieder in Schweigen verfiel, der Ansprache seinerseits lauschen.

      Dann rang sich Audra Dayton doch ganz offen zu einem tiefen Seufzen durch und zwinkerte dem Herren einige Male entgegen, als er ihr dann ganz offen und ehrlich erklärte, den Verschiedenen schon tot aufgefunden zu haben, wie der Rest der damals Anwesenden. Ein Schnalzen ihrer Zunge ertönte und die Inspektorin verstaute nun, wohl oder übel mit dem gehen zu müssen, was sie erfahren hatte, den Block in der Innenseite ihres Mantels, ehe sie sich in edler Manier die vorgefallenen Haarsträhnen hinter die Ohren strich. "Oh, nein. Das wäre es dann auch gewesen. Sie haben mir sehr geholfen. Ich danke Ihnen, Mister Hargreaves. Ich finde allein raus.", nun schob sich doch ein ernstgemeintes Lächeln auf die Lippen der jungen Frau, die sich herumkehrte, bereit, das Gebäude zu verlassen. "Möglicherweise komme ich nochmals auf Sie zurück... wir wollen ja... keine Fehler machen.", vor der Tür stoppte die Inspektorin dann und warf dem Herren einen ausdrucksstarken Blick zu. Man sollte sich wohl nicht mit ihr anlegen, immerhin war sie der Hai im Meer voller kleiner Fische. Die Hand bereits an der Türschnalle, erinnerte sie sich an die knappen Worte des Herren, die er zwar beiläufig erwähnt hatte, doch eine laute Tiefe in sich trugen. "Der Tod ist doch etwas, dass uns alle in gewisser Weise fasziniert, nicht wahr?", somit nickte sie Gabriel zum Abschied entgegen, drückte die Tür auf und war mit dem bekannten Klingeln dieser in der Helligkeit des Tages verschwunden.


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    • Er sah der Inspektorin nach.
      'Der Tod ist etwas, dass uns allein gewisser Weise fasziniert.'
      Oh, Miss Dayton, sie haben nicht die geringste Ahnung wie sehr, dachte Gabriel Hargreaves, der wenige Sekunden zuvor einen wunden Punkt getroffen haben musste. Wieder einmal bestätigte ihm ihr Verhalten, mit wie viel Stolz sie ihre Marke trug. Er würde Audra Dayton nicht zum letzten Mal gesehen haben. Das Misstrauen, dass sie ihm entgegen brachte, hätte selbst ein Blinder bemerkt. Die Frau war äußerst aufmerksam, intelligent und besaß ein gutes Gespür für die Menschen in ihrer Nähe. Etwas regte sich in seinem Brustkorb und ehe es sich Gabriel versah, rumpelte es leise in seiner Brust. Es war sehr, sehr lange her, dass ihn etwas wirklich amüsiert hatte und auch jetzt spürte er nur das jämmerliche Echo eines Gefühl, dass anderen vor Lachen die Tränen in die Augen treiben konnte.
      "Sie ist klüger, als gut für sie ist...", erklang eine Stimme aus dem hinteren Teil des Geschäftes.
      Aus dem Hinterzimmer, dass Gabriel als Büro für seine täglichen Geschäfte diente, trat ein hochgewachsener Mann mit stahlblauen Augen, einer geraden und noblen Nase, das markante Kinn erhoben und mit einem sehr ernsten Gesichtsausdruck. Das dunkle Haar war säuberlich nach hinten gekämmt und mit dem ersten grauen Strähnen durchzogen. Er trug, wie Gabriel selbst, einen makellosen und kostspieligen Anzug und trug dieselbe regungslose Miene zur Schau. Ohne die Inspektorin im Raum schien auch der letzten Funken Menschlichkeit im Gesicht des Antiquars verschwunden zu sein.
      Gabriel würdigte den Mann keines Blickes.
      "Überlass sie mir, Onkel", antwortete er völlig tonlos.
      "Wenn Sie..."
      "Wird sie nicht und gemäß dem Fall, wenn doch...Niemand wird ihr glauben. Das tun sie nie."

      _____________________________________________________

      In einem winzigen Hinterzimmer von Scotland Yard beugte sich Horace Wright mit einer Lupe über zwei ominöse Gegenstände in einer kleinen und gepolsterten Holzkiste, von denen zumindest eines silbrig im Schein seiner Schreibtischlampe schimmerte. Horace war ein recht kauziger Zeitgenosse mit verstrubbelten und bereits ergrautem Haarschopf, auf dessen buckeligen Nasenrücken eine große Hornbrille saß. Die einst eleganten Händen hielten die Lupe mit zittrigen Fingern, die bereits die ersten Zeichen des Alters und somit des nahenden Ruhestands ankündigten. Der etwas zu kurz geratene und eher rundliche Horace, murmelte Unverständliches vor sich hin, ehe er die Lupe bei Seite legte und eifrig durch ein Buch neben der Kiste blätterte. Die gerunzelte Stirn und der missbilligende Zug um seinen schmallippigen Mund verrieten, dass er nicht fand, wonach er gesucht hatte. Erst die rhythmischen Schritte von Absatzschuhen, die er bereits kannte wie seine Westentasche, lenkten Horace von seiner Arbeit ab.
      „Audra, Liebes!“, begrüßte er die junge Frau, die stets einen viel zu ersten Gesichtsausdruck trug. Horace kicherte leise. „Verzeihung, ich meine natürlich: Inspektor Dayton.“
      Mit einer wedelnden Handbewegung, die von Ungeduld sprach, winkte er Audra zu sich herüber. Vor ihm in der Box befanden sich zwei Dolche. Einer davon befand sich in einem wirklich bemitleidenswerten Zustand, denn das Metall war von Salz angelaufen und zerfressen. Selbst ein Anfänger würde die Salzkrusten auf Griff und Klinge identifizieren können. Der zweite Dolch war absolut makellos und die Klinge zur Perfektion poliert, so dass sich Horace und Audra darin spiegeln konnten.
      „Komm, komm…Es hat zwar nicht direkt mit deinem Mord zu tun - wir konnte sie bereits als eine Tatwaffe ausschließen - aber sieh Dir das hier mal an! Diese Prachtstücke haben wir in Mr. Kensingtons Schmiede gefunden. Eine Schande, dass er seine Arbeit nicht vollenden konnte. Etwas Vergleichbares ist mir während meiner gesamten Karriere bei Scotland Yard noch nicht unter die Augen gekommen. Die Klingen sind nicht nur aus blankem Stahl gefertigt, dafür ist das Metall zu weich. Ich vermute, dass aus irgendwelchen Gründen zu einem Bruchteil Silber darin eingebettet ist. Für den Gebrauch im Kampf wären sie natürlich völlig nutzlos, aber ich glaube auch nicht, dass sie ursprünglich dafür angefertigt wurden.“
      Horace scheuchte Audra ein wenig zur Seite, um den polierten und bereits fertig restaurierten Dolch aus der Box zu nehmen. Er reichte der Frau die Lupe und hielt die silbrige Klinge ins Licht.
      „Am Rücken der Klinge habe ich eine Inschrift entdeckt.“
      Tatsächlich befanden sich filigrane und beinahe winzige Einkerbungen im glänzenden Metall wieder. Nur war es keine gewöhnlichen Buchstaben, noch irgendeine Schriftform, die Horace auf Anhieb bekannt vorkam.

      Auf die Frage, was die fremdartigen Zeichen bedeuteten, schüttelte Horace den Kopf.
      „Ich habe nicht die geringste Ahnung“, gab der Mann zu und zog das Buch zu sich. „Für primitive Keilschrift sind die Dolche eindeutig zu jung. Allerdings habe ich einen Eintrag gefunden, der uns eventuell eine wichtige Information gibt. Die Art der Dolche und Herstellung deuten auf die Blütezeit der Druidenzirkel hin. Das, meine liebe Audra, sind alte Ritualdolche. Für die Inschrift wurde möglicherweise das Ogham verwendet, die Schrift der Druiden und auch Barden aus alter Zeit als die Menschen noch an Götter und Schicksal glaubten.“
      Den letzten Teil seiner Ausführung trug er mit geschwellter Brust und gestelztem Tonfall vor.
      Horace glaubte weder an das eine, noch an das andere.
      „Aber mir fehlt eine entsprechende Übersetzung der einzelnen Symbole. Aufzeichnungen darüber müssten bereits so alt sein, dass sie beim bloßen Anblick zu Staub zerfallen. Es ist wirklich bedauerlich. Sie müssen ein Vermögen wert sein. Leider konnten wir keine Papiere dazu finden. Wir wissen also noch nicht wem sie gehören.“
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    • Eilig waren ihre Schritte, die sie aus dem Morast von Londons Elendsviertel forttrugen. Eilig? Wohl eher erzürnt stapfte die Inspektorin von Dannen, das Geschäft dieses... dieses... Audra biss verbittert die Zähne zusammen, beinahe in solch Härte, dass es ihr schmerzte. In ihrem Kopf rotierten die Gedanken rund um den Weißhaarigen, dessen präpotentes Grinsen immer und immer wieder in ihrem inneren Auge aufleuchtete und der jungen Frau mit Schadenfreude entgegenstrahlte. "... verdammt noch mal...", kam es der Braunhaarigen über die Lippen, die sie zuvor noch so in Ärgernis zusammengepresst hatte. Er wusste von irgendetwas... oder er hatte sich selbst, wie sie eben auch, auf die Lauer gelegt. Abwartend, zusehend, wie sich die Inspektorin im Rampenlicht seiner Überlegenheit wand. Wie ein Tier, eingezwickt in einer Falle, unfähig nach vor oder zurück zu gehen... dem Sterben überlassend. Was war es, dass dieser Herr an sich trug, dass die sonst so sichere Dame aus dem Konzept geworfen hatte? Die Redegewandtheit? Der Umstand, dass Gabriel Hargreaves sich in keinster Weise auch nur irgendwie verdächtig verhalten hatte? Vielleicht sogar zu korrekt? Audra schnaubte verwirrt und schlug, die geweiteten Augen auf das kleine Notizbüchlein gerichtet, den Weg zu Scotland Yard ein. Sie musste unbedingt das ein oder andere Faktum überprüfen lassen. Und auch, wenn sich die Inspektorin mit den neuen Entwicklungen und Indizien lieber in ihrem eigenen Büro in Uptown niedergelassen hätte, sollte sie ihre mehr oder weniger ernstzunehmenden Vorgesetzten über die Entwicklungen im Fall Kensington informieren.

      Erstmal im Hauptquartier angekommen, wies sich die Inspektorin aus und wurde dann erst durchgelassen. Ein jedes Mal wieder diese zeitraubende Tortur. Jeder hier kannte sie, wusste wer sie war, da empfand die junge Frau aus doch als äußerst überflüssig, ihre Identität zu überprüfen. Gerade weil sie der Empfangsdame hier ab und an einen Bagel aus der nahegelegenen Bäckerei mitbrachte... und doch keine Sonderbehandlung, denn... "Gesetz ist Gesetz, Miss Dayton.", äffte sie die Vertretung jener Dame mit übertüncht hoher Stimme nach, die sie so herablassend mit ihren hochtoupierten Haaren angesehen hatte. Verschmiert war ihr knallroter Lippenstift gewesen und auch die Augen der älteren Dame, die sich Maggy schimpfte, trieften nur so von Tränensäcken. Von den tiefen Falten in dem quadratischen Gesicht mal ganz zu schweigen... Den Kommentar, das Rauchen und Trinken doch einfach bleiben zu lassen, verkniff sich die Inspektorin. Sie wollte ja keinen Ärger, sie war korrekt. So geladen aber, stapfte die junge Frau weiter, wollte zuerst ins forensisch-analytische Abteil im Keller. Doctor John Melwick, ein junger Kollege aus Bristol, hatte die Dienste vom ehebaldigst in Pension gehenden Doctor Charles Hemsted übernommen, flankierte ihre Chefs sogar um eine Versetzung hierher, da er wohl der beste auf seinem Gebiet war. Und Audra freute sich darauf, ein wenig frischen Wind, andere Gesichter zu sehen. Immerhin war die Belegschaft ein altes, eingeschweißtes Team und ließ nur Erlauchte in den Kreise von Scotland Yard eintreten. John hatte so wie es schien also auch die gerichtsmedizinische Untersuchung vorgenommen und für Audra den abschließenden Bericht erstellt. Sofern der verstorbene Mister Kensington dann freigegeben wurde, konnte sich die Witwe Kensington auch um die Beerdigung kümmern.

      Unwissentlich den längeren Weg einschlagend, weil der Dame Gedanken sich nach wie vor um das Thema Gabriel Hargreaves und Maggy vom Empfang drehten, bemerkte die verbohrte Inspektorin nicht, dass sie in die Archive gewandert war. Und doch waren es die hellhörigen Ohren jemand anderes, der die Braunhaarige näherkommen hörte. Sie erschrak dann zugegebenermaßen, als sie die aufgeregte Stimme von Horace vernahm, der in seinem kleinen Kämmerlein wohl eben etwas äußerst interessantes zu bearbeiten schien. Somit wank er sie auch näher, was Audra zwar für einen Moment stutzig werden lies, aber siegte bei der neugierigen Inspektorin dann doch die Lust des Entdeckens. So also stellte sie sich hinter Horace und erkannte zwei Dolche, wobei der eine davon ihr wie neu aus der Schatulle entgegenglänzte und der andere nach wie vor, seine abgestumpfte, unbearbeitete Version seiner selbst war. Eine Erkenntnis, die einschlug wie ein Blitz, durchquerte den Kopf der Braunhaarigen und sie fischte ihr Notizbüchlein hervor. Beinahe zu schnell waren ihre Finger in die Innenseite ihres Mantels gewandert, wollten zu schnell das kleine Ding aus Papier und Karton hervorziehen, da ihr das Büchlein entfleuchte und Audra sich dran halten musste, es in diesem springenden Flug zwischen ihren Händen wieder einzufangen. Als ihr Blick dann aber wieder auf den Klingen lag, erklang die aufgeregte Stimme von Horace, welcher die metallenen Schmiedestücke anpries wie Honig und Ambrosia. Er drückte ihr dann auch ohne großes Herumgetue eine Lupe in die Hand und verlange förmlich von ihr, sich doch die Inschrift auf dem aufpolierten anzusehen.

      Kurz lag ihr verstörter Blick - ja, der alte Kauz konnte ganz schön lebendig und flattrig werden, sollte es sich um Dinge handeln, die in seinen Augen absolut unerklärlich waren - auf Horace und doch, nach einem tiefen durchatmen, beugte sich die Inspektorin langsam hinab, kniff das linke Auge zusammen und fixierte mit dem rechten, die Inschrift, welche von dem Grauhaarigen so pompös angepriesen wurde. Generell alles an den Dolchen, die auch zuvor von Mr. Hargreaves erwähnt wurden, war für Horace wohl zum anbeten. Audra aber verzog keine Miene. Durchaus war es seltsam, diese Zeichen, die wohl oder übel etwas bedeuten würden. Wichtig war für die junge Frau aber vorerst auch der Umstand, dass es sich bei den Messern nicht um die Tatwaffen handelte... was ihr John hoffentlich später auch bestätigen würde. Sie fühlte aber, wie sich die Stimmung im Raum schleichend geändert hatte. Die aufgeregte, brummende Stimme des Herren neben ihr verblasste allmählich in stumpfes Gebrabbel, ihr Blick selbst hatte sich starr auf den Dolchen festgesaugt. Zäh in ihrer Bewegung legte Audra dann die Lupe beiseite und murmelte nur ein leises "Ich darf doch...", ehe sie mit ihren zarten Fingern nach dem geschliffenen Exemplar griff und behutsam in ihre Hand nahm. Anfänglich passierte nichts und doch verspürte Audra nach wenigen Sekunden eine fremdartige, noch nie da gewesene... Angst? Ein Unwohlsein sondergleichen. Kälte, die sich von ihren Händen wie Flutwellen über ihre Arme empor ausbreitete und in Schauern über ihren Rücken hinabwanderte. Das Metall, welches naturgemäß eine schwere Härte aufweisen sollte, fühlte sich in ihrem Griff beinahe weich an, als würde es unter ihren Fingerspitzen verschwimmen. Audra sog tief Luft in ihre Lungen, erkannte das schnelle schlagen ihres Herzens und die kalten Schweißperlen, die sich so grundlos auf ihrer Stirn gebildet hatten. Die Sicht verschwamm ihr... was... passierte hier?

      ".. dra... hey, Audra... Audra!", drang es dann durch ihre mit wohl Watte gefüllten Ohren und Horace, der sonst eine fragile Leichtigkeit in seinem Gesicht trug, hatte der jungen Frau Oberarm gepackt und sah ihr mit vor Sorge glänzenden Augen, hinter der dicken Hornbrille entgegen. Bedacht nahm er der Inspektorin nun den Dolch aus den Händen, wogleich diese einen Schritt nach hinten machte. Die Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, einen Moment lang sah man Unsicherheit in diesem. "H-Horace... kannst du...", sie räusperte sich und nahm nun wieder ihre gewohnte, manierlich selbstsichere Haltung an. "Kannst du mir deine Erkenntnisse in einem kleinen Bericht zusammenkürzen und es an mein Büro schicken? Ich denke, diese... ich denke, sie werden noch wichtig für den Fall.", streng nickte die junge Frau dann und bedankte sich für das aufschlussreiche Gespräch. Für einen Moment lächelte sie dem Herren noch zu und verließ dann das Kämmerlein. Alsbald sie aber außer Sicht war, verschwand das zuvorkommende Gesicht und wich einer panischen Miene, während ihre Hand an ihre Stirn griff. Schnell hatte sie ihre Schritte nun gesetzt, sie musste noch zu John hinunter... aber... wo kam dieser Schwindel her? Stacksend verlangsamte Audra ihren Schritt und hielt sich mit der flachen Hand an der rau verputzten Wand fest. Hatte... hatte sie genug gegessen? Sie konnte sich nicht erinnern.


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    • Horace trat ein Stück zur Seite um Audra den nötigen Freiraum zu geben die seltenen Raritäten zu begutachten. Er verpasste den richtigen Moment seinem Tadel Ausdruck zu verleihen, da die junge Frau mit bloßen Fingern nach den Kostbarkeiten griff. Selbstverständlich hatte Horace die alten Ritualdolche ganz gewissenhaft nur mit einem dünnen Paar Handschuhe berührt. Angesichts der Faszination in den aufmerksamen Augen hatte er jedoch von der Rüge abgesehen. Es kam nicht oft vor, dass jemand seine Begeisterung teilte. Daher wollte er Audra keinesfalls ausbremsen. Stattdessen wartete er ungeduldig auf ihr Urteil. Er sah zu, wie ihre schlanken Finger langsam das Heft umfassten und wie ihre Fingerspitzen gar behutsam über das silbrige Metall der Klinge fuhren um die Einkerbungen der Inschrift zu erfühlen. Dabei passierte erstmal gar nichts außer, dass Audra furchtbar still wurde. Sie erstarrte regelrecht und was Horace zu Beginn mit schweigsamer Ehrfrucht verwechselte, weckte schon bald die Sorge in dem kauzigen Mann. Audra atmete scharf ein und zu seiner äußersten Verwunderung bildeten sich Schweißperlen auf ihrer gekräuselten Stirn. Sie würde doch wohl keinen Schwächeanfall erleiden? Wobei ihm beim Anblick der Schmuckstücke vor Euphorie auch ein wenig schwindelig zumute gewesen war.
      "Audra? Hey, Audra?", versuchte er es vorsichtig und schließlich ein wenig energischer. "Audra!"
      Dennoch fasste er behutsam nach ihrem Arm. Er trat an die Frau heran um im Notfall einschreiten zu können, falls ihr der Dolch aus der Hand glitt. Die Katastrophe ließ sich Gott sei Dank abwenden, als sie sich bereitwillig die Klinge aus den zitternden Fingern nehmen ließ. Horace bekam nicht die Gelegenheit nach ihrem Wohlbefinden zu fragen, da stammelte Audra bereits überraschend atemlos ihre Bitte.
      "Natürlich. Du hast den Bericht morgenfrüh direkt auf deinem Tisch."
      Er nickte tatkräftig, doch das feine und gezwungene Lächeln täuschte kaum über die Tatsache hinweg, dass etwas Audra zutiefst erschüttert hatte. Höflich verabschiedete er sie und legte den Dolch umsichtig, beinahe zärtlich als wäre er aus Glas, zurück in die Schatulle.
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      Regen war sicherlich kein ungewöhnliches Wetterphänomen in London und Gabriel hatte sich weiß Gott bereits an das schlechte Wetter gewöhnt, aber ausgerechnet heute hatte ein ein besonders starker Wolkenbruch überrascht. Während sich Passanten unter ausladende Regenschirme und in die Geschäfte, die die Straßen säumten, flüchtete, stapfte Gabriel mit scheinbar eiserner Entschlossenheit durch den Regenschauer. Wasser tröpfelte in Strömen aus dem weißblonden Haarschopf und sämtliche Bemühungen vom Morgen die Mähne in eine ordentliche und gepflegte Frisur zu bändigen waren binnen Sekunden für die Katz gewesen. Vom Regen beschwerte Haarsträhnen klebten ihm förmlich am Kopf und an den Schläfen. Er spürte kaum, wie die kalten Tröpfchen seinen Hals und Nacken entlang perlten und im aufgestellten Kragen seines Mantels verschwanden. Der lange, schwarze Mantel mochte das ungestüme Wetter ein wenig abhalten, doch nach einigen Metern klebte ihm auch das säuberlich gebügelte Hemd feucht am Körper.
      Als er endlich die Camden Street in einem beschaulichen Viertel in Uptown erreichte, dämmerte es bereits. Hier schien die Zeit ein wenig stehengeblieben zu sein. Die Häuserfronten waren alt aber hübsch gepflegt und bis auf das allgegenwärtige Prasseln des Regens war es in den Abendstunden ausnehmend ruhig in Straßen. Die Straßenlaternen, die den Gehweg der schmalen Gassen säumten, warfen ein diffuses Licht auf das grobe Kopfsteinpflaster. Hier und dort flackerte Licht hinter den Fenstern und Schatten huschten daran vorbei. Es brauchte nicht viel um zu erkennen, dass sich nur wohlhabende Familien eines dieser schönen Stadthäuser leisten konnten. Weit weg vom Sündenpfuhl, den Gabriel bevorzugte. Weit weg von dem Grauen in White Chapel und der Armut in der Brick Lane.
      Gabriel näherte sich der Adresse, die ihn der Nachricht gestanden hatte, die ihm heute Morgen von einem eifrigen Botenjungen überreicht worden war. Er hatte dem Jungen eine Münze zugesteckt und mit ausdrucksloser Miene auf den Umschlag gestarrt. Er hatte nicht das offizielle Siegel von Scottland Yard getragen und für die pragmatischen Beamten vor Ort war die Qualität des Papiers eindeutig zu hochwertig. Ungeöffnet hatte er den Brief nah an sein Gesicht gehalten und der dezenten Duft eines lieblichen Parfüms hatte seine Nase erfüllt.
      Das war eindeutig keine offizielle Einladung in den Hauptsitz des Scottland Yard. Inspektor Audra Dayton verlangte eine private Unterredung. Sie hatte sich keine Mühe gemacht mit ihrer säuberlich, geschwungenen Handschrift viele Details niederzuschreiben. Der Wortlaut war kurz und prägnant gewesen. Es war leicht sich den Tonfall ihrer kühlen Stimme vorzustellen, ganz die professionelle Inspektorin, die dennoch einen Zeugen lieber in ihre privaten Büros vorlud anstatt in die unpersönlichen Verhörräume des Scottland Yard. Er hatte eine leise Ahnung, was Audra Dayton zu dieser unangebrachten Stunde von ihm wollte.
      Zielstrebig erklomm Gabriel die wenigen Stufen zur der prächtigen Stadtvilla. Regentropfen perlten über seinen geraden Nasenrücken, über den dezenten Schwung seiner Oberlippe und den markanten Verlauf seines Kinns. Scharfe und durchdringende Augen glitten über den schweren, bronzenen Türklopfer. Einen flüchtiger Augenblick, denn mehr brauchte Gabriel nicht um seine Gesichtszüge mit geübter Präzision zu seinem charmanten aber dennoch seriösen Lächeln zu schmücken. Die ausdruckslose Härte um seine Augen verlor sich etwas als er den Metallring dreimal gegen das Holz der Eingangstür schlug.
      Als die ersten Schritte im Foyer erklangen, trug er den reuevollen Gesichtsausdruck eines Mannes, der sich zweifellos dafür schämte, dass er nicht an einen Schirm gedacht hatte, dessen Kleidung und Friseur kaum noch präsentabel war für einen respektablen Gentleman und der nun das Foyer seiner Gastgeberin mit seinen nassen Schuhen besudeln würde.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sie hatte es auf ihre Unfähigkeit geschoben, sich unter Tags ausreichend mit Nahrung und Wasser zu versorgen, den Schwindel, den sie damals nach Verlassen von Horaces Büro verspürt hatte. Es war kein Symptom, dem Audra dann und wann zum Opfer gefallen war, nein. Diese Art von Seekrankheit kannte sie nicht. Es war beinahe so, als würde sie an Bord eines wankenden Schiffes stehen, bereit über die Reling zu fallen und ihm kühlen Nass zu versinken. Von der Übelkeit, die sich klammheimlich ihre Kehle hinaufgearbeitet hatte, sich sauer und gallig auf ihre Zunge legte mal ganz zu schweigen. Ungelogen hielt die Braunhaarige es auch ganz schwer aus, in den dunklen, weiten Hallen von Scottland Yard. Die Enge des Gemäuers drohte ihr nicht nur einmal mit dem Erstickungstod, auch, wenn dieses Gefühl, diese Enge in der Brust wohl oder übel nur Einbildung war, so konnte Audra nicht lange hier verweilen. Weswegen auch ihr damaliger Besuch bei Doctor Melwick ein relativ kurzer gewesen war. Viele Leichen hatte sie schon gesehen, viele geöffnete Körper inspiziert, entnommene Organe durchstudiert. Zerfetzte Gesichter, abgetrennte Gliedmaßen, Verstümmelungen, Selbstgeisselung, Suizid. Und trotz alle dem, war es das menschliche Gehirn, welches die Inspektorin bis heute nur aus respektvollem Abstand betrachten konnte. Darin befand sich immerhin alles, was einen Menschen ausmacht oder bis zum Tod ausgemacht hatte. Es war ein Medium größten Wertes und nur durch diesen Ballen an geformten Fleisch, war ein Bewusstsein ein Bewusstsein. Und auch bei Mr. Kensington war für die Grauäugige kein Grund zu Annahme gegeben, heute eine Ausnahme zu machen. Sie sah mit hochgerecktem Kinn aus dem halbdunkel des Raumes auf die sterile Platte, wo der Tote aufgebahrt wurde. Die Schädeldecke war geöffnet und dahinter... ja, da saß es. Audra hatte ihre Lippen zusammengepresst und legte ihren wartenden Blick, welcher aus dem Dunkel glänzend hervorstach auf die abschließenden Worte des Mediziners, welcher ihr als Todesursache ein Aneurisma bestätigen konnte. "Mit der Größe eines Augapfels... ein schneller Tod, wenngleich nicht weniger schmerzhaft.", hatte John mit neutraler Stimme beigefügt. Für ihn wahrscheinlich nichts neues und trotzdem schlug der Herr ihr ein Buch auf um die Entstehung eines solchen Blutgerinnsels zu verdeutlichen. Dafür gab es wohl keine Heilung... man war seinem Schicksal einfach ausgeliefert. Das dadurch jedoch wesensveränderne Charakterzüge zum Vorschein kamen, war auch der Inspektorin fremd.

      Prasselnd schlug nun der Regen gegen die Fensterscheibe ihres Büros in Uptown. Es waren ein paar Tage vergangen, seitdem Audra dem Hauptquartier von Scotland Yard einen Besuch abgestattet hatte. Nun war auch der Bericht von Horace eingetroffen und auch Dr. Melwicks abschließendes Autopsieergebnis lag ihr vor. Tod durch hirnschädigende Einblutung, lautete das anschließende Resümee, welches als Ursache zwischen die Zeilen des hellgelben Papieres gekrakelt worden sind. Doctoren hatten noch nie eine sonderlich schöne Schrift, aber konnte Audra sich damit gut identifizieren. Auch für sie war die Arbeit wichtiger, als Kleinigkeiten mit denen man sich zeitraubend aufhalten würde. Die Ehrengäste jedoch, lagen vor ihr auf dem Vollholztisch und mindestens einer glitzerte im Licht der Schreibtischlampe schelmisch hervor. Audra hatte ihr Kinn in ihre aufgestützten, ineinander verschränkten Finger abgestützt. Scharf ging ihr Blick hinab, auf die beiden Dolche, die auch jetzt, wo sie das Metall keineswegs berührte, eine Aura des Verderbens ausstrahlten. Knackend legte sich das Holz, welches vom Feuer in ihrem Kamin verzehrt wurde, in ihre Ohren, versuchend dieser Kälte, welche sich von dem strahlenden Eisen ausbreitete, Einhalt zu gebieten, als ein Klopfen die Stille in dem Raum durchbrach und sie selbst aus Gedanken riss, die wohl keinen Anfang und kein Ende fanden. Audra räusperte sich, strich sich manierlich die wenigen, vorgefallenen Strähnen hinters Ohr und ergriff, unlängst von ihr, den Notizblock und ein größeres Buch, welches wohl dazu diente, ihren Fortschritt Wort für Wort festzuhalten. Schnell noch einen Bleistift in die Hand genommen, erhob sie ihre Stimme. "Ja?", drang es dann in gewohnt reserviertem Ton aus der Kehle der Inspektorin, als auch schon Alexander seinen Kopf in das Büro steckte. "Er ist da, Boss. Mr. Hargreaves."

      Zuvor...
      Das Klopfen an der Tür, war zu dieser späten Stunde gut hörbar und hallte durch den leeren Gang. Alexander, welcher die Kanzlei der jungen Frau als Sekretär nun schon seit einem guten Jahr leitete, bot sich mehr oder weniger freiwillig an, den erwarteten Herren des Abends noch in Empfang zu nehmen und dann Feierabend zu machen. Audra hatte nichts dagegen, sie belohnte seinen Arbeitseifer dementsprechend fair und zahlte dem Jüngling gut und gerne oftmals mehr als auf dem Arbeitsvertrag ausgemacht. Er selbst würde gerne auch einmal in die Fußstapfen treten, die seine Chefin hinterließ, doch fehlte es ihm an Mut. Sekretär bei der wohl engagiertesten, eifrigsten, ja talentiertesten Inspektorin die Scottland Yard je hervorgebracht hatte zu sein, war dem jungen Mann wohl Ehre genug. So war auch er es, der in schnellem Schritt an das feste Holztor heranschritt und öffnete, draußen, jenes beschriebene Gesicht erblickend, welches Miss Dayton zuvor angepriesen hatte. "Mr. Hargreaves?", fragte Alexander nach. Er war ein großgewaschsener Mann, schwarzes, volles, lockiges Haar und ein beinahe hypnotisierendes Grün in den Augen, umschlossen von ein paar wenigen ockerfarbenen Speichen. Sein halbfertiger Stoppelbart wuchs ihm fleckig im rundlichen Gesicht, welches jedoch eine ästhetische Erscheinung hatte. Eine spitze Nase und ein markantes Kinn, dazwischen geradlinige Lippen. Über den Augen prangten dichte, schwarze Augenbrauen, die jedoch weder ungepflegt noch feminin wirkten. Seine Statur, aufgebaut in guten 190cm war auf den ersten Blick ein wenig drahtig, besaß er jedoch kräftige Hände. Als er das Nicken von dem Weißhaarigen erkannte, öffnete er die Türe für den Herren und wies ihn mit einer ausladenden Handbewegung in das Innere des Büros. Es empfing Gabriel ein Raum, der einem umgedrehten T glich. Linksseitig war der Empfangsthresen von Alexander aufgebaut, dahinter verschiedene Ordner, Stapelweise Papier, Federkiele, ein paar Bücher und und und. Davon links erkannte man eine kleine Sitzgelegenheit, ein Divan, in grünem Samt bezogen. Rechts aber baute sich ein großes Regal in die Höhe, welches mit unzähligen Büchern zu allen möglichen Kriminalistischen Themen gefüllt war. Von der Tatortsicherung, über Enzyklopdädien fachterministischer Ausdrücke, bishin zu den aktuellen Regelwerken in der Arbeit unter Scottland Yard. Durchzogen wurden diese Schätze wohl nur von Audras privaten Geschmäckern, die von den großen literarischen Meistern ihrer Zeit stammten. "Wollen sie ihren Mantel ablegen?", kam es dann von dem Schwarzgelockten und er zeigte auf eine kleine Garderobe neben der Tür. Er wartete die Antwort des geladenen Zeugen ab, akzeptierte seine Entscheidung und führte ihn dann mit einem "Sehr gerne. Hier entlang, bitte.", den lang gezogenen Flur hinab.


      Die Wände und auch der Boden waren schlichtes, dunkles Vollholz. Zu Fuße schritt man über feinen, gewebten Teppich, links und rechts an den Wänden hangen Karten der Stadt London in ihren Bezirken, Straßen, ja sogar als topographische Ansicht. Nach und nach baute sich dann aber der Kontinent Europa aus den Auschnitten Englands auf und bald schon präsentierte sich eine aufgeklappte Version der Welt hinter verstaubtem Glas. Alexander führte Gabriel an die hohe Tür am Ende des Ganges und klopfte zwei Mal an, wartete auf das Zeichen seiner Chefin. Gedämpft drang das gefragte "Ja.", dann an ihre Ohren und er öffnete die Türe, kurz noch zu Gabriel zurückschauend. "Er ist da Boss. Mr. Hargreaves.", kam es dann aus seinem Munde und von innen hörte man Audra kurz schweigen. Dann öffnete der Schwarzhaarige die Tür als Ganzes, in dem er mit ihr in den Raum des Büros schritt, Gabriel nun Platz machend um einzutreten. Audra saß nach wie vor konzentriert über dem Buch, in welches sie wohl sichtlich konzentriert zu schreiben schien. Nur flüchtig hoben sich der jungen Frau Augen empor um ihren Gast in Empfang zu nehmen. "Einen Moment noch Mr. Hargreaves. Nehmen sie doch gerne am Feuer Platz. Sie sind ja völlig durchnässt. Alexander... wäre es möglich, dass sie uns noch eine Kanne Assam aufbrühen? Das Wetter heute scheint wirklich ungnädig zu sein...", ihre Stimme war ein bloßes Murmeln und doch schien sie bei Alexander Anklang gefunden zu haben, welcher mit einem motivierten Nicken aus dem Raum verschwand. Die Tür fiel mit einem sachten Klacken in die Angeln und für einen Moment war das rege Kratzen des Stiftes auf dem Papier zu hören und das Prasseln des Feuers, welches sich nach wie vor im Kamin am Holz labte.

      Dann kehrte Stille ein. Die wachen Augen von Audra Dayton waren auf ihr geschriebenes Wort gelegt, ehe sie sich dann mit einem tiefen Atemzug nach hinten lehnte und ihren Besucher nun doch ihre Aufmerksamkeit widmete. Sie sah Gabriel für einen Moment in stoischer Ruhe an, im Blick eine feste, deterministische Ausstrahlung, auf den Lippen die bekannte, rührlose Ernsthaftigkeit. Flüchtig schob sich ein sanfter Ausdruck mit dem Anflug eines Lächelns auf das Antlitz der Inspektorin, die sich nun aus ihrem Stuhl erhob und mit gewählten Schritten, ruhig zum Kamin ging, dem Feuer noch ein wenig Futter gebend. Während Audra die Flammen beobachtete, die das Holz so gierig umschlangen, war für einen Moment ein Ausdruck der Schwäche und der Ruhe in ihrem Gesicht zu erkennen, doch währte dieser Augenblick nur so lange, ehe sich ihr Augenmerk wieder auf ihren Gast legte. "Sie... nehmen doch eine Tasse Tee bei diesem grauenhaften Wetter da draußen?", eine ihrer Augenbrauen hob sich merklich empor, ein Nein wäre zwar akzeptabel, aber war das nicht das Gehabe der immer ernsten Inspektorin, nein. Nun war sie offiziell außer Dienst und Gabriel würde zum Teil mit Audra sprechen, der Audra, die neben dem Inspektorentum auch nur ein Mensch war. Sie umkreiste dann, zurückkehrend zu ihrem breiten Ohrensessel hinter ihrem Schreibtisch, eben genau jenen und ließ sich mit einem Seufzen wieder in das weiche Leder hinab. "Ich denke, Sie wissen bereits, warum ich sie hierher eingeladen habe... bei der Untersuchung rund um das Anwesen der Kensingtons und auch der Schmiede von Mr. Kensington, sind uns diese... Dolche... untergekommen.", Audra machte nun keinen Hehl mehr darauß. Ja, es waren Beweismittel und doch standen diese Messer in Verbindung zu dem Herren, der ihr hoffentlich ein wenig mehr darüber erzählen konnte. So, erhob sie sich wieder, nahm die Schatulle, in welcher die Schmiedestücke lagen in die Hände und trat wieder vor den Schreibtisch, sich an diesem dann locker anlehnend. Ihr Blick war auf das glänzende Metall gerichtet und auch, wenn sich die Braunhaarige nichts davon anmerken lassen wollte, biss sie doch unweigerlich die Zähne ein wenig aufeinander, als dieses... Gefühl sich wieder in ihrem Kopf breit machte. Schnell war ihr Blick nun gehoben und in das makellose Gesicht des Weißhaarigen gelegt, ehe sie diesem die offene Box zudrehte, den Inhalt präsentierend. "Die Ritualdolche die sie bei ihm in Auftrag gegeben hatten, nicht wahr? ... unser Restaurator hat sie sich penibelst untersucht, wirklich jede kleine Unebenheit und Einkerbung unter die Lupe genommen und stieß dann wider erwarten seines breit gefächerten Wissens, auf Widerstand.", Audra sog Luft durch die Nase und rief sich seine Worte zurück in den Kopf. "Das Ogham... eine alte, druidische Schrift findet sich in... gekeilter Ausführung wohl an einer der Klingen. Ich würde jetzt nur gerne von Ihnen wissen... wenn Sie denn schon wissen, dass es sich um Ritualdolche handelt... woher nehmen Sie, Mister Hargreaves, die nötige Information dazu, wenngleich es doch keinerlei Aufzeichnungen über sie gibt?", mit verengtem Blick und maskierter Verwirrtheit, hatte die Inspektorin den Blick aus ihren grauen Augen auf den Weißhaarigen gerichtet. "Es ist schon ein komischer Zufall, dass Sie damals schon wussten, um was es sich bei diesen Messern handeln muss, wenn sogar unser überaus belesener Restaurator Schwierigkeiten hatte, in seinem Meer aus Büchern, Schriften und Manuskripten die genaue Verwendung für diese Schmuckstücke herauszufinden, oder? Bitte. Klären Sie mich auf.", ein Lächeln, dass jedoch weder von Freundlichkeit oder Höflichkeit geziert war, huschte über Audras Lippen. Nein. Dieses war reine Formasache gewesen.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.
    • Ein fremdes Gesicht öffnete mit professioneller Freundlichkeit die Eingangstür. Flüchtig aber nicht mit weniger Aufmerksamkeit glitt Gabriels Blick über den hochgewachsenen, jungen Mann, der selbst den Antiquar um ein Stückchen überragte. Die Attraktivität, von der Gabriel mit einer gewissen Neutralität Notiz nahm, ließ sich kaum bestreiten. Er besaß die anziehende Aura eines Beschützers, die sicherlich eine nicht unerhebliche Anziehung auf so einige junge und wohlerzogene Damen ausübte. Mit den strahlenden, grünen Augen und einem vertrauenserweckenden Gesicht, das sowohl jungenhaft als auch maskulin wirkte, musterte er Gabriel ohne dabei zu aufdringlich zu erscheinen. Ob Audra ihn aufgrund seines attraktiven Gesichtes ausgewählt hatte, erschien Gabriel beinahe abwegig. Die engagierte Inspektorin erweckte nicht den Eindruck bei einem hübschen Gesicht schwach zu werden und einen Beschützer benötigte die resolute Frau trotz ihres jungen Alters sicherlich auch nicht. Dafür trat sie zu selbstsicher, zu schlagfertig auf. Audras Sekretär oder Assistent, welchen Titel der Jüngling auch bevorzugen mochte, bat den angekündigten Gast höflich aus dem zugigen, feuchten Wetter in die behagliche Wärme des Hauses. Dankbar nahm Gabriel das Angebot an und ließ seinen tropfnassen Mantel in der Eingangshalle zurück, wo er, wie erwartet, eine beträchtliche Pfütze hinterließ. Das leise tröpfelten verstummte bereits nach wenigen Schritten im Hintergrund, während Gabriel dem jungen Mann weiter in die nächsten Räumlichkeiten folgte. Beiläufig musterte er die literarische Sammlung von Klassikern, die von von einem zeitlosen aber guten Geschmack zeigten. Die Fachliteratur wiederum sprach ganz für Audra Daytons Wissbegierde und Zielstrebigkeit. Gabriel stellte sich vor, wie sie mit ernstem Gesichtsausdruck und konzentrierten, verkniffenen Mundwinkel die Nase zwischen die Seiten steckte. Ein passendes Bild, wie er befand.
      Alexander, wie sich der Sekretär auf dem kurzen Weg vorstellte, führte ihn ohne Umwege in das Büro seiner Vorgesetzten. Audra bat ihn zu warten, was Gabriel stumm hinnahm. Seine Gäste warten zu lassen, obwohl sie die Einladung ausgesprochen hatte, entsprach wohl kaum den üblichen Sitten der Gastfreundschaft, aber zumindest nahm sie seine jämmerliche Erscheinung war und schickte Alexander fort heißen Tee zu organisieren. Wieder zuckte sein aufmerksamer Blick zu Alexander, der mit ruhiger Professionalität aber dennoch mit einem eifrigen Glänzen in den Augen der Anweisung nachkam. Die Bewunderung für seine Vorgesetzte stand Alexander zweifellos ins Gesicht geschrieben. Ob diese Verehrung über das übliche Verhältnis eines Angestellten zu seiner Arbeitgeberin hinaus ging, vermochte der Blonde auf den ersten Blick noch nicht zu sagen. Andererseits gab es wohl nicht, dass ihn weniger interessierte als die mögliche Schwärmerei des Mannes. Noch bevor die Tür ins Schloss fiel, lag sein Augenmerk bereits auf dem Schreibtisch, der das Herz des Raumes bildete. Er ignorierte Papiere, Akten und anderes Kleinod. Sein Blick verharrte auf der schlichten Schatulle in der es silbrig glänzte. Gabriel war so sehr an die Taubheit seines Körpers und seiner Emotionen gewöhnt, dass ihn das Unbehagen, das allein die Präsenz der Ritualdolche im selben Raum auslösten, ein wenig überrumpelte. Er hatte beinahe verdrängte, welche Macht von den schimmernden Klingen ausging. Etwas abgrundtief Widernatürlich umgab die Dolche wie ein lauernder Schatten. Nicht von dieser Welt und aus finsteren Untiefen, dem Tode näher als dem Leben. Wie die Reaper. Wie Gabriel.
      "Ein Tee wäre mir äußerst willkommen, Inspektor. Ich habe mich noch nicht an das unberechenbare Wetter in London gewöhnt", antwortete Gabriel mit neutraler Höflichkeit, ohne ein Lächeln aber mit allem Anstand eines Gastes, der gerade die Teppichböden mit herabtropfenden Regenwasser ruinierte.
      Als erinnerte er sich endlich an die Einladung, sich am Feuer zu wärmen, näherte sich Gabriel dem Kamin und streckte seine Hände nach der Wärme aus, die er kaum noch spürte. Dumpf kroch die Hitze der Flammen durch seine langen, bleichen Finger. Audra strahlte innerhalb dieser ihr vertrauten Räume eine gänzlich andere Aura aus. Die ehrgeizige Frau erschien fast nahbar, aber der Eindruck vermochte auch zu täuschen. Obwohl sie in seinem Geschäft vor Selbstbewusstsein nur so gestrotzt hatte, kam sie Gabriel nun viel...natürlicher vor. Als Audra die Dolche zur Sprache brachte, drehte sich der Reaper halb zu ihr um. Er hatte Glück Zeuge davon zu werden, wie sie die Ritualdolche mit unbehaglicher Miene musterte und schnell den Blick abwandte, als könnte sie den Anblick nicht ertragen. Es zuckte wissend um seine Mundwinkel.
      Gabriel zauberte einen schuldbewussten Ausdruck auf sein Gesicht und stieß ein geübtes, langgezogenes Seufzen aus als wäre er ein Jüngling und Audra hätte ihn auf frischer Tat mit einer Hand in der Keksdose ertappt.
      "Ich muss leider gestehen, dass ich in diesem Punkt nicht ganz ehrlich zu Ihnen war, Inspektor", antwortete er und beobachtete mit Argusaugen, wie die berufliche Abgeklärtheit wieder Einzug hielt. Das war die Audra, die ihn in seinem Antiquariat aufgesucht hatte. "Bei diesem Auftrag existiert keine dritte Geschäftspartei. Diese außergewöhnlichen Raritäten gehören, sozusagen, mir. Betrachten Sie diese als eine Art von Familienerbstück. Die Dolche befinden sich bereits seit vielen Generationen im Besitz meiner...Familie. Neben dem historischen haben diese Dolche überdies auch einen sehr persönlichen Wert für mich. Sie wurden vor vielen Jahren gestohlen und blieben verschollen, bis sie in dem Schiffswrack auftauchten."
      Mit aufgefächerten Fingern fuhr sich Gabriel durch die feuchten, weißblonden Strähnen und trat dann zielstrebig auf Audra zu. Er streckte die Hand aus, an ihrer Hüfte vorbei und berührte lediglich den geöffneten Deckel der Schatulle.
      "Grob übersetzt aus dem Altirischen bedeutet die Inschrift: Tod für die, die nicht sterben können", erläuterte Gabriel und fuhr mit der Spitze seines Zeigefingers über den Rand der Schatulle. "Es heißt, dass diese Ritualdolche von den ersten Druiden, die aus der irischen Wildnis übersetzten, auf der walisischen Insel Anglesey geschmiedet wurden. Die Blutlinie der Hargreaves geht nachweislich bis zu diesem kleinen Fleckchen walisischer Erde zurück. Deshalb sind mir die Theorien und...Legenden um diese Dolche sehr vertraut. Sie waren meine Gute-Nacht-Geschichten, Inspektor. Die einen behaupten, dass das Silber in der Klinge von den 30 Silberlingen stammt, die Judas laut der biblischen Erzählung für seinen Verrat erhielt. Der Legende nach brachten die ersten Christen das verfluchte Silber über das Meer um sie in fremder Erde zu vergraben. Andere sind der felsenfesten Überzeugung, es sei kein Silber, sondern ein Stück aus der Sense von Gevatter Tod höchstpersönlich gewesen. Wiederum anderen berichten von antiken Münzen, die den Toten von den bleichen Lidern gestohlen wurden. Münzen, die den Zweck erfüllen sollten, den Fährmann Charon für seine Dienste zu bezahlen."
      Es rumpelte in Gabriel Brust. Ein tonloses Lachen, das keinen Teil des Mannes wirklich berührte.
      Und dann stellte er eine Frage, mit der die junge Frau unmöglich rechnen konnte...
      "Was haben Sie gespürt, als sie die Klingen berührt haben, Miss Dayton?" - Nicht Inspektor.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Glänzend drang der Blick aus der Inspektorin Augen, die sich hier, in diesem dimmen Licht des flackernden Feuers, welches mosaikgleiche Muster auf die Häupter von Herrn Hargreaves und ihrerselbst zeichnete, nicht mehr dem stumpfen Grau hingaben, sondern in den eigentlichen Farben von Himmelbläue und Sommerwiesengrün hervorstachen. Ja beinahe schon gierig war das Augenmerk der jungen Frau auf ihren Besucher gerichtet, welcher sich dazu hinreissen ließ, die erkalteten Hände am offenen, prasselnden Kaminfeuer zu wärmen. Wohl oder übel erreichten Audras Worte Seinerseits, denn er reagierte darauf beinahe so wie die Inspektorin es erwartet hatte. Unschuldig, wie ein Welpe der dir ans Bein gepisst hatte und jetzt mit den großen Augen zu einem aufsah, weil er es ja nicht besser wusste. Die Dolche fanden ihren Weg hinter den Körper der Inspektorin, die, nun wo der Weißhaarige zu sprechen begonnen hatte, ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hatte, die eigenen Arme vor der Brust verschränkend. Und natürlich hätte die braunhaarige Ermittlerin gelogen, wenngleich sie die Umstände, die Gabriel ihr mit beinahe vor Stolz geschwellter Brust in Ton und Sprache überbrachte, nicht überrascht hätten. Minimal hoben sich die Augenbrauen Audras empor, die um ein erstauntes Zwinkern nicht herumkam und den wachen Blick nun auf dem Haupt des Herren fixiert hatte. Die beiden kleinen Waffen sollten also ihm gehören... so quasi zumindest.

      Audra wurde stutzig und hörte dennoch den Ausführungen von Gabriel zu. Immerhin sollte er eine Möglichkeit bekommen sich zu erklären und ihr den Sachverhalt ordentlich darzulegen. Dafür war sie ja Inspektorin geworden, oder? Sie betrachtete ihn nur einen Moment länger, wie er sich durch die nassen Haare fuhr, dann aber seinen zielstrebigen Blick auf ihre Person richtete und mit wenigen schnellen Schritten an sie herangetreten war. Es ging fast schon zu schnell für die Dame, die sich in diesem Moment wahrscheinlich überrumpelt wiedergefunden hatte und doch nicht zurückschrak, da von Gabriel keinerlei sichtbare Gefahr ausging... und ihr Gefühl täuschte sie im Grunde nie. So nahm ihr gesamter Leib eine halbe erstarrte Haltung ein, als sie den jungen Mann nur eine Armlänge von sich entfernt wusste. Ungerührt ging ihr verengter Blick schneidend an ihm hinab, das Kinn ein wenig emporgehoben um der Person ihrerseits ein wenig respektables Auftreten zu geben. Fest waren ihre Lippen aufeinandergepresst, ihr Kiefer merklich angespannt, als Mister Hargreaves neben ihr davon zu erzählen begann, wann und wo diese Dolche wohl ihren Ursprung genommen hatten und wie sie in den Besitz seiner Blutlinie gekommen waren. Sie dachte in diesem Moment unweigerlich an Horace, der, sollten seinen Ohren jene Informationen zu Teil werden, wahrscheinlich in einem Ohnmachtsanfall von seinem kleinen Schemel fallen würde. Da entkam der sonst so korrekten Audra doch ein belustigtes Schnauben, zart und doch hörbar, wogleich man diese Reaktion im Grunde auch auf diese schier unglaubliche Geschichte des weißhaarigen Mannes neben ihr erwarten könnte.

      Doch nahm sie es sehr ernst, dass was Gabriel ihr erzählte. Die Worte die er sprach, verinnerlichten sich in ihren Gedanken, malten wilde Geschichten in ihr inneres Auge und gaben ihr für einen Augenblick das Gefühl, direkt dabei gewesen zu sein, an jenem Tag, wo diese Schmuckstücke geformt worden waren. Das er mit seiner Sprache spielen konnte wie ein Meister der Marionetten, dass musste Audra dem Herren zweifellos anerkennen. Mehr noch ertappte sich die Braunhaarige dabei, wie sie darüber sinnierte, seiner Sprechmelodie einen ganzen Tag lauschen zu können, wie er ihr aus wissenschaftlichen Meisterwerken vorlas. Verstohlen ging ihr scharfer Blick dann auch von der Schatulle, deren Oberfläche die feingliedrigen, bleichen Finger Gabriels trug, auf das Antlitz jenes Mannes, dessen Stimmfarbe neben dem sachten Prasseln des Feuers ihr Büro beschenkte. Stetig ihre Lungen mit Luft füllend, ihren Atem ruhig haltend und doch geräuschvoll aus ihrer Nase entweichen lassend, hüpfte das Blaugrün ihrerseits im Gesicht des Herren herum, versuchend auch nur eine Regung in den kantigen Zügen zu erkennen. Audra sah die wenigen Wassertropfen, die sich nach wie vor schier unbändigbar, den Weg aus seinem Haar, hinab auf seine Wangen suchten und weiter des Mannes Kehle hinabrutschten, nur um dann mit dem Stoff seines Hemdes Vereinigung zu erfahren.

      Nur kurz rümpfte Audra ihre Nase und sie legte den Kopf verwirrt zur Seite, als ihre Ohren das hohle Lachen seinerseits vernahmen. Einen Moment länger dachte die Kommissarin, er würde ihr offenbaren sich einen Scherz mit ihr erlaubt zu haben und doch erklangen dann Worte aus seinem Mund, die Audra nicht erwartet hatte. Die Tat der Atmung für einen Moment erstarren lassen, bohrte sich der Blick der Inspektorin in das gesprenkelte Braun seiner Augen und sie schenkte ihm ein sanftes, langsames Zwinkern, während sich auch ihrerseits Augenbrauen etwas hinabbogen, einen Schatten unter den ihren werfend. Was... sie gespürt hatte? Miss Dayton? Einen Moment länger hielt Audra seinem stechenden Blick stand, schniefte dann aber eher unbeeindruckt Luft durch ihre Nase empor und lockerte ihre Haltung ein wenig. Ihr Haupt kehrte sich herum, sah zuerst an die Bürotür und rutschte aber auf den Teppich zu ihren Füßen hinunter. Dann stieß sie sich von ihrem großen Katheder ab, verschränkte die Arme am Rücken und schritt ihrem Kamin entgegen.

      Kurz lag ihr Blick in den wilden Flammen, die sich rot und orange glühend in die Höhe kräuselten, gierig das Holz verzehrend, dass ihr die Herrin des Hauses gegeben hatte. Im Anbetracht der herrschenden Stille, entkam der Inspektorin dann ein leises Seufzen. "Die Frage sollte wohl eher lauten warum Sie annehmen zu glauben, dass ich bei Kontakt etwas gespürt habe, Mister Hargreaves.", ruhig erklang Audras Stimme nun ihm Raum, die gesamte Tonalität hatte sich in eine... wärmliche gewandelt. Warm und doch lauernd. "Und so gerne ich diese Lächerlichkeit von Siezen und Dutzen ein für alle Mal verbannen würde, lautet es immer noch Inspektor Dayton.", klarstellend, dass sie hier, obwohl die Unterredung einer privateren, gar intimeren Natur war, immernoch die zu respektierene Kommisarin von Scottland Yard war, ließ sie den Weißhaarigen keine Sekunde auch die Möglichkeit, eine Beziehung zu erklimmen, die außerhalb dieser Ermittlungen Bestand haben könnte. Es war und ist immer beruflicher Natur gewesen, was die junge Frau hier und auch in Zukunft von dem Herren abverlangen würde. Gerade hatte Audra den Mund geöffnet, der nächste Satz steckte ihr in der Kehle, als ein Klopfen an der Tür erklang. Alexander. Er musste wohl mit dem Assam zurücksein. "Kommen Sie rein.", rief die Inspektorin zur Tür und nur Momente später trug ihr Sekretär das silbern glänzende Tablett, auf welchem eine bauchige Teekanne thronte und dazu zugehörige Tassen daneben standen, in den Raum.

      Audra verfolgte den Schwarzhaarigen mit ihrem Blick und wies ihm durch einen einfachen Fingerzeig an, die warme Köstlichkeit doch einfach Beistelltisch vor dem Kamin abzustellen. Alexander tat wie ihm geheißen. "Das war dann alles. Wir sehen uns morgen.", da! Da war es dann doch kurz zu sehen gewesen. Ein ehrliches Lächeln, dass aus den verbissen harten Gesichtszügen der Inspektorin doch wirklich eine gar liebliche Erscheinung zauberte. Mit kleinen Fältchen um die Augen. Audra sah Alexander noch einen Moment hinterher, doch als dieser den Raum verlassen hatte, kehrte sie sich mit einem tiefen Atemzug Gabriel zu und lud ihn mit einer kleinen Geste ein, doch in dem Ohrensessel neben dem Kamin Platz zu nehmen. Beinahe gleichzeitig hob sie die Kanne an und goss, mit einem lautlosen Strahl, die warme Flüssigkeit in das zarte Porzellan beider Tassen. "Nehmen Sie auch Honig? Oder eine Scheibe Zitrone?", beides, fein säuberlich in einem zusätzlichen Schälchen untergebracht, war jeweils mit einem kleinen Löffel zum Süßen oder zum einfach auspressen mit den Fingern neben den Tassen hingelegt. Audra selbst nahm gern ein wenig des flüssigen Goldes, wodurch die zarte bittere Note im Assam einfach übertüncht wurde.

      So nun, gewappnet für ein Gespräch was möglicherweise etwas mehr in die Tiefe gehen würde, ließ sich die junge Frau nieder und nahm die Tasse in die Hände. Man sah es ihr von außen nicht an und doch fuhren die Gedanken in ihrem Kopf Karussel. Sie nippte vorsichtig und sah mit den von Fragen überfüllten Augen in das glosende Feuer zu ihrer rechten hinab. "Tod für die, die nicht sterben können...", wiederholte die Inspektorin dann leise, beinahe summend und legte die Stirn in verwirrte Falten. Als hätte sie dann aber der Geistesblitz durchstoßen, schnellte der aufmerksame Blick Audras wieder auf ihren Gast. "Und an was glauben Sie, Mister Hargreaves? Welche dieser Möglichkeiten, der Entstehung dieser Dolche gewidmet, ist jene Geschichte, wo ihr Herz "Ja" sagt? Verfluchtes Silber? Bruchstücke des Corpus Delicti? Ein unterschlagener Sold? Lassen sich mich teilhaben an diesen... Mythen. Ich will... verstehen... auch, warum sie denken meine Wenigkeit hätte auf... simples Metall... reagiert. Wogleich es das nicht ist, nicht wahr?", erneut fand die Tasse den Weg an Audras Lippen, die ihre Stimme in verspielter Leichtigkeit wog. Für Labyrinthe in Wort und Sprache hatte die Braunhaarige weiß Gott keine Lust. Nicht an diesem Abend, nicht um diese Zeit.


      "I assure you brother. The sun will shine on us again.

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    • Audra beobachtete ihn mit wachen Augen. Er spürte nicht, wie ihr Blick über seine Gesicht glitt, er wusste es. Es entsprach ihrem Naturell nicht eine Kleinigkeit in seiner Mimik verpassen zu wollen. Gabriel fragte sich, ob diese ausgeprägte Beobachtungsgabe die engagierte Frau schon in frühen Jahren in Schwierigkeiten gebracht hatte. Audra sah mehr, als die Männer ihrer Zeit und ihres Standes der Inspektorin wohl zugestehen würden. Dieser Tatsache wurde er sich ein weiteres Mal bewusst und mahnte sich innerlich zu Vorsicht. Es schien, als müsste er in ihrer Nähe akribisch darauf achten welche Worte er wählte und welchen Ausdruck er letztendlich auf sein Antlitz zauberte. Selten versuchten die Menschen hinter die Fassade des galanten und wohlerzogenen Gentlemans zu blicken. Noch seltener hinterfragten sie die Motive hinter dem charmanten Lächeln, dass er der Welt präsentierte. Seine Vermutung bestätigte sich, als Audra diese eine Frage, mit der er die resolute Frau aus dem Konzept bringen wollte, spielend leicht herumdrehte. Gabriel sah nicht von den Dolchen auf. Auch nicht, als Audra sich mit raschelnden Röcken entfernt hatte und die Nähe zum Kamin suchte. Ob es die Wärme war, die sie lockte oder das Bedürfnis nach Abstand, vermochte Gabriel in diesem Augenblick nicht zu sagen.
      "Einige der Legenden besagen - Jene, die sich auf die Verbindung zu Gevatter Tod stützen -, dass die Dolche zu berühren gleichzusetzen ist mit einer Berührungen des Sensenmannes selbst. Ein Hauch des Todes in der Welt der Lebenden...Aber am Ende des Tages ist ein Märchen auch nur ein Märchen, nicht wahr, Inspektor?"
      Die Grenzen wurden ein weiteres Mal sorgfältig abgesteckt und Gabriel beugte sich für den Moment den lächerlichen Gewohnheiten eines standesgemäßen Umgangs. Für einen kurzen Augenblick waren die Grenzen durch zu lange Blicke und durch unverhohlene Neugierde verwischt gewesen. Nun waren sie zurück innerhalb ihrer sicheren Mauern. Zurück zur scharfsinnigen Ermittlerin und ihrem Verdächtigen - und das Audra ihn nach wie vor verdächtigte, stand völlig außer Frage.
      Gabriel ließ von der Schatulle ab, doch zuvor schloss er sanft beinahe ehrfürchtig den Deckel, als zollte er einer höheren Macht den nötigen Respekt. Es sah aus, als wollte er lediglich seiner Märchenstunde ein würdiges Ende verpassen. Die Messingschnallen schnappten leise zu und verbargen die Relikte erneut vor neugierigen Augen. Gabriel betrachtete die schmucklose Hülle, die unbezahlbare und einzigartige Kostbarkeiten in ihrem Inneren verbarg. Audra hatte nicht die geringste Ahnung, wie viele wortwörtlich über Leichen gehen würden, um auch nur einen der Zwillingsdolche in die Finger zubekommen. Und genau deshalb konnte er sie keine weitere Nacht in der Obhut dieser Frau lassen.
      Der Sekretär, Alexander, unterbrach das recht steife Gespräch mit einem Klopfen und kehrte mit dem Tee zurück. Sofort flutete der intensive und erdige Duft von Schwarztee seine Nase. Wenn Audra nicht sein ansprechendes Erscheinungsbild oder seinen Intellekt, den der Mann zweifellos besitzen musste um diese Anstellung bekommen zu haben, schätzte, mussten vielleicht seine Zubereitungskünste für Tee einen entsprechenden Eindruck hinterlassen haben. Der Geruch, der vom Kamin herüber waberte, war weder zu streng noch zu seicht. Ohne einen Schluck genommen zu haben, wusste Gabriel bereits, dass selbst die typische und bittere Note des Assam so mild sein musste, dass es kaum andere Zutaten benötigte. Der Antiquar nickte Alexander höflich zum Abschied, verzichtete aber auf großartige Abschiedsworte. Er glaubte nicht den Mann so schnell wiederzusehen, da seine Vorgesetzte es kaum zu Gewohnheit machen würde, ihn abends auf eine dampfende Tasse ihres besten Assams einzuladen.
      Gabriel kam der Einladung nach und ließ sich in einen der bequemen Ohrensessel sinken. Es hatte beinahe etwas Heimeliges.
      "Nicht nötig. Ich bevorzuge das unverfälschte Aroma..."
      Verneinend hob er die Hand, lehnte damit Honig und Zitrone ab, um die Tasse ohne Umwege etwas näher an sein Gesicht zu führen. Seine Nasenflügel bebten, als er den vertrauten Duft einatmete und vorsichtig an der heißen Flüssigkeit nippte. Gabriel verspürte nicht oft Dankbarkeit, aber nun war er sehr dankbar, dass ihn seine Berufung zum Reaper nicht auch noch den Geschmackssinn geraubt hatte.
      "Hervorragend...", murmelte er.
      "Tod für jene, die nicht sterben können."
      Nachdenklich wiederholte Audra seine Worte und es klang durchaus merkwürdig, gerade diese Floskel aus ihrem Mund zu hören. Wo sie doch gar nicht wissen konnte, welche schwere Bedeutung sich darin versteckte. Über den Rand seiner Tasse huschte der Blick kurz in das feingeschnittene Gesicht, das für ihr junges beinahe zartes Alter viel zu ernst daher kam.
      "Hm...", brummte Gabriel und lehnte sich ein wenig zurück. "Wenn Sie mich fragen, Inspektor, steckt in allen Legenden ein Bruchstück der Wahrheit. Gestohlenes Silber ist nicht abwegig. Es waren harte Zeiten und die Menschen waren arm. Sie hungerten, litten unter fürchterlichen Seuchen. Ein Umstand der mit Hilfe von Unwissenheit und Furcht die Leidenden oft die Ursache in bösen Zaubern suchen ließ...oder eben Flüchen. Ist es nicht faszinierend, wie es Teile fremder Glaubenskulturen bis auf diese noble Insel geschafft haben? Vom antiken Griechenland bis zu den naturverbundenen Druiden unserer Geschichte. Meine Faszination galt schon immer den eher schwergreifbaren Dingen, was ihrer Aufmerksamkeit bei ihrem Besuch in meinem Antiquariat sicherlich nicht entgangen ist."
      Gabriel fixierte nun das Flackern des Kaminfeuer ins ihren Augen.
      Im Schein des Feuers wirkten ihre Gesichtszüge fast ein wenig weicher. Fast.
      "...warum Sie denken meine Wenigkeit hätte auf...simples Metall reagiert..."
      Um seine Mundwinkel zuckte bei ihrer letzten Frage ein Schmunzeln.
      Erwischt.
      "Also haben Sie sie berührt, Inspektor?"
      Er bemerkte kaum, wie sich seine Muskeln von ganz allein bewegten. Die Reaktion war ein Bühnenstück, dass er in- und auswendig kannte. Ein wohlplatziertes Seufzen verließ seine Lippen.
      "Das Kreuz in der Kirche ist auch nur Holz", antwortete er nüchtern und...herausfordernd. "Der Glaube verleiht Dingen und Ideen erst ihre Macht. Vielleicht sind die Dolche für sie auch nur das, Inspektor. Silber und Eisen. Die eigentliche Frage ist doch..." Er machte eine Pause und hielt Audra förmlich in dieser gefangen. Er beobachtete, wie sie reagierte. Würde sie ungeduldig das Kinn recken, sich neugierig weiter vorbeugen? "...würden sie bei einer erneuten Berührung etwas anderes spüren, jetzt, da sie die Geschichten kennen?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”