Wire Walker [Asuna & Codren]

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    • Wire Walker [Asuna & Codren]

      "Die Polizei fahndet derzeit intensiv nach der mutmaßlichen Terroristin, die für den Anschlag auf das Polizeirevier in Hillsey in Verbindung gebracht wird. Die Verdächtige ist eine Magierin, die einen großen, schwarzen Wolfshund mit sich führt. Sie ist bewaffnet und äußerst gefährlich.
      Die Behörden bitten die Bevölkerung in und um Hillsey um erhöhte Wachsamkeit und raten dazu, verdächtige Sichtungen umgehend der Polizei zu melden. Umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen wurden in und um Hillsey ergriffen, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten.
      Augenzeugenberichten zufolge wurde die Verdächtige und ihr Wolfshund zuletzt auf der Route 35 gesehen, wo sie im Naturschutzgebiet verschwunden ist. Die Polizei hat die Route 35 bis auf weiteres gesperrt und führt in diesem Bereich verstärkte Kontrollen durch.
      Die Polizei bittet die Bürger, Ruhe zu bewahren. Jeder Hinweis wird angenommen. Nachfolgend finden Sie ein Bild der Täterin."

      Vier Tage war es her. Vier Tage, seit Georgia zuletzt Zuhause gewesen war, seit sie zuletzt eine warme Mahlzeit zu sich genommen hatte, seit sie sich zum letzten Mal ordentlich gewaschen hatte. Vier Tage, seit sie zuletzt ihr Handy benutzt hatte, seit sie zuletzt fern gesehen hatte, seit sie zuletzt in ihrem eigenen Bett geschlafen hatte. Vier Tage, seit sie zuletzt gelebt hatte.
      Vier Tage konnten wie eine Unendlichkeit erscheinen, wenn plötzlich das ganze Land hinter einem her war und man binnen einer einzigen Stunde von einem braven, unbescholtenen Bürger zu einem der meist gesuchtesten Verbrecher im ganzen Land wurde. Vier Tage waren nicht gerade viel, um ein ganzes Leben zu verlieren, aber sie waren genug. Georgia wusste jetzt, dass vier Tage mehr als genug dafür waren.
      Aber auch wenige Minuten konnten eine Unendlichkeit sein, das war die zweite Feststellung, die sie in so einer kurzen Zeit hinter sich hatte. Denn während sie so in dem kleinen Regal saß, die Beine angezogen, damit sie auch hinein passte, und den Kopf zwischen die Schulter gesteckt, damit kein Licht sie traf, da hielt sie selbst die wenigen Minuten, die sie in ihrem Versteck schon ausharrte, für eine Unendlichkeit. Denn regelmäßig musste sie den Atem anhalten.
      In dem Raum um sie herum war es still. Es war ein hoher Raum, eine Art Lagerhaus, wie sie an Supermärkte drangebaut wurden. Der hier gehörte auch einem Supermarkt, aber der hatte schon vor einigen Monaten dicht gemacht und stand damit völlig leer. Nicht einmal in diesem Lager war etwas übrig geblieben, worauf Georgia insgeheim gehofft hatte. Alles völlig ausgeräumt.
      Wenigstens hatte sie so die Idee bekommen, auf eines der leeren Regale zu klettern, wo sie jetzt auch saß. Sie hatte die Idee bekommen, die Beine so fest anzuziehen, wie es nur ging, damit sie hinein passte. Und dann hatte sie die Idee bekommen, ganz, ganz still zu sein.
      Aus dem Nebenraum kam ein Geräusch, ein leises wusch, wie wenn man über Papier strich. Georgia hielt den Atem an und zwängte sich ein bisschen tiefer in ihr Versteck. Kurz darauf ertönten einsame, hallende Klack-Geräusche. Klack, klack. Klack, klack. Sie kamen näher und Georgia kniff die Augen zusammen.
      Die Bestie kam in den großen, leer stehenden Raum geschlichen. Sie konnte erstaunlich still sein, wenn sie das wollte - Georgia hatte auch schon das Gegenteil erfahren - aber ganz lautlos war sie nie. Da war immer dieses helle Klack ihrer Krallen, die auf den Steinboden stießen, und das Schaben ihres Schwanzes, wenn er über den Boden strich - wie das Streichen von Papier. Da war immer ein ganz leises, kehliges Röcheln, das im Rhythmus ihrer Atemzüge erklang und letztlich war da eine Art Rascheln, wenn sich die merkwürdig behaarten Fühler zu beiden Seiten ihres Gesichtes schüttelten. Besonders letzteres erweckte immer eine Gänsehaut in Georgia, die sich vorstellte, wie diese unendlich vielen Härchen aneinander rieben und dieses Geräusch verursachten. Es war widerlich und sie hatte sich in vier Tagen schon nicht daran gewöhnt.
      Auch jetzt konnte man die Kreatur in dem leeren Raum klar hören. Auf sonst leisen Sohlen kam sie näher, begleitet von ihrem stetigen Klacken und Röcheln. Klack, klack. Klack, klack. Georgia presste die Augen so fest aufeinander, dass sie ihr wehtaten, und wünschte sich, dass es wieder vorübergehen würde.
      Die Bestie blieb irgendwo unter ihr stehen. Sie musste den großen Kopf herumwenden, denn es raschelte ganz wenig nur. Sie schnaubte, tief und kehlig und fürchterlich und eine ihrer Krallen schabte über den Steinboden nach. Georgia schauderte es und sie hielt den Atem an.
      Seit zwanzig Minuten hielt sie sich jetzt schon in diesem Regal versteckt mit einem einfachen, aber effektiven Plan: Wenn die Bestie sie nicht fand, wenn sie sie verloren hatte, dann würde sie vielleicht irgendwann das Interesse verlieren. Sie würde diesen Laden wieder verlassen, würde zurück zur nächsten Straße streifen und dort so lange wüten, bis die Polizei ihr früher oder später Einhalt gebieten würde. Und vielleicht, nur vielleicht, konnte Georgia dann aus ihrem Versteck hervorkommen und die Sachen richtigstellen. Klarstellen, dass das alles nur ein Versehen gewesen war und dass sie nicht 46 Polizeimänner und Frauen umbringen wollte. Dass sie eigentlich keinen einzigen umbringen wollte.
      46. Ihre Augen brannten wieder mit Tränen, aber sie kamen diesmal nicht hervor. Sie hatte schon genug geweint in den letzten Tagen.
      Die Bestie strich mit ihrem Schweif über den Boden, ein grausiges wusch, das auch noch rasselte, weil es hier überall dreckig war. Georgia erzitterte, aber sie rührte sich nicht. Es würde vorbeigehen. Irgendwie würde es vorbeigehen.
      Sie trug noch ihre Polizeiuniform, die jetzt aber zerrissen, dreckig und blutig war. Ihr Arm steckte in einem Druckverband, den sie sich selbst verpasst hatte und den sie nicht abnehmen wollte - niemals. Sie war hungrig, durstig und sie konnte sich selbst riechen. Aber am meisten war sie völlig verzweifelt, hoffnungslos verloren und so einsam wie noch nie.
      Nein, ganz einsam war sie ja nicht. Die Bestie war irgendwo unter ihr und suchte sicherlich nach ihr.
      Es dauerte ein paar weitere Sekunden, dann ertönte wieder dieses unheilvolle Klacken und die Kreatur zog weiter. Sie streifte an den anderen Regalen entlang, aber anscheinend verlor sie das Interesse an diesem Raum und ging wieder in den Supermarkt hinaus. Georgia atmete zittrig aus und fing dann doch wieder das Weinen an, tränenlos und stumm.
      Sie wollte nachhause. Sie wollte zurück zu ihren Eltern. Sie wollte zurück in das Leben, das sie bis vor kurzem noch gehabt hatte. Sie wollte nichts mehr hiervon. Sie wollte einfach nur wieder Georgia sein, nicht die Verdächtige und auch nicht die Terroristin. Sie wollte die Zeit zurückdrehen und nie, nie, niemals auf ihre Magie zurückgreifen.



      @Asuna
    • „Die Polizei fahndet derzeit….“

      Er schenkte dem Fernseher nur einen Bruchteil seiner Aufmerksamkeit. Vier Tage war es her, seit die Stadt in Aufruhr gebracht worden war durch einen dieser Freaks. In sämtlichen Medien war das Bild dieses Mädels abgebildet, nach der man händeringend suchte. Wie auch immer sie es geschafft hatte, sich in die Reihen der Polizei zu schleusen und dann mehrere Dutzende von ihnen einfach aus dem Leben zu reißen, war durchaus beeindruckend gewesen. Die Kontrollen waren hart, selbst als Nichtbewerber. Das wusste der Apothekar, der oft genug in jungen Jahren auf dem Präsidium gewesen war und sich dort umschauen konnte.

      „…. Nachfolgend finden Sie ein Bild der Täterin.“

      Er sah auf den flackernden Fernseher, der ziemlich weit entfernt von den großen, protzigen Flachscheiben der Normalbevölkerung war. Sein Fernseher diente meist nur zum Schauen von Nachrichten oder als Hintergrundbeschallung, wenn er wie jetzt gerade kleine Tüten mit unscheinbaren weißen Tabletten befüllte. Pro Tüte sieben Tabletten. Eine Wochendosis, bevor man ihn wieder aufsuchen würde. Was er auf seinen kleinen Tisch in der Einzimmerwohnung vor seinem Fernseher packte, war Magipramin – ein Mittel, dass die Magie dieser Freaks drosselte. Üblicherweise von Ärzten verschrieben war sein Zeug, das er aus billigen Komponenten mischte, nicht so kontrolliert und enthielt mehr abhängig machende Substanzen als zulässig. Woher er das weiß? Wenige Male wurden Freaks gefasst, die mit seiner Droge gedopt Scheiße gebaut hatten. Natürlich untersuchte das Labor die weißen Tabletten und gab eine Warnung heraus.
      Was seine Kunden noch lange nicht davon abhielt, den Stoff weiter bei ihm zu beziehen.
      Generell hielt es sich für den Apothekar sehr bescheiden. Mehr als ein Zimmer leistete er sich nicht, besaß kein Auto und sein Kleiderschrank bestand größtenteils sowieso nur aus dem gleichen Zeug; Masken, Mäntel und irgendwelche abgeranzten Klamotten, weil er sich das Einkaufen meistens schenkte. Er verließ seine Wohnung nicht einmal zur Arbeit, denn sein Drogenhandel warf mittlerweile genug ab, um sich Kost und Logie easy zu finanzieren. Folglich sah es um ihn herum auch aus. Überall herrschte das Chaos, Wäsche stapelte sich auf Haufen an allen erdenklichen Ecken, Tüten von Lieferdiensten hingen noch an sämtlichen Türklinken. Nur die Ecken, die er für seine Küche brauchte und wo er sich selbst ins High schoss, waren halbwegs aufgeräumt. Dazu zählten sein Bett, der Sessel und das Badezimmer. Erstaunlicherweise war das auch der einzige Raum, der wirklich nach einer normalen Wohnung aussah. Auf Hygiene setzte der Apothkar. Sich eine Infektion nach einem Schuss zu holen und daran zu krepieren war nicht unbedingt der Tod, den er sich vorstellte. Allgemein war er noch lange nicht da, wo er sich sah. Er wollte mehr. Er wollte Geld. Er wollte Anerkennung. Nur würde nichts davon ihm einfach in die Hände fallen, denn als Nichtmagischer lag der Fokus selten auf ihm.
      Also schlug er da das Beste draus. Seit dem Vorfall waren die Streifen noch nachlässiger als sonst und er konnte seit langem einmal wieder den verlassenen Supermarkt als Umschlagspunkt angeben. Sich im Untergrund innerhalb der Stadt zu bewegen bedeutete immer eine gewisse Gefahr und auch wenn der alte Laden abgelegen war, war die Gefahr nie gleich null. Aber damit kam er klar. Kam er schließlich immer. Er war gut in dem was er tat, und schnell. Sehr schnell sogar.
      Er warf die letzte Tüte auf den Stapel zu den anderen und griff nach der Fernbedienung. Gerade flimmerte wieder das Bild des Mädchens über den Schirm. Ein junges Ding. Hübsch. Wirkte unschuldig mit diesen riesigen Bambiaugen. Naiv. Nichts für die Justiz oder als Attentäterin. Was hatte man ihr wohl genommen oder gegeben, damit sie diese Selbstmordaktion fuhr und dann auch noch abhaute? War die denn vollkommen schugge?
      Er schüttelte den Kopf und stand auf. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen, als er den Fernseher ausschaltete und die Tüten in seine tiefen Taschen steckte. Wie immer machte er einen Zwischenstopp an seinem Kleiderschrank, wählte die venezianisch anmutende goldene Maske aus seinem Repertoir sowie den schwarzen Mantel, der dank des Herbstes keine Aufmerksamkeit erregen dürfte. Die Maske verschwand in seiner Außentasche und kam erst zum Einsatz, wenn er sich weit genug von seiner Wohnung entfernt und Verfolger abgeschüttelt hatte. Es war wie immer ein Spiel zwischen ihm und der Justiz, die im Moment keine Augen für kleine Fische wie ihn hatten. Und das verschaffte ihm eine ungeahnte Freiheit.

      Er checkte seine Uhr. Ja, er war definitiv noch im Zeitrahmen, auch wenn der Bus wieder Verspätung hatte und ihn später als geplant an einer der Bushaltestellen für Schüler aussetzte. Sie lag am Rande eines Waldstückes, das er durchqueren musste, um rückseitig an den alten Supermarkt heranzukommen. Noch während er sich durch das Unterholz schlug, setzte er seine Maske auf und sofort fühlte er sich sicher, anders. Vielleicht sogar ein wenig mächtig, denn jetzt verkörperte er auch den Apothekar und nannte sich nicht nur so.
      Ihm fiel nichts Seltsames auf, als er sich dem Gebäude näherte und die Hintertür für das ehemalige Personal öffnete. Man hatte das Schloss unlängst manipuliert, damit jeder ein- und wieder ausgehen konnte. Deshalb schlenderte er praktisch ins Geschäft und ließ den Blick über die Fläche gleiten, die man ausgeräumt hatte. Von irgendwelchen Punks waren Klapptische aufgestellt worden, Rückstände von Lagerstätten waren zu sehen und sogar eine ehemalige Feuerstelle. Während er sich mit Schlendern die Zeit vertrieb dachte er darüber nach, wann er sich das nächste High verpassen sollte. Vielleicht heute Abend nach dem geglückten Verkauf jetzt. Dann konnte er sich wieder für ein paar Tage zurücklehnen und von diesem Nobel-Sushi-Laden bestellen, der abartige Preise hatte.
      Die Hintertür ächzte leise. Betont gelassen drehte sich der Apothekar auf den Fersen herum, die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben. „Jo, man. ‚s neu, dass du die Uhr lesen kannst. Haste Stress gehabt?“
      Der Mann, der herein kam, sah viel zu gepflegt für das Geschäft aus, das er gleich abschließen würde. Er trug sogar einen Anzug von einer nicht gerade günstigen Marke, aber das und den Fakt, was er kaufen würde, brandmarkten ihn schon als Freak. Der Kerl war einer seiner Stammkunden, weswegen sich der Apothekar die Freiheit nahm, so mit ihm zu reden. Mittlerweile war der Freak auch nicht mehr so sehr angespannt wie bei den ersten Käufen; er hatte angebissen und kam nun nicht mehr von ihm weg.
      „Die kontrollieren alle Magier ein bisschen zu intensiv für meinen Geschmack.“ Selbst die eloquente Aussprache passte zu dem Angestellten, der mehr über sich nicht verraten hatte. „Man vermutet, dass dieses Mädchen mit anderen Magiern zusammenarbeitet und einer radikalen Gruppe angehört. Das macht das unbeobachtet ausgehen etwas schwieriger.“
      Der Apothekar schnaubte. Als ob ihn das kümmern würde, ob die Freaks Probleme mit ihrer Freizeit hatten oder nicht. „Das Übliche? Oder mehr?“
      „Gib mir mal für einen Monat, falls du da hast.“ Der Mann war mittlerweile aufgeschlossen und kramte völlig lapidar seine Geldbörse hervor, aus der er ganze Bündel Dollarscheine nahm. Er zählte die Scheine vor den Augen des Apothekars, der vier Tüten seiner Pillen aus den Taschen gezogen hatte. „Man weiß ja nicht, wann man das nächste Mal unbeobachtet kaufen gehen kann. Keine Ahnung, warum sie dich noch nicht aus dem Verkehr gezogen haben.“
      „Weil die scheiß Justiz kein Interesse an kleinen Fischen hat“, erwiderte er schnippisch und tauschte Tüten gegen Geld. Nun nahm das den Platz in seinen Taschen ein. „Sei doch froh, Alter. Solange die sich einen Scheiß um mich scheren hast du immer sicher Stoff. War mal wieder ‚ne Freude mit dir.“
      Der Mann zählte die Tabletten, steckte sie ein und nickte. „Ich meld mich, wenn mein Vorrat zur Neige geht.“
      „Immer doch.“
      Und damit trennten sich ihre Wege schon wieder. Die Summe, die der Apothekar gerade verdient hatte, würde mehrere Mieten decken können. Deshalb machte er mit Freaks, die so viel Asche verdienten, gerne Geschäfte. Die schmissen mit Geld praktisch um sich und er war sich nicht zu schön, auch die letzten Reste am Boden davon aufzusammeln.
      Wie immer vertrödelte er nun noch mehr Zeit in dem alten Laden. Ging er zu schnell und einer von ihnen wurde angehalten, konnte man sie in Verbindung bringen. Außerdem hütete er seine Adresse wie seinen wertvollsten Schatz, ebenso sehr wie seinen echten Namen und Aussehen. Er blieb lieber der gesichtslose Dealer ohne Namen und Herkunft. Das machte das Leben deutlich einfacher. Also schlenderte er wieder durch den Laden, das tat er normalerweise gut zwanzig Minuten.
      Dieses Mal geschah jedoch etwas nach gerade einmal sieben Minuten.
      Der Apothekar hielt in seiner Bewegung inne, als er klackende Geräusche vernahm. Es dauerte einen Moment ehe er das Geräusch mit den Krallen von Tieren in Verbindung brachte. Hastig sah er sich um auf der Suche nach dem Vieh. Wenn das ein verirrter scheiß Bär war, dann musste er schleunigst die Füße in die Hände nehmen. Wär’s nur ein klappriger Köter, könnte er ihn auch einfach zur Not wegtreten.
      Leider war es keines von Beidem. Der Apothekar stand fast mittig im Laden, nur ein verramschter Tresen stand zwischen ihm und dem Ding, das sich aus der Tür schälte, die zum hinteren Lagerhaus führen musste. Eigentlich kannte der Apothekar das Angstgefühl sehr gut, aber sein letzter Schuss Heroin war noch nicht so lange her, als dass er das Gefühl in sich gespürt hätte. Trotzdem bildete sich da ein Stein in seinem Magen, als sich das Biest aus der Dunkelheit löste. Sofort fror er an Ort und Stelle fest, während sich das Vieh weiter pirschte und ihn schließlich entdeckte. Es richtete sich zu seiner vollen Größe auf und starrte den Maskenmann mit unwirklichen Augen an. Das war kein wildes Tier. Oder generell ein normales Tier.
      „Oh, fuck“, flüsterte er gedämpft durch die Maske, aber mehr als das kam nicht mehr. Explosionsartig erinnerte er sich an die Berichtserstattung von heute Morgen. Die kleine Terroristin hatte mit einem Hund/Monster/Wasauchimmer an ihrer Seite alles kalt gemacht. Die Beschreibung war ziemlich eindeutig gewesen und das, mit dem er sich gerade ein Blickduell lieferte, passte wie Arsch auf Eimer dazu. Groß, schwarz, freakiger Schwanz und abnormale Augen. Das Ding schrie förmlich, magischer Natur zu sein, und allein das löste irgendetwas in ihm aus, dass ihm die Bewegung untersagte. Da war Hass, da war Argwohn, dar war doch tatsächlich auch noch eine Spur Angst versteckt. Scheiße, scheinbar ließ seine Dosis doch schneller nach als gedacht.
      Aber wo das Vieh war, war seine Besitzerin vermutlich nicht sehr weit. Vielleicht hockte sie hinten im Lager und hatte das Vieh auf ihn gehetzt, um seinen Stoff zu klauen. Er hatte keine Waffen dabei, die er zur Verteidigung einsetzen konnte. Also blieb ihm nur die Flucht, sofern sich die Tussi nicht zeigte. Wenn er an sie rankäme und den Draht zu ihrer Vereinigung bekam, dann wäre sein unterdurchschnittliches Leben endgültig vorbei. Dann könnte er vielleicht endlich zu den ganz Großen aufsteigen.
      Unter seiner Maske grinste der Apothekar wie ein Irrer. Viel wahrscheinlicher war er einfach nicht mehr weit vom Wahnsinn entfernt.
    • Georgia hörte zunächst nichts. Sie war zu sehr abgelenkt von dem fürchterlichen Klacken, das sie bis in ihre Träume verfolgte und sich jetzt langsam wieder von ihr entfernte. Aber dann:
      "Jo, man... Uhr lesen... Stress...?"
      Die Stimme kam vom Supermarkt herüber, weit entfernt, aber gleichzeitig furchtbar laut in dem sonst leer stehenden Raum. Georgia gefror am ganzen Körper und riss die Augen auf. Sie war ganz sicher alleine gewesen, als sie hereingekommen war. Sie war ganz sicher alleine gewesen!
      Der ersten Stimme schloss sich aber kurz darauf eine zweite an und Georgia hätte fast wieder losweinen können.
      "Die kontrollieren... für meinen Geschmack... Mädchen... radikalen Gruppe..."
      Georgia hätte fast ein Geräusch von sich gegeben, aber rechtzeitig biss sie sich noch auf die Zunge. Es waren Polizisten. Natürlich würden sie irgendwann herfinden, das hatte sie auch gar nicht anders erwartet, aber jetzt schon? So bald schon? Sie waren ihr so dicht auf den Fersen? Unter all die Verzweiflung und Angst mischte sich jetzt Hilflosigkeit, denn so langsam wusste sie keinen Ausweg mehr. Sie konnte nicht für ewig weiterlaufen, das war ihr klar, aber jetzt schon? Jetzt sollte es vorbei sein? Sie hatte doch noch nicht einmal herausgefunden, wie sie sich von diesem Biest befreien konnte!
      Zitternd und noch immer tränenlos weinend, entfaltete sie ihren Körper und begann dann vorsichtig den Abstieg zurück zum Boden. Das Klacken der Krallen hatte längst wieder aufgehört und Georgia wusste selbst, dass die Bestie schon längst aufmerksam geworden war, wenn auch sie die Männer gehört hatte. Damit hatte sich ihr vorheriger Plan verflüchtigt und der nächste trat in Einsatz: Zurück zu ihrer Kreatur finden. Und dann... entweder die Kreatur davon abhalten, noch mehr Opfer zu fordern, oder den Polizisten den Weg zu ihr zeigen. Das waren zwei Dinge, die Georgia noch nicht gänzlich ausgearbeitet hatte, aber sie hatte ja keine Wahl. Was sollte sie sonst tun? Wo sollte sie sonst hin?
      Sie wischte sich die laufende Nase mit dem Handrücken ab, um nicht auch noch laut schniefen zu müssen, und schlich dann leise in Richtung Ausgang. Zum Glück waren hier kaum Fenster, was die ganze Halle recht düster machte, wodurch sie sich neben den Ausgang auf den Boden kauern und hinaus stieren konnte.
      Von den beiden Männern, die sie gerade noch gehört hatte, war nur noch einer übrig geblieben und der stand jetzt mitten im leeren Supermarkt und vor ihm - und gerade mal zwei Meter von Georgia entfernt - die Bestie. Die beiden Lebewesen schienen sich ein Blickduell zu liefern, von dem Georgia genau wusste, dass nur eine es überleben würde.
      Der Mann war kein Polizist. Er war sogar weit davon entfernt, außer man hatte mittlerweile dem FBI eine so lächerliche Uniform gegeben, als kämen die Angestellten aus dem Karneval. Er war groß und schlank und in einen schwarzen Mantel gehüllt. Mit der Maske sah er irgendwie aus wie eine mitten im Raum abgestellte Statue.
      Aber er konnte ein Magier sein. Oh, um alles in der Welt, es war einer der Magier, die sicher schon geschickt worden waren. Die Polizei hatte schon längst aufgegeben, das Monstrum mit gewöhnlichen Waffen zu bekämpfen und schickte jetzt seine Magier. Er war einer von den ausgebildeten und beherrschte sicher irgendwas weltenbewegendes. Vielleicht konnte er den Boden öffnen und die Kreatur einfach wieder dort hineinfallen lassen, wo sie herausgekommen war - und Georgia gleich mit. Um Gottes Willen, er würde sie gleich mit ins Jenseits befördern. Ob es wehtun würde? Ob sie leiden würde, wenn sie von Magie verging?
      Während Georgia so hinter dem Ausgang versteckt saß und um ihre Fassung rang, die ihr wieder abhanden zu kommen drohte, bewegte sich die Bestie. Ihre pupillenlosen Augen hatten sich auf den Magier festgesetzt und die Fühler zu beiden Seiten ihres Mauls bewegten sich: Sie drehten sich und zitterten, die Härchen wackelten wie von einem unsichtbaren Wind getroffen. Es raschelte dadurch ganz fein, ein Geräusch, das Georgia trotzdem eine Gänsehaut verpasste.
      Langsam kam die Bestie auf den Fremden zugeschritten. Sie hatte den lauernden Gang einer Hyäne, die zu jeder Zeit bereit war, ihre Beute anzuspringen, und der lange, abartige Schwanz strich hinter ihr von links nach rechts und wieder zurück über den Boden. Es gab generell wenig an dem Körper des Wesens, das wirklich stillstand; die dicke Mähne auf dem Kopf wog leicht hin und her, die Auswüchse unter dem Maul bogen und krümmten sich, selbst diejenigen an den Beinen hielten nie ganz still. Es war schwierig, die Bestie zu beobachten, denn das Spiel ihrer Muskeln ging in den allgemeinen Bewegungen ihres Körpers unter, etwas gänzlich unbekanntes für das menschliche Auge. Selbst ihre eigenen Augen waren unwirklich; entweder, sie war blind, oder ihre ganzen Augen waren einzige, riesige Pupillen. So, wie sie aber den Fremden anstarrte, schien eher letzteres der Fall zu sein.
      Es war unmissverständlich, dass sie auf ihn zuhielt, und auch Georgia konnte das aus dem Rücken der Bestie heraus erkennen. Während sie sich noch hinter den Ausgang duckte und ihr Gehirn anzustrengen versuchte, wie sie sich aus dieser Lage nur befreien konnte, kam ihr ein ganz dummer, fürchterlicher Plan. Aber Georgia war verzweifelt genug, dass ihr jeder Plan besser als gar keiner schien.
      So richtete sie sich ein bisschen auf, nicht um hinter dem Ausgang zu erscheinen, sondern um ihr Zittern in den Griff zu kriegen. Sie nahm einige sehr tiefe, sehr erfolglose Atemzüge und räusperte sich ganz leise, bevor sie mit all ihrer Überzeugung nach draußen rief:
      "Verschwinde! Hau ab oder ich hetze meine Bestie auf dich!"
      In ihrer Vorstellung hätte das unheimlich klingen müssen; die körperlose Stimme aus dem düsteren Lagerraum, die selbstbewusst und kräftig heraus rief, was für ein Schicksal auf den Magier warten würde. Aber Georgia hatte in den letzten Tagen ihrer Stimme eine ungesunde Kombination aus Schreien, Weinen und Schweigen abverlangt, wodurch sie jetzt ganz heiser war. Vor allem war sie aber hoch und klang mehr wie ein Kind als wie eine selbstbewusste, kräftige Magierin, wodurch sie das Bedürfnis hatte noch hinzuzufügen:
      "... Ich mein's ernst!"
      Wenn die Bestie sie gehört hatte, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken. Es war sowieso nicht klar, ob sie überhaupt Ohren hatte, nach allem was Georgia über sie wusste. Aber gute zwei Meter vor dem Fremden blieb sie stehen, den alles-sehenden Blick immernoch auf ihn gerichtet, öffnete die Lefzen und streckte eine mit winzigen Widerhaken besetzte, breite Zunge hervor. Es sah aus, als würde sie sich über den Mann lustig machen, weil ihre Lefzen sich so weit nach hinten zogen wie ein Grinsen. Aber da war gar nichts lustiges an der Art, wie sie jetzt über ihre Fangzähne leckte, als würde sie sich auf ihr nächstes Mahl freuen.
    • Die Füße des Apothekars mussten auf dem Boden festgewachsen sein. Eine andere Erklärung für die grandiose Idee, sich einfach nicht zu bewegen, gab es einfach nicht. Das Grinsen unter der Maske wurde starr, als ihm auffiel, dass sich das Vieh in seine Richtung bewegte. Immer wieder suchte er nach einem Punkt, auf den er sich fixieren konnte, aber an dem Vieh bewegte sich buchstäblich alles. Es verschwamm vor seinen Augen zu einer sich ständig bewegenden, schwarzen Masse mit stechenden Augen.
      Der junge Mann war stocksteif unter seinem Mantel. Was andernfalls vielleicht wie eine abwartende Haltung aussah, war in Wahrheit das Streiken seiner Glieder. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass seine Dosis am Morgen zu wenig gewesen sein musste, denn die Angst mähte sich durch die emotionale Taubheit hindurch. Es lähmte seine Glieder und er war sich sicher, dass diese lächerlichen Freaks in der Polizei nicht so eine Urangst in ihm ausgelöst hätten. Gut, dass er die Maske trug und sein Gesicht damit verhüllt war. Den Ausdruck wollte er nun wirklich niemanden zeigen. Stattdessen war er am abwägen, welche Reaktion ihm die größtmögliche Überlebenschance ließ. War das Ding wie ein Bär und ließ sich aushalten? Oder eher ein Wolf, der einen hetzen würde? Ein Löwe, der sich auf ihn stürzte und ihn niederrang? Oder eher –
      „Verschwinde! Hau ab oder ich hetze meine Bestie auf dich!“
      Die junge Frauenstimme riss ihn aus seinem Gedankenschwall und ließ ihn seine beschleunigte Atmung wieder zurückfahren. Fahrig suchte er hinter der Bestie nach dem Mädel, das mit Sicherheit blond und verdammt jung war. Jeder hatte sie oft genug auf den Bildschirmen flackern sehen und ausgerechnet er hatte sie nun durch Zufall gefunden.
      So ein Zufall wie damals die Liste, die die Zutaten für Magipramin enthielten.
      „Hast du die Bullen vorher auch gewarnt bevor du sie zerfleischt hast?“, rief er nur mittelstark zurück, weil er Sorge hatte, dass das Vieh vor ihm durch laute Stimmen getriggert wurde. Worauf reagierte das Ding überhaupt? Oder war es nur ein Schlagwort von ihr und dann griff es an? Mit der heiseren Stimme, die ihm entgegen schallte, kaufte er ihr das Dasein als kaltblütige Mörderin irgendwie nicht ab. Wie gesagt; zu jung, zu naiv. Oder er täuschte sich einfach schlichtweg.
      „Ich mein’s ernst!“
      „Und ich nicht, oder was?“, warf er ihr zurück, was erstaunlich schnippisch rüberkam. Sofort lag seine Aufmerksamkeit jedoch wieder auf der Bestie, die ein äußerst verstörendes Rascheln von sich gab. Was zum Fick raschelte an dem Drecksvieh denn so laut? Gott sei Dank hatte es immerhin angehalten, wenn auch nur knapp zwei Meter vor ihm. Wieder starrten sie sich gegenseitig an, der eine ohne sichtbares Gesicht, der andere mit keinen erkennbaren Pupillen. Er war sich sicher, dass er sich in diesen seelenlosen Augen verlieren würde, wenn er sie weiterhin so anstarrte. Also richtete er seinen Blick auf diese widerwärtige Zunge, die sich aus dem Hals des Viehs streckte. Er hätte sich fast geschüttelt, als er die Widerhaken auf der Zunge sah. Das Ding hatte den Polizisten vermutlich das Fleisch von den Knochen geraspelt.
      „Pass mal auf, Mädchen. Meinste nicht, dein Viech hier hätte mit Magiern mehr Spaß?“ Zugegeben, sein Look ließ nicht sofort darauf schließen, dass er nicht menschlich war. Vielleicht war eine Info nicht schlecht und es erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Vieh zurückrief. „Schon beeindruckend, was du da abgezogen hast vor vier Tagen. Bist im Mund aller Wichser im Umkreis. Wo sind denn deine Leute, um dich rauszuholen, wenn’s eng wird?“
      Er konnte nicht anders. Er musste sich vorstellen, wie diese Zunge sein Fleisch von den Knochen raspelte. Zunehmend wurde sein Puls schneller und ihm langsam schwindelig. Sogar seine Knie wurden beinah weich. Der Fakt, dass eine Antwort ihrerseits ausblieb, war Hinweis genug.
      „Schon scheiße, wenn einem niemand hilft. Schon klar. Die Wichser können dich alle mal kreuzweise. Übrigens auch scheiße, wenn man sich in einem abgeranzten Laden verkriechen musst. Hast keinen Plan B, was?“
      Schon wieder leckte sich das Vieh vor ihm über die Zähne. Er konnte es nicht länger herauszögern. Seine Beine knickten langsam ein, vorsichtig streckte er die Hände zu den Seiten aus um den Fall, der es in Wirklichkeit war, abzufangen. Es geschah nur so langsam, dass es aussah, als würde er sich freiwillig setzen. Und sich dadurch auf Brusthöhe zu der Bestie begab. Jetzt konnte es ihm wortwörtlich den Kopf abbeißen.
      Wenigstens ging das schnell…
      „Wenn du keine Bleibe hast, kann ich dir was anbieten. ´s nich´ viel, aber besser als nichts. Verschanzen dich bei mir bis sich der Scheiß ein bisschen gelegt hat und dann sehen wir weiter. Kannst gehen, wenn du willst oder bleiben – mir egal.“ Dann sollte man ihm eben vorwerfen, dass er nach jedem Strohhalm griff. Wer würde das nicht in einer Situation wie dieser? „Kannst mich Apothekar nennen, wenn du Bock hast. Unter dem Namen lauf ich hier herum. Versorg die Leute mit Stoff und so. Flieg schon so lange unterm Radar der Bullen, da krieg ich dich auch noch unter. Sofern du dein Ding da zurückrufst. Das ist verdammt gruselig.“
    • "Hast du die Bullen vorher auch gewarnt bevor du sie zerfleischt hast?", rief der Mann zurück.
      So unscheinbar er auch gewesen sein mochte, der Schlag hatte gesessen. Georgia gab einen erstickten Laut von sich und schlug sich beide Hände über den Mund. Ihr Körper wurde geschüttelt von einem tränenlosen Heulkrampf, der nicht aufhören wollte. Jäh überkamen sie die Bilder von vor vier Tagen, mit denen sie seitdem zu kämpfen hatte - alleine, denn die einzigen Leute, mit denen sie bisher gesprochen hatte, waren Polizisten hinter Megaphonen gewesen. Und die hatten auch nur verlangt, dass Georgia sich stellen sollte, egal, was sie dazu zu sagen hatte.
      Am besten, die Bestie würde auch diesen Mann hier einfach als Snack verspeisen. In ihrer Verzweiflung hätte Georgia das vermutlich sogar ohne schlechtes Gewissen zugelassen - was war schon der Unterschied zwischen 46 und 47 Opfern? - aber sie saß so nahe dran, dass sie unweigerlich das Schmatzen hören würde. Das Reißen von Fleisch. Das Spritzen von Blut. Das Brechen von Knochen.
      Nein, das konnte sie nicht. Nicht nochmal. Sollte die Bestie damit anfangen, sie würde um ihr Leben rennen.
      Soweit kam es aber erstmal nicht. Was auch immer der Grund dahinter war, dieses Mal warf sich die Bestie nicht mit vollem Körpereinsatz auf ihre Beute und zerriss, was unter ihre Fänge kam. In vier Tagen hatte Georgia noch nicht begriffen, wie das Wesen tickte und was es zum Angreifen brachte, aber dieser Kerl, der mitten im leeren Supermarkt stand, fiel offenbar nicht unter die Kategorie. Zumindest noch nicht.
      Sie nahm wieder einige Atemzüge, um ihre Nerven zu bewahren. Wieso war sie auch ausgerechnet hierher gekommen?
      "Pass mal auf, Mädchen."
      Leise schniefte sie und passte tatsächlich auf.
      "Meinste nicht, dein Viech hier hätte mit Magiern mehr Spaß?"
      Was sollte das denn bedeuten - eine Falle vielleicht? Wollte er Georgia in Sicherheit wiegen, damit sie herauskam? Damit er sie doch erwischen könnte, mit welcher Fähigkeit auch immer? Brauchte er vielleicht Sichtkontakt zu ihr? Vielleicht war er doch nicht alleine gekommen - vielleicht warteten noch mehr draußen?
      Das waren alles keine neuen Gedanken für die Flüchtige, die schon seit vier Tagen die Freiheit zu erreichen versuchte. Es erschreckte sie dennoch, dass sie sich langsam daran gewöhnen konnte, auf so eine Weise zu denken. Wie hatte das nur so schnell passieren können? Wie war sie so schnell hier gelandet?
      "Schon beeindruckend, was du da abgezogen hast vor vier Tagen. Bist im Mund aller Wichser im Umkreis. Wo sind denn deine Leute, um dich rauszuholen, wenn’s eng wird?"
      Der Typ redete immernoch und das ziemlich locker für jemanden, der einer mannshohen außerweltlichen Kreatur gegenüberstand. Im Gegensatz zu Georgia war seine Stimme nicht zittrig und viel zu hoch, er hörte sich sogar fast an, als würde er nur mit ihr plaudern. Vielleicht war sein Ton ein bisschen ungleichmäßig, aber wirklich, es wäre auch gruselig gewesen, wenn er das nicht gewesen wäre. Dafür schien er wohl ein Talent zu besitzen, den Nagel immer auf den Kopf zu treffen.
      "Schon scheiße, wenn einem niemand hilft. Schon klar. Die Wichser können dich alle mal kreuzweise. Übrigens auch scheiße, wenn man sich in einem abgeranzten Laden verkriechen musst. Hast keinen Plan B, was?"
      Georgia verkroch sich tiefer an der Wand hinter dem Ausgang. Wenn sie nur die Augen fest genug schloss, dann würde der Albtraum irgendwann vorbeigehen. Irgendwann würde sie sicher im Bett aufwachen und feststellen, dass sie einen richtig fiesen Traum gehabt hatte. Irgendwann, sicher. Irgendwann, irgendwann.
      "Wenn du keine Bleibe hast, kann ich dir was anbieten. ´s nich´ viel, aber besser als nichts. Verschanzen dich bei mir bis sich der Scheiß ein bisschen gelegt hat und dann sehen wir weiter. Kannst gehen, wenn du willst oder bleiben – mir egal."
      Georgia horchte wieder ein bisschen auf. Hatte er ihr wirklich angeboten, bei ihm unterzukommen? Das war doch Wahnsinn - von beiden Seiten. Warum sollte er eine vermeintliche Terroristin bei sich aufnehmen wollen? Außer, es wäre eine Falle, außer er wollte sie nur damit hervorlocken. Aber mit sowas?
      "Kannst mich Apothekar nennen, wenn du Bock hast. Unter dem Namen lauf ich hier herum. Versorg die Leute mit Stoff und so. Flieg schon so lange unterm Radar der Bullen, da krieg ich dich auch noch unter. Sofern du dein Ding da zurückrufst. Das ist verdammt gruselig."
      Apothekar - das war ein seltsamer Name und einer, der sehr gut zu einem Drogendealer passen konnte. Georgia war zwar noch nicht so lange bei der Polizei gewesen, aber sie hatte schon ein gewisses Gefühl dafür entwickelt, in welche Richtungen manche Leute abgingen. Und Apothekar... sie würde es vermutlich gar nicht wissen wollen. Was auch immer sein Geschäft war, sie wollte es nicht wissen.
      Im Supermarkt trat die Bestie jetzt einen weiteren Schritt nach vorne. Sie war ganz eindeutig unbeeindruckt davon, dass ihrem Opfer langsam der Kreislauf versagte und hätte man sie studieren können, hätte man ihr womöglich zuschreiben können, dass genau das ihre Art zu jagen war. Aber in diesem Moment holte sie nur die letzte Distanz auf und öffnete das Maul.
      Heißer, schwelender Atem drang heraus und auf den Kopf des Mannes unter ihr. Die Fühler raschelten zu beiden Seiten, vibrierten, zitterten und zuckten. Der Schwanz strich hinter ihr über den Boden und fegte Schutt und Asche in die Luft.
      Dann wandte sie sich mit einem Mal ab, gab ein kehliges, halblautes Röhren von sich und stapfte in eine andere Richtung davon, mit einem Mal weder interessiert an dem Fremden, noch an Georgia. Sie stakste in einen Gang, der wohl mal mit Haushaltsmitteln vollgestellt war, und strich mit ihren Fühlern über die Regale.
      Nun war die Sache die folgende: Georgia hatte tatsächlich keinerlei Kontrolle über diese Kreatur. Wenn sie die hatte, dann hatte sie noch nicht herausgefunden, wie sie einzusetzen war. Die Bestie handelte aus eigenem Willen und wenn Georgia ihr sagte, dass sie etwas tun oder lassen sollte, dann konnte sie allerhöchstens darauf hoffen, einen halben Blick abzubekommen. Dementsprechend hatte das Mädchen tatsächlich keinerlei Zutun daran, dass die Bestie sich so plötzlich von dem Mann abwandte und davon stolzierte.
      Aber das konnte sie ihn nicht wissen lassen. Das konnte und durfte sie ihn beim besten Willen nicht wissen lassen, denn die Bestie war die einzige Sicherung, die sie noch am Leben erhielt. Und wenn er wüsste, dass sogar Georgia genauso ratlos war...
      Deshalb war ihr die Wahl insofern abgenommen worden. Schnell stand sie auf, klopfte sich ihre schmutzige Uniform etwas ab und versuchte ihre Haare zu richten, damit sie nicht ganz so mitgenommen aussah. Natürlich war der Effekt eher verschwindend gering. Trotzdem schlich sie so nach draußen, die Schultern hochgezogen und den verquollenen, geröteten Blick auf den Apothekar gerichtet.
      "... Okay. Aber wenn das... wenn das ein Trick sein soll, dann wird sie dir gleich den Kopf abreißen. Ohne zu zögern."
    • Er brauchte ganz dringend einen neuen Schuss.
      Er spürte richtig, wie sich die Angst tief in seinem Kern bildete und langsam wie ein potentes Gift seinen Körper ergriff. Schon immer hatte er dieses Gefühl gehasst und tötete es mit dem Heroin ab, was sein ständiger Partner geworden war. Angst lähmte einen, so wie man es ihm gerade passenderweise auch sah. Nur war gelähmt sein eine Eigenschaft, die ihm jetzt vielleicht zum Verhängnis wurde. Was auch immer er noch hätte sagen wollen; er konnte es nicht. Worte formten sich nicht, als sein Atem nur noch abgehakt kam, während sich die Bestie noch weiter annäherte.
      Trotzdem hielt er seinen Kopf nicht gesenkt, wie als sei er bereit, ein Urteil anzunehmen. Stattdessen hob er den Blick und fixierte das Maul der Bestie, das sich über seinem Kopf öffnete und ihm heißer Atem entgegenschlug. Das Ding fraß also Menschen. Wie passend, wenn man es so betrachtete. Dann würde er immerhin als einer von Dutzenden auf der Liste ihrer Opfer stehen und hätte so seinen Namen hinterlassen.
      Seinen Namen hinterlassen…. Das stimmte nicht. Wenn man ihn hier fand und das Vieh ihn nicht komplett auffraß, dann würde man seinen Namen nicht kennen. Nur seine Maske würde darauf hinweisen, dass dieses Opfer der Apothekar gewesen war. Der Apothekar, nicht der Mann, der dahintersteckte.
      Die Fühler der Bestie waren jetzt ganz nah. Er hätte seine Hand nach ihnen ausstrecken können, nach diesen Minischlangen, die scheinbar planlos durch die Gegend zuckten. Vielleicht nahmen sie gerade seine Angst wahr oder prüften, ob er selbst Magie besaß oder nicht. Deuteten, ob sich die Beute wehren konnte oder nicht. Dieses Warten auf das Ende war vermutlich das Zweitschlimmste in seinem bisherigen Leben. Inständig hoffte er, dass das Vieh es schnell machen würde. Ihm einfach den Kopf abbiss und gut war es.
      Doch dann drehte die Bestie einfach ab und ging.
      Reglos verharrte er in seiner Haltung bis das Vieh in einen anderen Gang abdriftete und dort die Regale abtastete. Erst dann sackte seine gesamte Haltung ab, als die Spannung aus ihr wich und er einen tiefen Atemzug machen konnte. Seine Worte hatten gereicht. Sie hatte ihren Schoßhund zurückgepfiffen. Aber wie? Da war kein Laut, kein nichts. Funktionierte Magie auch so? Er wusste es nicht.
      Dafür offenbarte sich jetzt die Halterin des Schoßhundes. Sein Blick schoss instant zu ihr und blieb an ihrem Gesicht hängen. Ihr Gesicht war verquollen, gerötet und alles andere als entspannt. Furchen des Stresses hatten sich in ihr junges Gesicht gegraben, aber nichtsdestotrotz war das Georgia Yates. Er hatte allen Ernstes Georgia Yates gefunden. Wie viel Glück konnte ein verfickter Mensch eigentlich haben?
      „Schon klar, schon klar, Miss“, wehrte er leichtfertig ab und schüttelte seine Arme, damit er wieder Gefühl in ihnen bekam. Ein bisschen brauchte er noch am Boden, bis es seine Beine auch wieder taten. Aber anziehen konnte er sie wenigstens schon mal. „Alles cool, du sitzt mit dem Vieh sowieso am längeren Hebel. Wie gesagt, nichtmagisch.“ Er deutete auf sich selbst und zuckte mit den Schultern.
      Georgia sah verdammt mitgenommen aus. Nicht wie jemand, der kaltblütig Leute ermordete oder von einer Organisation gefüttert und da rein geschickt worden war. Oder man hatte einfach damit gerechnet, dass sie da drin starb und keinen Plan B für sie entwickelt. Spuren verwischen. Das konnte es natürlich auch sein. Wäre ja auch dämlich gewesen, völlig allein so eine Aktion abzuziehen. Also musste er sie ein wenig bei Laune halten, ihr Vertrauen gewinnen, damit sie ihn schließlich doch zu ihren Leuten führte. Ein bisschen investieren, bevor der ganz große Gewinn winkte…
      „Nicht für Ungut, aber du siehst echt beschissen aus.“ Von den Klamotten her. Sexuell betrachtet war sie unverschämt hübsch. „Wie lange sitzt du hier schon? ´n Tag? Länger? Was auch immer, tagsüber krieg ich dich nicht in meine Wohnung, da müssen wir auf die Nacht warten. Gibt aber einen anderen Ort, den wir solange aufsuchen können. Du musst nur erst was DAGEGEN machen.“
      Jetzt zeigte er auf Georgia, deutete mit geöffneter Hand von oben nach unten. Die Polizeiklamotten verboten es ihr, auch nur ansatzweise irgendwo umher zu laufen, wo andere Menschen waren. Ganz davon zu schweigen, dass sie immer noch Blutspuren auf den Kleidern hatte.
      Langsam, aber erfolgreich, stand der Apothekar auf und klopfte sich seinen Mantel glatt. Das Geld war immer noch sicher in seiner Tasche, genauso wie die restlichen Tabletten. Am liebsten hätte er ihr schon etwas Magipramin gefüttert, aber das Mädel würde wahrscheinlich keine Drogen anfassen. Er würde sie ihr schmackhaft machen müssen, bis sie schließlich den Fehler beging und weich wurde. Dann hatte er sie am Haken.
      Er kramte in seinen Taschen, zog die Geldbündel und die kleinen Tütchen heraus, um sie in die Taschen seiner schwarzen Jeans zu stecken. Sein eigentliches Portemonnaie ließ er im Mantel, denn dafür reichten seine anderen Taschen nicht mehr aus. Dann öffnete er ihn und schälte sich aus ihm heraus, nachdem er die Kapuze über den Kopf zurückgeworfen hatte. Zum Vorschein kam braunes, lockiges Haar und etwas abstehende Ohren. Die goldene Maske war jetzt das Prominenteste an seinem Auftreten, da Hose und Hoodie in sattem Schwarz gehalten worden waren. Der Hoodie täuschte darüber hinweg, wie dünn er eigentlich war.
      Er legte den Mantel über seinen Arm und streckte ihn Georgia hin. Sie würde wohl regelrecht in ihm versinken, doch das war genau das, was sie jetzt brauchten. Aus einer weiteren Tasche zog er seine Zweitmaske heraus; eine Halbmaske im Stil eines Oni. Verdeckte nicht die Augenpartie, dafür aber den Rest. Das sollte reichen falls jemand auf die Idee kam, einen Blick unter die Kapuze zu werfen.
      „Lust auf einen Ausflug in die dreckigen Ecken der Stadt, Miss Yates?“
    • Der Apothekar war mittlerweile auf den Boden gesackt. Das erste mal, als Georgia heraus gesehen hatte, hatte er fast furchtlos der Bestie gegenübergestanden, aber während dieser kurzen Unterhaltung, die sie geführt hatten, hatte ihn wohl dieser anfängliche Mut verlassen. Jetzt saß er auf dem Boden, als hätte er sich dazu entschlossen, eine kurze Pause einzulegen.
      Georgia konnte es ihm nicht verübeln. Sie blickte zu der Stelle, wo die tiefschwarzen Haare der Bestie ein Stück über die Regale hinausragten und im Takt ihres langsamen Schrittes wippten. Klack, klack. Klack, klack. Ein Rascheln. Ja, wenn Georgia es schon nicht aushielt, der Kreatur so nahe zu sein, wie könnte es dann ein anderer?
      Sie richtete ihren Blick wieder auf den Mann vor ihr. Er sah nicht aus wie die typischen Dealer, mit denen sie in der Ausbildung zu tun gehabt hatte. Diejenigen, die sich durch die Straßen schlichen und ihr Zeug an der nächstbesten dunklen Ecke zu verscherbeln versuchten, hatten immer eine gewisse Ausstrahlung von Verwahrlosung und trugen meist die Spuren eben jenen Zeugs an ihrem eigenen Körper. Vielleicht traf das für diesen hier auch zu, aber er machte sich zumindest die Mühe, seinen Körper in einem dunklen Mantel zu verhüllen und sein Gesicht versteckt zu lassen. Ob sein Gesicht bekannt war? Ob Georgia ihn in eine der Akten im Büro hätte finden können? Das wollte sie lieber nicht so genau wissen. Im Moment zählte nur, dass der Mann bisher noch kein Handy gezückt hatte, dass er nicht davongelaufen war und dass er ihr eine Unterkunft angeboten hatte, ohne die Polizei ins Spiel zu bringen.
      Es könnte trotzdem eine Falle sein. Aber Georgia hatte seit vier Tagen kaum etwas gegessen, sie trank Regenwasser und von Bächen, wenn sie denn welche fand, und Waschen war ein Luxus-Gut für sie geworden. Wenn es eine Falle war, dann sollte es wohl so sein. Langsam ging ihr die Kraft dazu aus, sich noch weiter gegen ihr Schicksal zu wehren.
      "Nicht für Ungut, aber du siehst echt beschissen aus."
      Sie schniefte, ohne zu antworten. Ihre Augen brannten wieder, aber die Tränen waren ihr schon heute Morgen ausgegangen.
      "Wie lange sitzt du hier schon? ´n Tag? Länger?"
      Schweigen.
      "Was auch immer, tagsüber krieg ich dich nicht in meine Wohnung, da müssen wir auf die Nacht warten. Gibt aber einen anderen Ort, den wir solange aufsuchen können. Du musst nur erst was DAGEGEN machen."
      Georgia blickte an sich selbst herab. Ihre Uniform war mal grünlich gewesen, jetzt war sie hauptsächlich grau, aber immernoch als solche zu erkennen. Die Nähte waren aufgerissen und der Saum hatte sich in Fransen verwandelt, an der Schulterpartie war ein ganzes Stück abgerissen und der Ärmel des bandagierten Armes war völlig verschwunden. Ihre Hose war mit Dreck beschmiert und das polizeiliche Wappen hatte Blutspritzer abbekommen wie ein sehr düsteres, furchtbares Omen. Und das war nur ihre Uniform, ganz unabhängig von ihren Haaren und ihrem Gesicht.
      Wieder schniefte sie, dann schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. Dabei musste sie den bandagierten Arm mit der anderen Hand halten, denn er pochte unaufhörlich, war glühend heiß und schmerzte auf eine konstante, unangenehme Weise. Da konnte sie nicht auch noch Druck ausüben.
      "Ich habe keine Ersatzklamotten."
      Am liebsten hätte sie schon wieder geheult. Es saß quasi schon in ihrer Kehle und drückte ihr den Hals zu, aber sie bemühte sich nach Leibeskräften, nicht schon wieder damit anzufangen. Nicht vor ihm. Von der Seite hörte sie das ferne Rascheln der Bestie und das half ihr ein wenig, gegen sich selbst anzukämpfen.
      Sie hatte keine Ahnung, was hinter der Maske vorging. Der Apothekar musterte sie vermutlich für einen Moment, dann nahm er sich Sachen aus seinem Mantel heraus und begann, ihn sich abzuschälen. Georgia sah ihm wortlos dabei zu, während sie nur daran denken konnte, dass sie diesen Mantel mit sich einsauen würde, dass er hinterher nicht mehr dieselbe kräftige, dunkle Farbe wie davor haben würde, sondern staubig und schmutzig und blutig sein würde. Aber sie hielt ihn nicht davon ab, ihr den Mantel zu geben. Sie war zu erschöpft, um sich um andere Gedanken zu machen.
      Er streckte ihn ihr entgegen und Georgia kam ganz vorsichtig näher, blieb so weit von ihm entfernt stehen, wie es ihr möglich war, und lehnte sich dann nach vorne, um den Mantel zu nehmen. Rückblickend betrachtet war das ziemlich dumm, weil er sie sehr einfach mit einem Zug aus dem Gleichgewicht hätte bringen können, aber er tat nichts davon. Er verharrte fast reglos, während sie sich den Mantel überstreifte und erzitterte, weil er schön warm war und ein tröstendes Gewicht um sie legte. Diesmal hätte sie wohl vor Glück geheult, es blieb aber bei einem Schniefen.
      Er hielt ihr außerdem eine Halbmaske entgegen, die mindestens genauso schmuckvoll war wie seine andere. Georgia wollte sie nicht aufsetzen, sie würde ja nur Aufmerksamkeit erregen - oder zumindest so dachte sie im ersten Moment, bis ihr wieder einfiel, dass ihr Gesicht vermutlich viel mehr Aufmerksamkeit erregen würde als eine blöde Maske. Außerdem war die goldene Maske des Apothekars jetzt umso deutlich sichtbarer und sie konnte ja wohl kaum davon ausgehen, dass man ihn, aber nicht sie ansehen würde.
      Also zog sie auch die auf und atmete einen muffeligen Geruch, der an Zigaretten erinnerte, ein. Damit roch die Maske aber immernoch besser als sie selbst.
      "Was ist mit..."
      Ihre Stimme war durch die Maske ein bisschen gedämpft. Sie sah sich zur Bestie um, die aber kein einziges Interesse an den beiden Menschen hatte und weiter zwischen den Regalen hindurch strich. Dabei war sie diesmal relativ laut, weil ihr Schwanz unbedingt an jeder Ecke entlang streichen musste.
      Georgia schluckte. Am liebsten hätte sie gesagt, dass die Bestie hier bleiben sollte, aber ganz davon abgesehen, dass sie sowieso keinen Einfluss darauf hatte, würde damit auch ihre einzige Sicherung verschwinden. Sie erklärte sich immerhin bereit, mit einem Wildfremden zurück zu sich nachhause zu gehen und das ganz, ohne irgendwelche Sicherheitsvorkehrungen. Die hätten in dem Fall zwar auch nichts genützt, weil der Apothekar zwar drahtig unter seinem Pulli wirkte, aber sicher immernoch deutlich stärker war als die ausgehungerte und gepeinigte Georgia, aber es wäre immerhin besser als gar nichts gewesen. Und das, was sie hier hatte, war gar nichts.
      "Sie soll nicht... sie muss in der Nähe bleiben. Sonst - sonst fliegt sie noch auf."
    • Es war das erste Mal, dass der Apothekar eine seiner Masken mit jemand anderem teilte. Es war Argwohn in seinem Blick, der dank seiner eigenen Maske nicht nach außen getragen wurde, mit dem er Georgia beobachtete, wie sie seine Maske aufsetzte. Er sah ihr Unbehagen noch bevor der untere Teil ihres Gesichts hinter der Maske verschwunden war. Die Art, wie sie dabei die Augenbrauen zusammenzog, sagte schon alles.
      „Was ist mit…“
      Sie sah sich nach ihrem Vieh um und er folgte ihrem Blick. Scheinbar machte das Ding, was es wollte und hockte nicht ständig an ihrer Seite. Jetzt gerade streifte es über die Regale und wirkte wie ein besserer Staubfänger. Von hinten ließ sich das leicht sagen, aber sobald das Vieh ihn wieder ansah, würde er es sich wohl nicht mehr trauen.
      „Sie soll nicht… sie muss in der Nähe bleiben. Sonst – sonst fliegt sie noch auf.“
      „Dann entlass sie halt?“, war seine plumpe Antwort darauf. „Oder lass sie halt hier warten. Es kommen eh nur Junkies her und wenn die das Vieh sehen, pissen die sich sowieso ein. Wenn’s darum geht, dass du mir nicht traust… Du wirst die doch garantiert schnell beschwören können.“
      Immerhin musste sie das Vieh recht kurzfristig beim Gelände der Polizei beschworen haben. Wobei er sich nun langsam doch darüber wunderte, wie ein einziges Vieh so viel Schaden anrichten konnte.
      Er drehte sich halb zum Ausgang und deutete mit dem Daumen darauf. „Du musst das Vieh sowieso irgendwo lassen. Mitnehmen in die Stadt wirst du’s eh nicht können. Wir gehen ins Mallard, da sind maximal Wandler erlaubt.“
      Das Mallard war eine ziemlich abgeranzte Spielunke. Früher war sie ein Casino über zwei Etagen gewesen, jetzt war im oberen Bereich nur noch der Barbereich übrig geblieben sowie einige Spielautomaten und Pooltische. Die Party ging im unteren Bereich ab, da, wo sich selbst die Polizei nur selten hin verirrte. Dort fand sich all das ein, was an der Oberfläche nicht gern gesehen wurde und der Apothekar war selbst oft Gast dort. Nicht nur, weil er dort seinen Stoff beschaffte, sondern dort auch generell immer Neuigkeiten und Abnehmer für sein Magipramin oder ähnliches fand. Dort würden sie bis zum Einbruch der Nacht kein Aufsehen erregen. Sofern Georgia ihre Bestie nicht unbedingt mitnahm.
    • Die Bestie entlassen oder hier warten lassen? Das war genauso gut wie Georgia zu sagen, dass sie auch einfach davonfliegen konnte, wenn es hier zu viel wurde. Kurz gesagt: Es war unmöglich.
      Georgia sah sich wieder nach der Bestie um, die jetzt einen Gang hinter sich hatte und in den nächsten überging. Sie wusste nicht einmal, was entlassen bedeuten sollte. Wenn sie die Bestie freilassen sollte, dann wäre das genauso unmöglich wie ihr zu sagen, dass sie hier warten sollte. Und wenn sie sie dorthin zurückschicken sollte, von wo sie gekommen war...
      Georgia hatte den Boden geöffnet, als ihre Magie aus ihr hervor gebrochen war. Die Bestie war spinnengleich aus dem Spalt empor gekrochen und hatte sich sofort auf den nächsten Polizisten geworfen, der ihr in die Quere geraten war. Es war durchaus denkbar, dass sie in einem solchen Spalt auch wieder verschwinden konnte - aber wie konnte Georgia den Boden öffnen, ohne dabei eine nächste Bestie hervorkriechen zu lassen? Was, wenn sie es noch einmal tat und eine andere Bestie kam hervor? Was, wenn der Spalt größer sein würde und eine viel größere Bestie würde daraus erwachsen?
      Es war einfach unmöglich. Genauso wenig, wie sie der Kreatur irgendwas befehlen konnte, konnte sie sie einfach so wegschicken.
      Aber weil der Apothekar es vorgeschlagen hatte und nichts dagegen sprach, antwortete sie nur brav:
      "Okay. Dann bleibt sie hier."
      Insgeheim flehte sie aber, dass es wirklich so sein würde.

      Sie verließen den Supermarkt, schlossen die Tür wieder hinter sich und machten sich auf den Weg in die kleine Wildnis hinein, die sich hinter dem Laden erstreckte. Das Waldstück war nicht besonders groß und auch nicht besonders dicht, aber es hatte keine Wanderwege und die Straße lag sowieso auf der anderen Seite. Vermutlich müsste man im Wald selbst nicht gerade lange suchen, um die beiden zu entdecken, aber die Polizei war noch nicht so verzweifelt geworden, die ganze Gegend auszukundschaften. Wie auch im Supermarkt war hier nichts los.
      Georgia warf alle paar Meter mal einen Blick über die Schulter nach hinten. Sie folgte dem Apothekar, der vor ihr durch das Unterholz stapfte, weswegen sie nicht zu verstecken versuchte, wie nervös sie war. Immer, wenn sie sich umdrehte, erwartete sie, die Bestie geradewegs auf sich zulaufen zu sehen, das Maul zu einem breiten, furchteinflößenden Grinsen geöffnet, der lange Schwanz hinter ihr ausgerichtet, wie bereit zum Zuschlagen. Sie erwartete, das tiefe Röhren aus der Kehle zu hören und das Stampfen ihrer Tatzen auf dem Boden. Die Bestie war schwer, ziemlich schwer sogar. Wenn sie zu laufen begann, dann war sie laut.
      Aber sie kam nicht. Die beiden gingen und gingen, aber die Bestie kam nicht und während ein Teil von Georgia sich darüber freute, dass sie sie jetzt wirklich abgeschüttelt hatte, bekam sie es doch auch mit der Angst zu tun. Denn jetzt war sie wirklich ganz allein und wenn der Apothekar das merken würde... Wenn er merken würde, dass sie eigentlich keine Ahnung hatte, wie sie ihre Magie anstellte...
    • Während Georgia und der Apothekar durch den Wald hätte er mehrmals fast aufgelacht. Er hatte nicht nur die kleine Terroristin gefunden, sie eierte ihm nun auch brav hinterher. Das Mädel war verängstigt, das hatte er mittlerweile begriffen. Das spielte ihm in die Karten, denn so ließ sie sich einfacher lenken und für seine Zwecke nutzen. Er musste nur ein bisschen Vertrauen oder Abhängigkeit herstellen und vielleicht würde sie dann ein gutes Werkzeug abgeben. Das war zumindest der Plan. Daher bemerkte er auch nicht, wie sie sich immer wieder paranoid umdrehte. Schließlich ging er davon aus, dass sie ihre Bestie unter Kontrolle hatte.
      Sehr zu seiner Zufriedenheit erreichten sie das Ende des Waldes und kamen an einer Straße zum Halten, die zur Innenstadt führte. Es war eher eine Seitenstraße, schmal und mit Schlaglöchern gespickt, weshalb sich nicht viele Leute hierher verirrten. Praktisch direkt ihnen gegenüber war ein Parkplatz und daneben ein Gebäude, dessen obere Hälfte einmal grün gestrichen gewesen sein musste. Das Leuchtschild zeichnete den Ort als das Mallard aus und war schon mit Strom versorgt, obwohl die Sonne noch schien. Der Apotheker winkte Georgia herüber und sie überquerten die Straße.
      „Man kennt mich da drin. Du hast meine Zweitmaske, also wird man dir keine großen Fragen stellen. Quatscht dich wer blöd an, kack ihn an und gut ist. Die Leute, die was taugen, sind nicht so behindert“, weihte er sie ein, als er die schwere braune Tür erreichte und sie ihr aufhielt. „Ladies first, was?“
      Schon der erste Schritt in das abgedunkelte Lokal deutete die Atmosphäre in ihm an. Man lief fast augenblicklich in eine Wolke aus Alkohol, Zigarrenrauch und allerlei Parfüms. Selbst der Apotheker musste sich gegen den Reflex der Atemsperre kämpfen ehe er locker durch den Raum schlenderte, wo sich Stehtische ausgebreitet hatten. Irgendwer hatte der alten Musicbox Geld spendiert, wodurch irgendein Rocklied aus den 80ern lief, das er nicht kannte. Menschen standen an den Tischen, tranken, rauchten und unterhielten sich. Weiter hinten wurde Pool gespielt oder die wenigen Automaten an den Wänden genötigt. Die Bartheke war gut besucht und zwei Männer dahinter bedienten die Leute.
      Der Apotheker schenkte niemanden hier wirklich seine Aufmerksamkeit. Er steuerte die Wendeltreppe an, die ins untere Stockwerk führte und achtete darauf, dass Georgia ihm folgte. Mit jedem Schritt, den sie weiter nach unten gingen, schien die Luft nochmal eine Stufe schlechter zu werden, doch das lag eher an dem Geruch von Essen, der sich dem Cocktail anschloss. Hier unten gab es gar kein Tageslicht mehr, sondern nur noch künstliches Licht, das abgeschwächt von der Decke strahlte. Der Raum war mindestens so groß wie der Bereich oben über und hatte in der Mitte eine kleine Tanzfläche, die für gewisse Parties in Betracht gezogen wurde. An der Decke hingen dicke Boxen, die Drum ´n Bass spielten. Eine Bar gab es hier nicht, dafür aber zahllose kleine Sitznischen entlang der Außenwände. Alle mit einem kleinen Vorhang abgetrennt, was den Eindruck von Privatsphäre vermitteln sollte. Das hier war der Lebensraum des Apothekers.
      Er hielt sich nicht damit auf, Leute zu grüßen. Man erkannte ihn, manche nickten ihm sogar kurz zu, als er den letzten Rundtisch in der Ecke des Raumes auswählte, sich setzte und auf den Platz ihm gegenüber deutete.
      „So wie du aussiehst brauchst du erst mal zu futtern“, stellte er fest, lehnte sich zur Seite und fischte sich eine ramponierte Karte vom Nachbartisch. „´s egal, was du willst. Ich bezahl das schon. Sieh’s einfach als Dank dafür an, dass du dein Viech weggepfiffen hast.“
    • Die Bestie war immernoch nicht da, als sie den Ort erreichten. Georgias Zweifel wurden größer, während sie sich fragte, ob es nicht doch besser war, den Mann darin einzuweihen, dass sie die Kreatur gar nicht zurückgelassen hatte. Aber da führte er sie schon auf das erstbeste Lokal zu.
      Drinnen war es stickig und verraucht. Die Luft schien still zu stehen und das Licht war auch so düster, als käme es gar nicht erst durch die dichte Luft hindurch. Der größte Teil der Gäste hier waren Männer im mittleren oder höheren Alter, die sich alle bei etwas zu trinken und zu rauchen um die Tische tummelten. Die meisten warfen einen Blick auf den Neuzugang, aber keiner widmete ihnen einen zweiten.
      Georgia hätte sich schon unwohl gefühlt, dort oben zu bleiben, für was auch immer der Apothekar hergekommen war, aber es wurde nur noch schlimmer, als er auch noch eine enge Treppe nach unten ging. Dort unten gab es quasi gar keine Luft mehr, denn es gab auch keine richtigen Fenster, durch die sie hätte hereinkommen können. Der Raum war wohl für andere Art von Partys gedacht, bei der sich Georgia nur noch unwohler fühlte. Sie wollte nicht hier sein, sie wollte ganz sicher auch nicht dort unten in diesem Keller sein, wo es allem Anschein nach nur einen einzigen Ausgang gab. Sie wollte das alles nicht.
      Doch wäre der Apothekar nicht gewesen, hätte sie jetzt spätestens der Geruch nach Essen angelockt, der ihr sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie wusste nicht, ob sie eine Mahlzeit heraushandeln könnte, aber sie würde es versuchen, bei allem, was ihr zur Verfügung stand. Sie konnte diesen Laden nicht verlassen, ohne vorher etwas gegessen zu haben. Dafür nahm sie auch die unheimliche Atmosphäre auf sich.
      Unten saßen auch Leute, die den Apothekar wohl kannten - oder zumindest seine Maske. Er wurde gegrüßt, grüßte aber nicht zurück. Zielstrebig hielt er auf einen Ecktisch zu und beide ließen sich daran nieder, Georgia nicht ohne sich dabei nochmal zur Treppe umzusehen. Ob die Bestie wirklich im Supermarkt bleiben würde? Vielleicht hatte sie es ja ungewollt doch geschafft, ihr einen derartigen Befehl zu geben?
      "So wie du aussiehst brauchst du erst mal zu futtern. ´s egal, was du willst. Ich bezahl das schon. Sieh’s einfach als Dank dafür an, dass du dein Viech weggepfiffen hast."
      Sofort war die Bestie vergessen und auch, dass Georgia sie gar nicht unter Kontrolle hatte. Viel zu grob packte sie sich die Karte, wobei es ihr ganz egal gewesen wäre, was sie bekommen hätte; hauptsache sie bekam irgendwas. Zu ihrem Glück lockte ihr schnelles Umhersehen aber auch genauso schnell einen Kellner an, bei dem sie sich gleich zwei Gerichte bestellte. Er nahm es an und Georgia war von nun an ganz egal, ob der Apothekar sein Wort auch halten und bezahlen würde, denn gleich würde Essen zu ihr kommen. Sie mochte es sich gar nicht zugestehen, aber ihr Magen grollte schon vor sich hin und sie musste sekündlich schlucken, weil ihr das Wasser ständig im Mund zusammenlief.
      Trotzdem dauerte es eine Ewigkeit, bevor erst ihr Getränk kam, das sie fast ganz austrank, bevor sie es wieder absetzte. Danach war es ein bisschen einfacher, auf das Essen zu warten.
      "Was, äh... wieso... warum die, die Maske? Hat das irgendeinen... darf man Sie nicht erkennen? Unter der Maske?"
    • Sofort fühlte sich der Apothekar bestätigt. Georgia riss ihm die Speisekarte förmlich aus den Händen, als er nur das Wort Essen erwähnte. Offensichtlich hatte sie nichts gegessen und war von der Versorgung komplett abgeschnitten gewesen. Vermutlich hatte sie nicht einmal mehr ein Telefon oder ihre Papiere. Damit war sie gezwungen, sich an jemanden zu hängen, sofern ihre Anlaufstelle nicht mehr reagierte. Aber was wäre, wenn die eigentlichen Drahtzieher einfach alle Verbindungen zu ihr gekappt hatten? Dann wäre sie allein, vollkommen allein, und wäre für ihn nur von Nutzen, wenn sie praktisch nach seiner Pfeife tanzte. Er musste sie also soweit bringen, dass sie sich ihm verpflichtet fühlte. Sonst wäre die Chance vertan.
      „Für mich ne Cola. Mehr nicht“, sagte er zum Kellner. Er tat den Teufel und mischte Alkohol mit Drogen im Blut. Dann glitt seine Aufmerksamkeit wieder auf das Mädchen vor ihm. Sie bewegte sich unangenehm häufig auf ihrem Stuhl umher, schluckte viel zu häufig. Auch das Getränk, was ihnen kurz darauf gebracht wurde, war binnen Sekunden in ihrer Kehle verschwunden.
      Er lehnte sich zurück auf seinem doch sehr mitgenommenen Stuhl. Allgemein war die Ausstattung hier nicht wirklich gut, das Licht machte vieles besser. Oder eher, das nicht vorhandene Licht. „Erst mal kannste aufhören, mich zu Siezen. Das macht man hier nicht. Und streng doch mal dein hübsches Köpfchen ein bisschen an. Die Maske ist also reine Sicherheitsvorkehrung.“
      Er tippte sich seitlich an den Kopf. „Es ist einfacher, jemanden zu verfolgen, dessen Gesicht man kennt. Deins flimmert über sämtliche Bildschirme die letzten Tage, deswegen müssen wir darauf achten, wer dich sieht. Heißt also, wenn du gleich was essen willst, mach das so, dass keiner dein Gesicht direkt sieht.“
      Das war ein weiterer Grund, wieso er diesen Ort gewählt hatte. Das Licht war teilweise so diffus, dass man das Essen nur von Nahem sehen konnte. Er selbst aß hier nie etwas, einfach um den Anschein zu wahren. Allerdings wusste er vom Hörensagen, dass es nicht so schlimm war, wie es das Interior vermuten ließ.
      „Sag mal, was ist da eigentlich abgegangen bei den Bullen? Wie kommt man drauf, da reinzumarschieren und n Dutzend Leute da zu killen? Warst du so angepisst auf die oder was war es gewesen?“
    • Ob es jetzt nun an Georgias geschwächtem Gehirn lag oder daran, dass der Apothekar keinen Sinn machte, aber: Wenn er ständig die Maske trug, war er dann nicht auch einfach zu verfolgen? Sicher, er hatte darunter noch eine zweite Identität versteckt, aber wer ihm auf der Straße begegnete, der hatte doch immernoch ein leichtes Spiel, ihm einfach nachzulaufen.
      Allerdings konnte sie dem Argument, dass ihr Gesicht in sämtlichen Medien ausgestrahlt wurde, auch nichts entgegen bringen. Da war eine Maske besser, zumindest so viel konnte sie einsehen.
      Also nickte sie nur ein bisschen. Bis der Mann weitersprach.
      „Sag mal, was ist da eigentlich abgegangen bei den Bullen? Wie kommt man drauf, da reinzumarschieren und n Dutzend Leute da zu killen? Warst du so angepisst auf die oder was war es gewesen?“
      Die Frage musste ja irgendwann kommen und wie so vieles in den letzten paar Tagen, hatte Georgia keinen Plan dazu, wie sie darauf antworten sollte.
      Die momentane Situation sah wie folgt aus: Georgia wusste, dass man sie als Terroristin sah. Irgendein unscheinbares Mädchen, das sich ganz unschuldig auf die Ausbildungsstelle zur Polizistin beworben hatte und ein paar Jahre später einen Großteil des Reviers ausradierte. Keiner hatte diese Frage jemals gestellt, alle waren sie davon ausgegangen, dass es geplant gewesen sein musste.
      Davon musste auch der Apothekar ausgehen. Wenn sie ihm nun die Wahrheit erzählte, dass alles nur ein riesen Unglück gewesen war, dann würde sie in diesem düsteren Raum unter einem genauso düsteren Lokal festsitzen, einem Mann gegenüber, der kein Problem damit hatte, eine gesuchte Terroristin bei sich aufzunehmen, und in diesem Raum gleich mehrere Bekannte sitzen hatte. Ob er wütend sein würde, dass sie ihn hinters Licht geführt hatte? Vielleicht nicht. Aber ob er sie von der vermeintlich gefährlichen Terroristin zurückstufen würde zu einer harmlosen, unerfahrenen Magierin, deren einzige Kreatur gerade eine Meile entfernt in einem verlassenen Supermarkt saß? Ziemlich sicher. Und was würde dieser Mann, der sein Gesicht zu verstecken versuchte und sich in Spelunken wie diesen herumtrieb, mit einer so harmlosen Magierin wie ihr anstellen?
      Das wollte sie nicht wissen. Sie ahnte es, aber sie wollte es wirklich nicht wissen.
      Deswegen brauchte sie eine andere Antwort und das schnell.
      "Ähm... das... das ist kompliziert."
      Sie warf ihren Blick zur Treppe hinüber. Ob sie schnell genug sein könnte, im Notfall zu fliehen? Sehr wahrscheinlich nicht. Oh, was hatte sie sich hier nur eingebrockt? Der Hunger hatte sie direkt in die Höhle des Löwen getrieben.
      Sie sah wieder zu der stoischen Maske.
      "Und das... kann ich nicht in der Öffentlichkeit sagen. Nichts für ungut. Es ist kompliziert."
      Sie verschränkte die Hände miteinander und kratzte sich unaufhörlich am Handrücken. Ihr Arm brannte und pochte unter dem Verband.
      "Werden Sie... wirst du mir deinen Namen verraten? Du kennst meinen, du kennst mein Gesicht, du kennst mein schlimmstes Geheimnis. Bekomme ich dann auch etwas von dir? Als... als Absicherung?"
    • „Kompliziert ist das?“
      Die Frage triefte nur so vor Skepsis. Dass er dabei eine Augenbraue in die Höhe zog, konnte Georgia natürlich nicht sehen. Dafür sah er allerdings, dass ihr Blick woanders hin ging. Zunächst dachte er, sie hätte den Kellner mit Essen erspäht, aber als dieser nicht kam, blieb nur der Schluss übrig, dass die die Treppe in Augenschein genommen hatte. Kennen tat sie hier mitnichten jemanden. Wieso dachte sie an Flucht? Sie konnte doch einfach ihr Vieh da beschwören und hier alles in einem Blutbad zurücklassen. Gar kein Problem. Sofern sie denn so wollte.
      „Hmmm…..“, er zog den Laut so lang er konnte, „versteh ich, klar, klar. Ich würde immerhin auch nicht auf offener Straße dealen. Gibt Sachen, die sind nur für das Private, hm?“
      Er vergaß zu keiner Sekunde, dass sie einige Jahre jünger war als er. Vielleicht konnte er diesen Unterschied zu seinem Gunsten nutzen. Vielleicht sollte er auch mit dem Elefanten im Raum anfangen, wenn er sich so recht besah, wie sie permanent ihren Handrücken kratzte. Nervosität oder was anderes? Er hatte beide Varianten schon gesehen.
      „Das mit den Namen sind so Sachen. Deiner wurde gegen deinen Willen veröffentlich, weil du im Interesse der Wichser stehst. Ich hingegen lass meinen nicht veröffentlichen, weil mir dann der ein oder andere Bastard auf die Pelle rücken könnte.“ Er fasste in seine Hosentasche und zog eine der Tüten mit den sieben weißen Tabletten heraus. Er legte es auf den Tisch zwischen sie beide, ließ aber seine Hand daneben ruhen. „Ich bin der Einzige, der nicht legal Magipramin mischen kann. Was denkst du würden die Arschlöcher hier machen um rauszukriegen, wie ich das mische?“
      Er hörte, wie der Kellner mit einem Tablett kam und ließ die Plastiktüte wieder in seiner Tasche verschwinden. Er legte seinen Kopf schräg in den Nacken, um zum Kellner aufzusehen, der sich als KellnerIN entpuppte. Katy, um genau zu sein.
      „Einmal dein Essen, Vorsicht“, sagte die junge Frau um die dreißig mit üppiger Oberweite und feuerroten Haaren. Sie hatte Sommersprossen, die man in dem Licht kaum sah, und war an den Armen tätowiert. Sie stellte Georgia ihren Teller hin, dann schmunzelte sie den Apotheker an. „Rob ist heute nicht hier, falls du ihn suchst. Hast du neuerdings einen Lehrling angenommen?“
      Der Apotheker lachte kurz und kratzig auf. „So was ähnliches. Muss doch dafür sorgen, dass meine Ära weitergeht, falls mir was passiert, oder?“
      Katy klemmte das Tablett zwischen Brust und Arme ein. „Wär schon scheiße, wenn du einfach verschwindest. Ist deine Nummer noch die gleiche oder hast du sie schon wieder gewechselt?“
      „Is noch dieselbe. Brauchst du was? Phenta?“
      „Mhm. Examen steht demnächst an und ich könnte was zum… entspannen gebrauchen.“ Sie warf Georgia einen Seitenblick zu, die sich gerade die Maske abnehmen wollte, sich aber an seine Warnung erinnerte und innehielt.
      „Ich pack dir was zum Wochenende. Könntest du dann Rob sagen, dass ich komm?“
      „Klar.“ Sie lächelte ihn an und verabschiedete sich dann von ihnen.
      Der Apothekar sah ihr einen Moment nach, dann gestikulierte er in Georgias Richtung. „Meine Fresse, du musst echt aufpassen, wenn ich dir was sage. Los, du darfst. Da kommt erstmal niemand mehr.“
      Jetzt erst griff er selbst nach seinem Colaglas und führte er an seine Lippen, wobei er seine Maske umständlich am unteren Ende etwas von seinem Gesicht wegklappte. Georgia hingegen riss sich beinahe die Maske vom Gesicht und stürzte sich auf ihr Essen.
      „Sag mal, wie viel kannst du von den Viechern auf einmal beschwören? Wie viele waren es, die du im Präsidium losgelassen hast? Ah, stimmt. Ne Absicherung.“ Er schwenkte sein Glas auf dem marodierten Tisch. „Wenn wir es zu meiner Wohnung schaffen sollten, steht auf der Klingel mein Nachname. Da hättest du dann deine Absicherung. Du wärst immerhin die Erste, die meine Privaträume sehen darf.“ Er sagte das ohne jegliche Anzeichen von Anzüglichkeit. Vielmehr glich es einer nüchternen Berichtserstattung, die der Wahrheit entsprach. Er nahm sich keine Leute mit in seine Wohnung, die war sein Safe Space. Aber wenn er sie zu seinem Werkzeug machen wollte, musste er tatsächlich auch Risiken dafür eingehen. Das war ihm unlängst bewusst.
    • Ob der Apothekar mit Absicht so herablassend über die Justiz redete? Georgia wusste es beim besten Willen nicht. Der Mann schien zwar von der Sorte zu sein, die gerne mal mit Schimpfwörtern um sich warf, wie es ihr beliebte, aber vielleicht tat er es jetzt nur, weil er dachte, Georgia wäre von derselben Sorte. Das war sie mitnichten. Eigentlich fühlte sie sich bei seinem Wichser selbst angesprochen, was eine merkwürdige Kombination war.
      Sie richtete ihren Blick auf die kleine Pillentüte, die er ganz offen zwischen ihnen auf dem Tisch platzierte. So offen, wie er jetzt darüber sprach, das Magipramin nicht legal zu mischen - so drückte er es wirklich aus - musste er hier wirklich relativ sicher sein. Vermutlich sogar seine Geschäfte führen. Wer würde das auch nicht in einem Raum, bei dem man offensichtlich beim Großteil der Gäste bekannt war? Und wo war die Polizei? Wo war die Justiz? Wo war die Gerechtigkeit?
      So einfach hatte Georgia einen Ort herausfinden können, wo solches Zeug verhökert wurde, und dabei wäre es die schwierigste Aufgabe der Welt für sie, auch einen Polizisten hier her zu locken. Vor vier Tagen hätte sie nur ihren Chef auf so etwas aufmerksam machen müssen, jetzt würde ihr keiner Gehör schenken. Sie würden her kommen, ja, aber nicht für irgendeinen Magipramin-Dealer. Nur für Georgia.
      Die schwieg weiterhin, weil sie hoffte, dass der Kerl nicht ernsthaft ein solches Gespräch mit ihren führen würde. Das war die nächste Sache, die sie wohl um jeden Preis geheim halten musste: Dass sie selbst Polizistin war. Zumindest Polizistin in Ausbildung.
      Das Essen konnte sie dafür schon riechen, bevor es überhaupt an ihren Tisch kam. Der Teller dampfte leicht und Georgia musste sämtliche Willenskraft aufwenden, um der Kellnerin nicht gleich den Teller zu entreißen und ihn in einem Stück einzuverleiben. Wie köstlich das duftete! Sie hätte nie gedacht, dass etwas derart einfaches ein solches Glück in ihr hervorrufen könnte, aber sie war so ausgehungert, dass es ihr wie die reinste Götterspeise vorkam. Sofort griff sie sich zur Maske.
      Und erstarrte gleich wieder. Die Kellnerin stand nämlich noch immer bei ihnen und als hätte sich im wahrsten Sinne des Wortes die ganze Welt gegen Georgia verschworen, ging sie auch nicht einfach wieder, sondern hielt es für gut, gerade jetzt mit dem Apothekar Smalltalk abzuhalten. Es hörte sich nach einem Deal an, an dem irgendein Rob beteiligt war. Oder auch nicht? Es war Georgia so scheißegal, sie starrte nur ihr Essen an und hoffte diesmal, dass das laute Grummeln ihres Bauches den beiden Schwätzern Zeichen genug sein würde. Ihre Knöchel traten schon weiß hervor, so fest hielt sie ihr Besteck gepackt.
      Nur ein bisschen noch. Nur ein bisschen noch.
      Die Frau ging und Georgia wartete gar nicht auf das Freizeichen des Mannes; sie riss sich die Maske herab und hatte sich die erste Gabel bereits in den Mund gesteckt, bevor sie die Maske ganz losgeworden war. Eigentlich hatte Georgia Essmanieren und eigentlich widerstrebte es ihr, bei diesem Fremden in diesem unbekannten Lokal sich eine derartige Blöße zu geben, aber es schmeckte so unfassbar gut, so unverschämt lecker, dass sie leise dabei stöhnte, während sie sich Gabel um Gabel in den Mund schaufelte. Sie kaute nicht richtig, was sicher nicht sehr gut für ihren leeren Magen war, aber sie konnte sich einfach nicht davon abhalten. Es war fantastisch.
      "Sag mal, wie viel kannst du von den Viechern auf einmal beschwören? Wie viele waren es, die du im Präsidium losgelassen hast? Ah, stimmt. Ne Absicherung."
      Sogar beim besten Willen wäre Georgia nicht zum Antworten gekommen. Dafür war sie viel zu sehr damit beschäftigt zu schlucken, sich eine Portion nachzuschieben, zu schlucken. Das musste der andere wohl auch erkennen, denn er sprach gleich weiter davon, dass sie auf seiner Klingel seinen Nachnamen sehen würde. War das Absicherung genug? Das wusste sie nicht. Im Moment konnte sie nur an das Essen vor ihr denken.
      Im Moment war das Leben auch fast wieder gut. Fast wieder schön. Fast.
      Dann drang ein spitzer Schrei von irgendwo über ihnen zu ihnen durch, denen sich gleich weitere Rufe anschlossen. Im Schankraum eine Etage höher wurden Stühle verrückt und das so schnell, dass sie dabei laut polternd auf den Boden fielen.
      Georgia erstarrte und riss den Kopf hoch. Oh nein. Oh nein. Das war jetzt nicht das, wofür sie es hielt. Das konnte nicht wahr sein. Das war jetzt wirklich nicht wahr, oder? Das konnte einfach nicht die Realität sein.
      Für eine Sekunde starrte sie die ausdruckslose Maske vor sich an, dann sprang sie auf. Ihre Aufmerksamkeit reichte gerade noch dazu aus, sich die Maske hastig überzustreifen, dann stürmte sie schon zur Treppe und nach oben.
      Die Bestie kam über die Straße hinweg direkt auf das Lokal zugetrottet. Man konnte sie recht deutlich sehen, weil dort oben mittlerweile das Chaos ausgebrochen war und die Tür ständig aufschwang, als die Leute nach draußen strömten, um davonzulaufen. Dabei überschlugen sie sich in ihrer Panik gegenseitig.
      Georgia blieb wie angewurzelt direkt gegenüber der Tür stehen und drückte die Hände auf ihre Maske, als würde sie sie vor den Mund halten. Wenn die Bestie sie gesehen hatte, dann ließ sie es sich nicht anmerken. In einem Wirrwarr aus dutzenden, hunderten Bewegungen kam sie näher getrabt und ließ dabei den Kopf zur Seite schwenken, als würde sie den Leuten nachblicken, die zu allen Seiten davon strömten. Ihr Schweif fegte hinter ihr über die Straße.
      Das konnte nicht wahr sein. Bitte, lieber Gott, mach, dass das nicht wahr war. Georgias Augen brannten mit neuen Tränen.
    • Der Schrei ließ selbst den Apotheker zusammenfahren. Sein Blick ging sofort zur Treppe und gedanklich noch darüber hinaus. Durch die dröhnende Musik hindurch war der Ton bis zu ihnen nach unten gekommen, entsprechend laut musste er also gewesen sein. Dann mischte sich das Poltern von Möbeln mit dazu und er bekam ganz schnell ein ganz schlechtes Gefühl. Was für ein Zufall sollte das bitte sein, dass die Bullen ausgerechnet heute das Mallard räumen wollten?
      Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich Georgia blitzschnell bewegte. Zugegeben, als Flüchtige hatte sie durchaus die Reflexe zur Flucht, aber das hier war schon übermenschlich schnell gewesen. Bevor er selbst auch nur auf den Beinen stand war sie bereits weg vom Tisch und hin zur Treppe gesprintet. Der Apotheker setzte ihr nach und verfolgte dabei die Umrisse seines Mantels und ihr helles Haar, um sie nicht zu verlieren. Er wäre beinahe in sie hinein gerannt, als sie unvermittelt vor der Tür stoppte und scheinbar das Grauen selbst erspäht hatte. Sein Blick folgte ihrem und die Fassungslosigkeit ergriff nun auch ihn.
      „Fuck“, fluchte er, packte Georgia am Oberarm und ruckte einmal an ihr, „wieso rufst du das Scheißvieh?! Niemand hier hat dir was getan! Oder hat dir das Essen nicht geschmeckt??“
      Gut, der Seitenhieb mit dem Essen stimmte nicht ganz. Er hatte ganz genau gesehen, wie sie das Essen förmlich eingeatmet hatte. Trotzdem war das Vieh nun hier und die Panik ergriff alle Leute. Es würde nicht lange dauern und die Cops würden eingeschaltet werden. Ergo: Sie mussten hier weg.
      Er klickte mit der Zunge, hielt Georgia weiterhin am Arm fest und setzte sich dann in Bewegung. Raus aus dem Mallard, am Gebäude vorbei und weiter in Richtung des Waldrandes. Mit seiner anderen Hand fischte er ein klappriges Handy aus seiner Hosentasche, das nicht sein Hauptgerät war. Das hier war sein Dealerteil, das er im Notfall einfach entsorgen konnte. Die wichtigsten Nummer kannte er sowieso aus dem FF und wählte noch im Laufen die Nummer. Nach drei Freizeichen nahm jemand ab.
      „Hey T. J., ich brauch dich.“
      Er wälzte sich regelrecht durch das Buschwerk, das den Waldrand vom inneren Teil trennte und ihnen damit di Sicht auf die Straße nahm.
      „Ja, man, kleines Problem mit Verfolgern hier. Schick wen diskretes auf die andere Seite des Timber-Waldes. Nee, nicht die Mallard-Seite, die andere.“
      Hörte er da schon Sirenen? Hoffentlich nicht und hoffentlich kam das Mädel nicht auf die Idee, mittels der Bestie die Cops zu ihm zu führen. Er konnte sich nicht verkneifen, einen flüchtigen Blick über seine Schulter zurückzuwerfen.
      „Für zwei. – Offensichtlich nicht nur mich, du Depp. Mach einfach und schnell. Wird sonst hässlich.“
      Er legte auf und drosselte dabei sein Lauftempo. Sein Atem kam stoßweise, aber immerhin war das hier kein Ausdauerlauf gewesen. Endlich ließ er auch Georgia los und raufte sich mit beiden Händen durch sein lockiges Haar. „Holy shit, jetzt mal im Ernst, Kleine. Du sahst grad mindestens genauso schockiert aus wie die Leute auf der Straße. Man könnte meinen, du hast selbst nicht mit deinem Vieh gerechnet.“
      Er hätte gern ausgespuckt, konnte es aber durch die Maske nicht. Stattdessen schüttelte er den Kopf und marschierte weiter, nachdem er in eine Richtung gezeigt hatte, in die sie nun gehen würden.
      „Ich hab dir gesagt, ich versteck dich. Das geht nur, wenn du dein Vieh da unter Kontrolle hältst und es nicht überall erscheinen lässt. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst das Ding entlassen oder was auch immer ihr damit macht?“ Er seufzte noch einmal, länger. „Wir durchqueren jetzt den Wald und werden abgeholt. Müssen woanders Zeit schinden, während die Bullen das Mallard stürmen.“
    • Georgia besaß nicht die Geistesgegenwart, um dem Apothekar in irgendeiner Weise antworten zu können. Völlig gebannt starrte sie auf die Bestie und sah ihre Welt vor ihren Augen auseinanderbrechen.
      Das war es dann, aus und vorbei. Es endete nicht in diesem verlassenen Supermarkt, immerhin. Es endete stattdessen in irgendeinem verruchten Lokal, kurz nachdem sie geglaubt hatte, dass jetzt alles besser werden könnte. Wie sehr sie sich doch getäuscht hatte.
      Alleine wäre Georgia vermutlich wie festgefroren dagestanden, so wie sie auch im Revier dort gestanden hatte, unfähig sich zu bewegen, mit aufgerissenen Augen das Grauen beobachtend, das ihre Freunde und Kollegen in Fetzen riss. Sie hatte keinen weiteren Fluchtplan, nichts, was sie irgendwie aus der Schusslinie bringen könnte. So stand sie einfach nur da, starrte und war drauf und dran, wieder zu weinen.
      Der Apothekar dachte dafür nicht lange nach. Georgia immernoch fest gepackt, so dass es fast schon schmerzte, riss er sie mit sich und wieder aus dem Gebäude heraus. Mitten auf der Straße blieb die Bestie nun stehen, schwenkte den Kopf herum und starrte sie beide aus leuchtend gelben Augen an. Sie rührte sich nicht, aber ihre Fühler raschelten leise und die vielen winzigen Erweiterungen ihres Körpers bewegten sich in einem aberwitzigen Rhythmus. Hinter ihr schleifte ihr Schwanz über den Boden.
      Georgia unterdrückte ein Schluchzen. Irgendwie glaubte sie nicht, dass der Apothekar viel Verständnis damit hätte, wenn sie zu heulen anfangen würde. Sie hatte ja selbst keins, aber aufhalten konnte sie es nunmal nicht. Einmal ordentlich gegessen und schon schien ihr Körper wieder Energie genug zu haben, um neue Tränen zu produzieren.
      Ihre Flucht startete von neuem. Ohne selbst nachzudenken, ließ sie sich von dem Mann zurück in den Wald ziehen und lief wie automatisch weiter, während er sein Handy herausholte und zu telefonieren begann. Von der Art und Weise, wie er mit diesem T. J. redete, ließ sich sehr leicht ableiten, dass das hier nicht das erste Mal war, dass er jemanden "diskretes" benötigte. In einer anderen Verfassung würde sich Georgias Polizei-Instinkt anschalten, aber in diesem Moment hoffte sie einfach nur, dass dieser T. J. auch wirklich wusste, was er tat, und jemand diskretes schicken würde. In diesem Moment kam ihr der unbekannte Mann wie die letzte Hoffnung vor.
      Als sie tief genug in dem kleinen Waldstück waren, ließ er sie wieder los. Georgia blieb sofort ein Stück zurück, weil es ihr definitiv nicht gefallen hatte, so mitgezogen zu werden.
      "Holy shit, jetzt mal im Ernst, Kleine. Du sahst grad mindestens genauso schockiert aus wie die Leute auf der Straße. Man könnte meinen, du hast selbst nicht mit deinem Vieh gerechnet."
      "Ich bin nur... ich dachte..."
      Sie schluckte und hoffte, dass es die Maske versteckte.
      "Ich dachte nur, sie würde schneller sein. A-Aber, hat sie ja lang genug gebraucht."
      Ihre Stimme zitterte noch von dem unterdrückten Heulkrampf. Sie hoffte aber darauf, dass der Apothekar es ihrem kleinen Lauf zuschreiben würde.
      "Ich hab dir gesagt, ich versteck dich. Das geht nur, wenn du dein Vieh da unter Kontrolle hältst und es nicht überall erscheinen lässt. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst das Ding entlassen oder was auch immer ihr damit macht?"
      Er hatte sich wieder in Bewegung gesetzt, Georgia auch, aber jetzt blieb sie wieder stehen. Denn so sehr sie sich von diesem Mann verstecken lassen wollte - was eine völlig verquerte und gefährliche Denkweise war, wie ihr selbst bewusst war - konnte sie weder riskieren, dass die Bestie noch einmal irgendwo gesichtet werden würde, noch, dass der Mann erfuhr, dass sie sie gar nicht unter Kontrolle hatte. Georgia versuchte sich daher an einem Mittelweg.
      "Ich - ich werde sie nicht entlassen. Das mach ich nicht."
      Ihre Stimme blieb dafür fest genug, was sie unheimlich erleichterte.
      "Du wirst für uns beide Platz schaffen müssen. Sonst... sonst komme ich nicht mit. Und biete dich ihr als Nachtisch an, hungrig genug dürfte sie sein."
    • Der Apothekar hörte, wie die Schritte hinter ihm sich einstellten und hielt abrupt an. Ein bisschen zu harsch und gehetzt fuhr er herum und starrte Georgia an. Wie gut, dass er eine Maske trug, denn die Fassungslosigkeit musste ihm wohl im Gesicht geschrieben stehen.
      „Warte mal. Du wirst sie nicht - …. Du machst das NICHT?“ Er stand stocksteif da, war sich aber sicher, das verräterische Zucken in seinen Fingern schon zu spüren. „Alter, ich hab dir gesagt, dass ich für dein Vieh da nicht bürgen kann. Das zieht viel zu viel Aufmerksamkeit!“
      Das bedeutete allerdings, dass sich das Vieh gerade schnurstracks auf den Weg zu ihnen machte. Irgendwas stimmte mit dem Weib nicht, dass sie so sehr an dem Vieh festhielt. Dabei wirkte es gar nicht so, als würde sie sonderlich viel Vertrauen in es setzen, sondern es mindestens genauso sehr fürchten wie die Passanten vorhin. Das alles deutete in eine Richtung, die ihm gar nicht gefiel.
      „Fuck it“, murrte er schließlich und setzte seinen Weg zum Waldrand fort. „Wir haben eine Mitfahrgelegenheit, die auf uns wartet.“

      Sie warteten nur kurz am Waldesrand, als ein Pickup vorfuhr. Er hielt am Straßenrand und sah sich nach jemanden um. Langsam trat der Apothekar aus den Schatten der Bäume, woraufhin der Pickup ihm eine Lichthupe gab. Der Transport war also da.
      Er winkte Georgia heran, die sicherheitshalber ihre Maske auch aufgelassen hatte. Er riss die Beifahrertür auf und musterte kurz den Fahrer: schwarz, keine Haare auf dem Kopf, sah aus wie ein Schrank. Definitiv einer von T. J.‘s Leuten.
      „Einmal Mitfahrgelegenheit?“, fragte der Fahrer und lugte hinter den Apothekar, wo sein Blick auf Georgia fiel. „Die Fracht?“
      „Quasi“, sagte der Apothekar und machte Platz, damit Georgia auf den Sitz zwischen ihm un den Fahrer klettern musste. Sie an die Tür zu setzen kam gar nicht infrage. Im besten Moment kam sie noch auf die glorreiche Idee während der Fahrt aussteigen zu wollen. Also ließ er ihr den Vortritt, kletterte hinterher und schnallte sich an. Sehr vorbildlich.
      Er hatte Georgia angewiesen zu schweigen. Je weniger sie von sich preisgab, umso besser für die weiteren Wege. Er vertraute T. J., aber das Mädel war kein kleiner Fisch und er wusste nicht, wie weit man Vertrauen wirklich ausreizen konnte. Also behielt er diesen Fisch lieber bei sich und ließ sich von dem Fahrer des Pickups zu einem Ort bringen, wo es weniger auffallen dürfte, wenn das Vieh da plötzlich erschien.

      Ihr Ziel war am Ende recht weit außerhalb der Stadt gelegen. Der Apothekar traute sich nicht, Georgia noch einmal in die Nähe einer Einrichtung zu bringen, wo viele Menschen zugegen waren. Noch einmal die Bullen anrücken zu wissen stand nicht auf seiner Liste. Deswegen war er sehr zufrieden damit, als sie an einem Farmgebäude ausgesetzt wurden.
      „Gehört T. J. und is‘ eigentlich ‚n Umschlagplatz. Sollt dich ja nicht stören, oder?“, raunte ihm der Fahrer zu, der ein Schulterzucken als Antwort bekam und sich dann mit seinem Pickup aus dem Staub machte.
      Und dann standen der Apothekar und Georgia mitten im Nirgendwo vor einem alten Gebäude mitsamt Scheune und Windmühle. Zugegeben, das war ein Upgrade zu seiner Wohnung, allerdings würde es hier definitiv kein Zeug geben, das er sich spritzen oder schnupfen konnte. Das würde eine harte Nacht werden, wenn sie hier blieben.
      „Ladies first“, sagte er also, gestikulierte zu dem Gebäude und folgte ihr auf den Fersen, damit sie nicht auf die Idee kam, umzudrehen und wegzulaufen.
      Sehr zu seinem Gefallen verfügte das Haus über fließend Wasser und Strom. Die Einrichtung war sehr rustikal gehalten und nur auf das Nötigste beschränkt, sodass sie nicht einmal einen Fernseher zur Hand hatten. Dafür aber immer eine funktionsfähige Küche, allerdings ohne Lebensmittel. Jedenfalls keine im Kühlschrank, der nicht angesteckt war, aber nach ein bisschen Suchen wurde er fündig und kramte ein paar Dosen aus den Schränken hervor. Auch in den Kleiderschränken hingen wahllos zusammengestellte Klamotten; eindeutig für genau solche Fälle eingeplant, falls mal jemand schnell einen Unterschlupf brauchte. Es würde ihn nicht wundern, wenn im Keller ganze Kisten voll mit Rauschgift gelagert worden waren.
      „Was meinste, wie lange braucht dein Vieh bis hierher?“, rief er aus dem Küchenschrank, wo er auf der Suche nach noch weiteren Dosen war.
    • Der Apothekar hatte eine vergleichsweise harte Reaktion, dafür dass er jetzt mehr ausflippte, als er im Supermarkt der Bestie begegnet war. Georgia fürchtete für einen Moment, dass er sich von ihr abwenden konnte.
      Aber ihr Bluff war noch immer effektiv und so klammerte sie sich an die Hoffnung, dass er nicht riskieren wollte, von ihrer Kreatur aufgefressen zu werden. Daher reckte sie in dem Versuch, etwas selbstbewusster zu erscheinen, das Kinn in die Höhe.
      "Ich werde sie nicht entlassen."
      Es folgte ein Blickduell der unangenehmen Art. Der Mann schien ganz eindeutig um seine Fassung bemüht und Georgia auch, aber sicher nicht auf die gleiche Weise. Wenn er sich hier entschied, sie einfach wieder zu verlassen, dann hätte sie keine Wahl, dann würde sie irgendwie versuchen müssen, die Bestie gezielt auf ihn zu hetzen. Wie auch immer das funktionieren sollte.
      Aber dann, nach einer gefühlten Ewigkeit:
      "Fuck it. Wir haben eine Mitfahrgelegenheit, die auf uns wartet."
      Der Apothekar konnte nicht sehen, wie Georgias Schultern erleichtert einsackten und wie schnell sie sich darum bemühte, ihm wieder zu folgen.

      Der Wagen, der sie abholen kam, war, gelinde gesagt, ein Albtraum-Gefährt. Georgia merkte sich das Nummernschild, aber das würde ihr auch nicht helfen, fiel ihr mit steigendem Grauen auf, als der Apothekar zur Seite trat, um sie zuerst einsteigen zu lassen. Damit sie genau zwischen einem Muskelprotz mit finsterer Miene und einem Mann, dessen Gesicht sie noch nicht einmal kannte, sitzen konnte. Damit er sicher die Tür zusperren und der Pickup sie sonst wohin bringen konnte. Damit die Männer erkennen konnten, dass die Bestie noch nicht zugegen war, dass sie sich sonst wo aufhielt, damit sie Georgia in irgendeiner abgelegenen Gasse aus dem Auto zerren konnten und... und...
      Georgia stand wie erstarrt, während der ungeduldige Blick des Apothekars sie in den Wagen zu scheuchen versuchte. Sie hatte nicht einmal eine Ausbildung bei der Polizei anfangen müssen um zu erkennen, dass alles dagegen sprach, an einem abgelegenen Waldrand in einen unbekannten Wagen mit zwei unbekannten Männern zu steigen, die sie an einen noch unbekannteren Ort bringen würden. Gegen den Apothekar könnte sie sich vielleicht noch wehren, der Mann schien dünn genug, um in ihrer Gewichtsklasse zu sein, aber der andere? Gegen zwei Männer?
      Georgia wäre am liebsten gleich wieder abgehauen. Zurück in den Wald und von dort... tja, direkt in die Arme der Polizei. Sich selbst stellen, obwohl sie gerade noch gedacht hatte, es gäbe einen Funken Hoffnung für sie. Aber nichts mit Hoffnung.
      Nur, wenn sie jetzt umdrehte, wenn sie zurückging, dann würde sie auch wieder der Bestie begegnen und die würde sich sicher nicht freiwillig stellen wollen. Nein, sie würde von den Polizisten provoziert werden, sie würde sich auf sie stürzen und die blutige 46, die Georgia mit sich herumtrug, würde sich in eine höhere Zahl verwandeln. Wie hoch würde sie gehen, bevor es vorbei wäre? Wie hoch konnte sie noch gehen? War es diese Zahl wert, dass Georgia sich nichts von diesen beiden Männern antun lassen würde? War sie bereit, Menschenleben gegen ihr eigenes Wohl einzutauschen?
      Georgia hätte gleich wieder heulen können. Stattdessen stieg sie ein, setzte sich zwischen die beiden und saß dort die gesamte Fahrt über steif wie ein Brett.

      Sie wurden an einem abgelegenen Farmgebäude ausgesetzt, das diesem T. J. wohl gehören mochte - was bedeutete, dass der Fahrer nicht dieser T. J. war. Es wäre ja auch zu schön gewesen, neben dem Nummernschild auch noch das Gesicht des Kriminellen zu haben, auch wenn der Fahrer sicher auch Dreck am Stecken haben mochte. Und das lag sicher nicht an seiner Hautfarbe, wie Georgia sich einzureden versuchte.
      Das Haus stand zwar leer, aber es war nicht verwaist. Die Betten in den Zimmern waren überzogen und in den Schränken hingen teilweise Klamotten. Es gab fließend Wasser und eine voll funktionsfähige Dusche, wie Georgia mit übermäßiger Erleichterung feststellte. Sie war sich selbst bewusst gewesen, dass sie den Pickup mit ihrer bloßen Anwesenheit vollgestunken hatte.
      Sie probierte gerade heimlich aus, ob das Schloss eines der Zimmer funktionierte, als der Ruf von der Küche kam:
      "Was meinste, wie lange braucht dein Vieh bis hierher?"
      Automatisch sah Georgia aus dem nächsten Fenster in der Erwartung, die nachtschwarze Kreatur auf sich zumarschieren zu sehen, wie es in dem Lokal bereits gewesen war. Aber draußen sah sie nur brache Felder und karge Bäume. Es war schon dunkel, trotzdem hätte sie das leuchtende Gelb der kleinen Augen gesehen.
      "Sie - sie kundschaftet die Gegend noch aus! Dauert nicht mehr lang."
      Tatsächlich wusste sie nicht, was schlimmer war: Dass die Bestie irgendwann wieder auftauchte oder dass sie endgültig fortblieb und Georgia allein mit diesem Mann wäre. Das eine würde nämlich zum anderen führen und bald hätte er herausgefunden, dass Georgia in etwa so gefährlich war wie eine Fliege. Sie hatte zwar das Polizisten-Training hinter sich und konnte sich verteidigen, aber bis auf jemanden über die Schulter zu werfen, hatte sie noch niemandem etwas angetan. Sie nicht. Ihre Zahl war eine 0, aber die Zahl der Bestie war eine 46 und da sie nur durch Georgia hergekommen war, war das auch indirekt Georgias Zahl.
      In diesem Moment beschloss sie, dass sie vorsorgen musste. Wenn die Bestie nicht mehr kommen würde, dann musste sie sich selbst verteidigen - und immerhin gab es hier eine voll ausgestattete Küche. Sie musste nur rankommen.
      Anstatt sich wie eigentlich geplant unter die Dusche zu stellen, kam sie doch wieder heraus und schlich in die Küche zurück. Der Apothekar hatte ein paar Dosen aufsammeln können und durchsuchte die Schränke gerade nach weiteren Konserven.
      "Ähm, die - die Klospülung funktioniert nicht."
      Unsicher blieb Georgia stehen. Sie hatte ihre Maske abgesetzt, sehnte sich jetzt aber nach dem wenigen Schutz, den sie ihr gegeben hätte.
      "Kannst du dir das mal ansehen? Ich muss mal. Und ich kenn mich mit sowas nicht aus."
      Sie erwartete Gegenwehr und sie hatte auch für alles ein hastig konstruiertes Gegenargument parat. Aber schließlich fügte der Apothekar sich doch und zog widerwillig ins Bad ab. Georgia stürzte gleich nach vorne und suchte nach dem Besteck, als sie bereits die voll funktionsfähige Klospülung hinter sich hörte. Sie fand es, aber sie fand keine verfluchten scharfen Messer, nur Buttermesser. Da schnappte sie sich eine Gabel, die ja zumindest etwas spitz war, schloss die Schublade wieder und wirbelte herum, gerade noch rechtzeitig, als der Mann griesgrämig zurückkam.
      "Muss wohl gehängt haben, vorhin. Äh, danke. Ich geh... ich geh mal. Komm nicht rein."
      Sie versteckte die Gabel in ihrem Ärmel, als sie steif an ihm vorbei wankte und im Badezimmer verschwand. Dort drehte sie auch gleich den Schlüssel im Schloss um.

      Danach benutzte sie wirklich die Toilette und zog ihre von Schmutz und Blut starren Klamotten aus. Der eilig gewickelte Verband ihres Armes war ihr im Weg und Georgia wimmerte leise, weil eine einfache Berührung schon schmerzte. So schlimm war es vor den paar Tagen noch nicht gewesen. Der Verband fühlte sich zu eng an, die Haut darunter aufgequollen und glühend heiß, im Rhythmus ihres Pulses pochte es. Georgia wusste genug von Medizin, dass das kein gutes Zeichen war, aber sie weigerte sich, den schmutzigen Verband auszuziehen. Sie war nicht bereit, das zu sehen, was darunter lag.
      Eine Stunde lang duschte sie, wobei sie abwechselnd weinte, sich wusch, wieder weinte, den bereits heißen Arm aus dem genauso heißen Wasser heraus hielt. Es tat gut, aber es war nicht gut genug. Zum Schluss stand Georgia viele Minuten auch einfach nur da und starrte ins Leere, ihr Körper in einem seltsamen Gefühl der Taubheit gefangen. Die ganze Situation kam ihr nicht mehr real vor. Sie fühlte sich völlig losgelöst von dem, was sich die letzten Tage zugetragen hatte.
      Dann hob sie den Kopf und -
      Ein hell leuchtendes, gelbes Auge hing mitten im Fenster in der Finsternis. Ohne zu blinzeln starrte es herein, ein winziges Licht in dem sonst rabenschwarzen Gesicht. Das Licht aus dem Bad beleuchtete nur ganz leicht die vielen Fühler, die sich um das Auge herum bewegten.
      Georgia schrie auf und wäre um ein Haar in der Dusche ausgerutscht. Dabei hätte sie sich sicher den bereits malträtierten Arm gebrochen. Stattdessen stellte sie das Wasser ab, riss die Tür auf und schnappte sich das Handtuch, als wäre es ihr unangenehm, sich vor der außerweltlichen Kreatur nackt zu zeigen. Zum Glück war sie geistesgegenwärtig genug, sich ein paar der aufgegabelten Klamotten überzuwerfen, die ganz eindeutig für einen Mann angefertigt worden waren, und dann erst aus dem Bad zu stürmen.
      "Sie ist da!"
      Sie rannte zur Tür und riss sie auf. Das tat sie nicht mit Begeisterung und auch nicht, ohne sich dabei vor dem bereits bekannten Anblick der Bestie zu fürchten, aber sie hatte mitbekommen, mit welcher Skrupellosigkeit die Kreatur vorging und konnte sich gut vorstellen, dass sie bald versucht hätte, sich durch das Fenster zu quetschten. Die Scheibe hätte ganz sicher nachgegeben, aber auch der Fensterrahmen? Georgia wollte es einfach gar nicht herausfinden.
      Es dauerte einige Sekunden, dann schälte sich die tiefschwarze Gestalt aus dem genauso schwarzen Hintergrund heraus. Langsam kam sie heran geschlichen, die Fühler zu beiden Seiten ihres Mauls leise vor sich hin raschelnd, den Blick auf Georgia geheftet. Die machte sich klein und wich gleich von der Tür weg, um der Kreatur aus dem Weg zu gehen. Unbeeindruckt kam sie herein, den Schwanz hinter sich herschleifend, bleckte die Zähne und schlich dann genauso langsam, aber äußerst zielstrebig auf den Apothekar zu. Georgia dachte nur mit wachsendem Entsetzen daran, dass die Bestie womöglich Hunger haben könnte.
    • Sie kundschaftet noch die Gegend aus… So so…
      Der Apothekar reagierte nicht sofort auf die Aussage, die ganz offensichtlich als Strohmann diente. Stück für Stück sammelte er die fragwürdigen Punkte und fügte sie gedanklich zu einem Bild zusammen, während er zur Hälfte im Schrank neben der Spüle verschwand, um auch noch die letzten Dosen aus der hintersten Ecke zu kramen. Wer weiß, vielleicht gab es dort noch anderes, interessantes Zeug.
      „Ähm, die – die Klospülung funktioniert nicht.“
      Er stieß sich fast den Kopf, als er ohne Beute aus dem Schrank auftauchte und sich auf den Hosenboden setzte, wobei er zu Georgia aufsehen musste. Sie hatte seine Maske abgelegt, ebenso wie seinen Mantel, und wirkte… verloren, um es gelinde auszudrücken. Er schwieg, als sie noch einen Satz hinterher hängte und es diente seinem Vorteil allein, dass er seine Maske noch immer trug. Denn er wusste ganz genau, dass die Spülung es tat. Nur die Antwort auf die Frage, warum sie ihn aus der Küche haben wollte, erschloss sich ihm nicht ganz. Deswegen stieg er auf ihr Spiel ein, rappelte sich auf und schlurfte ins Bad. „Ich bin nicht dein fucking Handwerker.“
      Noch bevor er das Bad erreichte, lauschte er hinter sich und hörte, wie Georgia irgendwas in der Küche veranstaltete. Trotzdem machte er nicht kehrt, steuerte zielsicher die Toilette an und betätigte exakt einmal die Spülung. Wie erwartet tat sie es ohne Widerworte. Ganze drei Sekunden sah er dem Wasser dabei zu, wie es sich den Ausguss hinab drehte, dann ging er auf direktem Wege zurück in die Küche.
      Georgia stand vor der Küchenzeile und war gerade noch mit etwas beschäftigt gewesen, kurz bevor er hereinkam. Er hob die Augenbrauen – was sie natürlich nicht sah – und streckte einen Arm nach oben aus, um ihn seitlich gegen die Wand zu lehnen.
      „Mhm, hat sehr gehangen“, sagte er trocken und ließ Georgia kommentarlos an sich vorbei in den Flur und dann ins Bad flüchten. Ihm war nicht entgangen, dass sie auffällig an ihrem Ärmel genestelt hatte. Oder wie steif sie gegangen war. Sein Blick schweifte zu der Küchenzeile, vor der sie eben noch gestanden hatte.
      Die Besteckschublade war nicht ganz geschlossen.

      „Alter, dein scheiß Ernst…“
      Der Apothekar hockte vor dem Kleiderschrank im Hauptschlafzimmer. Er hatte einen doppelten Boden ausfindig gemacht, nachdem T. J. ihm schrieb, wo er im Notfall Waffen zur Selbstverteidigung finden konnte. Dass es ausgerechnet der Kleiderschrank sein musste wie in den richtig schlechten Amifilmen hätte er nun auch nicht erwartet. Aber er beschwerte sich nicht. Jetzt hatte er nicht nur eine Pumpe zur Hand, sondern auch schlanke, schwarze Smith&Wesson.
      Kopfschüttelnd ließ er sie wieder in ihrem Versteck verschwinden und kehrte in die Küche zurück, er eine Dose MacnCheese öffnete und sie auf dem Gasfeld in einem Topf langsam erwärmte. Immerzu hatte er einen Blick durch die Fenster nach draußen geworfen, hin zur Straße, wo nur selten Fahrzeuge den Highway langfuhren. Er glaubte, irgendwann den zierlichen Schatten eines Mädels dort zu sehen, doch so lange er auch wartete, die Dusche oben ging weiter und von Georgia fehlte jede Spur.
      Er hatte sich seinen Teller voll gemacht und war gerade dabei, die Maske abnehmen zu wollen, da schrie Georgia von oben. Vor Schreck ließ er seine Gabel fallen und war aufgesprungen, als sie ihm aus dem Flur bereits entgegen kam, nun ohne ihr verdrecktes Polizeioutfit und in einem viel zu weiten karierten Hemd und einer Jeans, die ohne Gürtel niemals dort gehalten hätte, wo sie nun saß.
      „Sie ist da!“
      Dieses Mal war er nicht ganz so schockiert darüber, sondern schaffte es sogar, sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen, vor seine dampfenden MacnCheese. „Okay, und warum schreist du dann so?“
      Davon ließ sich Georgia nicht beirren, spurtete zur Tür und riss sie auf. Kühle Luft kam mit einem Stoß hinein und es war, als öffnete sich die Tür ins schwarze Nichts. Noch sah er dem Ganzen verhältnismäßig entspannt zu, immerhin war da noch ein winziger Teil in ihm, der glaubte, dass Georgia ihre Bestie wirklich unter Kontrolle hatte. Als sie sich aber duckte und aus dem Türrahmen wich, war dieser letzte Teil auf der Stelle abgestorben. Man machte sich vor seinen eigenen Kreationen nicht klein. Man reagierte nicht, als wäre es das Ende der Welt und man hätte keine Ausflüchte nennen müssen, wenn man sie wahrlich unter Kontrolle hatte.
      Jetzt hatte er den Beweis: Georgia fürchtete ihre eigene Kreatur, weil sie unberechenbar für sie war.
      Der Apothekar wurde steif. Im Türrahmen erschienen Fühler, schwarze Auswüchse, gelbe Augen. Das Vieh kam wie selbstverständlich herein und würdigte seiner Schöpferin keines Blickes. Stattdessen hatte es seinen Fokus auf seinem neuen Ziel: Ihm selbst.
      Seine Augen weiteten sich. Seine Lippen teilten sich, als er etwas sagen wollte, aber keine Worte herauskamen. Unaufhaltsam kam das Vieh näher und er war sich sicher, dass er dieses Blickduell nun nicht gewinnen würde.
      Seine Instinkte nahmen über. Hals über Kopf sprang er vom Stuhl auf, weg vom Tisch und weg von dem Vieh. Er sah sich hastig über seine Schulter kurz um, um zu sehen, ob das Vieh ihm nachsetzte, aber es rannte nicht, sondern folgte ihm nur. Also hetzte er in das Hauptschlafzimmer, riss die Türen des Schrankes beinahe aus den Angeln und den doppelten Boden heraus. Seine fahrigen Händen bekamen das kalte Metall zu fassen, dann das Magazin daneben. Er brauchte mehrere Anläufe, bis er das Magazin in die Pistole geladen hatte und sich wieder aufgerichtet hatte. Gerade passend, denn durch die offene Tür kamen bereits diese widerlichen Fühler und dann die Bestie selbst.
      Es knallte ganze zwölf Mal, dann kehrte Ruhe ins Haus ein.
      Der Apothekar war nicht bewandert mit Schusswaffen. Er konnte mit Messern umgehen, er wusste auch, wie Pistolen und Gewehre funktionierten, aber er hatte keine eigenen Schusswaffen bei sich gelagert. Im Allgemeinen hatte er auch noch nie jemanden bewusst getötet, umso schockierter stand er nun da, die Arme noch immer ausgetreckt, um die Pistole mit beiden Händen zu halten und auf den Leib der Bestie zu richten, die am Boden zusammengesunken war. Es klickte noch immer, als er versuchte, noch mehr Schüsse abzugeben, das Magazin aber unlängst leer war. Löcher klafften in Wand, Boden und Tür, von den zwölf Schüssen hatten lediglich drei ihr Ziel getroffen. Zwei davon in den vorderen Torso, einen in den Hals.
      Es piepte unfassbar laut in seinen Ohren. Er hyperventilierte, das merkte er selbst, als es sich um ihn zu drehen begann und ihm die Waffe aus der Hand fiel. Das Blut rauschte in seinen Ohren und seine Hände… seine Arme… seine Beine, einfach alles zu zittern begann. Heftig, was ihn beinahe in die Knie zwang. Er driftete zur Seite weg und knallte gegen den Schrank, einzig seine Willenskraft hielt ihn auf den Beinen.
      Er hielt das nicht mehr aus. Er brauchte einen Schuss. Jetzt. Sofort. Der Drang zwar zu groß, es fraß ihn von innen auf. Er hielt diese Angst nicht aus, er hielt den Blick auf dieses Vieh da am Boden nicht aus.
      „Du hast das Wichsvieh nicht unter Kontrolle“, heulte er auf, eher ein Klagelaut zwischen Qual, Frust und dem völligen Ende.
      Seine Beine gaben doch nach, als er auf den Boden sank und sich mit einer Hand immer wieder auf die Innenseite seines Ellbogens schlug. Dort, wo unter den Stoffschichten die Einstichstellen zu sehen waren, wenn auch nicht so prominent wie bei ungeübten. Er hatte eine Angstattacke, die kannte er, aber genau deswegen schmiss er sich sein Zeug ein. Damit er sie nicht mehr erleben musste. Damit der ganze Scheiß einfach aufhörte.
      GEORGIA!“