In Death's Eyes [CodAsu]

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    • Mortem betrachtete Lucas. Er hatte also eine Frau daheim auf ihn warten, ein intaktes Familienleben, wie ihr schien. Irgendetwas war auch in ihm vorgegangen, als sie ihn gerade berührt hatte, aber was genau es war, vermochte sie nicht zu sagen. Eine Handlung aufgrund von einer Erfahrung, wie es ihr schien.
      Als sie damit begann, Interesse zu heucheln, lachte diese Frau schon wieder auf und erntete einen scharfen Blick seitens Mortem. Was war nur mit dieser Frau, dass sie ständig meinte, lachen zu müssen? Scheinbar amüsierte sie sich darüber, was für Fragen gestellt wurden, aber mehr als diesen Gedanken verschwendete Mortem nicht mehr daran. Stattdessen bekam sie endlich ihr Essen sowie den bestellten Kaffee, dessen Duft sich sofort in ihrer Nase festsetzte.
      „Er hat in diesem Punkt recht. Ich kann mich nicht in Menschen hineinversetzen, aber durchaus ableiten, zu welchen Handlungen sie neigen. Andernfalls würde ich wissen, warum du immer wieder so grässlich lachst“, tat sie es mit einem Schulterzucken ab und legte die Hände um die glühend heiße Tasse. Fasziniert besah sie sich der nachtschwarzen Flüssigkeit, die sich nur entfernt warm an ihren Händen anfühlte. „Das erklärt, wieso man dich an meine Fersen gesetzt hat. Es wird immer noch abgewogen, ob ich die Menschen nicht doch ermordet habe.“
      Brav nahm sie ihr neues Handy wieder entgegen, ließ es aber achtlos auf dem Tisch liegen. Ihr Blick sprang zwischen Lucas und der Frau hin und her, als diese irgendeinen Sonderfall nannte, bei dem Mortem lediglich den Kopf schüttelte. Mit solchen Amateuren setzte sich der Tod doch nicht auseinander. Immerhin ging es den Trittbrettfahrern um gänzlich andere Dinge und nicht der ehrenvollen Aufgabe, den Zyklus des Lebens zu Ende zu führen. Der Sachverhalt erschloss sich Mortem ohne Schwierigkeiten, warum Lucas aber plötzlich so weit grinste, dass es sein gesamtes Gesicht verzog, verstand sie nicht. Allgemein schien sie grundsätzlich die Gründe misszuverstehen, warum sich Menschen über Dinge freuten. Angst war so viel leichter abzuleiten und zu verstehen und insbesondere vorher anzusehen. Allerdings mimte sie die mehr oder weniger Interessierte, wobei es andere Angelegenheiten waren, die sie wesentlich spannender empfand.
      „Der Mann fühlte sich eben nicht wohl im Leben, welches er tagsüber führte. Also suchte er sich eine Alternative im Schutze der Nacht und irgendwie muss er ja ausgerechnet auf die Idee gekommen sein, dass es das trocknen von Leichen ist. Also ging es ihm gar nicht um das Töten, sondern vielmehr um den Akt danach? Da hätte er doch auch Tiere nehmen können, aber nein, es mussten Wesen wie er selbst sein…“ Mortem löste die Hände von der Tasse, um den Henkel zu greifen, wobei sie kurz innehielt. Die Innenflächen ihrer Hände waren feuerrot. Kurz rümpfte sie die Nase, als sie sich an die letzten Verbrennungen erinnerte. Das mit dem kaum vorhandenen Schmerzempfinden musste sie wirklich besser im Blick behalten.
      Apropos Blick – dieser ging nun wieder vielsagend zur Frau. „Zusammengefasst bedeutet es, dass Lucas dir übergestellt ist. Du streichelst sein Ego, weil er scheinbar eine gewisse Aufmerksamkeit für diesen Fall bekommen hat und du erhoffst, auch in das Rampenlicht zu kommen, richtig?“ Ihre dunklen Augen richteten sich nun auf Lucas. „Deswegen hast du vor zwei Wochen so ein Gesicht gemacht. Meine Akte ist ein Fall, der dich nicht weiterbringt. Er zieht deine Bilanz herunter und all der Ruhm, den du mit diesem Ripper-Fall geschlagen hast, löst sich durch mich im Nichts auf. Das ist es gewesen.“
      Unentwegt hielt sie ihren Blick auf Lucas gerichtet, als sie ihre Tasse an die Lippen führte und das erste Mal in ihrem Leben Kaffee trank. Die sonst so apart wirkenden Augen weiteten sich und eine wirre Abfolge von Emotionen liefen wie in Zeitraffer über ihr Gesicht ab. Es blieb bei einem anerkennenden Blick, als sie die Tasse wieder auf dem Tisch absetzte. „Da habe ich mir ja wirklich nicht zu viel versprochen. Kaffee ist ja fantastisch.“
      Dann machte sie sich auch schon über ihr Croissant her, als hätte die Unterhaltung zuvor gar nicht stattgefunden. Es befriedigte definitiv den Hunger des Körpers, der sich mit etlichem Gegröhle bemerkbar gemacht hatte, und vielleicht, nur ganz vielleicht, verspürte Mortem bei diesem Frühstück auch etwas, das sich mit Freude übersetzen ließ.
      Zwischen zwei Bisschen krümeligen Criossants, bei dem ihr die Marmelade in den Mundwinkeln kleben blieb, sprach sie weiter. „Ihr könntet Teil eines viel Größeren sein. Helft mir einfach, Vita zu finden. Dann werdet ihr es sein, die Leben und Tod wieder vereint und eine Suche beendet haben, die die Ewigkeit lang bestand hatte.“
    • Diese Frau… sie schien ein Talent dazu zu besitzen, Lucas jedes Mal aufs neue zu überraschen. Und Amber eigentlich auch, die es gar nicht lustig zu finden schien, von einer Verrückten beleidigt zu werden. Darüber hätte er sich wiederum lustig gemacht, wenn Mortem ganz nebensächlich nicht auch noch bemerkt hätte, weshalb gerade er für diesen Fall abgesetzt worden war. Dann wohl lieber nicht. Dieses Talent machte sie gruseliger, als sie ohnehin schon war.
      Zumindest leistete sie einen ziemlich scharfsinnigen Beitrag zu den Beweggründen des Black Rippers, den Lucas nickend zur Kenntnis nahm. Er lehnte sich ein Stück zurück und legte das eine Bein quer aufs andere.
      Kann schon sein. Was es wirklich war, wird allenfalls der Doc wissen. Wir haben ja alle eher auf einen komischen Fetisch getippt. Sowas steckt eher dahinter, wenn man so viel Aufmerksamkeit einer Leiche schenkt.
      “Es ist ja schon fast Leichenschändung, was er betreibt”, fügte Amber hinzu. Mehr zu Lucas, als zu Mortem, gegen die sie wegen ihrer Aussage jetzt vielleicht einen Groll hegte.
      “So viel Aufmerksamkeit, wie er… huh?”
      Amber stutzte und sah auf Mortems Hände hinab, so wie das Mädchen selbst. Lucas folgte ihrem Blick und erinnerte sich schlagartig an Kingsleys Warnung. Das Mädchen hatte kein Gespür für Schmerzen.
      Oh, fuck!
      Mit einem Ruck setzte er sich nach vorne und packte Mortem bei den Handgelenken, wie um sie davon abzuhalten, die Tasse noch einmal anzufassen. Man könnte zwar meinen, dass sie ihre Lektion gelernt hätte, aber die Frau starrte ihre verbrannte Haut viel eher voller Faszination an als mit Reue.
      Wirklich wie ein Kind. Ein Kleinkind durch und durch.
      Schnell riss er ein paar Servietten heraus und legte sie ihr über die roten Handflächen.
      Fass da nicht hin, daran verbrühst du dich! Amber, sieh mal zu, dass du hier irgendwo Eis auftreibst. Scheiße.
      Die Polizistin war etwas überwältigt, sprang aber auf und eilte zum Tresen nach vorne. Von den Angestellten bekam sie ein Glas mit Eiswürfeln ausgehändigt, das sie zurück an den Tisch brachte.
      Leg die Hände hier rum. Mit den Handflächen drauf. So ist’s gut.
      Er führte Mortems Hände zu dem Glas, die Servietten dazwischen, damit sie zu dem Hitzeschock jetzt nicht auch noch einen Kälteschock bekam. Verdrießlich hielt er ihre Hände dort.
      Mach das nicht nochmal, verstanden? Die Tasse ist heiß, das siehst du an dem Dampf, der da oben rauskommt. Du fässt sie nur am Henkel an, haben wir uns da verstanden?
      Jetzt kam doch der Vater in ihm raus, er hatte aber keine Lust, es zurückzuhalten. Diese Frau sollte erwachsen sein und kein Kleinkind! Wenn sie sich so benehmen wollte, würde er sie eben auch so behandeln.
      Als sie keine Anstalten machte, sich noch einmal zu verbrühen, lehnte er sich erst wieder zurück und kniff sich in den Nasenrücken. Das würde ja noch was werden. Sechs ganze Monate…!
      Langsam setzte sich auch Amber wieder und wurde gleich Opfer von Mortems nächster verbaler Attacke. Die galt nun ihrem polizeilichen Stand und war… merkwürdig präzise ausgedrückt. Lucas konnte nicht anders als Amber dabei anzusehen, die Mortem wiederum mit einem Ausdruck von Entsetzen betrachtete. Sollte das etwa heißen, sie hatte mit ihrer Beobachtung ins Schwarze getroffen? Aber Amber war eine seiner liebsten Kolleginnen, sie sah diese ganze Sache doch nicht als Rivalisierung… oder? Lucas konnte es sich nicht vorstellen - nein, er wollte es nicht. Amber war jetzt schon eine langjährige Kollegin und hatte ihn sowohl vor, als auch nach seiner kleinen Beförderung voll unterstützt.
      Doch dann schenkte Mortem auch Lucas ihre Aufmerksamkeit und das - das traf wirklich ins Schwarze. So sehr, dass ihm selbst der Mund offen stehen blieb, während er sie anstarrte. Hatte sie gerade wirklich…? Aber wie hatte sie nur…? Und woher konnte sie…?
      Am Tisch wurde es still. Lucas war zu perplex, um etwas zu erwidern, und Amber schien um Worte zu ringen.
      Mortem störte das alles nicht, sie bekam ihr Croissant geliefert und durfte entdecken, was es außerhalb des Spitals alles für Köstlichkeiten gab. Mit sichtlichem Genuss machte sie sich über die Mahlzeit her.
      Amber räusperte sich irgendwann. Lucas sah sie an und erhielt einen ausweichenden Blick von ihr. Da griff er nach seinem Kaffee und trank ihn leer.
      Gott, was hätte er jetzt nicht alles für ein Bier getan. Aber technisch gesehen war er im Dienst und auch, wenn Amber vermutlich nichts sagen würde, beobachtete sie doch Harvey von irgendwo und der würde das bestimmt weitergeben. Nur brauchte Lucas ganz dringend ein Bier, wenn er noch länger mit Mortem so zusammen verbringen würde.
      Als sie dann wieder von ihren Träumereien anfing, hatte keiner der beiden Beamten wirklich Lust dazu, sich auf ihre Geschichte einzulassen. Es blieb an Lucas hängen, sie zurück zu weisen.
      Wir werden aber erstmal einkaufen gehen. Dann zeigen wir dir, wie man Nudeln macht, ohne sich dabei die Hände oder andere Körperteile zu verbrennen. Morgen geht Amber mit dir ein paar Kleider einkaufen und übermorgen haben wir zwei einen Termin beim Gerichtsmediziner, der sich deine Narbe einmal ansehen soll. Das wird reine Routine sein, nichts außergewöhnliches. Vielleicht wirst du das Ding ja sogar los, das wäre doch nett.
    • Erneut hatte Mortem den Detective falsch eingeschätzt. Sie war sich keiner Schuld bewusst, als sie ihre geröteten Handinnenflächen wohl ein bisschen zu offensichtlich gemustert hatte. Dass Lucas aber sogleich fluchte und ruckartig nach ihren Händen griff, ließ selbst den Tod alarmiert nach hinten zucken. Doch zu spät; er hatte bereits ihre Handgelenke zu fassen bekommen und riss Servietten aus dem Spender, um sie ihr über die Hände zu legen. Die Spannung fiel von Mortems Schultern und interessiert besah sie sich ihrer Hände. Ja, die waren definitiv zu rot für gesunde Haut, gerade mit den Pranken von Lucas im Vergleich dazu.
      „Entspannen Sie sich, Herr Detective“, erwiderte Mortem und womöglich hatte man sich verhört, aber es klang doch sehr nach einer Spur Belustigung in ihrer Stimme. „Der Dampf ist mir durchaus aufgefallen, aber ich hätte nicht gedacht, dass Kaffee so heiß wie Tee zubereitet wird. Mein Fehler, passiert nicht nochmal.“
      Das Eis in dem neuen Behälter, den diese Frau Mortem brachte, fühlte sich kalt an. Ziemlich kalt, aber nicht schmerzhaft kühl. Vermutlich sollte sie im Allgemeinen schon Schwierigkeiten haben, etwas zu greifen, aber nichts davon kam in ihrem Stammhirn an. Es fühlte sich höchstens taub an, als greife sie durch Watte hindurch. Das war alles, was Verletzungen bei ihr auslösten. Auf der einen Seite fühlte sie die Taubheit und die Kälte, auf der anderen Seite war das die Wärme, die Lucas‘ Hände ausstrahlten, die ihre viel kleineren an dem Gefäß hielten. Stimmt, wenn sie es sich recht überlegte, dann hatte man sie in der Einrichtung nur wegen medizinischer Gründe angefasst und sonst nie. Nicht mal ein Klopfen auf die Schulter oder ähnliches hatte es gegeben, sodass sie still wurde, nickte und die Hände betrachtete. Zu sagen, dass sie diese Kontakte vermisst hatte, kam ihr allerdings gar nicht in den Sinn. Der Tod brauchte so etwas schließlich nicht.
      Also versuchte sie am Ende, die Beamten zu bekehren. Mit wenig Erfolg, denn Lucas ging auf ihren Vorschlag gar nicht erst ein. Wie denn auch, wenn man ihr ihre Existenz nicht einmal abnahm? Was hatte sie sich eigentlich bei dem Vorschlag erhofft? Verständnis? Das konnte sie von diesen zwei Fremden nicht erwarten und seufzend realisierte sie ihre eigene Torheit. Früher war es leichter gewesen, die Menschen davon zu überzeugen, ihr zu helfen. Aber damals gab es auch keine Technik, keine Medien, und die Menschen waren allesamt abergläubisch. Manchmal wünschte sie sich diese dunklen Zeiten zurück.
      „Das klingt ja nach einem richtig festen Zeitplan, wie schön. Dann wird einem mit Sicherheit nicht langweilig, allerdings muss ich dich wegen meiner Narbe enttäuschen. Die wird wohl bleiben, wo sie ist. Außerdem ist das nett formuliert… Routine bei einem Gerichtsmediziner… Routine wäre eher ein Allgemeinmediziner oder Facharzt und kein Gerichtsmediziner, aber gut“, sagte Mortem schlicht und schob sich die letzten Stücke des Croissants zufrieden in den Mund.

      Dass Lucas und diese Frau mit Mortem einkaufen gingen war vermutlich eine der besten Ideen, die die Beamten hätten haben können. Nicht nur, dass Mortem absolut kein Gefühl für Werte besaß, darüber hinaus wusste sie nicht ihre Karte zu benutzen, noch wo man überhaupt einkaufen ging. Von dem Ort bis über Artikel des täglichen Gebrauchs und dem Bezahlen musste man ihr erklären, bis sie verstanden hatte, wie es funktionierte. Gedanklich rechnete sie die Summen schon zusammen und stutzte, als sie sich daran zurückerinnerte, dass ihr 200 Dollar im Monat gestellt würden. Bei all den Sachen, die man hier erwerben konnte, reichte das Geld doch vorn und hinten nicht. Wie stellten das bloß die Menschen nur an, damit zurechtzukommen?
      Zurück in der Wohnung begutachtete Mortem die Einkaufstüten, ehe sie sie zusammen mit Lucas und der Frau einräumte. Dabei war die Polizistin es gewesen, die ihr noch Artikel einer besonderen Abteilung in die Hände gedrückt hatte und bei denen Mortem erst beim Auspacken deren Sinn verstand. Im Louis hatte man ihr nur einzelne Binden gereicht und keine ganzen Verpackungen wie hier. Das zu kaufen hätte sie tatsächlich ebenfalls vergessen und nahm das Mitdenken immerhin zur Kenntnis.
      Wie angekündigt ließen die Beiden Mortem nicht aus den Augen, als sie das erste Mal die Küche benutzen sollte. Lucas war schon drauf und dran ihr zu erklären, dass Herdplatten heiß wurden, doch sie fuhr ihm dazwischen und stellte einmal mehr deutlich, dass ihr das sehr wohl bewusst war, sie es manchmal eben einfach nur vergaß. Einmal daran erinnert und schon sollte sich das Problem gelöst haben. Gleiches galt dem kochenden Wasser, das sie für die Nudeln brauchten.
      „Im Prinzip stehen bei den meisten Artikeln auf den Packungen drauf, wie man es zubereitet. Das ist doch simpel“, beschloss Mortem und riss das Glas mit der Tomantensauce an sich, um es erst im dritten Versuch geöffnet zu bekommen und in den kleinen Topf auszuschütten. „Du brauchst mich nicht wie ein Kleinkind zu behandeln, das ist anstrengend. Mir ist vieles nicht bekannt, aber deshalb musst du nicht auf Kleinkindniveau zurückgreifen. Man könnte meinen, du hast selbst Kinder zuhause.“
      Es zischte, als das Nudelwasser überkochte und Mortem es hastig von der Kochfläche zog, bis sich der Schaum wieder abgesenkt hatte. Dann wischte sie mit einem Küchentuch vorsichtig über die Fläche und stellte den Topf zurück.
      „Oh, Moment. Du hast eine Frau zuhause, dann wäre die logische Konsequenz, dass Kinder irgendwann ins Haus stünden, oder nicht? Wie alt bist du? Menschen haben in allen möglichen Altersstufen Kinder; du auch?“
    • Das Einkaufen erwies sich als höchst zeitaufwendige Aktivität. Mortem war so ziemlich verloren im Supermarkt und hatte keine Ahnung, was sie wo anfangen sollte. Zugegeben, es gab auch niemanden, der es ihr hätte beibringen können; das Einkaufen als 14-jährige unterschied sich ganz grundlegend von einem haushälterischen Einkauf. Immerhin waren es jetzt nicht nur Süßigkeiten und Snacks, an die sie denken musste, und selbst Lucas hatte seine Schwierigkeiten, in der richtigen Sparte zu denken. Mortem lebte jetzt alleine in einer ganz leeren Wohnung, sie brauchte für heute Abend etwas zu essen, natürlich, sie brauchte aber auch einen Grundvorrat an allen möglichen Dingen, die man sich sonst sparen konnte. Gewürze, Konserven, Reiniger; der Wagen füllte sich allzu schnell, bis Amber einen zweiten besorgen ging. Der Polizistin war es alleine zu verdanken, dass sie diesen Einkauf einigermaßen regelten, denn Lucas hatte noch niemals nur für sich selbst eingekauft. Lucas dachte in genug Schokolade, Müsli und viel zu viel Brot über seinen Einkauf nach. Das war wohl nichts, was man der alleinstehenden Mortem aufhalsen konnte.
      An der Kasse geriet Mortem in die Verlegenheit, ihre Karte das erste Mal zu benutzen. Es war nicht schwierig, aber sie schien von all den Gerätschaften so sehr in Beanspruchung genommen zu werden, dass ihr die einfachen Dinge schlichtweg entgingen. Amber erklärte es ihr fast schon fürsorglich, während Lucas die Tüten vollstopfte.
      In der Wohnung dann kam die nächste Hürde: Wo kam was hin und wie lange war es haltbar. Manche Sachen durften nur im Kühlschrank gelagert werden, manche Sachen waren draußen okay, manche musste man in den Kühlschrank stellen, sobald sie geöffnet wurden, manche konnten ganz draußen bleiben. Lucas und Amber mühten sich gleichermaßen damit ab, die versäumte Unterrichtsstunde bei der jungen Frau nachzuholen, bis sie sich damit zufrieden gaben, dass Mortem einfach immer alles durchlesen würde. Das gleiche Prozedere stand dann noch einmal bei den Nudeln an, die nun wirklich nicht mehr schwierig waren. Lucas lauerte nur wie ein Geier in der Küche, weil er bereits die Vision hatte, wie Mortem sich umdrehte und sich ausversehen auf der brennenden Herdplatte aufstützte, ohne es mitzubekommen. Ob diese Angst berechtigt war, zeigte sich selbst dann nicht, als sie ihn auf dieses Verhalten aufmerksam machte. Lucas hob abwehrend die Hände in die Luft.
      "Es war nicht meine Absicht, dich wie ein Kind zu behandeln. Mach ruhig. Aber pass auf die Henkel auf, die können trotzdem heiß sein."
      Amber saß derweil am Küchentisch und verband Mortems Handy mit dem WLAN. Mortem hing an dem Gerät noch längst nicht so sehr wie so manche Personen in ihrem Alter und hatte es daher einfach auf dem Tisch liegen gelassen.
      Lucas konnte es sich trotzdem nicht nehmen lassen, Mortems Hände zu beobachten, während sie den Topf vom Herd nahm. Einmal zuckte er schon nach vorne, als das Wasser anstalten machte, über den Rand zu schwappen, besann sich dann aber rechtzeitig. Das würde ja noch was werden. Natürlich machte er sich viel mehr Gedanken dazu als eigentlich nötig wäre, aber immerhin stand sein Name auf der Akte, wenn doch etwas geschehen würde. Sowas musste man ja wohl wirklich nicht provozieren.
      Nachdem das Wasser runtergegangen war, lehnte er sich entspannter gegen den Durchgang zum Wohnzimmer. Die Küche war wirklich zu klein, um dort zu zweit zu hantieren.
      "In allen möglichen Altersstufen?"
      Skeptisch zog er die Augenbrauen hoch. Vielleicht war Mortem was das Nudel kochen anging ja ganz normal, aber an ihrer Ausdrucksweise hatte sich noch nichts geändert.
      "Aber klar, ich habe zwei Mädchen Zuhause. Oder zwei Teufel, je nachdem, wie man es betrachten möchte."
      Er grinste und dabei beließ er das Thema. Seine Familie war nichts, was er geheim halten würde, aber gegenüber Freunden und Kollegen war das etwas anderes als gegenüber einer Verdächtigen. Er konnte zwar nichts dagegen machen, dass sie seinen Nachnamen wusste, aber er musste ihr immerhin nicht alles vor die Nase führen. Selbst wenn sie keine Verdächtige wäre. Immerhin waren sie auch keine Freunde.
      Er sah zu, wie sie Nudeln und Soße vermengte und gratulierte ihr dann ein wenig sarkastisch.
      "Toll gemacht. Jetzt weißt du, wie man Nudeln macht, das geht einfach, schnell und ist billig. Im Internet findest du sicher ein paar Rezepte, die dir schmecken könnten, wenn dir das irgendwann zu langweilig wird. Aber eins nach dem anderen."
      Er ging mit ihr hinaus zu Amber.
      "Vielleicht solltet ihr morgen mal den Bus nehmen und üben, wie man Geld abhebt, dann kannst du ganz unabhängig einkaufen gehen. Ansonsten werden wir uns jetzt verkrümeln."
      Es näherte sich immerhin dem Abend und damit rein faktisch gesehen dem Feierabend, den Lucas damit starten würde, Zuhause mit der Familie zu essen, wie sonst auch. Das war zwar kein Tag, den man als gewöhnlichen Arbeitstag bezeichnen konnte, aber das würde sich einpendeln. Während Amber morgen mit Mortem den Tag verbrachte, würde Lucas zum Beispiel weiteres Kamera-Material durchgehen und seinen ersten Bericht über die junge Frau schreiben. Außerdem hatte er das morgendliche Meeting angesetzt, um sich darüber zu informieren, ob es irgendwelche aufgetretenen Probleme gab. Am Mittwoch wäre Amber dran mit Kamera-Aufzeichnungen und Lucas mit Mortem. So würde sich das in nächster Zeit wohl weiterführen.
      "Wenn du keine Anliegen mehr hast, wünsche ich eine erholsame erste Nacht in deiner eigenen Wohnung. Wenn was ist, schreib uns über Whatsapp. Ihr beiden seht euch morgen und wir beide uns übermorgen, ich komme dich um 9 hier abholen, also sei mir bloß pünktlich. Alles klar? Dann schonmal gute Nacht."
    • Neu

      „Man hat mir immer gesagt, dass Kinder etwas Großartiges seien. Sie bereichern das Leben, ändern Horizonte und so weiter. Aber im Endeffekt ist es doch nur der Erhaltungstrieb der Menschheit, oder nicht? Sonst würde die Art aussterben, wenn sie keine Nachkommen zeugen. Der Lauf der Natur, den jedes Lebewesen so verfolgt.“
      Mortem sah zwar Lucas‘ Grinsen, konnte es aber nicht nachvollziehen. Sie verstand nicht den Reiz hinter kleinen Menschen, die in Abhängigkeit von ihren Eltern lebten und das auch noch für zig Jahre. Für Mortem machte es keinen Unterschied, wie alt diejenigen waren, deren Seelen sie ins Jenseits führte. Im Angesicht des Todes waren sie schließlich alle gleich.
      Also mischte sie die Nudeln mit der Soße, ging nicht auf die Gratulation ein, sondern nahm den Topf und ging mit Lucas zusammen ins Wohnzimmer, wo sie den Topf auf einem Untersetzer abstellte und die Frau ihr über den Tisch das Handy zuschob, nachdem sie was auch immer damit angestellt hatte. Scheinbar war dies irgendein unausgesprochenes Zeichen, aber damit verkündete Lucas, dass er und die Frau für heute von Dannen ziehen würden.
      Und Mortem damit das erste Mal in Freiheit allein wäre.
      „Viel Vergnügen mit eurem Feierabend“, sagte sie beiläufig und fischte mit dem Nudellöffel im Topf herum, um ihren Teller mit Nudeln zu befüllen. „Ich werde mich davor hüten, euch mitten in der Nacht zu kontaktieren und mit Sicherheit nicht auf heiße Herdplatten oder in Steckdosen packen. Alles im Griff.“
      Seelenruhig setzte sich Mortem und begann, in völliger Stille ihre Nudeln zu essen und den Beamten lapidar zu winken, als sie sich verabschiedeten und die Wohnung verließen. Erst, als die Tür ins Schloss gefallen war und Mortem sich sicher, dass sie nun allein war, ließ sie die Gabel sinken und starrte regungslos die Tür an, durch die die beiden Menschen gerade abgezogen waren. Die Stille war greifbar, während sie minutenlang nichts tat außer starren und die Nudeln schon kalt wurden. Irgendwann, ebenfalls wie ein unsichtbares Signal, nahm sie wieder ihr Essen auf.
      Die Nudeln genauso kalt wie sie sich fühlte.

      Eine ganze Weile lang stand Mortem anschließend in der Küche, scheinbar nicht schlüssig, wie sie weitermachen sollte. Sie runzelte die Stirn, so als riefe sie eine gedankliche Liste ab und als sie sich erinnert hatte, wusch sie das dreckige Geschirr brav ab und stellte es zum Trocknen bei Seite. Danach kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, legte sich auf die Couch und zog die Beine an. Ohne ein Wort, stumm und regungslos, verharrte Mortem dort über Stunden. Sie schlief nicht – ihre Augen waren die gesamte Zeit über geöffnet – doch was die junge Frau dort genau tat, konnte wohl nur sie selbst beantworten. Irgendwann löste sie sich aus ihrer Starre; es war schon kurz vor Mitternacht. Das nächste Ziel war ihr Schlafzimmer, wo sie sich ins Bett legte, ohne die Kleider zu wechseln oder sonst etwas zu tun. Dort verblieb sie schließlich bis zum Morgen, wo sie von der Frau aus dem Bett geklingelt wurde, da Mortem nicht wusste, wie man einen Wecker stellte. Oder dass man ihn generell stellte.

      Das Einkaufen mit der Frau erwies sich als reinster Spießrutenlauf. Mortem lernte etliche neue Dinge, angefangen vom Busfahren bis zum Geld abheben und welche Läden Kleidung anboten und wie man die anprobierte und bezahlte. Dabei hatte Mortem keine wirkliche Meinung, sie kauften am Ende das, was die Frau an ihr als passend erachtete. Ihre Ausdruckslosigkeit machte er der Frau nicht unbedingt leichter, das wusste Mortem, aber egal wohin ihr Blick in dieser belebten Straße ging, sie fühlte den Sog zu den Menschen, die sie brauchten. Immer wieder blieb sie stehen, wenn jemand an ihr vorbei ging, der diesen kalten Schatten hinter sich herzog und bald darin verschwinden würde. Dann wollte sie kehrt machen, dem Menschen folgen und ihm beistehen, doch die Frau hielt sie jedes Mal davon ab. Immer wieder musste Mortem gegen den Zwang bestehen, einfach fortzulaufen. Doch sie wusste, dass dies ihre Erfolgschancen massiv mindern würde. Als musste sie weiter aushalten – bis man ihr keinen Babysitter mehr zur Seite stellen würde.

      Am nächsten Tag hatte die Frau Mortem vorher erklärt, wie man einen Wecker stellte. Folglich war sie wie gewünscht fertig, als Lucas erschien und sie von ihrer Wohnung abholte. Die Kleidung, die sie trug, war ein zusammengewürfeltes Chaos aus den Sachen, die sie gestern zusammen mit der Frau gekauft hatte, und das Frühstück hatte sie ebenfalls liegen gelassen. Diese Abläufe waren noch nicht so fest integriert, als dass sie sie einfach ausgeführt hätte. Nur das Brummen ihres Magens erinnerte sie schließlich während der Fahrt, dass sie vielleicht doch etwas hätte essen sollen und bekehrte den Beamten damit, bei einer Bäckerei zu halten, um den knurrenden Magen Mortems endlich auszuschalten.
      Während er Fahrt schwieg Mortem zu großen Teilen. Immerhin war sie damit beschäftigt, nicht den Kurven zu erliegen und den wertvollen Mageninhalt nicht wieder preiszugeben, nachdem sie erfahren hatte, was Schokocroissants waren. Mehrfach stand sie kurz davor, doch als sie endlich vor einem großen Gebäude anhielten und der Wagen stillstand, beruhigte sich ihr Magen wieder und sie konnten ohne Zwischenfall den Termin mit dem Gerichtsmediziner wahrnehmen.
      Der Mann, der Mortem begutachten sollte, war schon älteren Semesters. Er stellte sich mit seinem Namen vor, den Mortem die Sekunde darauf schon wieder vergessen hatte, und unterhielt sich kurz mit Lucas. Offensichtlich war er hier schon bekannt - was durchaus Sinn ergab, wenn hier Opfer von Gewalt auch untersucht wurden. Dachte man, sie wäre etwa Opfer einer solchen Tat geworden? Nur wegen der Narbe an ihrem Bauch?
      Sie wurden in ein kleines Zimmer geführt, das weiß gefliest und mit einer Liege sowie einigen medizinischen Geräten ausgestattet worden war, die Mortem nicht kannte. Sie nahm auf der Liege Platz, während man ihr die Anweisung gab, sich freizumachen. Ohne zu zögern zog sich Mortem ihr Oberteil über den Kopf und war schon dabei, ihren BH zu öffnen, als der Rechtsmediziner hastig eingriff und meinte, mehr als das müsse sie vorerst nicht ausziehen. Resigniert ließ Mortem daraufhin die Arme hängen, unter skeptischer Blicke des Mediziners. „Haben Sie keinerlei Schwierigkeiten damit, sich vor Fremden zu entkleiden?“
      „Nein? Wieso auch? Die Form mag vielleicht variieren, aber an sich weisen weibliche Körper immer die gleichen Merkmale auf.“
      Wieder skeptische Blicke des Mediziners. Fragende Blicke zum Detective. Dann machte sich der Arzt an die Untersuchung ihres Körpers, insbesondere der gigantischen Narbe ihres Bauches.

      „Wir sehen solche Wunden für gewöhnlich nur nach großen Bauchraumoperationen. Beispielsweise, bei Blinddarmdurchbrüchen oder ähnliches. Soweit ich das den Unterlagen entnehmen kann, ist sie darauf allerdings gar nicht untersucht worden. Ungewöhnlich sind hier allerdings die Klammern ohne Nähte. Selbst bei so großen Operationen wird die Wunde genäht und dann zusätzlich manchmal geklammert. Eine so ausgeführte Klammerung sehen wir eigentlich nur nach Obduktionen von Leichen…“ Er machte eine Pause und musterte Mortem, die wieder angekleidet, aber absolut unbeeindruckt auf der Liege saß. „Sie sagen, Sie können sich nicht daran erinnern, wieso Sie diese Narbe haben? Oder woher Sie eigentlich kommen?“
      „Weder das eine noch das andere. Ich bin in diesem Körper erwacht mitten in der Nacht auf einer Straße. Zu dem Zeitpunkt war die Wunde schon zugefügt, aber ich bemerkte sie erst deutlich später. Kein Schmerzempfinden, Sie wissen schon.“
      Der Arzt sah Mortem eine Weile sprachlos an, dann wandte er sich an Lucas. „Sie sagten, sie trug einen Kittel als man sie fand. Das alles würde dafür sprechen, dass sie aus einem Krankenhaus geflohen ist, aber mit so einer Wunde ist das eigentlich nicht denkbar. Außerdem müsste es Berichte geben, wenn eine Patientin verschwunden ist. Ich stelle also die Vermutung an, dass sie nicht aus einem Krankenhaus geflohen ist, sondern möglicherweise… aus einem Bestattungsunternehmen?“
      „Sie meinen dort, wo die Toten ihre letzte Ruhe finden sollen? Wie überaus praktisch“, frohlockte Mortem plötzlich so überraschend begleitet von einem leichten Schmunzeln, dass es den Arzt schon wieder aus seiner Bahn warf. Offensichtlich kam er besser mit verstört traumatisierten Opfern klar als mit dissoziierten Persönlichkeiten. „Das wäre doch eine passende Geschichte zu meinem Fall!“
      „An Ihrer Stelle würde ich mich darüber auch nicht unbedingt freuen. Immerhin bedeutet dies fragwürdige Umstände Ihrer Herkunft…“ Er schüttelte leicht den Kopf, scheinbar fassungslos über Mortems Verhalten. „Ansonsten sieht es nicht danach aus, als wenn sie Gewalt erfahren hat. Außer den Stellen, die sie sich laut Berichten selbst Schaden zugefügt hat, versteht sich.“