Jiyan
Es war verrückt, dass Jiyan nur noch ein Jahr an dieser Universität haben sollte. Es kam ihm völlig bizarr vor. War er nicht vorgestern erst in dieses Zimmer gezogen? Nein, er hatte die Hälfte seines Masters schon hinter sich und war den ganzen Sommer hier mit Amari herumgelungert, weil sie nicht so lange auf Dauer bei ihren Familien hatten bleiben wollen. Das letzte Jahr war wie im Flug vergangen, ganz zu schweigen von den drei Jahren davor. Von all seinen bisherigen Mitbewohnern konnte er Amari jedenfalls am besten leiden und es war ein seltsamer Gedanke, sich nicht für den Rest seines Lebens ein Zimmer mit ihm zu teilen, auch wenn es eigentlich schon ein Ausnahmezustand war, zwei Jahre hintereinander zu bekommen, aber sie waren eben beide am selben Punkt ihres Studiums. Gut, alles hatte seine Nachteile. Theoretisch. Aber sie hatten beide nicht oft Gäste hier, mal abgesehen von Cleo, und hatten ihre Privatsphäre, wenn sie zu unterschiedlichen Zeiten Vorlesungen hatten, so wie jetzt. Das reichte Jin eigentlich. Gezwungenermaßen standen Amari und er sich mittlerweile ziemlich nah. Man durfte wirklich kein Problem damit haben, hier ständig mit anderen Menschen zusammenzukleben. Die Uni war zwar groß, aber bei dem Ansturm an Studenten musste eben auch Platz gespart werden. Wohnungen mit Einzelzimmern waren nicht sehr gängig. Aber es könnte schlimmer sein, wie etwa in seinem ersten Jahr hier, als er mit einem Sportstudenten zusammengelebt hatte, der anscheinend noch nie mit dem Thema Hygiene konfrontiert worden war. Urgh. Keine schöne Erinnerung.
Der Blonde bekam langsam Hunger, weigerte sich aber, in seiner kurzen heiligen Mittagspause am Montag die Zeit in einem derartigen Getümmel zu verschwenden. Nein, die Müsliriegel würden ihn schon bis heute Abend durchbringen. Außerdem hing er noch an der Arbeit, die über den Sommer fertiggestellt hätte werden soll. So viel dazu. Acryl war noch immer nicht sein Favorit, auch nicht, nachdem er sich nun wochenlang damit herumgeschlagen hatte. Seine Professorin hatte ihn eiskalt belogen, als sie meinte, er würde die Farben schon noch lieben lernen, wenn er nur genug Zeit mit ihnen verbrachte. Und so leicht hatte er sich zu dieser Arbeit überreden lassen…
Jin warf beinahe das Farbwasserglas quer über den Tisch, als hinter ihm auf einmal die Tür zum Zimmer aufging. Hatte er schon wieder vergessen abzuschließen? Ups.
"Jinny, ich bin so müde, bitte lass mich hier schlafen", drang eine weinerliche Stimme durch seine Kopfhörer zu ihm durch und als er sich umdrehte, lag Cleo bereits wie ein gestrandeter Wal auf seinem Bett.
"Schuhe ausziehen?", fragte er in aufforderndem Ton. Die Dunkelhaarige kickte sich die Sneaker von ihren Füßen und gab ein langes, leidendes Brummen von sich, bevor sie sich richtig auf das Bett schob und den Kopf hob, um Jiyan ihre großen, traurigen Augen zu zeigen.
Er nahm sich die Kopfhörer ab und ließ den Pinsel ins Glas fallen. "Okay. Du hast jetzt schon keine Lust mehr? Am ersten Tag?", fragte er und schmunzelte. Er zog die Beine in einen Schneidersitz und lehnte sich zurück. Es war letztes Jahr keine Seltenheit gewesen, dass Cleo ihre Freizeit in seinem Zimmer verbrachte, weil ihre Mitbewohnerin ihr ständig absichtlich Fleischgerichte vor die Nase gehalten hatte, um sie zu nerven. Aber jetzt sollte sie ja… eine neue haben, da diese mittlerweile ihren Bachelor beendet hatte. "Wieder eine Mitbewohnerin, die nicht damit klarkommt, dass du kein Fleisch isst? Keine Tiere, sorry"
Cleo seuzfte. "Nein, die… ist auf ne andere Art seltsam, aber das geht schon irgendwie klar. Ich hab nur vorhin gemerkt, wie verdammt viele Aufgaben ich diese Woche abgeben muss und ich hab über den Sommer irgendwie nichts gemacht, weil der so schnell um war und jetzt hab ich ein Problem", quasselte sie und ließ den Kopf dann wieder ins Kissen fallen.
"Wem sagst du das", murmelte Jin. "Aber wieso kannst du dann nicht in deinem Zimmer Pause machen?"
"… Wirfst du mich gerade raus?"
Cleo ließ sich das nicht zwei Mal sagen und zog sich die Decke über den Körper, als würde sie in ihrem eigenen Bett liegen. Okay. Dieses Jahr würde sich wohl auch das nicht ändern. Naja, solange sie Jin zeichnen ließ und auf Amaris guter Seite blieb, indem sie ihn später wieder mit selbstgemachtem Kimchi bestach, brauchte sie auch keine Angst haben, rausgeworfen zu werden.