In Death's Eyes [CodAsu]

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    • In Death's Eyes [CodAsu]

      Vorstellung


      Der Anblick von Polizisten war im St. Louis nichts Ungewöhnliches.
      So waren die Blicke des Personals entsprechend unbeteiligt, als man die Polizisten durch die Gänge der Einrichtung für mentale Gesundheit, oder plakativ geschlossene Psychiatrie, führte. Man hatte bei der Errichtung des Gebäudes sehr darauf geachtet, helle Farben und eine wohlige Atmosphäre zu schaffen, um möglichst wenig den Eindruck einer klinischen Einrichtung zu erwecken. Dafür waren immerhin die hohen Mauern und Sicherungen rund um das Gelände zuständig, die diejenigen mit Freigang davon abhalten sollten, einfach zu verschwinden. Insgesamt verfügte die Einrichtung über eine sehr gute Mensa, eigene Wohngemeinschaften, sofern es denn die Entwicklung zuließ, aber eben auch die typischen Einzelräume mit Sonderausstattung.
      Jeden dieser Räume hatte eine gewisse Bewohnerin des St. Louis schon unlängst gesehen ehe sie wieder in ihr Einzeldomizil zurück verfrachtet wurde.
      Die Dame am Empfang war so freundlich gewesen, die beiden Beamten, einen Mann und eine Frau, durch die Gänge bis zum Büro von Doctor Kingsley zu führen. Nicht, dass der Weg besonders unbekannt sein dürfte, immerhin war Kingsley der Ansprechpartner für all jene Fälle, die in der Justizvollstreckung noch relevant waren oder würden. Auf ihrem Weg kamen sie sowohl an Angestellten als auch an Bewohnern vorbei, von allen wurden sie knapp gegrüßt, wodurch der Eindruck entstand, dass das hier einfach nur eine große Gemeinschaft war. Jedenfalls solange man sich in den richtigen Abteilungen befand, wo nicht die Schizophrenen schrien und man die schwer gesicherten Stahltüren nicht mehr abdecken konnte.
      Mit einem Nicken entließ die Empfangsdame die beiden Beamten in das Büro und verabschiedete sich zurück zum Tresen. Es klickte leise und ein älterer Mann kurz vor der Rente stand auf, um auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch zu deuten. Er trug den typischen weißen Arztmantel mit seinem Namensschild am Rever geklemmt. Neben etlichen Unterlagen und Akten standen auch Tassen samt Thermoskanne und ein Teller mit Gebäck bereit. So als würden sie eine einfache, lockere Besprechung führen und keine Ersteinschätzung über eine ihrer Bewohnerinnen.

      „Wie Sie sehen können, haben wir selbst nach sechs Jahren noch immer absolut keinen Hinweis auf den Verbleib ihrer Familie. Der DNA-Abgleich hat keinen Treffer ergeben und auch in den Vermisstenanzeigen war nichts über sie zu finden. Noch immer behauptet sie, keinen anderen Namen zu haben als jenen, mit dem sie sich vorgestellt hat. Sie brauchen sie nicht mit Miss oder dergleichen anzureden, darauf scheint sie keinen Wert zu legen. Wir nahmen an, dass sie ‚Mortem‘ womöglich als eine Art Titel missinterpretiert, aber die Untersuchungen haben ergeben, dass dem nicht so ist.“
      Kingsley lehnte sich mit einem Knarren in seinem Stuhl zurück und griff nach der Tasse mit dem dampfenden Kaffee. Man hatte ihnen mittlerweile eine weitere Kanne gebracht, da das Erstgespräch immer am längsten andauerte. Erst recht, wenn niemand so recht wusste, mit welchem Prozedere man fortfahren sollte.
      „Wir schätzen ihr Alter also auf etwa 21 Jahre. Da sie mit etwa fünfzehn Jahren hier eingeliefert wurde, dachten wir, sie hätte noch nicht allzu viel Bildung erfahren. Doch dafür ist ihr Wortschatz viel zu eloquent. Dadurch wirkt sie oftmals älter, als sie es augenscheinlich ist. Lassen Sie sich nicht von der Art und Weise irritieren, wie sie mit Ihnen spricht. Selektive Apathie, in ihrem Fall also nur das Interesse für Angelegenheiten, die ihr nützlich zu sein scheinen, stellt manchmal ein Problem im Falle der Kooperation dar. Sie ist nicht überaus manipulativ, weiß aber durchaus wie man willensschwache Menschen dazu bringt, zu tun, was sie will. Sie hat am Anfang ihrer Zeit hier eine Auszubildende dazu gebracht, ihr bei jedem Besuch Zartbitterschokolade mitzubringen. Ohne, dass wir es wussten und Sonderbehandlungen stehen den Bewohnern eigentlich nicht zu. Spannend hierbei war, dass Mortem Schokolade forderte und nichts, um Schaden anzurichten oder aus der Einrichtung verschwinden zu können. Kaffee?“
      Er hob fragend die Augenbrauen und schütteten den Polizisten Kaffee nach. Dann blätterte er in seinen Unterlagen auf die nächsten Seiten.
      „Im Frühstadium haben wir ihr narzisstische Züge attestiert mit Verdacht auf Narzissmus. Allerdings besitzt Mortem kein übertriebenes Selbstwertgefühl und auch kein Bedürfnis nach Bewunderung. Allerdings scheint sie absolut kein Einfühlungsvermögen zu zeigen. Deswegen wirken ihre Herangehensweisen und Wortwahl meist unpassend und gar unmenschlich. Sie spricht des Öfteren mit dem Personal in anmaßender Weise, sodass sie ihnen Angst einjagt und es sich mittlerweile als schwierig gestaltet, jemanden zu finden, der sich mit ihr auseinandersetzt… Wir sind uns nicht sicher, wie sie es anstellt, aber es ist bereits mehrfach vorgekommen, dass Mortem die Todesursachen und -zeitpunkte erschreckend genau vorhersagen konnte. Wir haben Beweise dafür, dass sie zu keinem Zeitpunkt ihr Zimmer verlassen hat, wann immer ihre Aussagen eintraten. Zur Überwachung haben wir Kameras in den Einzelzimmern installiert. Alles datenschutzkonform, natürlich. Nachdem sie mehreren Schwestern Krankheiten genannt hatte, die daraufhin tatsächlich diagnostiziert wurden, hegten die meisten Argwohn gegen dieses Mädchen. Zu keinem Zeitpunkt hat Mortem Anzeichen von Gewalt oder dergleichen gezeigt. Vielmehr wirkt sie passiv, manchmal gar teilnahmslos. In letzter Zeit tritt dieses Phänomen häufiger auf, sodass sie nur noch mit ausgewählten Menschen spricht. Welchen Kriterien das unterliegt, konnten wir nicht feststellen.“
      Er blätterte weiter, suchte jedoch augenscheinlich nach einer bestimmten Seite. Mit einem zufriedenen Geräusch fand er sie und enthüllte eine Akte voll mit medizinischen Fachtermini, den die Beamten vermutlich nicht mehr entziffern konnten.
      „Mortem hat nachgewiesenermaßen eine Analgesie, also eine natürliche Schmerzunempfindlichkeit. Sie reagiert nicht auf Verletzungen, seien es Schnitte, Quetschungen oder Verbrennungen. Wir haben in einer klinischen Untersuchung mit Nadeln getestet, ob es bei ihr zutrifft, nachdem wir ihren Worten, sie sei unsterblich, nicht glauben. Mehrfach hat sie versucht zu beweisen, dass sie es sei und mit teilweise sehr kreativen Wegen versucht, sich das Leben zu nehmen. Dabei zeigte sie keinerlei Schmerzreaktion, weder auf die Schnitte an ihren Handgelenken noch auf die Würgemale an ihrem Hals. Anfänglich nahmen wir an, sie sei suizidgefährdet, doch sie vollzog diese Handlungen nur in Form einer Beweiserbringung für ihre These. Sollte sie Sie also fragen, ob Sie daran glauben, sie wäre in der Tat unsterblich… Versuchen Sie, das Thema zu umgehen, wenn möglich. Im Notfall bejahen Sie es, aber sollte sie spüren, dass Sie es heucheln, wird sie einen Beweis erbringen wollen.“
      Sein Finger folgte Zeile für Zeile, Wort für Wort, als er weitersprach.
      „Trotz ihres sehr schmalen Körperbaus leidet sie nicht an Anorexie. Sie isst, wenn man sie darauf aufmerksam macht, vergisst es aber, wenn man es nicht tut. Ein strikter Tagesplan ist empfehlenswert, damit sie ihren Körper nicht vernachlässigt. Das tut sie nicht absichtlich, aber sie empfindet scheinbar das Hungergefühl anders. Generell scheint sie die Anzeichen ihres eigenen Körpers nicht recht einordnen zu können, dies hat sich im Laufe der Jahre jedoch deutlich gebessert. Außerdem attestieren wir ihr Alexithymie, also eine Gefühlsblindheit. Sie kann Emotionen nicht lesen, differenzieren oder verarbeiten. Das wird Ihnen vermutlich als Erstes mitunter auffallen. Wenn man sich davon nicht sonderlich ablenken lässt, kann man mit ihr normal interagieren und sprechen.“
      Mit einem bestimmten Nicken klopfte er einmal auf den Tisch und schlug die dicken Akten zu. Das Zeichen dafür, dass er mit seinem Vortrag geendet hatte. Sein Blick ging von dem kräftig gebauten Mann zu der schmaleren Frau an seiner Seite, dann faltete er die Hände vor seinem Bauch.
      „Bis auf die Fingerabdrücke an der Leiche damals hat man ihr noch immer nichts nachweisen können. Auch in den Zeugenberichten aus den Fällen davor war mehr als die Sichtung nicht ihr zuschreibbar. Es wirkt alles so, als sei sie einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen, zumal sie auf das Thema angesprochen immer wieder behauptet, sie habe niemanden getötet, sondern lediglich seine Seele erlöst. Oder das Ende seiner Zeit eingeläutet, was in weiterer Hinsicht auch missverstanden werden kann. Sie sehen also, dieses Mädchen ist nicht wirklich therapierbar, verstört unsere Mitarbeiter und lässt sich nicht in Wohngemeinschaften etablieren. Demnach wäre es schon unser Anliegen, wenn Sie sich ihr annehmen könnten und vielleicht etwas… Licht in die Sache bringen könnten.“

      @Codren

      copyright by Vertify


      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Das Spital von St. Louis war eine Großeinreichtung, die sich äußerlich nur in einem einzigen Faktor von einem Gefängnis unterschied: Die Außenwände waren in einem klinischen Weiß und nicht in einem deprimierenden Grau gestrichen. Abgesehen davon war es aber genau wie in einem Gefängnis, wie Detective Murray fand.
      Die beiden Polizisten hinterließen ihre Waffen beim Pförtnerhaus, bevor sie ganze drei Sicherheitsbarrieren durchschritten, von einem Wachmann abgeklopft wurden, die Visiten hinterlassen mussten und einen Gästeausweis in die Hand gedrückt bekamen, bevor sie überhaupt an einer Art Empfang ankamen. Alleine gelassen wurden sie selbstverständlich nicht, jederzeit war ein Wachmann bei ihnen.
      Die Empfangsdame führte sie dann erst ins Büro des zuständigen Arztes, in dem Beamte Lucas Murray und Amber Price sich setzten, beide ein Notizblock im Schoß.
      Dr. Kingsley, ein älterer Herr und sicher genauso gerne hier wie die beiden Beamten, begann mit den Grundlagen, die auch der polizeilichen Akte bekannt waren: Kein Hinweis auf Verwandtschaft, nicht einmal einen Hinweis auf den privaten Hintergrund oder auf den Namen - Mortem konnte ja wohl kaum ein richtiger Name sein, dessen waren sie sich alle sicher; aber was sonst? Ein Titel? Ein Codename? Ihr ganzes Wesen schien merkwürdig, aber das waren auch keine sonderlichen Neuigkeiten. Ohne irgendetwas konkreteres zu wissen, tippte Lucas auf eine Krankheit, wobei er dem Arzt sein vollstes Vertrauen schenkte. Wenn es jemand wissen konnte, dann ja wohl er.
      Beide Polizisten nahmen eine Tasse Kaffee an.
      Mortem zeigte narzisstische Züge und einen Hang zur Manipulation, aber zu welchem Zweck hatte man noch nicht erforschen können. Amber schrieb sich das auf. Dann kam die erste, wirklich interessante Information, die dem einschläfernden Monolog des Arztes etwas Würze verlieh. Lucas hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, bei langen ärztlichen Diagnose Vorträgen seine Konzentration zu bewahren, jetzt wurde er aber etwas aufmerksamer.
      Sie hat ihre Tode vorhergesagt? Wie meinen Sie das? Gibt es dazu Aufzeichnungen?
      “Könnten es sich womöglich um Zufallstreffer gehandelt haben?”, setzte Amber noch hinzu und beide schrieben sich Kingsleys Antwort dazu auf. Lucas verkniff sich ein Stirnrunzeln, weil er vor dem Arzt nicht wirken wollte, als wäre er der ganzen Sache gegenüber skeptisch eingestellt. Das war er auch, aber als einsatzleitender Ermittler musste er Zuversicht ausstrahlen.
      Dann ging es zur eigentlichen Diagnose über und Lucas bemühte sich darum, mitzukommen.
      Schmerzunempfindlichkeit - wie nennen Sie das? Anästhesie? Sie wüsste es also nicht, wenn sie blutet?
      Kingsley bestätigte und Amber schrieb. Die beiden Polizisten tauschten einen Blick aus, der eine Unterhaltung mit sich führte.
      Das würde ja noch großartig werden.
      Sie ist also… wie würden Sie das nennen, selektiv suizidial? Sie will nur ihre Unsterblichkeit beweisen?
      “Was meinen Sie, sollte sie spüren, dass wir es heucheln?”
      Wurde sie auf der Basis ihres Körperbaus auf sämtliche mögliche Krankheiten geprüft? Fassen Sie die Frage bitte nicht als Beleidigung auf, wir brauchen nur eine Antwort für die Akte.”
      Würden Sie die Gefühlsblindheit mit der… ähm… Anal… mit der Schmerzunempfindlichkeit in Zusammenhang bringen?
      Beide Polizisten notierten sich eifrig seine Antworten, ehe Lucas ein Bein quer auf das andere legte.
      Doktor”, er schielte auf das Namensschild, “Kingsley, wir wissen, dass Sie keine sehr… wie soll ich sagen, angenehme Patientin in Ihrem Haus führen und wir werden unser Möglichstes tun, um den Fall aufzuklären. Vorausgesetzt, wir können Ihnen Aufschluss über den Gemütszustand des Mädchens geben, könnte sich eine zukünftige Behandlung als wirkungsvoll erweisen. Wenn nicht, muss der Richter sein abschließendes Urteil geben und sie womöglich für den Rest ihres absehbaren Lebens in St. Louis behalten. Nun wollen wir aber den Teufel noch nicht an die Wand malen, daher brauchen wir Ihre vollste Kooperation.
      Amber lächelte, Lucas blieb ernst.
      Zunächst einmal”, er blätterte die Seiten in sein Notizblock um, “benötigen wir den Zugang zu ihrer Personalakte. Ich nehme an, dass die Diagnosen allesamt vollständig enthalten sind? Außerdem bräuchten wir Kopien von den”, es schauderte ihm innerlich, “Kameraaufzeichnungen der letzten sechs Jahre.
      Irgendjemand würde diese Aufzeichnungen schließlich durchgehen müssen. Davor graute es ihm jetzt schon.
      Ein paar Nachfragen habe ich noch. Wie würden Sie Mortems Umgang mit anderen Patienten beschreiben? Gab es jemals besondere Ausfälle mit dem Personal, ganz abgesehen von der Tod-vorhersagen-Sache? Denken Sie, dass Mortem in einem unbekannten Umfeld mit Fremden klarkommen würde? Hat Mortem jemals… lassen Sie mich es anders formulieren, gibt es an Mortem etwas, das Sie als “normal” beschreiben würden? Gab es in den sechs Jahren jemanden, der sie besucht oder anderweitig zu ihr Kontakt aufgenommen hat? Gab es jemals Anzeichen nach körperlicher Gewalt gegenüber einem anderen Menschen oder gegenüber einem Tier?
      Amber fuhr nahtlos fort.
      “Würden Sie Mortems Geisteszustand als stabil beschreiben? Nimmt sie regelmäßig Medikamente ein? Besteht die Möglichkeit auf eine Schwangerschaft? Wie würden Sie ihren Freiheitswunsch beschreiben; hat Mortem jemals zum Ausdruck gebracht, hier heraus zu wollen? Gab es sogar schonmal etwas wie einen Ausbruchsversuch?”
    • „Die Zeitpunkte waren meistens nicht ganz so genau, aber die Ursachen hingegen schon. Sie hat fast allen Pflegern, die ihr zugeteilt waren, im Laufe der Zeit eine Erkrankung genannt, auf deren Überprüfung hin auffiel, dass diejenigen tatsächlich unter dieser Krankheit litten. Teilweise, ohne dass sie es vorher gewusst hatten. Wir haben Videoaufnahmen und die ärztlichen Berichte darüber aufbewahrt. Mortem kann es nicht gewusst haben, sie ist dafür gar nicht ausgebildet. Also ja, ich würde es auf Zufall schieben, wären da nicht 9 bestätigte Fälle.“
      Kingsley wirkte erstaunlich gelangweilt und vielmehr genervt darüber, den Fall ein weiteres Mal auszubreiten. Allem Anschein nach hatte er es schon diverse Male tun müssen und die Tatsache, dass sämtliche Aufnahmen und Berichte noch vorhanden waren, mussten eine immense bürokratische Belastung gewesen sein.
      „Sie ist überhaupt nicht suizidal. Sie tut es nicht, weil sie einen inneren Schmerz nicht länger erträgt oder sich nach dem Tod sehnt, sondern schlichtweg um ihren Punkt klarzumachen. Das unterscheidet sich in der Kernpräferenz von der Gefährdung. Sobald Sie es schaffen, ihr Interesse zu wecken, dann wird sie sehr genau darauf achten, welche Mimik Sie benutzen und wie Sie sprechen. Gefühle kann sie nicht ableiten, aber Lügen scheinbar schon.“
      Als ein ganzer Schwall an weiteren Fragen auf ihn einprasselte, schien er einen Augenblick nicht recht verstanden zu haben, auf was er antworten sollte. Nach einer beinahe unangenehm langen Pause fing er an, die Fragen zu beantworten, sodass der Eindruck erwuchs, der gute Mann sei einfach nur etwas langsam.
      „Wie Sie hier in den Aufzeichnungen sehen können“, er drehte eine Akte so, dass die beiden Beamten sie lesen konnten, „haben wir bei ihrer Einlieferung eine ärztliche Untersuchung verfügt und dann wieder in regelmäßigen Abständen. Das setzt unsere Einrichtung voraus, zumal wir bei ihr nicht wissen, aus welchen Umständen sie stammt. Es gibt keine Anzeichen von Krankheiten, außer einer recht großen Narbe, die von einer chirurgischen Inzision stammen muss. Damals wirkte sie unsauber verheilt, sie war nur geclipped und nicht genäht, wie sonst üblich. Kein Krankenhaus hatte sie in den Akten geführt, also vermuteten wir damals bereits, dass dort möglicherweise nicht-staatlich geprüfte Pseudomediziner am Werk gewesen sein können.“
      Sein Blick schielte von dem Mann, der scheinbar lässig ein Bein querlegte, zu der Frau, die ein Lächeln fabrizierte, das er jeden Tag hier in der Einrichtung von seinen Bewohnern zugeworfen bekam. Es rührte ihn nicht mehr. Mit einem Nicken begann er, die Unterlagen einzusammeln und zu sortieren. Der Stapel wurde immer größer, und noch befanden sich die CDs mit den Aufnahmen der Kameras nicht dabei.
      „Ich werde veranlassen, dass erneute Kopien angefertigt werden. Wir haben in ihrem Fall die Aufzeichnungen auch nur deswegen gespeichert, weil das Verfahren gegen sie noch nicht eingestellt ist und das Gericht eine gewisse Beweislage schaffen wollte. Allerdings wage ich zu bezweifeln, dass Sie aus den Aufnahmen etwas gewinnen können, das Ihnen bei der Klärung des Falles hilft. Darauf sehen Sie lediglich, wie sie Mitarbeiter verstört oder das tut, was Sie vermutlich auch gleich erwartet, wenn wir sie besuchen gehen.“
      Denn das stand unweigerlich als nächstes auf ihrem Plan.
      „Ausfälle gab es keine. Weder hat sie Menschen gezielt mit ihren Worten gereizt, noch in irgendeiner erdenklichen Art und Weise Ärger provoziert. Sie kommt aufgrund ihrer Art mit den meisten Bewohnern hier nicht gut zurecht, immerhin fehlt ihr jegliche Empathie oder auch…. Vorsicht, würde ich meinen. Wir haben sie nicht außerhalb dieser Einrichtung beobachten können, aber als wir damals versucht haben, sie in eine Wohngemeinschaft zu integrieren, war ihr das Umfeld offenkundig egal. Sie hat sich als kooperativ gezeigt, als wir sie aus ihrem Einzelzimmer holten, aber wurde ungehalten als sie realisierte, dass wir sie nicht aus der Anlage gehen ließen. Sie verfolgt eine gewisse Motivation, die sie Ihnen sicherlich erzählen wird, wenn Sie sie danach fragen. Normal an ihr ist mit Sicherheit die Fähigkeit zur einwandfreien Kommunikation. Wir haben Bewohner hier, mit denen Sprechen überaus schwerfällt. Bei ihr nicht. Sie hat auch keine wirren gedanklichen Sprünge und nimmt ihre Umgebung wie jeder typische Mensch wahr. Nicht einmal hat sie Anzeichen einer Isolationsreaktion gezeigt, auch nach Jahren nicht, in denen sich niemand nach ihr erkundigt hat. Sie hat auch hier in der Einrichtung keine Freundschaften geknüpft und nie Briefe geschrieben, obwohl sie des Lesens und Schreibens mächtig ist. Gewalt im herkömmlichen Sinne hat sie gegenüber Menschen nie gezeigt. Mit Tieren haben wir sie nie erlebt.“
      Er räusperte sich, nachdem die Frau ihre Fragen hinterher geschoben hatte und scheinbar irgendetwas unabsichtlich damit getroffen hatte, das seinen Stolz angriff. Jedenfalls zuckte ein Muskel auf seiner Stirn, bevor er mit seinen Antworten fortfuhr.
      „Selbstverständlich besteht keine Schwangerschaft. In Einrichtungen wie diesen werden Bewohner nur gleichgeschlechtlich zusammengeführt und bei der damaligen Untersuchung konnte das Hymen völlig intakt nachgewiesen werden. Eine Medikation haben wir versucht, aber sie reagierte überaus apathisch darauf und haben es wieder abgesetzt. Ihr Geist ist überaus fähig, Zusammenhänge zu erfassen und wird von uns als stabil bezeichnet, ja. Andernfalls könnte sie nicht den Wunsch äußern, entlassen zu werden und zu wissen, dass Versuche nicht von Erfolg gekrönt sein werden. Aber auch das wird sie Ihnen so berichten. Sofern Sie ihre Aufmerksamkeit bekommen. Also; wollen wir?“

      Dr. Kingsley hielt mit seiner Gefolgschaft vor einer unaufregenden Tür am Ende eines Ganges an. Ein Schieber war in die Tür auf Augenhöhe eingelassen und ließ einen Blick ins Innere zu, wenn man sich nicht traute, die Tür zu öffnen. Es stand kein Aufpasser vor der Tür, nur ein kleiner Hocker. Die Weiße Tür fügte sich nahtlos in die helle Wandbemalung des Ganges ein und verriet nichts über das, was hinter ihr verborgen sein mochte.
      Mit einem Kramen in seiner Tasche förderte der Arzt einen Schlüsselbund ans Licht, der ein Generalschlüssel sein musste. So viele Schlüssel konnte er nicht an einem einzigen Bund transportieren. Tatsächlich klopfte er vorher zweimal an der Tür an, ehe er den Schlüssel ins Schloss steckte und den beiden Beamten bedeutete, einzutreten.
      „Mortem, ich bringe dir Besuch. Das sind Officer Price und Officer Murray. Sie würden gerne ein wenig mit dir sprechen“, sagte er, wobei er an der Tür stehen blieb und keine Anstalten machte, weiter hineinzutreten.
      Stattdessen gab er den Blick frei auf einen kleinen Raum mit abgrenzender Tür, die in ein Badezimmer führen musste. Man hatte den Raum in einem angenehmen Sonnengelb gestrichen, weder Bilder noch Dekorationen hingen an den Wänden. Der Boden war mit Vinyl ausgelegt und hatte keinen Läufer oder Teppich. Es gab ein einfach gebautes Bett, das auch vom Ikea stammen konnte, und einen quadratischen Tisch mit zwei Stühlen. Die Sitzgelegenheit war direkt vor dem einzigen Lichtblick des Raumes aufgebaut: Einem recht großen Fenster, das mit schweren Stahlstreben gesichert und vermutlich aus Panzerglas sein musste.
      Und vor diesem Fenster mit dem Rücken zur Tür saß eine zierliche, junge Frau. Ihr nachtschwarzes, natürlich gewelltes Haar ging ihr gerade bis zu den Schultern, die sich gut sichtbar unter dem dünnen, weißen Langarmpullover abzeichneten. Ihre Beine steckten in einer grauen Jogginghose, die Füße in weiße Pantoffeln gesteckt. Sie reagierte nicht auf das Eintreten ihres Besuchs, sondern starrte weiterhin schweigsam aus dem Fenster, so als habe sie sie gar nicht erst gehört.
      „Wenn Sie wieder gehen wollen, klopfen Sie einfach an die Tür. Davor sitzt jemand, der auf das Zeichen wartet und zwischendurch einmal reinschaut, ob alles in Ordnung ist. Wir lassen Sie allein, da von Mortem keine Gefahr ausgeht. Versuchen Sie am Besten mit verschiedenen Themen ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das klappt an manchen Tagen besser als an anderen. Viel Glück.“
      Damit nickte Kingsley den Beamten zu, verließ Mortems Einzelzimmer und ließ sie mit den beiden Polizisten allein im mucksmäuschenstillen Raum zurück.
    • Die Polizisten vermerkten sich Dr. Kingsleys Antworten mit penibler Genauigkeit. Lucas setzte dabei gedankliche Notizen hinterher: Kontakt zum Psychologen / Psychiather aufnehmen. Vielleicht Verhaltenstherapeut. Wie kann man sich umbringen wollen, ohne als suizidial zu gelten? Abklären. Den Abschnitt über die Narbe gut durchlesen und verstehen. Vielleicht Meinung von Gerichtsmediziner einholen. Sogenannte Motivation erfahren. Gelegentlich schoben sie dabei ein “Danke” oder ein beschwichtigendes “Es ist nur für die Akte” hinterher, nachdem der gute Doktor nicht glücklich darüber schien, sich hier so ausquetschen zu lassen. Aber dieser besondere Termin war schon vor einem Monat ausgemacht worden und dachte er etwa, die Beamten würden sich nicht weniger langweilen als er? Niemand von ihnen war hier freiwillig, da konnte er sich genauso gut ein wenig mehr Mühe geben.
      Zumindest waren die Fragen damit vorerst beantwortet und beide Beamte nickten, als er zum eigentlichen Akt ihres Auftretens übergehen wollte.

      Die Gänge von St. Louis waren ein einzig klinisches, steriles Labyrinth, das genauso gut in einer Sackgasse hätte enden können, Lucas hätte es nicht bemerkt. Eine unscheinbare Tür nach der nächsten und alles sah hier so gleich aus, dass man fast wahnsinnig werden konnte. Als sie vor einer von ihnen stehen blieben, war er sich sicher, dass er niemals alleine den Weg zurück finden könnte.
      Dr. Kingsley schloss ihnen ohne großes Aufsehens auf und ließ sie eintreten.
      Das Zimmer war ein Krankenhauszimmer mit doppelt gesicherter Tür und Fenster. Es war schmucklos und hatte einen schalen Geruch von Desinfektionsmittel.
      Die beiden Polizisten bedankten sich bei Kingsley, der kurz darauf auch schon wieder nach draußen ging, sicher froh darüber, seinen lästigen Besuch losgeworden zu sein. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, wurde es so still, dass man beinahe eine Stecknadel fallen gehört hätte.
      “Hallo, Mortem. Ich darf Sie doch so nennen? Ich bin Amber und das ist Lucas, wir können uns gerne duzen.”
      Hallo.
      Keine Reaktion. Lucas ließ den Blick über eine Kamera schweifen, die in einer Zimmerecke angebracht war wie ein schwarzes Auge. In der Mitte des Zimmers war ein Rauchmelder montiert, der in der Nacht sicher lästig rot blinkte. Die Klinke der Badezimmertür war hochgestellt, damit man sich daran nicht aufspießen konnte oder sowas - glaubte Lucas zumindest mal gehört zu haben.
      “Hübsch hast du es hier. Ist sehr nett eingerichtet, sehr schlicht.”
      Auch Amber sah sich kurz um, hauptsächlich um höflich zu sein.
      Ein Einzelzimmer ist immer ein Luxus, da stört einen keiner.
      Keine Reaktion. Lucas hob die Augenbrauen und schielte dann einmal ins Badezimmer, während Amber näher zu Mortem heran kam.
      “Darf ich mich dort setzen?”
      Sie zeigte auf den Stuhl. Sie wartete. Schließlich tat sie es einfach und wartete darauf, dass Mortem sich beschweren könnte. Was sie natürlich auch nicht tat.
      Das könnte ja noch was werden.
      Nach einem flüchtigen Blick zu ihrem Kollegen, sah Amber Mortem gezielt von der Seite her ins Gesicht.
      "... Ich komme also gleich zur Sache, dann ist es auch ganz schnell wieder vorüber. Wir sind im Auftrag der Staatsanwaltschaft hier, wegen einem potentiellen Mord, der vor sechs Jahren an einem Obdachlosen ausgeübt wurde. Du erinnerst dich vielleicht, dass der Richter sein offizielles Urteil aufgeschoben hat, bis mehr Beweise der Sache herangeführt werden können. Richtig?"
      Genauso gut hätte man im Augenblick mit einer Puppe reden können. Amber wartete auf eine Reaktion und bekam keine. Lucas runzelte die Stirn und blieb unschlüssig im Hintergrund, immerhin wollte er sie nicht bedrängen.
      "... Nun, jedenfalls wollen wir selbstverständlich den Mord aufklären und den richtigen Mörder zur Rechenschaft ziehen. Dabei kannst du uns eine enorme Hilfe sein."
      Stille. Lucas drehte sich kurz zur Tür um und stierte in einen genauso tristen, weißen Gang hinaus. Was für eine wundervolle Aussicht.
      "Würdest du noch einmal deine Aussage wiederholen, die du dem damaligen Detective gegeben hast? Wir möchten nur gerne überprüfen, ob die Berichte in der Akte auf dem richtigen Stand sind."
    • Draußen vor dem Fenster erstreckte sich eine Grünfläche mit Bäumen und einem Vogelhaus. Irgendjemand, vermutlich der Hausmeister, befüllte das Häuschen unablässig und ungeachtet der Jahreszeiten mit Vogelfutter, weshalb ständig Vögel oder Grauhörnchen sich am Häuschen zu schaffen machten. Manchmal verirrten sich auch Freigänger auf ihren Spaziergängen hier vorbei, aber die kleinen Vögel und Nager waren das einzige Unterhaltungsprogramm, das Mortem neben ihrem eigenen Verstand hier drinnen überhaupt besaß.
      Mit der Zeit hatte sie begriffen, dass, wann immer sich die Tür zu ihrer Zelle öffnete, entweder Personal hereinkam oder es jemand war, die sie zu beurteilen versuchte. Sei es in die eine oder andere Richtung. Nichts davon eröffnete ihr die Option, auch nur einen Fuß von diesem Grundstück zu setzen, weshalb sie nach einer Zeit dazu übergegangen war, ihre Mitarbeit einzustellen und sich lieber dem Treiben vor dem Fenster zu widmen. Wie heute, an diesem sonnigen Frühlingstag, wo sich allerlei Singvögel am Häuschen tummelten.
      Kingsley hatte die beiden Polizisten nur kurz angekündigt, aber das hatte bereits gereicht, damit Mortem nicht einmal den Blick von den Spatzen abwandte, die sich gerade um die Sonnenblumenkerne zankten. Officer bedeuteten Nachfragen bezüglich eines Falles, der noch immer nicht abgeschlossen war. Wo noch immer sie als Hauptverdächtige im Fokus stand, obwohl niemand ihr nachweisen konnte, etwas mit dem Ableben dieses Mannes zu tun zu haben. Stattdessen sperrte man sie in diese Einrichtung, die ganz sicher nicht für sie gemacht war, ein.
      Denn Mortem verfolgte eine weltbewegende Aufgabe.
      Die Stimme der Frau erreichte Mortem, bewegte sie aber nicht ein Stück. Solche Stimmen hatte sie schon des Öfteren gehört; relativ jung, bemüht um Einfühlungsvermögen, ambitioniert. Frauen in diesem Metier hatten es nicht leicht, auch das war ihr bewusst. Gedanklich formulierte sie bereits den nächsten Satz dieser Amber vor und driftete gedanklich wieder weiter zu den Spatzen ab, als sie allein damit schon recht hatte.
      Die Stimme des Mannes – Lucas – erklang. Nur ein einziges Wort, das es Mortem unmöglich machte, ihn im Schnellschussverfahren einzuordnen. Ohne ihn zu sehen würde sie ihn als groß, kräftig, eben das, was man als typisch Bulle bezeichnete, beschreiben. Nur reichte da ein einziges Wort nicht wirklich für aus.
      Dafür redete die Frau einfach weiter. Hörbar bemüht, auch nur die kleinste Reaktion aus ihr herauszuholen. Mehrfach hatte sich Mortem schon gefragt, was man hinter verschlossener Tür über sie an die Besucher weitergab. Diese Infos waren es, die es ihr unmöglich machten, ihre Besucher unvorbereitet zu erwischen. Sie alle bekamen ein Bild eingeimpft, das sich nur schwerlich neu malen ließ und man jegliche ihrer Aussagen als unglaubwürdig abstempeln würde. Ein weiterer Grund, warum sie die Mitarbeit eingestellt hatte. Sie musste einfach nur auf denjenigen warten, der sich nicht so einfach täuschen ließ.
      Und diese Amber war es mit Sicherheit nicht.
      Mortem registrierte die Frage nach dem Sitzplatz, antwortete aber nicht darauf. In der Regel verzogen sich Menschen wieder, wenn sie sich nach etwas erkundigten und keine Reaktion bekamen, was in ihren Augen als eine Verneinung galt. Normalerweise gingen die Menschen dann wieder auf Abstand und dachten sich ihren Teil. Ließen sie in Ruhe.
      Amber nicht.
      Aus dem Augenwinkel sah Mortem, wie die Polizistin zu ihrem Kollegen einen schnellen Blick warf. Das war keine Frage, das war ein Zeichen der Unschlüssigkeit. Zweifel, ob man sie überhaupt erreichen konnte. Da hatte die Frau es geschafft, die erste Norm zu brechen, fiel aber sofort auf die zweite hinein. Gedanklich seufzte Mortem, was für Amber nur das träge Blinzeln eines Augenpaares war.
      Draußen hatten sich mittlerweile Meisen zu den Spatzen gesellt. Die kleineren Meisen versuchten, einige Körner zu stibitzen, wurden aber von den fetten Spatzen immer wieder abgedrängt. Manchmal kamen sogar Rotkehlchen vorbei, nur war das aktuell nicht die richtige Tageszeit. Vielleicht schaute gleich wieder die Saatkrähe vorbei und versuchte sich in das Haus zu quetschen, wo sie gar nicht reinpasste…
      „… Berichte in der Akte auf dem richtigen Stand sind.“
      Unablässig betrachtete die Polizistin Mortem von der Seite aus. Eine volle Minute lang schwiegen sämtliche Beteiligten im Raum, keiner bewegte sich, nur Atmung war zu hören. Draußen prügelten sich die Spatzen um die letzten Kerne und warfen die Meisen von den Kanten der Hölzer.
      Da holte Mortem langsam und ausgiebig Luft, ehe sie sich vom Fenster weg- und der Polizistin zudrehte. Wie bereits angenommen war sie nicht besonders alt und hatte diese typische, bemühte Mimik aufgesetzt, die sie üblicherweise wohl bei Kindern oder verstörten Personen ansetzte. Nur war Mortem weder das eine noch das andere. Ihr Verstand was messerscharf und ihr war eindeutig klar, dass nichts in der Flut an Worten dieser Frau auch nur den kleinsten Hinweis auf Freigang bedeutete.
      „Ich widerrufe meine Aussage nicht, noch hat sie sich im Laufe der Zeit gewandelt. Es sollte klar sein, dass Erinnerungen sich im Laufe der Zeit wandeln und die Erstaussage in der Regel den korrekten Inhalt wiedergibt, sofern sie nicht widerrufen oder für ungültig erklärt wird. Nehmt die Abschriften von damals. Kingsley hat sie mit Sicherheit beigefügt. Es bleibt also unverändert: Es gab keinen Mörder“, erklärte Mortem mit völlig ausdrucksloser Miene, dafür aber mit unglaublich entschlossenem Tonfall. Nichts in ihrer Stimme deutete darauf hin, dass sie ein Wort nicht bewusst ausgewählt hatte oder daran zweifelte. „Ich habe sein nahendes Ende gespürt, ihn begleitet und seine Seele erlöst. Dieselbe Aussage wie damals.“
      Ob es Neugier gewesen sein mochte oder etwas anderes konnte Mortem im Nachgang nicht mehr sicher bestimmen. Selten hatte sie das Bedürfnis verspürt, sich nach nur einem anderen Menschen auch nur umzudrehen, der nicht diese Atmosphäre verströmte. Dieses Gefühl, die Klammheit, diese nahende Kälte, die denjenigen wie ein Seidentuch umgab. Fast schon ohne ihr zutun drehte Mortem den Kopf leicht weiter bis sie mittels eines Seitenblickes den Mann in ihr Blickfeld rücken konnte, der sich scheinbar gerade noch mit der Tür befasst hatte. Sie hatte ihn in der Drehbewegung erwischt, und als er feststellte, dass sie sich erstens bewegt und zweitens ihn auch noch bemerkt zu haben schien, veränderten sich subtil einige Details in seiner Haltung. Bis eben gerade war er noch desinteressiert damit beschäftigt gewesen, den trostlosen Raum zu begutachten. Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit und die Art, wie er seine Stirn in Falten legte und die rechte Augenbraue vielleicht nur einen Millimeter höher als die andere zog, ließen Mortem seit langem die Spatzen und Meisen und Krähen vergessen.
      „Verschwende deine gestelzte Warmherzigkeit nicht an mir, ja?“, schob sie nicht scharf, sondern eher trocken hinterher, bedachte Amber mit einem abschätzigen Blick und rutschte dann auf dem Stuhl herum, bis sie ihre Arme auf der Rückenlehne verschränken und den Kopf auf ihnen ablegen konnte. Ihre dunkelbraunen Augen fixierten Lucas, der sich seitdem keinen Schritt mehr bewegt hatte. „Du lässt deiner Kollegin den Vortritt, wie üblich. Ich dachte, man hat euch schon gesagt, dass gewisse Praktiken bei mir nicht unbedingt von Nöten sind. Stell du mir doch einfach ein paar Fragen. Deine Skepsis wirkt noch nicht so festgefahren wie die deiner Kollegin. Auch wenn sie sie wesentlich besser maskiert als du.“
      Kein Lächeln, kein Funken von Sarkasmus oder sonst eine Regung lag in ihrer Stimme. Mortem klang so ausdruckslos, als hätte man sie unter Drogen gesetzt, doch ihre Augen waren klar und unendlich tief. So tief, als lägen die Geheimnisse ganz tief unten am Boden verborgen. Nur hatte sich noch nie jemand getraut, den Weg bis dorthin auch wirklich hinabzusteigen.
    • Die Stille, die auf die Frage hin folgte, zog sich in die Länge. Hätte es in diesem Raum eine Uhr gegeben, hätte sie sicher 100 Mal ticken können, bevor Mortem endlich einmal ein Lebenszeichen von sich gab - dafür aber sogar ein richtiges. Sie holte Luft, drehte sich Amber zu und was auch immer in ihren Augen geschrieben stand, die Polizistin zuckte davon unmerklich zusammen. Ihr Blick zuckte kurz, aber sie brach den Augenkontakt mit Mortem nicht.
      Beide Polizisten waren für einen Moment vollkommen sprachlos. Dr. Kingsley hatte sie bereits vorgewarnt, dass Mortem in ihrem jungen Alter ohne ersichtliche Bildung einen beeindruckenden Sprachgebrauch zustande brachte, aber damit hatte er einfach untertrieben. Mortem redete, wie ein Richter sein Urteil aussprechen würde. In ihrer Stimme war kein Anflug von Jugendhaftigkeit zu finden und ihre Wortwahl war... nunja, vorbildlich. Auf einem akademischen Niveau.
      Lucas war nicht zum ersten Mal froh, nicht als erstes nach vorne gegangen zu sein. So blieb ihm die Blöße erspart, die sich Amber jetzt unterziehen musste, als ihr die Gesichtszüge entgleisten. Schnell sah sie auf ihr Notizbuch hinab und schrieb sich die Antwort auf.
      Währenddessen bewegte sich die junge Frau im Stuhl allerdings zum ersten Mal und drehte sich auch nach dem anderen Polizisten um. Sofort klärte er seine Miene, um einen Schleier an Professionalität darüber zu legen.
      Diesmal traf Amber das Unglück, bei Mortems unverblümten Worten Rot anzulaufen.
      "Ich bitte doch sehr, das ist keine -"
      Doch für "gestelzte Warmherzigkeit" - was für eine Ausdrucksweise für eine vermutlich 21-jährige! - hatte die Frau genauso wenig übrig wie für die Ausrede dafür. Sie wandte sich einfach ab und überließ es der armen Polizistin, sich wieder in den Griff zu bekommen.
      Für Lucas war diese Wendung der Ereignisse dafür umso überraschender. Er hatte schon mit einem furchtbaren Tag gerechnet, aber vielleicht... vielleicht könnte es ja ganz interessant werden.
      Er sah direkt in diese Augen hinein, bei denen er jetzt zu begreifen glaubte, weshalb Amber so zusammengezuckt war. Es lag eine Tiefe in ihnen, die ein Unwohlgefühl auslösten, je länger man sich mit ihnen zu befassen versuchte. Zum Glück stand er nicht so nah zu ihnen wie Amber.
      "Ich soll dir ein paar Fragen stellen?"
      Ein kurzer Blickaustausch mit Amber, dann zuckte er mit den Schultern und harkte die Daumen unter seinem Gürtel ein.
      "Okay, klar. Hier ist eine Frage: Lässt sich hier wirklich wohnen? Das ganze Grundstück sieht aus wie ein verdammter Gefängnisblock."
      Amber öffnete den Mund, um zu intervenieren, aber Lucas redete einfach weiter. Mortem wollte sich lieber mit ihm unterhalten? Er würde ihr seine Fragen stellen.
      "Ich meine, es gibt drei Sicherheitsstufen, an jeder Kreuzung ist ein Wachmann platziert, Kameras ohne Ende, eine zentrale Essensausgabe. Sogar diese Gitter vor den Fenstern. Hier, schau mal."
      Er kam herüber und klopfte dumpf gegen die Scheibe.
      "Verdicktes Plexiglas. Da kommt nichtmal eine Kugel durch und ein Mensch erst recht nicht. Wieso dann noch die Gitterstäbe? Das muss doch deprimierend sein, hier zu wohnen."
      Er drehte sich zu den beiden Frauen um, lehnte sich ans Fensterbrett und überkreuzte die Beine an den Knöcheln.
      "Wenn ich du wäre, würde ich hier rauswollen. Sechs Jahre bist du schon hier, das ist wirklich eine verdammt lange Zeit. Dir zieht noch dein ganzes Leben vorbei."
      Ein halbseitiges Grinsen huschte auf sein Gesicht.
      "Aber so wie es der Zufall will, ist die Staatsanwaltschaft derselben Meinung. In einer etwas abgespeckten Version natürlich. Wenn du also auch mal dort draußen sein willst, anstatt immernur nach dort draußen zu starren, dann solltest du dich kooperativ zeigen, Mortem."
      Er sprach ihren Namen mit einer gewissen Kritik aus, weil er noch immer der Überzeugung war, dass niemand einfach nur "Mortem" hieß.
      "Damit kannst du anfangen, indem du Ambers Fragen alle wahrheitsgemäß und im besten Willen beantwortest. Wie wäre das?"
    • Die Aufforderung, dass Lucas Fragen stellen sollte, bediente gleich zweierlei Zwecke. Zum einen wollte Mortem wissen, was man den beiden Beamten über sie so eingeimpft hatte. Käme jetzt die übliche Reaktion des Ausweichens, wäre auch dieser Versuch für eine Freilassung vermutlich nicht von Erfolg gekrönt. Zum anderen musste sie mehr von dem Mann hören, um sich ein besseres Bild zu erstellen. Er wirkte nicht wie der typische, desinteressierte Polizist, der mit einer unleidigen Aufgabe betraut wurde.
      Mortems Pupillen weiteten sich.
      Nein, er hatte das Desinteresse verloren, als sie begonnen hatte zu sprechen. Ihre Wortwahl hatte ihn überrascht und natürlich, wie sie mit Mitmenschen interagierte. Wie schnell und zielsicher sie diese Frau deklassiert und das Ziel gewechselt hatte. Wie sie von einer augenschlichen Statue zu etwas Lebendigem geworden war.
      Sie bemerkte den wenig versteckten Blick zu der Frau, die scheinbar aus den Untiefen ihres Notizblocks wieder aufgetaucht war, sich aber im Hintergrund hielt. Eine Art Abstimmung, ob er ihrer Aufforderung nachkommen sollte oder nicht. Dann harkte er die Daumen unter seinem Gürtel ein und Mortem wusste, dass sie ihn zum Sprechen bewegt hatte. Dass er diese Haltung gewählt hatte, zeugte von einer trügerischen Sicherheit, die sie ihm mit Leichtigkeit entreißen konnte, nur hätte sie dann wohl auch ein Ticket in die Freiheit verspielt. Wie manipulierte man am Besten einen Polizisten, sie hier rauszuschmuggeln? Mit abstrusen Fakten? Dem Lügenspiel zu wissen, wer hinter anderen Morden steckte, die gar keine Morde waren?
      Tatsächlich traf Lucas‘ erste Frage auf einen winzigen, mikroskopischen kleinen Teil von Überraschung. Sicher, er hatte sehr viel Zeit damit verbracht, diese Zimmer zu betrachten, aber die Chance, seine erste Frage gerade danach zu richten, war dennoch verschwindend gering. Ihre Mimik änderte sich nicht, auch nicht ihre Haltung, als er zum kleinen Tisch herüberkam und gegen das Glas klopfte. Sie sah einfach weiter die Tür an, die nach draußen führte.
      „Es lässt sich wohnen. Du hast einen Schlafplatz, regelmäßiges Essen und musst dich um keinerlei Angelegenheiten kümmern. Obdachlose leben es schlimmer.“
      Wenigstens hatten sie davon abgesehen, das rote Lämpchen an der Kamera weiter blinken zu lassen. Das trieb einen am Ende wirklich in den Wahnsinn, wobei es sie selbst nicht unbedingt störte, wenn man sie die ganze Zeit überwachte. Schließlich ließ sie sich nichts zu Schulden kommen und ein Gefühl für Privatsphäre besaß sie nicht.
      „Warum die Gitterstäbe? Ganz einfach: Im Falle eines Brandes schmilzt das Acrylglas, aber nicht das Metall. Man will sichergehen, dass niemand durch Brandstiftung entkommt“, war die trockene Antwort, die ihr vielleicht in einer guten Stimmung ein halbherziges Lächeln entlockt hätte. Leider waren auch die Türen aus Stahl gesichert, einen Brand zu legen hätte also nur zur Folge, dass man sich selbst ausräucherte und nicht in die Freiheit entkam.
      Sechs Jahre…. Stimmt, sie war ja jetzt schon sechs lange Jahre hier drin. Auch das hatte Mortem mit der Zeit vergessen, wie schnell die Zeit vergehen konnte. Sechs Jahre, in denen sie sich noch weiter von ihrem Ziel entfernt haben könnte. Fatal, wenn sie jetzt wieder von vorn beginnen musste… Aber man musste den Beamten garantiert gesagt haben, dass sie den Wunsch geäußert hatte, die Einrichtung zu verlassen. Nicht umsonst arbeitete sie an ihrem guten Führungszeugnis. Er sprach diesen Punkt an, weil er damit ein unterschwelliges Druckmittel setzte. Und soweit sie es einschätzen konnten, gab es nur eine Sache, die Mortem wirklich haben wollte. Seine folgenden Sätze bewiesen ihre Theorie auf den Schlag und das ließ sie ihre abgewandte Haltung aufgeben. Sie richtete sich auf und drehte sich Lukas zu, der sich gerade noch über ihren Namen ergötzte. Er konnte es schließlich nicht besser wissen, Menschen waren eben beschränkt in ihrem Geist.
      „Wie schön, dass ein hohes Tier der Justiz endlich einsieht, dass mein Aufenthalt hier dem Staat nur unnötig Geld kostet. Ich bin so kooperativ, wie es mir nur irgendwie möglich ist, damals sowie heute. Allerdings kann ich nichts dafür, wenn man meine Aussagen nicht als wahrheitsgemäß verbucht. Außerdem will ich ihre Fragen nicht beantworten, sie macht nur ihren Job. Du hast dich eben zurückgehalten, warum? Du stotterst nicht, du lispelst nicht, nichts weshalb sich Menschen schämen. Ihr seid im Team hier, als weißt du, welche Fragen sie stellen will. Officer, übernehmen Sie“, sagte Mortem und neigte den Kopf leicht zur Seite, sodass es im richtigen Schattenwurf beinahe so aussah, als wäre da kurz Belustigung in ihrem Gesicht erschienen.
    • Lucas gaffte mit geweiteten Augen und hochgezogenen Augenbrauen. Ganz langsam, wie um unauffällig zu wirken, glitt sein Blick zu Amber hinüber, die ähnlich perplex und entgeistert dreinblickte. Hörst du gerade das gleiche wie ich?
      Ihre dunklen Augen legten sich genauso vorsichtig auf seine. O ja.
      Da saß ein Mädchen mit jungen, 21 Jahren, die sechs Jahre in einer Anstalt verbracht hatte, keine Schulausbildung genossen haben konnte und jetzt ganz sachlich darstellte, weshalb eine psychiatrische Einrichtung sich dazu entschieden hatte, zusätzlich zu dem Plexiglas an den Fenstern auch noch Gitterstäbe anzubringen. Nicht einmal Lucas wusste das! Dabei war die Sache mit der Brandstiftung durchaus einleuchtend - nur nicht für eine 21-jährige! Woher sollte sie das wissen? Von jemandem aufgeschnappt vielleicht? Aber klar, die Ärzte und Krankenpfleger gingen hier sicher überall herum und erzählten ihren psychisch instabilen - und theoretisch suizidialen - Patienten, dass ihre Zimmer darauf ausgelegt waren, Feuer zu überstehen. Weil man solche Ideen auch ganz sicher in deren Köpfe einpflanzen sollte!
      Wie zur Hölle konnte dann also Mortem wissen, weshalb sie so aufgebaut waren? Durch eigene Brandstiftung? Lucas würde sich diese Patientenakte von vorne bis hinten und wieder nach vorne durchlesen.
      "... Klar."
      Brummelnd setzte er hinzu: "Dass ich da nicht dran gedacht hab."
      Seine Verblüffung blieb bestehen, als die junge Frau damit fortfuhr, in klaren und verständlichen Worten diesen ganzen Aufmarsch zu hinterfragen. Wie verfügte sie über ein solch analytische Denkweise, wer hatte ihr das beigebracht? Wie konnte sich das nach sechs Jahren Psychiatrie nicht schon längst im Sand verlaufen haben? Und warum glaubte Lucas mit einem Schlag nicht mehr, dass sie nur 21 war? Aber sehr viel älter sah sie nunmal nicht aus.
      "Ich mache meinen Job ebenso nur. Zwischen Amber und mir wird es keinen Unterschied geben, aber wenn ich dir lieber bin, werde ich dir eben die Fragen stellen."
      Er zuckte mit den Schultern um lässig zu wirken und hoffentlich zu überspielen, wie sehr ihn dieses Gespräch doch aus der Bahn warf.
      "Dann halte ich mich nicht mehr zurück. In Ordnung?"
      Für einen kurzen Augenblick war Lucas sich gar nicht sicher, ob Mortem zu so etwas wie Nicken imstande war, denn ihre unergründlichen Augen lagen so seelenruhig auf ihm, dass es ihm fast abstrus vorkäme, sie so etwas normales machen zu sehen wie den Kopf zu bewegen. Aber natürlich war das völlig hirnrissig, genau wie der Verlauf dieser ganzen Unterhaltung. Er fühlte sich selbst schon fast bereit, sich in die Klapse einweisen zu lassen.
      "Also, vielleicht fangen wir noch einmal damit an, was damals geschehen ist. Ich weiß, dass du die Geschichte jetzt schon jedem Arzt und jedem Polizist erzählt hast, der dir irgendwie über die Quere gelaufen ist, aber uns noch nicht, deswegen wirst du dir die ganzen Fragen auch noch einmal antun müssen. Fangen wir ganz einfach an: Wo hast du den Obdachlosen damals gefunden? Weißt du die Adresse noch?"
      Nach einem kurzen Moment des noch-zu-perplex-seins, hatte Amber sich gefangen und zückte das Notizbuch, um Mortems Aussage niederzuschreiben. Lucas blieb am Fensterbrett gelehnt, hörte sich - wenn möglich gleichgültig - ihre Antwort an und fuhr fort. Irgendwann mussten sie heute schließlich auch fertig werden.
      "Was hat dich in die Gasse verschlagen? Du hast sein Ende... gespürt? Könntest du dieses Gespür einmal beschreiben?"
      Eine Sache konnte Lucas ganz fabelhaft beherrschen, wenn er denn musste: Ein meisterhaftes Pokerface aufziehen. Und an diesem Tag musste er das ganz sicher.
      "Und du hast seine Seele dann... erlöst. Könntest du das einmal beschreiben? Für Menschen, die Seelen... nicht erlösen können?"
      "Weißt du noch, was du an diesem Tag zuvor getan hast? Wo du dich aufgehalten hast, mit dem du gesprochen hast?"
      "Hattest du die Absicht, den Wunsch oder das Ziel, an diesem Tag oder an einem ähnlichen, eine Seele zu erlösen?"
      "Hast du Hilfsmittel dafür verwendet?"
      "Hast du in den letzten Jahren in dieser Anstalt eine Seele erlöst?"
      "Hast du es gespürt, wenn eine Seele erlöst werden sollte? Gehe ich richtig in der Annahme, dass es sich dabei um deine Vorhersagen bei Krankheiten und Todesfällen handelt?"
      "Siehst du dich in der Position, eine Seele "frühzeitig" zu erlösen?"
      Und zu guter Letzt:
      "Empfindest du Reue für etwas, das du an diesem oder einem ähnlichen Tag getan oder vielleicht unterlassen hast?"
    • Das, was Lucas als charmante Zurückhaltung beschrieben hatte, war für Mortem nur leidiges Vorspiel. Menschen hielten sich gerne mit Belanglosigkeiten, sogenanntem Smalltalk auf, und wenn es dabei half, dass man mit ihr sympathisierte, dann spielte Mortem gegebenenfalls auch mal mit. Richtig interessant würde es sowieso erst ab dem Moment werden, indem sie von ihrer Bestimmung, Aufgabe und Fähigkeiten berichtete.
      „Er saß in einer Seitenstraße, zusammengesunken mit einem zerschlissenen Mantel und einer Tüte neben sich, worin sich ein Teilchen befand. Ich muss gestehen, dass die letzte Befragung schon eine Weile her ist und ich den Straßennamen nicht mehr weiß, üblicherweise interessieren mich solche Ortsbezeichnungen auch eher weniger.“
      Noch immer waren ihren Augen unentwegt auf den Polizisten gerichtet, der kurz zuvor noch mit den Schultern gezuckt hatte. Sie war sich sicher, dass er hinter ihrem Rücken deutlich mehr Mimikspiel an den Tag legte als jetzt. Im Gegensatz zu seiner Kollegin hatte er seine Züge wesentlich besser unter Kontrolle, was ihn nur schwieriger zu lesen machte. Er veränderte seine Haltung kaum, nickte nicht einmal und schien sie regelrecht zu spiegeln. Auch das hatte noch niemand in dieser Form versucht.
      „Mh, ich soll dir ein übersinnliches Gespür beschreiben? Wie du wünschst. Es ist wie eine Vibration, die man immer stärker spürt, je näher man der Person kommt. Sie wird begleitet von einer Klammheit, einer schleichenden Kälte wie ein Schatten, der ihr auf jedem Schritt folgt. Mit dem Moment seiner Geburt zieht jeder diesen Schatten hinter sich her, er wächst im Laufe des Lebens und wenn das Ende naht, ist er so groß, dass er den Menschen am Ende verschluckt.“ Ich Blick glitt das erste Mal ab von Lucas zu der Westwand des Raumes. Sie wusste, dass in dieser Richtung der Flügel mit der Intensivstation lag. Nur einmal hatte sie es ungesehen bis dorthin geschafft, aber das würden die Beiden mit Sicherheit aus den Akten erlesen können. Wenn man sogar soweit gehen und ihren Blick deuten wollte, konnte man so etwas wie Melancholie darin erkennen, doch als ihre Augen wieder zu Lucas schnappten war nichts mehr davon zu sehen.
      „Ich habe seine Seele zurück in den Fluss begleitet. Das ist etwas, das ihr Menschen nicht verstehen könnt, weil ihr euch vor Dingen versperrt, die sich nicht logisch erklären lassen. Ihr glaubt an einen Gott, ihr glaubt auch an seinen Gegenspieler, aber es fällt euch schwer eine Person vor euch als jene zu akzeptieren, die den Tod verkörpert. Es gibt keinen imminenten Wunsch oder ein Ziel, Anzahl X Seelen zu begleiten. Wann immer ich jemanden begegne, dessen Ende naht, dann ist es meine Aufgabe, ihn zu begleiten. Nur dann ist ein sicherer Übergang seiner Seele gewährt. Dafür benötige ich keinerlei Hilfsmittel außer einer einzigen Berührung. Was ich an dem Tag zuvorgetan habe? Ich bin vermutlich durch die Straßen gewandelt, ziellos, bis ich über ihn gestolpert bin. Mit Obdachlosen redet man in der Regel nicht und ich sah ziemlich nach einer aus. Ich sollte mir für das nächste Mal merken, dass Optik Menschen doch sehr beeinflusst.“
      Ein paar dieser Fragen gingen in die gleiche Richtung, wie sie sie schon dutzende Male beantwortet hatte. Manche davon stellte er ein wenig anders, aber der Inhalt blieb derselbe. Ob sie ihn wohl soweit aus der Bahn werfen konnte, dass er Fehler beging und sich verhaspelte? Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, um den Mann mit dem Pokerface ein bisschen aus der Fassung zu bringen.
      Ein wissendes Lächeln tauchte urplötzlich an den äußersten Rändern ihrer Mundwinkel auf und wirkte vermutlich eher gespenstisch als einladend. „Jede Seele verdient es, durch den Tod geführt zu werden, egal was sie auf Erden tat. Und ja, einmal habe ich auch hier eine Seele begleitet, in der Intensivstation, als man mich gütiger Weise aus den Augen gelassen hatte. Ich habe ein Gefühl dafür, woran jemand stirbt und wann, aber es steht mir nicht zu, jemanden verfrüht zu erlösen. Das würde nur das Gleichgewicht stören, und das möchte niemand. Wie kann ich also Reue für etwas empfinden, das meiner Natur entspricht und meine Aufgabe ist? Was völlig wertungsfrei ausfällt und für jeden Menschen gleich ist? Ich weiß, es wirkt durchaus seltsam auf dich, so etwas zu hören, also biete ich dir folgendes an: Bring mich zum Intensivflügel und ich bestimme dir den Todeszeitpunkt einer dort liegenden Person. Ein echter Beweis, wie wäre das, Mr. Officer?“
    • Wie eine Vibration. Begleitet von einer Klammheit und einer schleichenden Kälte. Wie ein Schatten, der im Laufe des Lebens wächst und einen Menschen zum Schluss verschluckt.
      Lucas war kein Arzt und zudem auch noch sehr weit davon entfernt, einer zu werden. Er beherrschte Erste Hilfe und die einzige Art an Diagnose, die er sich jemals in seinem Leben erlaubte, war diejenige, ob man einen Puls noch spüren konnte oder nicht.
      Aber bei dieser einen Sache erlaubte er sich eine höchst professionelle und beweisgestützte Einschätzung: Diese Mortem war völlig und komplett durchgeknallt. Sie mochte zwar gebildet reden können und eine Ausdrucksweise besitzen, die einem begeisterten Buchautoren sicherlich schmeicheln würde, aber im Grunde war sie vollkommen irre. Übergeschnappt. Durchgeknallt. Irgendwas in ihrem bedauernswert kurzen Leben muss geschehen sein, dass sie völlig den Verstand verloren hatte. Immerhin, so eine ernstgemeinte und haarsträubende Beschreibung hatte er noch nie in seinem Leben gehört, nicht einmal von besoffenen Fanatikern, die vom Straßenrand zusammengekratzt werden mussten.
      Aber natürlich zeigte er das ganze nicht. Seine Miene blieb ganz ausdruckslos, er nickte noch nicht einmal. Diese Gedanken würde er jetzt alle sorgfältig sammeln und später, auf dem Weg zurück, würden Amber und er sich darüber in aller Gänze auslassen.
      Amber selbst bedeckte ihre Miene damit, dass sie nach unten auf ihr Notizbuch blickte und eifrig schrieb.
      Es wurde auch nicht besser als das. Mortem sprach von "ihr Menschen", als sei sie selbst keiner, was Lucas mit seinem plötzlichen Doktorentitel als eine von dieser Persönlichkeitsstörungen einordnen würde. Wie hieß nochmal diese eine Krankheit, mit der man verschiedene Persönlichkeiten an den Tag legte? Sowas gab es doch sicherlich auch in der Ausführung, dass man sich für eine ganz andere Rasse hielt? Das hätte er Kingsley mal fragen sollen, vielleicht hätte der entnervte Gesichtsausdruck sich dann ein bisschen aufweichen lassen.
      Da kam auch wieder die Rede davon, dass Mortem der Tod sein sollte, worauf sie zum Glück im Moment nicht weiter einging. Lucas wusste nicht, ob er es schon aushalten würde, die junge Frau von einem Suizidversuch abzuhalten. Zum Teufel, wie würde das nur später noch werden?
      Zumindest - und da brauchte er keine andere Ausbildung als die eines Polizisten, um das beurteilen zu können - hegte sie kein aktives Interesse daran, Mord zu begehen. Oder eine Seele frühzeitig zu erlösen, wie Lucas es so schön formuliert hatte. Außerdem benutzte sie keine Messer und keine Schusswaffen und was einem Mörder sonst noch einfallen könnte, was ebenfalls ein gutes Zeichen war. Naja, ein gutes Zeichen; es war zumindest keine aktive Bedrohung vorhanden. Und wirklich, so sehr sie sich dazu in der Lage fühlen würde, Lucas war sich ziemlich sicher, dass er dieses zierliche Persönchen recht einfach davon abhalten könnte, jemanden zu erwürgen. Oder zu... wie auch immer sie dieses berühren auch meinte. Der Obdachlose war zwar durch einen Herzinfarkt gestorben, aber das ließe sich ja vermutlich auch irgendwie herbeiführen. Obdachlose waren immerhin auch keine sehr anspruchsvollen Ziele.
      Als sie dann aber doch zu lächeln begann, war der Anblick schon etwas... beunruhigend. Vermutlich, weil es sich so plötzlich auftat. Lucas hatte sich noch nicht recht damit abgefunden, hier einer psychisch komplett gestörten Person gegenüber zu stehen.
      Leider vervollständigten ihre folgenden Worte dieses Bild nur noch.
      "Das ist ein großzügiges Angebot von dir, das ich leider ablehnen muss."
      Er würde sich noch davor hüten, mit dieser irren in die Intensivstation zu wandern. Ganz abgesehen davon, dass er dafür sicher erstmal eine Sondergenehmigung bräuchte, so wie er diese Anstalt hier kannte.
      "Wir sind es aber auch gar nicht, die du davon überzeugen musst. Der ganze Fall wurde, wie du schon sagst, längst zur Akte genommen und vor Gericht getragen, wie du dich sicher auch erinnern kannst. Wenn der Richter eine neue Anschaffung der Beweislage anfordert, können wir gerne einen solchen Ausflug unternehmen. Das hat er aber nicht."
      Lucas atmete einmal durch und holte seinen eigenen Block wieder hervor. Wenn er an diesem Tag eine andere Einschätzung abgegeben hätte, etwa in dem Sinne, dass Mortem eine unmittelbare Gefahr für ihre Umwelt darstellte, könnte das alles auch einfach vermieden werden. Aber sie war nunmal keine Gefährdung, sie war einfach nur durchgeknallt.
      "Der Richter hat stattdessen einen neuen Beschluss erlassen anhand der drohenden Verjährung. Ein Beschluss ist noch kein Urteil, das ganze ist also noch nicht vorüber."
      Er kramte die Kopie hervor und überreichte sie unmittelbar, bevor ihm einfiel, dass Mortem vielleicht nicht lesen konnte. Nun, dann musste sie eben zuhören.
      "Aufgrund tadelloser Führung wird dein Wohnheim verlegt. Sieh es als... Entlassung auf Bewährung. Es läuft im Endeffekt ab wie eine Strafentlassung auf Bewährung, nur mit leicht veränderten Auflagen, steht alles da drin. Für die nächsten sechs Monate darfst du den Bundesstaat nicht verlassen, du darfst dich in keine illegalen Tätigkeiten verwickeln lassen - dazu gehört auch Alkohol am Steuer -, du bist dazu angehalten, dich einmal wöchentlich mit deinem Psychiater zu treffen und einen monatlichen Checkup zu machen. Du wirst dich, sobald du dich eingelebt hast, mit einem Studienberater treffen, um vielleicht deinen Highschool Abschluss anzustreben oder dir eine Arbeit zu besorgen. Weil du keine Verwandten oder anderweitigen Bekannten hast, werden Amber und ich dafür sorgen, dass du dich in die Gesellschaft einlebst und an die Regeln hältst. Dazu gehört seit neuestem, dass keine Seelen ohne ausdrückliche Erlaubnis ins Nirvana begleitet werden dürfen. Soweit alles verstanden? Gibt es Einwände?"
    • Mortem beobachtete Lucas‘ Gesicht sehr genau. Üblicherweise reichte ihr deplatziertes Lächeln aus, damit ihr Gegenüber ein Stück seiner Fassade verlor und den wahren Kern darunter preisgab. Aber dieser Mann hier hatte vermutlich dank seiner Arbeit eine Kontrolle über seine Gesichtszüge, die bemerkenswert war. So sehr, dass das Lächeln ein wenig weiter wuchs. Dass er ihr Angebot für eine Beweiserbringung ablehnte, war zu erwarten gewesen. Hätte er ihr auf der Stelle zugesagt, ja, DAS wäre durchaus ein Novum gewesen und hätte selbst sie aus ihrer tristen Hülle gezogen. Die Begründung dafür hätte er sich eigentlich auch direkt sparen können. Sofern er kein eigenes Interesse daran hegte, es selbst zu sehen, dann würden die Beamten nur ihren Vorgaben folgen und das war mit Sicherheit nicht die Neuaufrollung ihres Falles. Man wollte nur Staubfänger endlich aussortieren für die unzähligen neuen Fälle, die tagtäglich die Tische der Justiz fluteten.
      Dafür holte Lucas nun seinen Notizblock hervor, der sichtlich lädierter war als der der Frau. Vermutlich wegen der Art des Transportes und nicht des Handlings. Bei seinen folgenden Worten wurde Mortem jedoch hellhörig.
      „Ein neuer Beschluss, so so… Möchte man doch die Staubfängerakten endlich ausräumen?“, fragte sie, das Lächeln war mittlerweile wieder verschwunden und ihre Augen fixierten das Papier, das der Officer gerade ans Tageslicht fördert. Er machte Anstalten, es ihr zu reichen, sie verlagerte schon ihr Gewicht, doch da zog er es wieder zu sich und ließ Mortem ein wenig stutzig zurück. Dachte er, sie könne etwa nicht lesen? Wer hatte ihnen denn so was auf die Nase gebunden? Resigniert kehrte sie wieder in ihre ohnehin kaum verlassene Pose zurück und ließ den Mann erst reden, bevor sie Beschwerde einreichte. Meistens war das sowieso klüger.
      …. Aufgrund tadelloser Führung…. Ja, gut, da hat sie sich nach ein paar Zwischenfällen auch absichtlich nichts mehr ankreiden lassen. Die Menschen neigten dazu, Andere als weniger gefährlich zu erachten, wenn sie keine Sträflichkeiten begangen und das war ja nun wirklich ein Kinderspiel. Immerhin war Mortem ja keine Gefahr für die Gesellschaft. Sie war ein wesentlicher Bestandteil des Gleichgewichts und deshalb unabdingbar da draußen. Es war ein Frevel, sie hier einzusperren. Schön, dass es nur lächerliche sechs Jahre gedauert hatte, bis man das auch endlich begriffen hatte. Demnach hörte sie sich die restliche Ausführung geduldig an, ehe sie die Hände faltete und sie vor dem Bauch ablegte.
      „Oh, da gibt es eine Menge Einwände, fürchte ich. Der Erste wäre deine Annahme, ich könne nicht lesen. Selbstverständlich kann ich das. Man hat mich hier mir fünfzehn eingeliefert und nicht mit drei Jahren, also verbitte ich mir die Unterstellung, ich wäre des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Der Nächste ist das Treffen mit diesem Psychiater. Wie stellt ihr euch das vor? Ich werde wieder durch das Land ziehen, immer da, wo man mich braucht und danach suchen, was aus dem Einen das Ganze macht. Da kann ich wohl schlecht einmal wöchentlich hierher zurück und mich auf einen Kaffeeklatsch treffen. Ganz davon zu schweigen, dass ich ohne finanzielle Mittel und Papiere schlecht öffentliche Transportmittel nutzen können werde. Und was soll das mit einem Abschluss, Arbeit und keine Seelen mehr erlösen?“ Mortems Augenbrauen zogen sich zusammen, Unverständnis trat in ihr Gesicht. „Ihr glaube, ihr versteht es immer noch nicht.“
      Der Stuhl knarzte, als sich die junge Frau langsam aus ihrem Stuhl erhob. Sie ließ sie Hände an ihrem Bauch und ließ einen eiskalten Blick über Amber gleiten bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Lucas konzentrierte. Die leichte Apathie, die kühle Ruhe, die sie konstant ausgestrahlt hatte, war binnen eines Wimpernschlags einer unumstößlichen Selbstsicherheit gewichen. Sie nahm nahezu den ganzen Raum ein und das war einer der Momente gewesen, wo die meisten Angestellten schon den Raum fluchtartig verlassen hätten.
      „Du kannst mit jeder x-beliebigen Person hier so verfahren, aber nicht mit mir. Ich bin der Tod, eingepfercht in eine menschliche Hülle und deshalb von euch einfach wegzusperren. Es ist keine Manie, keine abstruse Fantasie, wenn ich sage, dass meine Aufgabe hier entscheidend für das Gleichgewicht ist. Man hält den Tod nicht davon ab, nach dem Leben den nächsten Schritt einzuleiten. Es ist meine Bestimmung, meine Existenz auf Erden. Du denkst wie alle anderen, ich sei geistig verwirrt oder traumatisiert. Meinetwegen. Der Tod ist unsterblich. Ich zeige dir, dass das auch für mich gilt.“
    • Lucas' Gesicht zeigte noch immer keine Regung, aber darunter dachte er sich: Was für ein Scheißfall. Was für ein absolut grottiger Scheißfall. Wenn er es mit Irren hätte zu tun haben wollen, hätte er sich vor 13 Jahren schon nach einer Lehre zum Krankenpfleger oder irgendso etwas umgesehen. Er hätte sich hier, genau bei dieser Anstalt, bewerben können und dann tagein, tagaus solche Gespräche geführt, wie er sie jetzt auch mit dieser Mortem führen durfte. Er hätte brav nicken dürfen und lächeln dürfen und sagen dürfen "Ja, recht hast du Mortem, natürlich, nimm doch noch ein paar von den Beruhigungspillen, die schmecken heute nach Zitrone". Er hätte sich damit auseinandersetzen dürfen, was die Irren beschäftigte, tagein und tagaus. Ja, wie sehr ein solcher Traum doch hätte in Erfüllung gehen können.
      Aber Lucas war kein Krankenpfleger und hatte sicher auch nicht die Lust dazu, genau hier zu stehen und sich jetzt anzuhören, dass diese Frau, die sich selbst für den unsterblichen Tod hielt, gleich wieder auf Reisen gehen würde, wenn sie hier raus war. Sicherlich um noch mehr arme Seelen zu erlösen. Für so einen Scheiß war er nicht zur Polizei gegangen und musste jetzt trotzdem hier stehen und dieses Gespräch führen. Das lag nur daran, dass er die Arschkarte gezogen hatte bei der Verlosung dieses Reinfalls von einem Fall.
      "Du wirst nirgendwo hinziehen solange noch kein Urteil ausgesprochen worden ist, sowas gilt für jeden. Außerdem hast du doch sowieso nicht die nötigen finanziellen Mittel für Reisen, wie du eben selbst bemerkt hast. Nein, dir wird eine Einzimmerwohnung in diesem wunderschönen Apartmentkomplex in der Innenstadt spendiert."
      Er kramte noch ein Blatt hervor und reichte es ihr, ein offizielles Inserat eines Mehrfamilienhauses. Es war hauptsächlich rechteckig und hatte eine symmetrische Fensteranordnung. Der Putz war an der Außenwand schon an vielen Stellen abgebröckelt, aber es gab zumindest einen Vorgarten, wenn man sich mit ganz viel Fantasie den winzigen Streifen Grünfläche vor dem Eingang als Garten vorstellen mochte. Balkon würde es natürlich keinen geben. Von einem Aufzug konnte man hier allerhöchstens träumen.
      "Dort hast du alles, was du brauchst, um zurück auf die Füße zu kommen. Dazu gehören regelmäßige ärztliche Checkups und eine Vorbereitung auf das richtige Leben. Einer von uns bringt dich auch dorthin, sogar mit Streifenwagen, wenn du möchtest. Dann kannst du das Blaulicht betätigen."
      Natürlich war der Hintergedanke ein ganz anderer, aber das würde Mortem niemals erfahren. Der Staat würde wohl kaum für solche Lapalien hart verdiente Steuergelder ausgeben, wenn er sich dabei nichts gedacht hätte. Aber solange Mortem nur dachte, dass man sie zurück in die Gesellschaft eingliedern wollte, war das schon in Ordnung.
      Nur fand sie es wohl jetzt nicht ganz in Ordnung. Langsam, ein wenig wie ein Geist, erhob sie sich von ihrem Platz. Bei dem Blick, der über Amber glitt, senkte die Polizistin gleich den Kopf, als wäre sie bei etwas erwischt worden. Lucas fühlte sich selbst mit einem Schlag unwohl in seiner Haut, als diese unergründlichen Augen wieder zu ihm zurück zuckten. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken, wobei ihm klar war, dass das alles nur Einbildung war. Immerhin gab es ja wohl kaum einen Grund, vor dieser jungen Frau irgendeine Art von Spannung zu verspüren. Was sollte sie schon machen, ihm gegen das Schienbein treten?
      - Oder mit einem Suizidversuch drohen?
      Da zuckten Lucas' Augenbrauen doch in die Höhe und er straffte sich ein wenig. Es war aber Amber, die ein wenig zügig aufstand und Mortem beschwichtigend eine Hand auf den Unterarm legte.
      "Das wissen wir, wirklich. Es besteht kein Grund, uns irgendetwas beweisen zu wollen. Es ist der Richter, den du überzeugen musst, erinnerst du dich?"
      Sie lächelte bekräftigend.
      "Setz dich doch wieder. Lucas meinte es doch gar nicht so."
      Der Erwähnte entspannte sich marginal wieder.
      "Sicher nicht."
      "Es ist nur so, dass du doch nicht bis in alle Ewigkeit hier drinnen bleiben kannst, das verstehst du schließlich selbst, nicht wahr? Und wenn du aber wieder hinaus gelassen wirst, dann muss sich jemand darum kümmern, dass du ein Dach über dem Kopf hast und genug zu essen bekommst. Das kannst du ruhig selber machen, aber dabei musst du dem Richter auch beweisen, dass du das überhaupt kannst. Das ist jetzt erstmal das wichtigste, verstehst du?"
      Lucas glaubte, wie Amber die Sache angehen wollte, und stimmte mit ein.
      "Danach kannst du durchs Land ziehen wie auch immer du willst und deiner Bestimmung nachgehen. Aber diese sechs Monate musst du noch durchhalten. Du musst dir quasi ein zweites tadelloses Führungszeugnis verdienen."
      "Ja genau, es ist eigentlich wie hier drin, nur unter anderen Auflagen. Wenn du dich gut hältst, dann darfst du in sechs Monaten ganz offiziell entlassen werden. Klingt das nicht nach was?"
      Amber vermied es natürlich mit einem Lächeln zu erwähnen, was denn geschehen würde, wenn Mortem sich nicht mehr so tadellos verhalten würde wie bisher. Aber das brauchte auch wohl keine Erwähnung.
    • Man beschaffte ihr eine eigene Wohnung? Das war ein Novum. Wieso sollten sie so erpicht sein, ihr eine Wohnung zu beschaffen? Es wäre doch wesentlich logischer, sie in eine Anlage für betreutes Wohnen oder dergleichen zu stecken, damit sie sie erst einmal wieder eingegliedert bekommen. Es gab keinen wirklichen Grund, warum man Mortem mit einer Selbstständigkeit ausstatten sollte, außer…
      Ihr Blick ging hinab zu dem Blatt Papier, auf dem ein Inserat ausgedruckt worden war. Nicht sofort griff sie nach dem Zettel, schien sogar unschlüssig mit ihrer Unterlippe zu spielen, doch dann nahm sie es zwischen Daumen und Zeigefinger entgegen. Schäbiges Haus. Schlechte Ausstattung. Lage sicherlich auch nicht besonders. Ausreichend für die meisten Bedürftigen, aber immer noch so viel Freiraum für sie…
      Lucas fuhr fort und versuchte scheinbar beschwichtigend auf Mortem einzuwirken. Als er seine Ausführung mit der Verlockung des Blaulichts beendet, lösten sich ihre dunklen Augen vom Papier und bohrten sich in seine ebenfalls braunen Augen. „Ich bin Kind oder sonst ein gestörtes Wesen, das schon immer mal das wunderbare BLAULICHT der Polizei anschalten wollte. Ihr seid rein rechtlich gesehen nicht befugt, einen Zivilisten das tun zu lassen. Fahrt ihr ohne Grund mit Blaulicht durch die Straßen, ist das eine Verwarnung wert und mit Sicherheit ist das Absetzen einer Frau kein triftiger Grund.“
      Das Papier raschelte, als sich Mortems Hand langsam zu einer Faust krümmte. Verdammt noch mal, keiner nahm sie wirklich ernst. Keiner hatte auch nur ansatzweise das Verlangen danach, den Tod seine Arbeit machen zu lassen oder überhaupt eine Rolle in diesem Gleichgewicht zu übernehmen. Menschen waren einfach dermaßen egoistisch, dass es ihr bereits zum Halse heraushing. Bevor sie allerdings weiter ihren Groll schüren konnte, war diese Frau aufgestanden und hatte Mortem ernsthaft eine Hand auf den Unterarm gelegt. Sofort schoss ihr Blick zu der Frau, die scheinbar nicht wusste, dass man Bewohner der Anstalt nur dann berühren sollte, wenn sie es explizit erlaubt hatten. Unweigerlich zog sie die Schultern ein Stück höher und starrte die Beamtin wortlos nieder. Ganz offenbar war sie dafür abgestellt worden, bei genau dieser Frage dazwischen zu gehen, weil ihr Kollege nicht damit umzugehen wusste oder dazu neigte, sich zu verplappern. Das A und O bei ihnen war gerade, das Thema zu unterbrechen und das mit jeglichem Mittel. Denn die Art, wie Lucas‘ Körper sich angespannt hatte, ganz von allein, hatte schon genug dazu verraten.
      Aber Mortem setzte sich nicht.
      „Mir ist nicht einmal klar, wieso ich generell so lange noch hier einsitzen durfte. Ich habe nicht einmal eine Krankenversicherung, wie kann bitte der Staat für alle Unkosten aufkommen? Wieso sollte er mir eine Wohnung stellen? Wenn man das Verfahren schließt, wäre es das Klügste mich einfach auf die Straße zu setzen. Aus den Augen, aus dem Sinn, oder wie ging das Sprichwort?“ Lucas setzte fort und bekam sofort die Aufmerksamkeit der jungen Frau. „Sechs Monate lang?"
      Ein halbes Jahr. Das war verdammt lang, wenn man bedachte, dass sie sich nicht weit bewegen durfte. Auf der anderen Seite hatte sie hier nun schon ganze sechs JAHRE verschwendet, da würden sechs Monate wohl nicht mehr sonderlich tief ins Gewicht schlagen. Vielleicht müsste sie in der Zeit lernen, ihren Fokus etwas anders zu legen. Pläne vorher zu schmieden und nicht einfach drauf los zu ziehen. Das war ihr schließlich in der Vergangenheit schon zum Verhängnis geworden. Allmählich sackten Mortems Schulter wieder auf ein normales Niveau herab und auch der Arm mit dem Papier in der Hand hing schließlich antriebslos an ihrer Seite. Doch es war noch immer Lucas, den sie betrachtete und nicht die Frau, die sich inzwischen wieder gesetzt hatte.
      „Schön“, gab sie nach einer Pause mit hörbarer Skepsis von sich. „Wann bringt ihr mich hier raus?“
    • Lucas konnte sich zuletzt ein leichtes Augen zusammenkneifen doch nicht verkneifen. Diese kleine Besserwisserin. Einen Drittel seines Lebens in einer Anstalt verbringen und trotzdem meinen, dass man alles besser wusste als die lieben beiden Beamten.
      Aber natürlich stimmte er lieber zu, anstatt hier ein Fass aufzumachen. Immerhin wollte er sie nicht dazu verleiten, ihm etwa ihre Unsterblichkeit präsentieren zu wollen.
      "Klar. Damit hast du natürlich vollkommen recht."
      Ihr Blick bohrte sich in seinen, suchend, fast zerstörerisch. Was auch immer in diesem irren Köpfchen vor sich ging, sie war nicht zufrieden damit, dass ihr die Freiheit unter solchen Prämissen gegeben wurde. Da hatte Lucas schon weitaus andere getroffen. Was würde sie machen, wenn es ihr missfiel? Würde sie einfach hierbleiben wollen? Irgendwie würde ihn sowas schon gar nicht mehr überraschen.
      "Der Staat kommt für allerlei Dinge auf. Dazu zählt auch das Gefängnis, was übrigens deine Alternative wird, wenn der Richter dich weiterhin als Bedrohung einstuft."
      "Deswegen ist es so wichtig, dass du dich kooperativ zeigst und keinen weiteren Ärger machst, ja?", schob Amber ganz hilfreich und freundlich ein.
      Mortems Blick ging wieder zu Lucas zurück und dann langsam, als müsse sie sich erst selbst bezwingen, sackten ihre Schultern ein. Es sah aus, als hätte sie sich geschlagen gegeben, auch wenn das kaum der richtige Ausdruck hierfür war. Immerhin ging es um ihre Freiheit.
      Aber sie stimmte zu, o Wunder, und ersparte ihnen damit weiteren Ärger. So glaubte Lucas zumindest.
      "Schön."
      Er richtete sich vom Fensterbrett auf.
      "Du behältst also das da", er nickte auf die gegebenen Blätter, "und wir werden zurück sein, sobald der ganze Papierkram durchgeprüft und genehmigt wurde. Ich schätze, das dauert so", er tauschte einen Blick mit Amber aus, "ein bis zwei Wochen. Plus minus ein paar Tage."
      "In der Zwischenzeit kannst du dich von deinem Zimmer schonmal verabschieden", lächelte die Polizistin und stand selbst auf. Sie schien drauf und dran, Mortem die Hand geben zu wollen, oder etwas ähnliches, tat dann aber doch nichts. Sie lächelte nur und versuchte, etwas von der Warmherzigkeit in ihren Augen auf Mortem übertragen zu lassen.
      Die das ganze wie an einer Mauer abprallen ließ, die sie selbst war.
      "Richtig. Alsodann Mortem, wir sehen uns in einer Woche. Spätestens zwei."
      Lucas zeigte ihr nur ein flüchtiges Lächeln, dann gingen die beiden Beamten zur Tür und nach draußen in den Gang hinaus, beide gleichermaßen erleichtert, endlich aus diesem Raum zu sein. Der Pfleger im Korridor sah sie, nickte und schloss hinter ihnen ab, bevor er sie den Gang hinunter zum Ausgang lotste.

      Amber und Lucas gingen über den Vorplatz aus dem Tor hinaus und zum Parkplatz. Sie setzten sich in den einzigen Streifenwagen vor Ort, Lucas fuhr aus der Schranke heraus und folgte dann dem kleinen Weg den Hügel runter. Im Wagen herrschte Totenstille bis schließlich:
      "Das war gruselig. O Gott war das gruselig."
      "Das war richtig verstörend, heilige Scheiße!"
      "Hast du ihren Blick gesehen? Als sie da... eigentlich die ganze Zeit! Das war unheimlich."
      "Hast du sie reden gehört?"
      Lucas nahm den Blick nur eine Sekunde von der Straße, um ihn Amber zuzuwerfen.
      "Wie eine Akademikerin! Dabei ist sie 21, sie hat noch nicht einmal die Highschool beendet."
      "Wenn sie überhaupt darauf war, wer soll ihr das bezahlt haben?"
      "Ja, richtig." Soweit hatte er selbst noch gar nicht gedacht.
      "... Oder sie hat sowas spendiert bekommen?"
      "Aber selbst dann hätte sie einen Ansprechpartner gehabt, sie kennt aber niemanden."
      "Auch wieder wahr."
      "Alles an ihr ist merkwürdig. Ich verstehe auch nicht, woher dieser Rappel kommt, Tod sein zu wollen."
      "Das geht doch über eine normale Psychose hinaus. Oder? Kennst du dich damit aus?"
      "Kein bisschen."
      "Ich auch nicht. Aber sowas ist trotzdem nicht normal."
      "Mit welcher Überzeugung sie es aber ist!"
      "Und ob. Ich kann es nicht fassen, dass wir das hier übernehmen sollen. Ich kann es nicht fassen!"
      Er schlug mit einer Hand aufs Lenkrad. Amber lehnte den Kopf zurück an die Kopfstütze.
      "Das ist unser Ruin, Luke. Kein Cold Case ist so cold wie der hier."
      "Fuck."
      "Mhm."
      "Sechs Monate... sechs Monate!"
      "Das ist wie babysitten, was?"
      "Ja, nur mit dem Unterschied, dass das Baby irgendwie hochintelligent ist und sicher genau weiß, dass es die Gabel in die Steckdose schieben muss."
      "Hochintelligent und gruselig."
      "Gruselig hochintelligent. Dafür bin ich nicht Polizist geworden. Wenn's nach mir ginge, soll sie da drin versauern."
      "Das wäre vermutlich für alle Beteiligten besser so."
      "Meinst du, wir könnten das noch so verkaufen?"
      "Mit welcher Grundlage denn? Sie hat niemanden versucht umzubringen. Sie ist gestört, aber auf keinem gefährdeten Niveau, außer sich selbst gegenüber."
      "Es gibt sicher hunderte andere in dieser Anstalt, die genauso wenig eine Gefahr für ihre Umwelt sind und trotzdem nicht herausgelassen werden."
      "Ja, aber die sind auch nicht so jung wie sie. Und die haben irgendjemanden, der ihnen diesen Aufenthalt zahlen muss. Für Mortem muss der Staat herhalten und das ist ihm schon seit damals ein Dorn im Auge."
      "Du denkst nicht wirklich, dass sie Mortem heißt, oder?"
      "Nie im Leben."
      "Was denkst du? Codename? Weitere Psychose?"
      "Ich denke, das entspringt irgendeiner Wirrung aus ihrem Gehirn. Eben wegen Tod. Der Tod kann ja nicht Emily oder sowas heißen."
      Lucas grinste.
      "Warum nicht?"
      "Frag sie halt."
      "Bloß nicht. Zum Schluss stürzt sie sich noch aus dem Fenster oder sowas."
      Beide lachten und danach ging die Fahrt einfacher vorüber.

      Die Woche gab es gleich mehrere To-Dos abzuarbeiten, denn natürlich - natürlich - wurde dieser Ermittlung grünes Licht gegeben. Der Deputy Chief ihrer Behörde bezeichnete den ganzen Fall als "hervorragende Gelegenheit, die Teamfähigkeit ihrer Abteilung zu stärken", aber Lucas, und auch allen anderen, war klar, dass sie hier irgendjemandes Mist ausbaden mussten. Im schlimmsten Fall ihren eigenen Mist. Niemand nahm freiwillig einen Cold Case an und ganz besonders keinen, der einen erst in eine Irrenanstalt führte und dann zum ganztäglichen babysitten. Natürlich fühlte er sich geschmeichelt, dass man ihm die Leitung vollständig übertragen hatte - vermutlich wegen seiner jüngsten, recht angesehenen Erfolge - aber dieses Hoch würde nicht lange anhalten. In einem Monat, allerspätestens zwei, wäre sein guter Ruf vollständig verflogen und man würde ihn einfach nur wieder als Detective Murray kennen und nicht etwa als denjenigen, der bei der Ermittlung des Black Rippers ganz entscheidende Erfolge erzielt hatte. Weil er mit diesem Fall jetzt quasi vom Rampenlicht verschwand.
      So war es aber nunmal bei den Behörden, hatte er sich von älteren sagen lassen. Jeder hatte mal seine Erfolge und dann wurde man wieder auf Normalniveau heruntergestuft, damit man sich bloß nicht einbildete, eines Tages die ganze Abteilung zu leiten. Die Wahrheit sah nämlich so aus, dass die Posten, je höher man kam, umso rarer wurden und damit groß umkämpft waren. Und welcher Deputy Chief, der schon mindestens 60 war und sicher schon 80 Jahre im Amt war, würde seinen Posten gerne an einen jüngeren, versprechenderen Kandidaten abgeben? Eben gar keiner. Deswegen wusste Lucas auch, dass es eben keine Team-Übung war, sondern einfach scheiß bürokratische Politik.
      Aber was sollte er schon machen, außer sich seinem Schicksal geschlagen geben? Zumindest bot dieser Fall eine hervorragende Gelegenheit, ein paar Überstunden anzusammeln und das Geld davon einzusacken. Aubrey war das erste Jahr auf der Highschool und brauchte unbedingt ein iPhone, weil alle anderen Schulkameraden das auch hatten. Das würde noch ein richtig anstrengendes Weihnachten werden, wenn Lucas nicht jetzt schon damit anfing, dafür Geld auf die Seite zu legen.
      Dementsprechend behandelte er den Fall wie auch jeden anderen. Er ließ Amber ihren Bericht über den Besuch in der Anstalt schreiben, während er selbst sich mit den ersten Kamera-Aufzeichnungen auseinandersetzte. Er erstellte einen Ablaufplan, setzte sich über Dr. Kingsley mit Mortems - er würde ihren richtigen Namen schon noch herausfinden, das setzte er sich fest in den Kopf - Psychiater in Verbindung und unterhielt sich mit dem Gerichtsmediziner. Von der Patientenakte machte er sich eine Kopie - das allein dauerte bei dem ganzen Ausmaß schon einen Nachmittag lang - und ging sie von vorne bis hinten durch. Er studierte Mortem wie er jeden Mörder studieren würde. Was würde mich dazu veranlassen, Tod sein zu wollen? Eine Psychose, klar. Wie fühlt es sich an, sich für Tod zu halten? Das ließ sich nun kaum beantworten, da Lucas keine Psychose hatte. Da war er sich ziemlich sicher.

      Mit Amber fuhr er die Wohnung besichtigen, als sie fertig eingerichtet war. Sie war klein, geradezu winzig, aber sie würde es schon tun. Drei Tage lang hatte ein Team dort gearbeitet, um sie so herzurichten, wie sie es brauchten. Jetzt stand Lucas im Flur an der Tür, ein Tablet in der Hand, und schaltete sich durch das Programm durch.
      "Vier in der Küche. Müssten es nicht fünf sein?"
      "Nein", kam die Antwort aus der Küche, wo Amber jetzt aus vier verschiedenen Perspektiven auf Lucas' Tablet auftauchte. Sie ergriff eine Schranktür und zog sie auf; ihre Hand verdunkelte das Bild, als sie sich über die Linse legte. "Die beim Waschbecken haben sie wieder rausgenommen. Sie meinten, das hält nicht gut und dann fällt das auf. Alpha eins?"
      "Ja."
      Amber rüttelte noch ein bisschen an der Schranktür rum und an der versteckten Kamera innerhalb des Griffs, die mit der schwarzen Linse genauso aussah wie die vielen anderen Griffe, und ging dann weiter an eine Kamera in der Waschmaschine.
      "Alpha zwei?"
      "Ja."
      Die dritte Kamera war über der Herdplatte versteckt und die vierte über einer Steckdose. Der kleine Esstisch im Wohnzimmer, in dem auch eine kleine Couch und ein kleiner Fernseher stand, hatte eine Kamera direkt in der Lampe über ihm und der Fernseher war modern genug, dass er eine eingebaute hatte. WLAN war natürlich schon gestellt. Im Rauchmelder war noch eine versteckt, dazu noch zwei weitere im Flur, fünf im Schlafzimmer und eine Kamera im Bad, auf das Waschbecken gerichtet, die Toilette und die Dusche im toten Winkel. Sie alle liefen auf Echtzeit und Amber bewies höchst leidenschaftlich, dass sie sich nicht verschieben oder abblenden ließen, wenn man nur irgendwie zufällig dagegen kam. Selbstverständlich waren alle gut versteckt und sollten gar nicht erst gefunden werden.
      "Was, wenn sie das WLAN ausschaltet?"
      "Die laufen nicht übers WLAN. Außerdem kommen wir dann einfach her und schalten sie wieder an."
      Immerhin besaß die Polizei Ersatzschlüssel, auch zu dem Kellerabteil unten. Dort gab es keine Kameras, was aber daran lag, dass es keine geschlossenen Räume unten waren, sondern eher wie Käfige.
      Alles in allem sah es ganz ordentlich aus. Lucas glaubte nicht, dass sie auffliegen würden.
      "Was, wenn sie irgendwann mal eine finden sollte?"
      "Wird sie schon nicht."
      "Und was wenn doch?"
      "Dann sagen wir, das ist Einbrecherschutz. Oder dass der Vermieter gerne junge Mädchen ausspannt wie es scheint. Dann lassen wir jemanden kommen, der die "Wanzen entfernt" und bauen nur ein paar aus, damit sie beruhigt ist und keine weiteren mehr sucht. Sie ist irre und kein Meister-Genie, Amber, vergiss das nicht."
      "Ich mein ja nur."
      Sie erledigten ihren Rundgang und fuhren wieder zur Dienststelle.

      Lucas hatte ein Team von insgesamt fünf Leuten, sich selbst eingeschlossen. Dazu gehörten Amber Price, Harvey Carter, Tom Castro und Cailyn Hill, allesamt aus seiner Abteilung. Mit ihnen hatte er eine allmorgendliche "Übergabe" geplant, mit der sie jetzt schon anfingen, bevor das Subjekt sich überhaupt eingenistet hatte. Lucas leitete die Besprechung.
      "Das Subjekt soll nur mit Amber und mir in Berührung kommen, von euch soll sie nichts wissen, nicht einmal im äußersten Notfall. Ich überlasse es euch, wie ihr es untereinander aufteilt, aber ich will zu jeder Zeit einen an den Kameras haben, selbst wenn sie nicht Zuhause ist. Ihr Standort muss abrufbereit sein, selbst wenn einer von uns mit ihr unterwegs ist. Ich will wöchentliche Updates zu ihren Suchanfragen im Internet, zu ihrer Anruf- und Nachrichtenliste und zu ihren Einkäufen, jeden einzelnen - ja", er sah Cailyns Hand schon zucken, "auch zu denen, an denen wir beteiligt sind. Das muss allein schon für den Bericht alles da sein. Wie ihr das macht, ist mir ganz egal, ich vertraue euch. Einer von euch wird das Subjekt zu jeder Zeit beschatten - ich meine damit wortwörtlich, dass ihr ihre Wohnung beschattet, wenn sie drin ist, und ihr euch an ihre Fersen hängt, wenn sie rausgeht. Sollte sie jemals ohne Amber oder mir nach draußen gehen, will ich das dokumentiert haben, geht sie mit einem von uns braucht es das nicht. Ihr werdet aber trotzdem mitkommen, sie wird nirgends hingehen, ohne dass einer von euch dreien Bescheid weiß. Alles klar?"
      Allgemeine Zustimmung.
      "Ihr sollen keine Grenzen gesetzt werden, nicht von euch. Solltet ihr sie bei etwas verdächtigem oder geradezu illegalem beobachten, werden wir beide zuallererst verständigt und danach wird, im Notfall, die Polizei informiert. Sollte das Subjekt einen Mord begehen, wird sie nicht aufgehalten, sondern die Polizei wird gerufen. Das ist sehr wichtig, ihr dürft euch ihr auf keinen Fall zeigen. Sie darf rein gar nichts über unsere Beschattung wissen. Ihr werdet euch an ihre Fersen hängen, zu jeder Zeit. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?"
      Ja, das habe er. Damit war alles wichtige erledigt.
      "Stichtag ist Montag der 24. Wir holen sie um 10 Uhr mit einem Zivilauto von der Anstalt ab und fahren sie in ihr neues Zuhause. Von dort an will ich eine rundum Überwachung haben. Gibt es noch Fragen?"
      Es gab noch Fragen und als alles geklärt war, löste die Versammlung sich wieder auf.
      Beginn also von Fall Mortem. Die angesetzte Lösung eines Rätsels, das bereits sechs Jahre in Anspruch nahm.

      Pünktlich am Montag den 24. tauchten also die beiden Beamten bei der Anstalt auf, 9 Uhr und keine Sekunde früher, wenn die Besuchszeiten anfingen, und setzten sich in einen Warteraum, um auf das Ausstellen der Entlassungspapiere zu warten und letzten Endes dann auch die Frau entgegen zu nehmen.
    • Die Deadline war also ein paar Wochen. Gut. Ein paar weitere Wochen ließ es sich in dieser Anstalt aushalten, wenn es dann hieß, dass Mortem wieder freien Fußes auf der Welt wandeln durfte.
      „Man verabschiedet sich in der Regel nur von Liebgewonnenem oder aus Höflichkeit. Dieser Raum erfüllt keines der Kriterien“, erwiderte Mortem nur nüchtern, die die Frau lediglich einen Streifblick schenkte, ehe sie noch das flüchtige Lächeln Lucas‘ sah. Solches, das man nur zeigte, weil man musste und ganz schnell aus der Situation verschwinden wollte.
      Aber wer war schon Mortem, ihre beiden Freiheitsritter länger als nötig festzuhalten?

      Ungeduld war etwas, das Mortem schon lange nicht mehr hatte fühlen dürfen. Jetzt ertappte sie sich dabei, wie sie die Zeiger der Uhr an der Wand manisch verfolgte, bis es endlich zehn Uhr schlug. Ihr Blick huschte zur Tür, doch es tat sich nichts. Irgendwie hatte sie darauf gesetzt, dass schlagartig alle Türen aufflogen und sie buchstäblich herausspazieren könnte. Aber scheinbar musste sie sich weiter in Geduld üben und wartete auch die restliche halbe Stunde ab, in der letzte Formalitäten geklärt und ihr eine Jacke organisiert wurden, damit sie die Einrichtung wenigstens mit etwas Schutz verlassen könnte.
      Als sich die Türen endlich öffneten, wurde sie von mehreren bekannten Gesichtern erwartet; Kingsley, Lucas und die Frau. Für einen winzigen Bruchteil stutzte Mortem, als sie Lucas und die Frau in gewöhnlicher Bekleidung entdeckte. Wieso waren sie in zivil hier? Fuhr man sie nicht im Polizeiwagen hier raus? Dann fiel ihr ein, dass vermutlich Aufmerksamkeit etwas war, was man vermeiden wollte, und wohl deshalb auf normale Kleidung und auch Fahrzeuge zurückgreifen würde.
      Manch einer mochte es als bedeutungsschwanger empfinden, wie sich die unscheinbare Frau von ihrem Bett erhob, das bald nicht mehr ihres sein würde. Sie zeigte keine Freude auf dem Gesicht, hatte auch keinen Rucksack oder dergleichen bei sich, weil sie schlichtweg keine Gegenstände besaß. Alles würde sie sich neu beschaffen müssen, von Unterwäsche bis hin zu Handtüchern für das Badezimmer. Schätzte sie jedenfalls.
      „Einen wunderschönen guten Morgen“, begrüßte Mortem ihre Befreier in ungeahnt guter Stimmung. So gute Stimmung, dass selbst Kingsley das Mädchen skeptisch betrachtete, denn ihre Mimik ließ nichts von dem Tonfall vermuten, mit dem sie sprach. „Beginnt meine Frist ab dem Moment, wo wir das Gelände verlassen oder ab Eintreffen an der Wohnung? Mit was für einem Auto fahren wir? Immerhin wurde mir ein Blaulicht versprochen.“
      Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen ließ sich Mortem zwischen die Erwachsenen mischen, die sie in einer Traube durch die Gänge Richtung Freiheit führten. Sie würde Papiere beantragen müssen lassen. Ausweise. Nachweise. Alles, was Mortem eigentlich nicht gebrauchen konnte, ihre Reise aber einfacher gestalten würde. Auch das hatte sie aus ihrem bisherigen Misserfolg gelernt: Sei nachvollziehbar, sonst sperren dich die Menschen weg. Den Fehler würde sie nicht noch einmal begehen.

      Mortem hatte kein Blaulicht bekommen. Zugegeben, sie hatte auch nicht weiter darauf bestanden, und sie wollte es auch gar nicht. Dafür fummelte sie jetzt schon seit Minuten an ihrem Anschnallgurt herum, nachdem die Frau sie angewiesen hatte, sich anzuschnallen. Irgendwann war auch der Beamtin wohl der Faden gerissen und hatte die Schnalle zielsicher eingesteckt.
      Mortem schnaubte.
      „Kaum zu glauben. Sechs Jahre ist es her, dass ich das letzte Mal in einem Auto gefahren bin. Das ist definitiv spannender als die Fenster mit dem Vogelhäuschen“, sagte sie und klopfte mit dem Finger gegen die kalte Scheibe. „Wie funktioniert das Ganze jetzt? Ihr setzt mich an der Wohnung ab und das war es? Was mache ich dann die ganzen sechs Monate lang, wenn ich an einer guten Führung festhalten soll?“
      Hoffentlich würden die beiden Beamten sie einfach in Ruhe lassen. Dann konnte sie nachts einfach auf die Straße wandern und dort nach denen suchen, die ihre Hilfe benötigten. Tagsüber konnte sie dann immer noch in der Wohnung die Decke anstarren oder sich andere Beschäftigungen suchen. Vielleicht sollte sie in der Zwischenzeit wirklich nachforschen, wie fliegen funktioniert. Anders fort aus Amerika zu kommen würde sich ansonsten als schwierig erweisen. Darüber hinaus würde sie an Geld kommen müssen, um den Flug zu bezahlen. Vorausgesetzt, ihr Ziel befand sich nicht in Amerika.
    • Als der Papierkram dann endlich erledigt war, ging die Tür auf und Mortem wurde entlassen. Wo andere einen Beutel mit Habseligkeiten bei sich hatten, die ihnen abgenommen worden waren, als sie hier eingeliefert wurden, trug das Mädchen... gar nichts. Wie für einen Spaziergang im Garten ausgerüstet, kam sie in ihrem weißen Krankenhaus-Aufzug nach draußen, zumindest eine Jacke über die Schultern drapiert. Lucas fand das äußerst befremdlich und irgendwie... traurig. Man hätte meinen können, dass dieser Tag für die junge Frau etwas ganz besonders werden würde, aber so wie es aussah, würde er irgendwie nur wie einer von vielen werden. Keiner war hier um zu applaudieren oder sie zu ihrer Entlassung zu beglückwünschen. Es waren einfach nur Lucas, Amber und der Doktor, der sicher froh darum war, seine Patientenlast loszuwerden.
      Amber musste dasselbe denken wie er, denn einen Augenblick nachdem Mortem in der Tür aufgetaucht war, setzte sie ein geradezu strahlendes Lächeln auf, das selbst Lucas überraschte. Er ließ sich davon anstecken und lächelte auch ein bisschen empfänglicher.
      "Dir auch einen wunderschönen guten Morgen! Freust du dich schon?"
      Ein bisschen gruselig war es schon, dass Mortems Gesicht nichts von ihrer angeblichen Freude wiederspiegelte, aber es war wohl alles ein Anfang, schätzte Lucas. Dass sie dann aber auch gar nicht auf Amber einging, sondern nur gleich von ihrer Frist zu sprechen begann, irritierte ihn nur umso mehr. Freute sie sich denn gar nicht, endlich draußen zu sein? Irgendwie hatte er sich das ein bisschen anders vorgestellt.
      Amber lächelte entschuldigend, weil Kingsley bei Mortems Erwähnung über das Blaulicht die Augenbrauen hochzog.
      "Wir gehen jetzt erstmal zur Wohnung und das ohne Blaulicht, ja. Wir wollen schließlich die Leute auf der Straße nicht verschrecken."
      "Ist das alles, was sie hat?", fragte Lucas an Kingsley gerichtet, um ein bisschen von dem Thema abzulenken. Der konnte diese Frage immerhin direkt beantworten: Ja, das war alles, was Mortem hatte. Nämlich gar nichts.
      Lucas lächelte dünn.
      "Dann ist zumindest genug Platz im Auto."

      Sie gingen zu dritt über den Parkplatz zum Auto und stiegen ein. Die beiden Beamten hatten sich gleich angeschnallt, Mortem... das Mädchen kämpfte noch etwas mit dem Anschnallgurt. Lucas war ein Mann des Gesetzes und wusste, wie hässlich Unfälle aussehen konnten, bei denen die Passagiere nicht angeschnallt waren, deswegen fuhr er auch nicht los. Über den Rückspiegel beobachtete er, wie Mortem mit der Vorrichtung kämpfte.
      Amber überstreckte sich schließlich nach hinten und beförderte den Gurt hinein. Beim zurück auf den Sitz lehnen streiften sich ihr und Lucas' Blick und er fuhr endlich los.
      "Das muss aufregend für dich sein, oder nicht? Nach sechs Jahren wieder draußen?"
      Für Mortem war es nicht aufregend. Die konnte sich nur darauf konzentrieren, wie es unmittelbar weitergehen würde.
      "Alles nur immer mit der Ruhe. Wir zeigen dir jetzt erstmal deine Wohnung und dann gehen wir heute noch einkaufen, damit dein Kühlschrank voll wird. Hast du noch gefrühstückt in der Anstalt? Ich meine, im... wie nennt man das denn?"
      Hilfesuchend sah sie zu Lucas.
      "Sanatorium, denke ich. Sanatorium Louis."
      "Ja richtig. Hast du da noch was gefrühstückt? Sonst holen wir irgendwo was."
      "Aber erst in die Wohnung."
      "Ja, erst schaust du dir die Wohnung an. Dann gehen wir einkaufen und erklären dir ein bisschen was. Und dann bist du schon in deinem neuen Leben angekommen."
      Sie sah lächelnd nach hinten zu Mortem.
      "Freust du dich schon?"
      Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Irgendwie war das ernüchternd.

      Sie parkten eine Straße weiter von der Wohnung, weil alles voll war, und gingen zu Fuß rüber. Lucas kramte den Schlüsselbund hervor und überreichte ihn Mortem ganz feierlich.
      "Ich überlasse dir die Ehre. Das da ist der Eingangsschlüssel, das der Wohnungsschlüssel und der hier ist für den Keller, da gibt es noch ein kleines Abteil."
      An der Klingel stand zu seinem eigenen Verdruss "Mortem". Er hätte gern wenigstens einfach nur "M." dort stehen gehabt, aber er musste wohl einsehen, dass das nicht umsetzbar war.
      Die beiden stellten sich hinten an und Mortem schloss ihr neues Domizil auf.

      Die Wohnung war genau so, wie Amber und Lucas sie zurückgelassen hatten, aber jetzt mit einem kleinen "Präsent": Auf dem Esstisch lagen aufgestapelt ein kleiner Laptop, ein Handy und ein Portemonnaie. Amber hatte sich überlegt, dass sie das ganze ein bisschen festlich gestalten könnten, aber Lucas war dagegen gewesen. Jetzt tat ihm das leid, denn so unzeremoniell hatte das alles irgendwie einen tristen Eindruck. Vom einen Gefängnis ins nächste, so in etwa.
      "Willkommen in deinem neuen Zuhause!", rief Amber aus und versuchte damit wohl gute Stimmung zu verbreiten. Lucas fand, dass das alles nur noch trister machte.
      "Schau mal, das hier ist für dich. Das ist dein eigener Laptop, dein eigenes Handy und hier drin", sie nahm das Portemonnaie und präsentierte es ihr, "ist deine Kreditkarte. Du besitzt ein staatliches Konto auf der Bank, das jeden Monat um 200 $ aufgeladen wird. Davon musst du dir nur Lebensmittel kaufen und was du dir sonst noch leisten möchtest. Deine Wohnung, dein Internet, dein Strom, dein Handy und alles wird alles übernommen, darum musst du dir gar keine Gedanken machen."
      Von allen Anwesenden strahlte Amber wirklich am meisten.
      "Toll, nicht?"
    • War das hier aufregend?
      Nein. Für Mortem war es nicht wirklich aufregend, sondern lediglich ein Befreiungsschlag. Sie hatte einen Fehler begangen und war in das Netz der Justiz getappt. Ein Fehler, den sie nicht noch einmal begehen würde und dafür musste sie lernen besser darauf zu achten, wie sie ihrer Aufgabe nachkam. Man fing jetzt an, sie wie einen gewöhnlichen Menschen zu behandeln und dies war nun nicht ihr gemachter Fehler.
      „Sanatorium ist richtig“, bestätigte Mortem und sah dabei aus dem Fenster. Irgendwie schwante ihr nichts Gutes, aber das konnte vielerlei Gründe haben. „Es gab zur Schande kein Frühstück. Vielleicht, weil man sich das Bisschen Geld dann doch sparen wollte? Wer weiß?“
      Die beiden Beamten wollten sogar mit ihr einkaufen… Einkaufen war Mortem noch nie gewesen. Sie hatte sich vorher Überbleibsel aus den Mülltonnen gesucht, sobald sie gemerkt hatte, dass ihr schwindelig zumute wurde oder ihre Erscheinung zu dünn ausfiel. Als sie an der nächsten Ampel abbogen, legte die junge Frau eine Hand vor den Mund, was sie eher nachdenklich als alles andere erscheinen ließ. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie diese Frau schon wieder zu ihr blickte und wieder dieses furchtbare Lächeln aufgesetzt hatte. Ob sie sich freute, zeigte Mortem nicht.
      Denn Mortem hatte gerade etwas Neues gelernt: Von Autofahren wurde ihr schlecht.

      Mortem löste eilig den Gurt und verließ beinahe fluchtartig das Auto. Erst als ihre Füße wieder auf Beton standen, hörte die Welt auf sich zu drehen und die elende Übelkeit begann zu schwinden. Mit beiden Händen rieb sie sich durch das Gesicht ehe sie sich kurz umsah und feststellte, dass sie in einer Straße gelandet waren, die überquoll vor Autos. Scheinbar waren dies alles Wohnhäuser und damit ein Haufen an Menschen, die potenziell ihren Beistand brauchten.
      Lucas riss sie aus ihrer Nachdenklichkeit, indem er mit klirrenden Schlüsseln vor ihrem Gesicht hantierte. Wenig enthusiastisch nahm Mortem die Schlüssel entgegen und inspizierte den Bund. „Was will ich mit einem Keller…“, murmelte sie leise, setzte sich aber in Bewegung, um die Haustür aufzuschließen und ihre Wohnung zu inspizieren.
      Es genügte ein Blick ihrerseits, um festzustellen, dass diese Wohnung in aller Eile hergerichtet worden schien. Sie war überaus unpersönlich; es hingen keine Bilder an den Wänden, mit Dekoration wurde mehr als nur gespart und die Farbkonzepte waren eigentlich gar nicht vorhanden. Der Flur, den sie betraten, war so klein, dass sie zu dritt gar nicht hinein passten und nacheinander die Schuhe ausziehen mussten, wobei sich Mortem das einfach komplett sparte. Es war totenstill in der Wohnung, aber wenigstens nicht dunkel. Man hatte die Vorhänge aufgezogen. Ein seltsamer Geruch lag noch in der Luft, zuordnen konnte sie ihn jedoch nicht. Auf der linken Seite war eine so kleine Kochnische, das neben Mortem selbst wohl niemand zeitgleich an der Zeile stehen konnte. Gegenüber lag das Wohnzimmer, das neben einer kleinen Couch und einem erstaunlich großen Fernseher auch einen Esstisch beherbergte. Und genau auf diesen fiel Mortems Blick wie magisch angezogen.
      Sie holte gerade Luft, um etwas zu sagen, da rief diese Frau plötzlich was aus und Mortem zuckte so heftig zusammen, dass es beinahe so aussah, als würde sie einfach in sich zusammenklappen. Ein anklagender Blick war alles, was sie für die Beamtin übrig hatte, die sich an ihr vorbei quetschte und das Portemonnaie vom Tisch nahm, um es aufzuklappen und ihr zu präsentieren. Recht fassungslos lauschte Mortem der Erklärung und schüttelte am Ende nur leicht den Kopf.
      „Wieso gibt man mir ein Handy und ein Laptop? Ich weiß doch gar nicht, wie man damit umgeht“, sagte Mortem völlig frei heraus und jeder der Anwesenden dürfte bemerken, dass sie das nicht als Scherz gemeint hatte. „Sollte man nicht eher darauf aus sein, mich in das Arbeitssystem oder so einzupflegen, damit ich eben nicht mehr aus der Tasche des Staates lebe? Genauso wie Einkaufen, ich weiß nicht, wo man das macht oder wie, oder…“
      Mortems Worte wurden langsam, dann erstarben sie vollständig. Sie bewegte ihr Bein, zog es aber wieder zurück und schwankte, bis sie mit der Seite an der Wand anlehnte und mit geweiteten Augen ins Nichts starrte. Noch bevor einer der beiden Erwachsenen reagieren konnte, hatte sie der Wand den Rücken zugekehrt und war an ihr auf den Boden gerutscht, den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Der Schwindel und die Übelkeit waren wieder zurück, Schwäche machte sich in ihren Beinen breit und nahm ihr die Standkraft. Mit zusammengepressten Lippen musste Mortem feststellen, dass der Körper, den sie innehatte, schneller als erwartet ein Limit erreicht hatte. Wie sollte es auch anders sein, wenn sie den ganzen Tag nur in ihrem Zimmer in der Anstalt eingesessen hatte und plötzlich alles managen musste? Vielleicht war sie ja doch aufgeregt gewesen und hatte es nicht gemerkt. Immerhin kannte sie dieses Gefühl nur mit anderen Noten.
      „Alles gut, geht gleich wieder. Dieser Körper ist einfach am Ende“, winkte Mortem ab, der man kaum anhörte, dass ihr Kreislauf gerade nicht mehr mitmachte. „Das sind richtig tolle Gerätschaften. Die werden mir garantiert eine große Hilfe sein bei… allem.“
    • Ob Ambers kleiner Aufmunterungsversuch nun gelang oder nicht, stand in den Sternen geschrieben. Mortem sah nicht gerade so aus, als würde sie sich über die neuen Sachen freuen; genauer gesagt zuckte sie sogar so heftig zusammen, als Amber die Stimme erhob, dass Lucas schon Angst haben musste, sie würde ganz einklappen. Das tat sie nicht, aber viel hätte wahrlich nicht gefehlt.
      Und dann ihre Meinung zu den Geräten. Ein Blick wurde zwischen den Beamten ausgetauscht, der über Mortem hinweg ging. Amber ging das ganze vorsichtig an.
      “Also weißt du…”
      Niemand hat heutzutage kein Handy, Mortem. Das geht einfach nicht”, steuerte Lucas recht unverblümt bei.
      Wie willst du dich sonst bei einer Stelle bewerben? Und Computer gibt's auch überall, die musst du irgendwie irgendwo bedienen. Aber das können wir dir beibringen? Schätze ich mal?
      Sein fragender Blick ging zu Amber, die gleich nickte.
      “Das ist nicht schwierig, das bringen wir dir bei. Das können wir ganz… stimmt was nicht?”
      Lucas sah nur das Schwanken, Mortem stand ihm abgewandt, sodass er nicht dasselbe bemerkte wie Amber, aber das war genug, um ihn zu alarmieren. Er trat bereits nach vorne, als das Mädchen einen unkoordinierten Schritt zur Wand machte und daran runter rutschte. Jetzt konnte er es auch sehen: Ihr Gesicht war ganz bleich. Womöglich hatte sie sich etwas in der Anstalt eingefangen, aber ihre Akte war dahingehend sauber und wenn eine Einrichtung auf die Gesundheit der Patienten achtete, dann ja wohl diese. Für Lucas, der ein pubertierendes Mädchen Zuhause hatte, das selbst gerne mal nicht genug aß, sah das nach etwas anderem aus.
      Du trinkst jetzt erstmal was.
      Er ging in die Küche, während Amber gar nicht wusste, wohin mit sich, und kam mit einem vollen Glas Leitungswasser wieder. “Dieser Körper”? Es war so merkwürdig, wenn Mortem in dieser versetzten Weise sprach.
      Und dann werden wir erstmal frühstücken, vorher passiert hier gar nichts.
      “Das ist schwierig, wenn hier nichts ist.”
      Wir werden nicht ohne ein Frühstück einkaufen gehen.
      “Dann ein Café vielleicht? Oder wir besorgen Brötchen?”
      Brötchen mit was, einfach pur?
      “Ja, okay. Dann ein Café.”
      Schonmal Kaffee getrunken, Mortem? Das wird dir sicher schmecken.

      Damit ging es wieder zurück zum Auto - natürlich erst, nachdem Mortem das ganze Glas ausgetrunken hatte - und zehn Minuten in die Innenstadt rein. Sie suchten sich ein kleines, überschaubares Plätzchen, wo es genügend Auswahl für jemanden gab, der seit sechs Jahren kein Frühstück ausgewählt hatte und vermutlich gar nicht wusste, was er so früh essen wollte. Die beiden Polizisten bestellten nur einen Kaffee, weil Lucas schon vorher gefrühstückt hatte und Amber mit dem ersten Essen bis zum Mittag wartete. Das hatte irgendwas mit ihrem Ernährungsplan zu tun, den Lucas nie ganz umrissen hatte.
      "Bestell dir was du willst, zur Feier des Tages lade ich dich ein."
      Sehr zufrieden hatte er beim Hereingehen einen roten Chevrolet gesehen, der die Straße runter geparkt hatte. Der Besitzer - es war Harvey - war ausgestiegen, hatte ein Parkticket gezogen und war dann die Straße hinauf geschlendert. Lucas erwartete, ihn nicht mehr zu Gesicht zu bekommen, außer er hielt ganz aktiv nach ihm Ausschau.
      Als ihr Tisch bedient worden war, streckte er die Hand nach Mortem aus.
      Gib mal dein Handy her, dann zeig ich dir, wie du jemanden anrufen kannst und Nachrichten schreiben kannst und sowas. Ich speicher auch gleich meine und Ambers Nummer ein, dann kannst du uns kontaktieren für den Notfall. Wenn mal irgendwas los ist.
    • Augen schließen war eine sehr gute Idee. Dann konnte sich die Welt nicht mehr vor Mortems Augen drehen und sie erlag dem Trugschluss, dass doch alles okay sei.
      „Natürlich dieser Körper. Der ist nur geliehen. Ich war ja nicht von Anfang an in der Gestalt dieses Mädchens, irgendwann läuft auch meine Zeit in diesem Körper ab und ich brauche einen neuen“, erklärte sie und klang dabei erstmals genervt der Tatsache, dass es doch so offensichtlich sei. Sie schielte durch einen Schlitz ihrer Lider zu der Gestalt auf, die sich als Schatten über ihr erhoben hatte und entdeckte das Glas Wasser. „Sehr freundlich.“
      Sie nahm das Glas Wasser an und kippte es ohne abzusetzen hinunter. Danach stellte sie es auf den Boden neben sich und kniff die Augen mehrmals zusammen. Gut, also würde sie diesen Körper irgendwie trainieren müssen, damit er nicht noch einmal so versagte. Das Ganze hatte sie sich wesentlich leichter vorgestellt. Einen Körper zu unterhalten war doch nervenaufreibender als angenommen. Nach einem Moment Pause verging der Drehschwindel und sie sah sich in der Lage, langsam wieder auf die Füße zu kommen.
      „Hat denn niemand erwähnt, dass es im Louis nur für die Angestellten Kaffee gab? Die Bewohner kriegen keinen wegen des Koffeins und entkoffeinierter Kaffee ist schlicht zu teuer. Also nein, probiert habe ich noch keinen, aber der Geruch ist vielversprechend.“

      Sehr zu ihrem Verdruss ging es wieder zurück zum Auto, das sie mittlerweile verteufeln wollte. Immerhin ging das Anschnallen nun schneller, aber sobald sich der Wagen in Bewegung gesetzt hatte, kam die Übelkeit zurück und leider half hier nicht mehr die Augen zu schließen. Krampfhaft versuchte sie sich auf einen Punkt in der Ferne zu konzentrieren, um gegen die Übelkeit zu bestehen. So weit käme es noch, dass sie das Wasser in dem Wagen vor den Augen der Beamten erbrechen würde. Es hatte drin zu bleiben, ob es wollte oder nicht.
      Im besagten Café angekommen scannte Mortem die Umgebung nach potenziell Hilfebedürftigen, fühlte sich allerdings nicht zu jemanden hingezogen. Folglich setzte sie sich brav an den Tisch, den Lucas und die Frau ausgesucht hatten und studierte die Karte, die man ihr reichte. Stirnrunzelnd las sie die verschiedenen Auswahlmöglichkeiten und war immer noch nicht fertig, als man den Beamten ihren Kaffee brachte.
      „Ich verstehe, was da steht, aber ich weiß nicht, wie die Gerichte schmecken“, klärte sie Lucas auf und rechnete erst gar nicht damit, dass er es nachvollziehen konnte. Es gab keine Auswahlmöglichkeit in der Anstalt und die Mahlzeiten dort waren allgemein sehr simpel gehalten. Mortem erinnerte sich nicht einmal daran, was dieser Körper gemocht haben konnte, bevor sie in ihn gefahren war. „Aber ich probiere einfach das hier.“ Und damit hatte sie sich ein Buttercroissant mit Marmelade und eben einen Kaffee bestellt.
      Sie sah der Bedienung nach, die ihre Bestellung aufgenommen hatte und in die Küche weiterreichte. Die Menschen taten das nicht aus Höflichkeit, sondern weil sie damit ihren Lebensunterhalt bezahlten. Man erwartete also auch von ihr, solchen Tätigkeiten nachzukommen. Das würde allerdings bedeuten, dass sie einen empfindlichen Teil ihres Tages dafür verschwenden musste, zu arbeiten und nicht ihrer Bestimmung nachzukommen. Ein Konflikt, den sie irgendwie noch lösen müsste…
      Da streckte Lucas seine Hand auffordernd nach ihr aus. Mortems Blick heftete sich an seine Hand und obwohl sie seine Worte durchaus verstanden hatte, ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen packte sie ohne Umschweife seine Hand und schwenkte dabei ihre Augen auf sein Gesicht. Nur einen Moment später hatte er ihr seine Hand entrissen und Mortems Lippen kräuselten sich. Seine Hand war deutlich wärmer als ihre gewesen, rauer noch dazu, aber das Wichtige war in seinem Gesicht abgelaufen; ganz kurz war ihm sein ach so tolles Pokerface entglitten und hatte etwas anderes darunter gezeigt. Doch Mortem würde nicht soweit gehen und es als Angst bezeichnen. Vielleicht war es Überraschung gewesen. Vorsicht. Aber ganz bestimmt keine Angst.
      Interessant…
      „Dann hoffe ich einfach mal, dass ich dich nicht aus Versehen mitten in der Nacht anrufe“, erwiderte Mortem nüchtern, als sie Lucas ihr Handy über den Tisch zu schob und anschließend die Hände in ihrem Schoß unter dem Tisch faltete. „Was genau machst du eigentlich beruflich? Du bist kein einfacher Streifenpolizist, denn die würden nicht für solche Fälle wie mich ab beordert werden. Du bist auch kein sehr hohes Tier, da diejenigen in der Regel für die richtig großen Fälle eingesetzt werden. Was tust du also? Verbrechensbekämpfung? Drogenermittlung? Der Mann für alles?“
    • Natürlich überreichte Mortem nicht gleich das Handy. Irgendwie begann Lucas zu glauben, dass das Mädchen kaum etwas auf normale Weise tun konnte. Da waren die merkwürdigen Aussagen über ihren Körper oder über andere Menschen, ihre eigenartige Ausdruckslosigkeit, die offensichtliche Verpeiltheit, auch wenn sie reden konnte wie eine Professorin. Wieso sollte sie ihm da einfach das Handy geben? Nein, sie schlug bei ihm ein.
      Seine Augenbrauen zuckten zusammen. Er war schon fast dazu geneigt, Mortem so zurechtzuweisen, wie er das mit Aubrey tat. Würde er damit eine Grenze überschreiten? Vielleicht sollte er das mal abklären lassen.
      Kurz darauf wechselte das Handy aber doch noch den Besitzer, auch ohne seine zusätzliche Mahnung.
      Wenn du ganz ausversehen mitten in der Nacht anrufst, dann wirst du auch den Zorn meiner Frau ausbaden müssen. Das werd ich nämlich bestimmt nicht machen.
      Er schnappte sich das Handy mit der rechten und trank zwei Schluck Kaffee mit der linken. Das war schon der zweite heute. Er mochte ihn schwarz, weil er sich dann einbilden konnte, dass das vielleicht gesund war.
      Mortem unterdessen schien zum ersten Mal Interesse daran gefunden zu haben, wer sich überhaupt in ihre Angelegenheiten einmischte. Über die ungewollt lustige Bemerkung lachte Amber sogar.
      “Mann für alles! Ja er ist unser Hausmädchen, sozusagen. Macht den ganzen Dreck weg.”
      Ich bin ja nicht sehr gründlich, wenn du noch hier sitzt.
      “Oh, ha-ha, sehr lustig. Weißt du, ich finde sogar, Mortem könnte gut in deine Fußstapfen treten. Ihr habt das beide drauf mit diesem detektivischen Denken.”
      Nein. Was sie macht, ist Rückschlüsse ziehen, was ich mache, ist kriminelle Psychologie. Das nennt man sogar so, glaube ich.
      Er wandte sich nach einem dritten Schluck Mortem zu und reichte ihr das Handy zurück.
      Ich bin Detective, das geht über normale Polizisten hinaus. Ich verbringe meine Zeit damit, die Spuren von Kriminellen zu verfolgen, während arme Schweine wie Amber sich mit Besoffenen herumschlagen dürfen. Und mit Prostituierten. Naja, manchmal muss ich auch noch ran.
      “Du bist wieder so charmant. Erzähl ihr doch von deinen letzten Fällen! Mit dem Black Ripper bist du sogar in die Zeitung gekommen. Hast du davon gehört?”
      Eine Frage an Mortem.
      Das ist doch schon drei Jahre her. Der Black Ripper war irgendein Verrückter aus der Westside, der nebenberuflich seine Opfer umgebracht und ausgetrocknet hat. Die sind dann verschrumpelt und wurden Schwarz, deswegen Black Ripper. Ich glaube aber bis heute, dass er nur so heißt, weil die Leute Rassisten sind.
      “Du musst ihr doch erzählen, wie du ihn gefasst hast!”
      Ja, beim Einkaufen.
      Lucas präsentierte ein Grinsen, das sein ganzes Gesicht in Bewegung zu bringen schien.
      Das war irgendwie lustig. Es war ein höchst riskanter Verdacht, weil wir keine Beweise hatten. Der Kerl wurde schon halbherzig von der Polizei beschattet, aber wir hätten darauf hoffen müssen, dass wir ihn beim nächsten Mord erwischen. Sowas ist ungewöhnlich, denn normalerweise ahnen Mörder es, wenn man ihnen auf die Schliche kommt. Die haben dafür sowas wie einen Riecher, besonders Serienmörder.
      “Du hattest aber einen besseren.”
      Ich hatte vor allem ein Gefühl. Ich hatte mich schon seit Monaten in diesen Scheißkerl reinversetzt, ich habe quasi sein Leben gelebt, nur um seinen Gedanken auf die Schliche zu kommen.
      “Luke kann sowas gut”, räumte Amber ein.
      Aber dann ist der Groschen endlich gefallen. Wenn du jemand wärst, der Leichen austrocknet, wie würdest du das anstellen? Ich meine, wir haben hier alle keine Ahnung, wie das wirklich funktioniert, aber mit Industrie-Mittel kriegst du so einiges hin. Bei der Menge, die er aber verbraucht, müsste er eine Spur hinterlassen, entweder in einem Labor, wo das Zeug hergestellt wird, oder in irgendeinem Laden. Das gleiche gilt dafür, wenn er es selbst herstellen würde. Außer natürlich: Er mischt sich irgendwas mit gewöhnlichen Lebensmitteln zusammen. Wir haben also ein paar Experten drangesetzt und die haben uns zugesteckt, dass man mit viel Mühe und Geduld einen Körper mit einem Salz-Säure-Gemisch austrocknen kann. Ich habe keine Ahnung, wie sowas funktionieren soll, ich bin kein Anatom, aber wir haben uns ein paar Hausmittel geben lassen und siehe da: Zwei Wochen später marschiert dieser Typ in den Laden und kommt mit einem vollen Einkaufswagen Salz wieder heraus. Das ist in den vereinigten Staaten kein Verbrechen, sicher nicht, aber die Verkäuferin hat mir erzählt, dass er das einmal im Monat macht. Sie hat noch nie nachgefragt, so ein Typ ist sie nämlich nicht, aber er kommt wohl regelmäßig und besorgt sich sehr viel von irgendeinem komischen Zeug. Da hab ich's riskiert und ihn festgenommen. Der Richter hat uns einen Durchsuchungsbefehl gestattet und in seiner Wohnung haben wir dann sowas wie ein Labor gefunden. Quasi eine zweite Küche. Von seinem Computer haben wir dann erfahren, dass er ein Lagerhaus am Stadtrand gemietet hat. Da sind wir hin und haben sowas wie einen Pool gefunden, wo er das Zeug wohl reinkippt. Drei Tage hat er noch in unserer Zelle gesessen, dann hat er endlich gestanden. "
      Er trank nickend einen Schluck.
      Willst du wissen, wer er war? Ein Versicherungsfuzzi. Tagsüber Lebensversicherungen verhökert und nachts Leichen ausgetrocknet. Das war eine super Geschichte für die Zeitung, aber in echt total gruselig. Der war nicht mehr dicht im Oberstübchen, da hilft auch dein schönes St. Louis nicht mehr. Einmal Gefängnis lebenslang. Seine Firma ist natürlich bankrott gegangen.