Die Luft war stickig und schwer. Die provisorisch errichteten Ventilatoren trugen wenig dazu bei, die Luftqualität in irgendeiner Form zu verbessern. Im Gegenteil, Aspen kam es vielmehr so vor, als würden diese nur noch mehr Wärme produzieren und in ihrer Umgebung verteilen. Seit vor zwei Tagen einige Rohre im Boilerraum geplatzt waren und offensichtlich fehlerhaft wieder geflickt worden sind, herrschte im gesamten Westflügel, den auch er sein Zuhause schimpfte, eine unerträgliche Hitze. Zwar waren die Techniker bereits daran, diesen Fehler zu beheben, doch bis dahin hatte jeder unter dieser Hitze zu leiden.
Naja, beinahe jeder. Im Gegensatz zu einem Großteil der Leute hier hatte Aspen die Möglichkeit, dem alten U-Bahn- Tunnel, der seiner Gemeinde einen sicheren Bunker im Untergrund bot, für einige Zeit zu entkommen.
“Sag bloß, du willst schon wieder raus? Warst du nicht gestern erst für mehrere Stunden unterwegs.” Law, oder auch “der Torwächter", wie er von allen nur genannt wurde, kratze sich verwundert an seinen struppigen Bart, als er den jungen Raider näher kommen sah. “Torwächter” war eigentlich nur eine glorifizierte Bezeichnung für jemanden, der den ganzen Tag an einem Schaltpult saß und bloß hin und wieder einige Schalter betätigte, welche die schweren Blei-Schleusen bewegte, um die Raider hinaus und wieder hereintreten zu lassen.
“Nenn mir jemanden, der bei diesen Temperaturen nicht freiwillig rausgehen wollen würde?” brummte er nur zur Antwort, welche seinem Gegenüber nur ein zustimmendes Lachen entlockte.
“Na schön, aber vergiss die hier nicht.” Mit einer routinierten, ausholenden Bewegung, warf er dem Jungen eine Bleiweste zu, was diesem eine Augendrehen entlockte.
“Du kennst die Regeln. Niemand geht raus ohne Strahlenschutz. Und ja, das gilt auch für dich. Nur weil du Resistent gegen Strahlung bist, bist du nicht gleich Immun. Sei froh, dass du deswegen wenigstens nicht eins von den Teilen tragen musst.” Er machte sich nicht die Mühe zu sehen, worauf der alte Torwächter zeigte, er wusste schließlich schon längst, dass er mit “den Teilen” einer der Schweren, blei gefütterten Hazmat Anzügen meinte, die wie gruselige Puppen an der Wand aufgereiht hangen. "Jaja, ich nehm’s ja schon mit.” murrte er und schnappte sich die blöde Weste. Er hatte diesen Vortrag schon oft genug über sich ergehen lassen.
Auch von seinem Arzt hatte er sich sowas viel zu oft anhören müssen, der ihm irgendwann mal versucht hatte zu erklären, was es mit seiner Resistenz auf sich hatte.
Irgendwas von wegen dass “sein Stoffwechsel so langsam war, dass seine Körperzellen die ionisierten Radikale der Strahlung gar nicht aufnehmen konnten, da diese Teilchen sich durch ihre Ladung zu schnell bewegten und er daher eine starke Resistenz gegen die Strahlung, aber bei weitem keine Immunität besaß.” So oder so ähnlich hatte der Doc es ihm damals erklärt.
Auf Aspens Nachfrage hin hatte dieser aber auch nur zugegeben, dass dies lediglich eine Vermutung war und auch er sich nicht zu 100% sicher war, ob diese auch wirklich so stimmte. Also hey. Wer weiß? Vielleicht war ja doch etwas völlig anderes dahinter?
Wie dem auch sei, zurück in der Gegenwart streckte Law ihm gerade einen beschriebenen Zettel entgegen.
Die “Wunschliste”, wie er sie gerne nannte, mit allen Dingen, die zur Zeit besonders gebraucht wurden.
Ganz oben stand wie immer Nahrung, gefolgt von allerlei medizinischen Krimskrams für die Krankenstation, Holzkohle, Mergel und…. “Kokusnuss?” las er den letzten Punkt laut vor. “Ist das euer ernst, wo soll ich so einen Kram den auftreiben und wofür bitte soll das Wichtig sein?”
Verlegen kratzte Law sich am Bart “Dasselbe habe ich mich auch gefragt:” brummte er “So ein Typ von der Technik meinte, er braucht sowas für eine Art Aktivkohlefilter, den er zusammenbasteln möchte."
Okay. Aktivkohlefilter. Keine schlechte Idee eigentlich, aber nichtsdestotrotz ein ungewöhnlicher Auftrag. "Kokusnuss." wiederholte er nochmals und schüttelte ungläubig den Kopf, als sich auch schon die erste Schleuse öffnete.
“Na dann Kleiner, viel Glück da draußen, und komm bloß lebend zurück!"
Der Raider winkte bloß und trat in die Schleuse ein. “Kleiner”, wie er es hasste, so genannt zu werden. Es erinnerte ihn viel zu sehr an seine Kindheit, in der er dank seines langsamen Wachstums stets einen ganzen Kopf kleiner als seine Altersgenossen war und somit viel Spott abbekam. Kinder waren eben grausame kleine Biester. Nach 27 Jahren Lebenszeit hatte er mit seinen 1,80 aber ganz gut aufgeholt, wie er fand.
Mittlerweile hatte sich das Tor hinter ihm geschlossen und er wartete nun in der Schleuse, bis sich das Nächste aufgetan hatte.
Während er so wartete, zückte er aus alter Gewohnheit sein Klappmesser und ritzte einen Strich auf die Innenseite des Tores.
Eine alte "Tradition", die er damals mit seiner Schwester begonnen hatte, als sie gemeinsam auf Supply Runs gegangen waren. Ein Strich an die Innenseite des Tores, wenn man den Bunker verließ, und ein Strich an der Außenseite, wenn man zurück kehrte.
Seit nun mehr als 8 Jahren befand sich genau ein Strich weniger an der Außenseite als auf der Innenseite. Seit dem Tag, an dem Briar verschwand…
Als das Tor sich endlich öffnete und den Blick auf die Außenwelt freigab, musste Aspen eine Hand vor sein Gesicht halten, um seine Augen vor dem plötzlichen einfallenden Sonnenlicht zu schützen. Ein Nachteil besser sehen zu können, bestand darin, dass auch das Sonnenlicht intensiver auf ihn wirkte.
“Na dann wollen wir mal Kokosnüsse sammeln gehen.” Spornte er sich an und trat hinaus in die frische Luft.
Die gelben Köpfe einiger fröhlich im Wind wiegenden Sonnenblumen, die direkt vor dem Eingang wuchsen, begrüßten ihn.
Wieder eine von Briars Ideen. Als Seine Mutter noch lebte, hatte sie Ihnen erzählt, dass Sonnenblumen zwei- bis drei Mal so viel Radioaktive Strahlung aufnehmen konnten wie herkömmliche Pflanzen, und somit perfekt geeignet waren, um den Erdboden zu Sanieren.
Natürlich musste Briar das dann direkt ausprobieren. Ob es tatsächlich irgendeinen Unterschied machte, Sonnenblumen anpflanzen konnte Spen nicht beurteilen. Aber auch wenn es kitschig erscheinen mochte, setzte er auch diese kleine Tradition noch bis heute fort und streute hin und wieder das Saatgut der gelben Pflanze auf seinen Wegen entlang. Es gab ihm ein tröstliches und familiäres Gefühl, die gelben Blüten zu sehen.
Aber dafür war er heute nicht hier draußen, sein Auftrag war es, Ausschau zu halten nach tropischem Obst… Frucht? Nuss? Was genau war eine Kokusnuss eigentlich?
Der Supply Run verlief unspektakulär und ohne große Vorkommnisse.
Am Flussufer hat er eine überraschend gut erhaltene Konservendose gefunden. Das Label war durch das Wasser zwar aufgeweicht und abgelöst worden, doch das Metall wies keine größeren Rost- oder Korrosionsspuren auf. Vielleicht befand sich ja noch was halbwegs Essbares darin? Das wäre auf jeden fall ein großer Jackpot.
Er Wollte noch in ein verfallenes Gartencenter schauen (Getrocknete Kokusnussfasern wurden doch auch mal als Ersatz für gartenerde verwendet, wenn ihn nicht alles täuschte?) Doch noch bevor er bis zum Eingang gekommen war, konnte er bereits von außen heraus das Scharren und Knurren einiger mutierter Straßenköter hören, die im Inneren anscheinend einen Bau errichtet hatten. So ein Mist.
Er musste sein Glück also nochmal an einem anderen Tag versuchen, wie es schien.
Soeben wollte er sich auf den Weg zurück machen. Als ein seltsames Geräusch seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Schuss, gefolgt von einer Art Zischen? Nein, Pfeifen.
Er suchte mit seinen Augen den Horizont nach der Quelle des Geräusches ab. Sein Blick blieb an einer roten Rauchfahne hängen, die sich gen Himmel bewegte.
Ein abgeschossenes Signalfeuer!
Aspen hatte davon gehört, aber selbst noch nie eins gesehen. Es bedeutete, dass dort jemand in Not war.
Noch ehe sein Verstand einsetzen konnte, hatten seine Füße sich bereits in Bewegung gesetzt. Seine Gedanken schossen für einen Moment zu Briar. Er wusste, dass es unwahrscheinlich war, dass es irgendwas mit ihr zu tun hatte.
Unwahrscheinlich - aber nicht unmöglich!
In the midst of chaos
there is also opportunity
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