Julie
(Los Angeles)
Den Anblick würde Julie in ihrem Leben nicht mehr vergessen. Diese blasse Haut, blutunterlaufenen Augen und ein starrer Ausdruck, der nicht vermuten ließ, dass sich in diesem fast regungslosen Körper noch eine Seele befand. Es war merkwürdig. Der Tod stand ihnen ins Gesicht geschrieben und doch konnten die Geräte Lebenszeichen vernehmen. Wenn Krankheiten plötzlich auftauchten und sich so rasant vermehrten, brach im Krankenhaus meist eine Panik aus, die die Masse erst Tage später erreichte. Alle versuchten auf einmal herauszufinden, was der Auslöser war, niemand schien mehr zu schlafen oder zu essen. Seit zwei Tagen hatten die Schwestern ihre Schichten nicht mehr beenden dürfen und das nicht, weil es so viel Arbeit gab, nein. Sie standen unter Quarantäne. Kümmern mussten sie sich um diese leblosen Wesen kaum. Sie lagen allesamt auf der Intensivstation, fast stündlich kamen Dutzende hinzu und es war nur eine Frage der Zeit, bis man in den Medien von der nächsten Pandemie zu hören bekam. Julie's Freund wartete auf Antworten, seit sie sich zuletzt gesehen hatten und ihre Tochter konnte glücklicherweise noch nicht verstehen, was los war.
Gerade entfernte sie sich den Schutzanzug, um nach zu vielen Stunden langweiliger Kontrollen eine Pause einzulegen, vielleicht ein wenig Schlaf nachzuholen, da hörte sie bereits ihren Pager wieder. Vor ihrer Nase rannte ein Arzt rücksichtslos vorbei und sie ließ das kleine Gerät vor Schreck beinahe fallen. Die Rothaarige murmelte genervt in sich hinein, bevor sie die Station checkte und sich in schnellem Schritt auf den Weg machte. Sie ahnte, was sie erwarten würde. Neue Patienten, die an Maschinen angeschlossen werden sollten. Irgendwie schien kein Ende mehr in Sicht zu sein. Glücklicherweise war sie nach all den Jahren schon immun gegenüber der Panik geworden, sich mit irgendetwas anzustecken. Als Krankenschwester entwickelte man wohl so etwas wie Superabwehrzellen und darauf ruhte sie sich definitiv aus, denn als sie den Behandlungsraum betrat, zog sie sich erst im Hineingehen den Mundschutz an. Zwei schnelle Handbewegungen und ein abgelenkter Blick. Das war es, was sie beinahe in eine unbewusst fatale Situation brachte. In der Sekunde, in der sie die Hände wieder frei hatte, streckte sie diese nach vorne aus und hielt ein gurgelndes, ächzendes Kind auf, dass geradewegs auf sie zulief. Langsam und doch zielsicher. Julie kniete sich beinahe zu dem Mädchen herunter, um sie genauer zu betrachten und herauszufinden, was ihr fehlte, aber das war ihr mit einem schnellen Blick nach unten bereits klar. Sie war blass, fast violett, und der Blick, als befände sie sich in einem Wachkoma. Etwas überfordert hielt sie die Arme weiter ausgestreckt, bis das Kind auf einmal nach ihr schnappte. Da zog ein Pfleger sie von hinten weg. Julie's Blick wanderte nach oben. In diesem Zimmer befanden sich drei weitere Patienten, allesamt von dem unbekannten Virus befallen, was selbst ein ungeschultes Auge erkennen konnte, nur stimmte etwas nicht. Sie lagen nicht bloß regungslos da. Ihre Köpfe bewegten sich in unnatürlichen, zuckenden Bewegung und es dauerte nicht lange, bis sie sich von den Krankenbetten erhoben und mit seltsam zielgerichteten Blicken auf das Krankenpersonal zusteuerten.
"Seit wann machen sie das?", fragte Julie gestresst, während sie simultan mit ihren Kollegen einige Schritte rückwärts Richtung Tür tat.
"Seit… etwa fünf Minuten? Irgendwas stimmt nicht, ich habe schon drei Mal Dr. Collin angepaged", kam es unter der Maske einer Kollegin hervor. Dr. Collin war heute zuständige Oberärztin in der Ambulanz. Wenn Julie nicht alles täuschte, hatte sie diese vor kurzem auf der Intensivstation gesehen. Sie ging ein paar Schritte aus dem Raum und sah sich um, aber kein Arzt war in Sicht. Merkwürdig, dabei war vorhin erst einer an ihr vorbei in ihre Richtung gestürmt. Als ihr Blick weiter schweifte, kam auf einmal ein ohrenbetäubendes Kreischen aus der anderen Richtung und ließ sie ihren Kopf herumreißen. Julie's Augen weiteten sich. Ein Patient… grub seine Zähne in eine Frau im nebenstehenden Bett. Sie musste nicht nachdenken, um sofort hin zu laufen. Sie packte den Patienten und versuchte ihn, wegzuziehen, da drehte dessen Kopf sich plötzlich langsam in ihre Richtung und ließ sie erschaudern. Im Blick dieses Mannes lag nichts als Leere und aus seinem Mund tropfte das Blut der Frau, die nur mehr schreiend in ihrem Bett lag und langsam aber sicher mehr gurgelnde Geräusche von sich gab. Julie ließ den Patienten unvermittelt los und machte einen Ausfallschritt nach hinten, da versuchten zwei andere Kollegen die Lage zu kontrollieren. Irgendjemand musste ihr so langsam mal erklären, was hier vor sich ging…
Nach einem letzten schockierten Blick auf die Situation drehte sie um und lief durch die Ambulanz. Erster Schritt: Einen Arzt finden, der Anweisungen geben konnte und das panische Personal beruhigte. Danach konnte sie weiterdenken. Dachte sie zumindest. Bevor sie sich versah, ertönten um sie herum noch mehr Schreie und ineinander untergehende Konversationen verwirrter Menschen. Sie drehte den Kopf. Hier überfiel ein Patient den anderen, dort der nächste. Hatten alle den Verstand verloren?! Als sie plötzlich von hinten gefasst wurde, entglitt ihr selbst ein erschrockener Ausruf und sie schüttelte mit aller Kraft die Frau ab, die mit offenem Mund hinter ihr stand. Sie taumelte ein paar Schritte, dann lief sie. Einfach nur weg. Raus aus diesem Chaos, an die frische Luft, egal wohin. Sie brauchte einen Moment, um das alles zu verdauen und ehrlich gesagt konnte sie sich Schöneres vorstellen, als jemals wieder einen Fuß in dieses Gebäude zu setzen.
Als sie vor dem Haupteingang zu stehen kam und verschnaufte, musste sie mit Erschrecken bemerken, dass einige dieselbe Idee hatten wie sie. Links und rechts rannten die Leute vorbei zu ihren Autos, manche so blutverschmiert, dass Julie sich fragte, ob sie aus einem Horrorfilm entsprungen waren. Sie warf einen erneuten Blick zurück ins Krankenhaus. Dort drin herrschte eine Art Krieg. Menschen lagerten übereinander, versuchten wildgewordenen Patienten von anderen herunterzuziehen und wurden dabei selbst verletzt. Und dann sah sie etwas, dass ihr Herz fast still stehen ließ. Die Frau, die sie versucht hatte, zu retten… Sie rannte in langsamem, taumelnden Gang aus dem Gebäude heraus, die Bewegungen mit jedem Schritt immer unsicherer, bis sie nicht weit von ihr entfernt auf dem Boden zusammenbrach. Instinktiv machte Julie einige Schritte zu ihr, wollte ihr hoch helfen und sie mit zu ihrem Auto nehmen. Vielleicht in ein anderes Krankenhaus fahren und die Bisswunde behandeln lassen, bevor sie sich beide in eine Psychiatrie einwiesen ließ. Da nahm ihre Haut eine ungesunde Farbe an. Es ging schneller, als die letzten Tage. Julie meinte zu erkennen, wie die Frau ihr einen hilfesuchenden Blick zuwarf, bevor ihre Augen erstarrten. Dann erhob sie sich langsam in einer Weise, die vermuten ließ, dass sie ihre Gliedmaßen einrenken wollte, und fixierte die Rothaarige.
In hilfloser Verwirrung entschied Julie sich um und lief in einem Tempo über die Parkplätze, mit dem sie einen Marathon gewinnen könnte. Dass neben ihrem grünen Kia gerade eine Autotüre aufgerissen wurde, von jemandem, der wohl versuchte, seinem Beifahrer zu entkommen, hatte sie nicht erwartet. Schön, also zufuß. Bloß weg von diesem Höllenloch. Sie hatte zwar ein schlechtes Gewissen, die anderen sich selbst zu überlassen, allerdings schaltete gerade lautstark ihr Überlebenssinn sein. Sie würde keine Sekunde länger hier bleiben. Also lief sie die Straße hinunter.
(Los Angeles)
Den Anblick würde Julie in ihrem Leben nicht mehr vergessen. Diese blasse Haut, blutunterlaufenen Augen und ein starrer Ausdruck, der nicht vermuten ließ, dass sich in diesem fast regungslosen Körper noch eine Seele befand. Es war merkwürdig. Der Tod stand ihnen ins Gesicht geschrieben und doch konnten die Geräte Lebenszeichen vernehmen. Wenn Krankheiten plötzlich auftauchten und sich so rasant vermehrten, brach im Krankenhaus meist eine Panik aus, die die Masse erst Tage später erreichte. Alle versuchten auf einmal herauszufinden, was der Auslöser war, niemand schien mehr zu schlafen oder zu essen. Seit zwei Tagen hatten die Schwestern ihre Schichten nicht mehr beenden dürfen und das nicht, weil es so viel Arbeit gab, nein. Sie standen unter Quarantäne. Kümmern mussten sie sich um diese leblosen Wesen kaum. Sie lagen allesamt auf der Intensivstation, fast stündlich kamen Dutzende hinzu und es war nur eine Frage der Zeit, bis man in den Medien von der nächsten Pandemie zu hören bekam. Julie's Freund wartete auf Antworten, seit sie sich zuletzt gesehen hatten und ihre Tochter konnte glücklicherweise noch nicht verstehen, was los war.
Gerade entfernte sie sich den Schutzanzug, um nach zu vielen Stunden langweiliger Kontrollen eine Pause einzulegen, vielleicht ein wenig Schlaf nachzuholen, da hörte sie bereits ihren Pager wieder. Vor ihrer Nase rannte ein Arzt rücksichtslos vorbei und sie ließ das kleine Gerät vor Schreck beinahe fallen. Die Rothaarige murmelte genervt in sich hinein, bevor sie die Station checkte und sich in schnellem Schritt auf den Weg machte. Sie ahnte, was sie erwarten würde. Neue Patienten, die an Maschinen angeschlossen werden sollten. Irgendwie schien kein Ende mehr in Sicht zu sein. Glücklicherweise war sie nach all den Jahren schon immun gegenüber der Panik geworden, sich mit irgendetwas anzustecken. Als Krankenschwester entwickelte man wohl so etwas wie Superabwehrzellen und darauf ruhte sie sich definitiv aus, denn als sie den Behandlungsraum betrat, zog sie sich erst im Hineingehen den Mundschutz an. Zwei schnelle Handbewegungen und ein abgelenkter Blick. Das war es, was sie beinahe in eine unbewusst fatale Situation brachte. In der Sekunde, in der sie die Hände wieder frei hatte, streckte sie diese nach vorne aus und hielt ein gurgelndes, ächzendes Kind auf, dass geradewegs auf sie zulief. Langsam und doch zielsicher. Julie kniete sich beinahe zu dem Mädchen herunter, um sie genauer zu betrachten und herauszufinden, was ihr fehlte, aber das war ihr mit einem schnellen Blick nach unten bereits klar. Sie war blass, fast violett, und der Blick, als befände sie sich in einem Wachkoma. Etwas überfordert hielt sie die Arme weiter ausgestreckt, bis das Kind auf einmal nach ihr schnappte. Da zog ein Pfleger sie von hinten weg. Julie's Blick wanderte nach oben. In diesem Zimmer befanden sich drei weitere Patienten, allesamt von dem unbekannten Virus befallen, was selbst ein ungeschultes Auge erkennen konnte, nur stimmte etwas nicht. Sie lagen nicht bloß regungslos da. Ihre Köpfe bewegten sich in unnatürlichen, zuckenden Bewegung und es dauerte nicht lange, bis sie sich von den Krankenbetten erhoben und mit seltsam zielgerichteten Blicken auf das Krankenpersonal zusteuerten.
"Seit wann machen sie das?", fragte Julie gestresst, während sie simultan mit ihren Kollegen einige Schritte rückwärts Richtung Tür tat.
"Seit… etwa fünf Minuten? Irgendwas stimmt nicht, ich habe schon drei Mal Dr. Collin angepaged", kam es unter der Maske einer Kollegin hervor. Dr. Collin war heute zuständige Oberärztin in der Ambulanz. Wenn Julie nicht alles täuschte, hatte sie diese vor kurzem auf der Intensivstation gesehen. Sie ging ein paar Schritte aus dem Raum und sah sich um, aber kein Arzt war in Sicht. Merkwürdig, dabei war vorhin erst einer an ihr vorbei in ihre Richtung gestürmt. Als ihr Blick weiter schweifte, kam auf einmal ein ohrenbetäubendes Kreischen aus der anderen Richtung und ließ sie ihren Kopf herumreißen. Julie's Augen weiteten sich. Ein Patient… grub seine Zähne in eine Frau im nebenstehenden Bett. Sie musste nicht nachdenken, um sofort hin zu laufen. Sie packte den Patienten und versuchte ihn, wegzuziehen, da drehte dessen Kopf sich plötzlich langsam in ihre Richtung und ließ sie erschaudern. Im Blick dieses Mannes lag nichts als Leere und aus seinem Mund tropfte das Blut der Frau, die nur mehr schreiend in ihrem Bett lag und langsam aber sicher mehr gurgelnde Geräusche von sich gab. Julie ließ den Patienten unvermittelt los und machte einen Ausfallschritt nach hinten, da versuchten zwei andere Kollegen die Lage zu kontrollieren. Irgendjemand musste ihr so langsam mal erklären, was hier vor sich ging…
Nach einem letzten schockierten Blick auf die Situation drehte sie um und lief durch die Ambulanz. Erster Schritt: Einen Arzt finden, der Anweisungen geben konnte und das panische Personal beruhigte. Danach konnte sie weiterdenken. Dachte sie zumindest. Bevor sie sich versah, ertönten um sie herum noch mehr Schreie und ineinander untergehende Konversationen verwirrter Menschen. Sie drehte den Kopf. Hier überfiel ein Patient den anderen, dort der nächste. Hatten alle den Verstand verloren?! Als sie plötzlich von hinten gefasst wurde, entglitt ihr selbst ein erschrockener Ausruf und sie schüttelte mit aller Kraft die Frau ab, die mit offenem Mund hinter ihr stand. Sie taumelte ein paar Schritte, dann lief sie. Einfach nur weg. Raus aus diesem Chaos, an die frische Luft, egal wohin. Sie brauchte einen Moment, um das alles zu verdauen und ehrlich gesagt konnte sie sich Schöneres vorstellen, als jemals wieder einen Fuß in dieses Gebäude zu setzen.
Als sie vor dem Haupteingang zu stehen kam und verschnaufte, musste sie mit Erschrecken bemerken, dass einige dieselbe Idee hatten wie sie. Links und rechts rannten die Leute vorbei zu ihren Autos, manche so blutverschmiert, dass Julie sich fragte, ob sie aus einem Horrorfilm entsprungen waren. Sie warf einen erneuten Blick zurück ins Krankenhaus. Dort drin herrschte eine Art Krieg. Menschen lagerten übereinander, versuchten wildgewordenen Patienten von anderen herunterzuziehen und wurden dabei selbst verletzt. Und dann sah sie etwas, dass ihr Herz fast still stehen ließ. Die Frau, die sie versucht hatte, zu retten… Sie rannte in langsamem, taumelnden Gang aus dem Gebäude heraus, die Bewegungen mit jedem Schritt immer unsicherer, bis sie nicht weit von ihr entfernt auf dem Boden zusammenbrach. Instinktiv machte Julie einige Schritte zu ihr, wollte ihr hoch helfen und sie mit zu ihrem Auto nehmen. Vielleicht in ein anderes Krankenhaus fahren und die Bisswunde behandeln lassen, bevor sie sich beide in eine Psychiatrie einwiesen ließ. Da nahm ihre Haut eine ungesunde Farbe an. Es ging schneller, als die letzten Tage. Julie meinte zu erkennen, wie die Frau ihr einen hilfesuchenden Blick zuwarf, bevor ihre Augen erstarrten. Dann erhob sie sich langsam in einer Weise, die vermuten ließ, dass sie ihre Gliedmaßen einrenken wollte, und fixierte die Rothaarige.
In hilfloser Verwirrung entschied Julie sich um und lief in einem Tempo über die Parkplätze, mit dem sie einen Marathon gewinnen könnte. Dass neben ihrem grünen Kia gerade eine Autotüre aufgerissen wurde, von jemandem, der wohl versuchte, seinem Beifahrer zu entkommen, hatte sie nicht erwartet. Schön, also zufuß. Bloß weg von diesem Höllenloch. Sie hatte zwar ein schlechtes Gewissen, die anderen sich selbst zu überlassen, allerdings schaltete gerade lautstark ihr Überlebenssinn sein. Sie würde keine Sekunde länger hier bleiben. Also lief sie die Straße hinunter.
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