One of the Last (Codren & Nordlicht)

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    • Die Sonne kitzelte auf der Nasenspitze, schien in ihrer vollen Kraft herab auf den fruchtbaren Boden. Die Feldarbeit war manchmal beschwerlich für die jungen Frauen, die tapfer durchhielten, an jedem einzelnen Tag, der verging. Das Bauernleben... es war... erfüllend. Zweifellos. Die Tiere, das freundliche Miteinander all derer, die an der Arbeit beteiligt waren. Alle Menschen, die man tagtäglich zu Gesicht bekam, gerne einen schönen Morgen und eine gute Nacht wünschte. Die Tiere, die Verbundenheit zur Natur. Es gab viel positives über das Bauernleben zu erzählen. Doch Edda strebte seit vielen Jahren nach mehr. Seit gut zwei Jahren lag ihr Vater Gerrit ihr damit in den Ohren, sich doch für einen der heiratsfähigen Bewerber zu entscheiden. Es waren gute und stattliche Männer unter ihnen. Durchaus Männer, für die man sich auch ohne den Druck im Nacken entscheiden würde. Männer, die Land besaßen, wohlhabend waren und augenscheinlich auch keine Trunkenbolde, die jedes Gasthaus von innen kannten. Doch Edda war niemand, die sich Hals über Kopf in eine Ehe stürzte. Sie wollte eigentlich überhaupt nicht heiraten. Sie fühlte sich in keiner Weise bereit dazu, auch wenn es für ihren Vater pure Erleichterung bedeuten würde, endlich den passenden Mann an ihrer Seite zu wissen.
      Kartoffel für Kartoffel wurde samt Wurzel aus der Erde gerissen. Die Schweißperlen rannen wie Wassertropfen an einem regnerischen Tag an den rosigen Wangen der jungen Frau herab, die sich immer wieder die Stirn mit ihrem Arm trocken rieb. Das Haar zu einem Zopf zusammengebunden, fielen ihr dennoch immer wieder ein paar Haarsträhnen ins Gesicht, die sie fortblies. Wieder und wieder und wieder. Beugen, aufrichten, ab in den Korb damit und weiter ging es. Solange, bis der Korb randvoll mit frisch geernteten Kartoffeln war. Als so auch das letzte prachtvolle Exemplar seinen Weg zu den anderen gefunden hatte, atmete die junge Frau erstmal einen großen Luftzug ein und ließ ihren Blick über das Feld schweifen. Die Ernte in diesem Jahr lief überraschend gut. Das war erfreulich, durchaus.
      Schon als die Kutsche noch gar nicht zu sehen war, hörte man das Galoppieren des Warmbluts in der Ferne. Es war Gerrit, der gerade aus der Stadt kam. Er hatte ein paar Besorgungen erledigt. Mit dem Korb in den Händen ging Edda lächelnd auf ihren Vater zu. Corinne, ihre jüngere Schwester, bereitete derweil das Essen zu.
      "Hallo Vater, schön dich zu sehen. Hast du alles bekommen?"
      "Ja, natürlich. Die Ernte dieses Jahr ist fantastisch, nicht wahr?", sagte er bei einem stolzen Blick über sein Land, bevor er sich kurz darauf von der Kutsche schwang, das Kaltblut von seinem Zaumzeug befreite und eine große Tasche aus Stoff zum Bauernhaus trug, in dem sie lebten. Es war ein geräumiges Haus, welches stets ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Es standen immerzu blühende Blumen auf dem Tisch. Das war den beiden Mädchen wichtig. Und auch sonst wurde das Haus gepflegt wie ein Schatz. Stets die Betten frisch bezogen, der Boden gefegt, und pünktlich zur Mittagszeit roch es nach gutem Essen, welches die Mägen bisher immer gefüllt hatte. Vater und Tochter betraten die Stube.
      "Ihr seid gerade zur rechten Zeit gekommen", merkte Corinne lächelnd an, die den köstlich duftenden Eintopf zubereitete. Sie war eine hervorragende Köchin, was man von Edda nicht unbedingt behaupten konnte. Ihre Stärke war das Nähen. Und an machen Tagen erfüllte sie die Herzen ihrer Familie mit ihrem Fidel-Spiel.
      "Das duftet wunderbar, Corinne", sagte Edda voller Vorfreude, denn ihr Magen knurrte bereits seit einer ganzen Weile.
      Die Familie setzte sich an den Tisch. Bei dem gemeinsamen Essen hatten sie sich jeden Tag etwas zu erzählen. Manches behielten die Mädchen aber für sich. Ihr Vater war ein herzensguter Mensch, doch er hatte seine ganz eigenen Ansichten, war ein Sturkopf und manchmal, nun... da war er nicht ganz er selbst, wenn er einen über den Durst getrunken hatte. Er war ein fürsorglicher Vater, wollte nur das Beste für seine Töchter. Doch das Leben hatte ihm das einst Wertvollste genommen, was er besaß. Den Verlust seiner geliebten Ehefrau hatte er nie wirklich verarbeiten können, auch wenn ihr Tod schon fünfzehn Jahre in der Vergangenheit lag. Die Zeit hatte seine Wunden nicht geheilt. Corinne kannte ihre Mutter nur aus Erzählungen. Und Edda? Ihre Erinnerungen waren wie ein dichter Schleier, der über die Jahre nur noch undurchsichtiger wurde. Die wenigen schemenhaften Erinnerungen an ihre Mutter waren fast gänzlich verblasst. Sie war drei Jahre alt, als ihre Mutter bei der Geburt von Corinne starb. Doch an den Klang ihrer Stimme konnte sie sich überraschenderweise erinnern. Und auch an den Abend, als ihre Mutter auf der Fidel spielte. Diese Leidenschaft teilte Edda mit voller Inbrunst.
      Der Tag neigte sich allmählich dem Ende zu. Während Corinne sich noch um die Tiere kümmerte, und auch die letzte Kuh sicher in die mit frisch ausgelegtem Heu gefüllte Scheune beförderte, stand Edda am Brunnen. Es wehte eine leichte Brise und ließ ihr offenes Haar tanzen. Sie kurbelte den Emer aus dem metertiefen Brunnen nach oben. Dabei schaute sie sich um. Und da... wer war das? Fasco, der Hofhund, war bereits in Alarmbereitschaft. Mit wachen Augen stand der große, kräftige Hütehund mit dem braun-weißen Fell da. Eine imposante Erscheinung, doch in Wirklichkeit zart wie ein frommes Lamm. Trotzdem traute sich so schnell niemand, den Hof unbefugt zu betreten.

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.

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    • Der Sommer war unlängst in Estos eingetroffen und schwängerte die Luft mit dem süßen Geruch blühender Pflanzen und dem lebhaften Zwitschern der Vögel. Estos war ein schönes Land, sowohl zur Sommerzeit, als auch im Winter, wenn die weiten Felder und Wiesen unter einer dicken Schneeschicht schlummerten und eine fahle Sonne die ganze Landschaft zum Glitzern brachte. Im Frühling waren es die auftauenden Bäche und das sanfte Tropfen des Taus auf den schmelzenden Schnee, im Herbst war es die bunte Vielfalt der Laubblätter, die die Umgebung mit Farbe sprenkelten. Estos war wahrlich für jede Jahreszeit geschaffen, ein Land für Träumer, in dem man nur vor die Tür gehen musste, um sich vom Spektakel der Natur unterhalten zu lassen. Kein Wunder, dass es in Estos so viele begeisterte Künstler und Dichter gab, wenn man sich von der eigenen Umgebung so leicht inspirieren lassen konnte.
      Nur schade, dass Aiden keinen zweiten Winter erleben würde. Oder einen zweiten Sommer. Vielleicht schon gar keinen Herbst. Estos mochte wunderschön und inspirierend sein, doch für ihn hielt es nur seine Schattenseiten bereit.

      Auf die Entfernung sah der einzig in Estos verbliebene Asteiner aus wie ein beliebiger Mann: Er trug eine dunkel gegerbte, dünne Jacke, wie sie heutzutage, fast ein Jahr nach dem Krieg, weit verbreitet war, dazu eine Hose, die sich von zu vielem Waschen und Tragen an den Rändern schon löste, und leichte Schuhe zum Schnüren. Seine Haare waren ungekämmt und ungepflegt, das stufte ihn in der Arbeiterklasse ein, womöglich in einem Beruf, den er zumeist draußen verbrachte. Seine Haltung war ein wenig gekrümmt und zudem auch noch ein wenig schief - ungesund schief sogar. Aber auch das war die Eigenschaft eines beliebigen Mannes, der den lieben langen Tag damit verbrachte, auf dem Feld zu schuften oder etwa einem Handwerk nachzugehen. Ja wirklich, auf die Entfernung sah Aiden aus wie ein gewöhnlicher, wenn auch ärmlicher Ester.
      Nur beim näheren und aufmerksameren Hinsehen entdeckte man Anzeichen, die sonderbarer wirkten. Da war zum Beispiel die Tatsache, dass seine Hände weder auffällig schmutzig, noch schwielig waren, so wie man es von einem Arbeiter vermutet hätte. Aiden war außerdem schlank und an der Hüfte sogar ein wenig zu dürr geraten, noch ein Gegensatz zu seiner vermeintlichen Berufung, bei der er unweigerlich Muskelschmalz aufgebaut hätte. Und schlussendlich war da noch sein Gang, ein Hinken, das auf ein schwaches Bein zurückzuführen war, wäre es nicht so schwerfällig. Aiden bewegte sich nicht mit der Last eines verletzten Beines, er bewegte sich mit der Last eines ganzen Lebens, das ihn niederzudrücken versuchte - aber dabei war es überraschenderweise das Bein, das nur ganz kurz auftreten konnte, bevor das Gewicht zu viel wurde, das ihn immer und immer wieder aus der Schwerfälligkeit zurückholte. Ohne das Bein, ohne das Schlingern auf eine Seite, das in den letzten Tagen gefährlich weit ausholte, würde der Trott seines eigenen Marsches ihn in die Knie zwingen. Aber so war es etwas anderes: Schritt, schlenkern, wieder aufrichten, Schritt, schlenkern, wieder aufrichten, und immer so weiter. Das Bein schien seine Rettung zu sein - vielleicht war es das auch. Vielleicht war ihm das merkwürdige Schicksal des Retters zugeschrieben worden.
      Das waren alles Dinge, die einem beim näheren Hinsehen auffallen konnten. Und dann, wenn man nahe genug heran kam, konnte man natürlich das Wabern in seinen Augen erkennen, wie ein Alarmsignal, das alle auf Abstand halten sollte. Es war unwirklich, befremdlich, unmenschlich; alles Dinge, die Aiden schon selbst von Priestern gehört hatte, deren Predigten er bei seinem Weg durch Estos über den Weg gelaufen war. Unwirklich, befremdlich, aber vor allem unmenschlich. Ja, wenn man das über seine eigene Herkunft hörte, dann kam einem Estos doch nicht mehr so schön und inspirierend vor, egal wie nett die Natur auch sein mochte. Dann war es eher wie eine Todesfalle, die eines Tages unweigerlich über ihm zuschnappen würde.

      Aber die Menschen waren es nicht, weshalb Aiden einen zweiten Winter nicht überleben würde. Nein, es war das Bein, das ihn bei seiner Strandung an der Küste von Estos noch ins Inland getragen hatte, nur um dann in einer schicksalhaften Nacht seinen Dienst aufzugeben. Seitdem konnte er nicht rennen und er konnte manchmal auch nicht gehen, er konnte nicht jagen, er konnte nicht klettern, er konnte ja kaum kriechen und manchmal, in besonders schlimmen Nächten, konnte er nicht einmal schlafen. Denn eigentlich hatte er es weit gebracht, eigentlich war er schon länger am Leben als all seine Bekanntschaften, die er im Krieg zurückgelassen hatte, aber nun war es nicht der Krieg, sondern ausgerechnet sein eigener Körper, der ihn im Stich ließ. Wenn der Sommer vorbei war, wenn die schönen Blätter Estos in Farbe tauchen würden und die ersten kalten Tage einsetzten, dann würde er auf sich alleine gestellt sein. Er würde durch die Schneemassen nicht gut weiterkommen, er würde nicht jeden Tag hinaus spazieren können um frisches Holz zu hacken, er würde sich ja noch nicht einmal selbst versorgen können. Ihm blieben dann genau zwei Optionen: Entweder der Kälte zum Opfer fallen oder den Menschen. Es war unausweichlich, ihm blieb nur noch die Wahl, welches davon eintreffen sollte.

      Sein Bein war es auch, weshalb er die Sicherheit der angrenzenden Wälder aufgegeben hatte und jetzt über einen Schotterweg hinkte, der auf einige freistehende Häuser zuhielt - ein Dorf, oder eine Siedlung, wie er vermutete, hauptsächlich von Bauern bewohnt. Im Hintergrund breiteten sich die weiten Weizen- und Kartoffelfelder aus, direkt daneben kleine und mittelgroße Scheunen mit Kühen, Schweinen, eine sogar mit Pferden. Es ging dort ziemlich lebendig zu, weshalb Aiden auch bald darauf den Weg wieder mied und sich unter großer Anstrengung zurück ins Gebüsch kämpfte. Sein Bein pochte und schmerzte, jeder marginale Tritt sandte einen Blitz durch seine linke Körperhälfte, bis hinauf zu seiner Achselhöhle, aber er mühte sich weiter. Es war geschwollen, seit Tagen schon, und drückte unangenehm gegen den Stoff seiner Hose an. Er musste alle paar Meter eine Pause einlegen, immer und immer wieder, und dabei genug aus seinem Wasserschlauch trinken, damit die Kälte des Wassers gegen die Hitze in seinem Inneren ankämpfte. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn geschrieben und manchmal, wenn er das Bein eine Sekunde zu lange belastete und der Schmerz unerträglich wurde, wurde ihm unsagbar schwindelig.
      Nein, den Winter würde er sicherlich nicht durchstehen. Das konnte er nicht. Jetzt waren die Tage noch heiß und die Nächte angenehm warm, er konnte unter freiem Himmel schlafen und sich ungerührt in einem Bach waschen, ohne sich vor Menschen fürchten zu müssen. Aber er konnte nicht mehr jagen, sein Proviant ging zu Ende und Aiden... nun, er hatte furchtbaren Hunger. So sehr, dass ihm schon das Wasser im Mund zusammenlief, wenn er die blühenden Weizen auf den Feldern sah und daran dachte, dass eines Tages davon ein leckerer, warmer Brotlaib entstehen würde. Deswegen war er letzten Endes auch hier: Er hatte sich vorgenommen, einen Bauernhof auszurauben. Wie schwierig konnte das schon sein? Er würde ein bisschen von der Ernte einstecken, im Hühnerstall ein paar Eier klauen und wenn dann noch niemand auf ihn aufmerksam geworden wäre, würde er einmal sehen, ob er in einen der Kornspeicher gelänge. Wer weiß, vielleicht befand sich dort sogar eine Nische, in der er sich vorerst verstecken und ausruhen konnte - nur ein paar Tage lang. Nur, wenn niemand auf ihn aufmerksam geworden wäre und er sich noch etwas Essen stibizen konnte. Danach wollte er weiterziehen, ganz sicher, denn Aiden wollte keine Aufmerksamkeit und erst recht keinen Ärger.

      Zuerst galt es aber zu warten, denn am helllichten Tag waren die Bauern allesamt auf den Feldern und wenn ihm einer zu nahe käme, würde er sofort seine Augen erkennen. Er musste also bis zum Abend im Gebüsch verborgen sitzen und verbrachte seine Zeit damit, die Bauern bei ihrer Arbeit zu beobachten. Da war ein jung wirkender Mann bei einer der verstreuten Scheunen, der sich damit abmühte, Schubkarren um Schubkarren mit Heu hineinzuschieben. Da war ein älterer Herr, der schwer aussehende Kisten auf einem Karren verstaute und den Esel vorne anband. Da war ein lieblich anmutendes Mädchen inmitten eines Kartoffelfelds, die sich mit schier unnachgiebiger Energie ständig hinabbeugte, eine weitere Kartoffel herauszog und sie in ihrem Korb verstaute. Auf diesem Mädchen blieb sein Blick einige Sekunden länger liegen, weil etwas an ihrer Ausstrahlung ihm ganz besonders ins Auge stach. Dabei war es letzten Endes vermutlich nur die strahlende Sonne, die ihr Haar in eine braune Pracht verwandelte und ihre Haut besonders warm und weich erscheinen ließ. So, wie vermutlich viele Ester, verlor auch Aiden sich für einen Augenblick in den Anblick dieser jungen Schönheit, als sie sich schlussendlich aufrichtete und den Blick über die Felder gleiten ließ. Sie verharrte nicht lange, da wandte sie sich um und einen Augenblick später drang auch Aiden das Geräusch von nahenden Hufen an die Ohren. Er verweilte unbeweglich in seinem Versteck, während das Mädchen zurück in Richtung Haus ging und dort auf dem Weg einen älteren Mann in Empfang nahm - ihren Vater, allem Anschein nach zu urteilen. Die beiden tauschten ein paar Wörter aus und gingen dann ins Haus hinein. Schwermut legte sich über Aidens Schultern bei dem Gedanken an eine vermutlich gesunde, lebendige Familie, die in diesem großen Haus auf sie wartete, und er wandte sich ab, um es sich auf dem Boden einigermaßen gemütlich zu machen. Sein Bein pochte unablässig und er glühte vor Hitze, aber es gelang ihm, die Augen zu schließen und dann noch einige Stunden zu dösen.

      Er erwachte zur Dämmerung. Die Felder waren jetzt leer, die Tiere größtenteils in ihren Ställen und Aiden setzte sich auf, streckte sich und quälte sich in die Höhe. Ein Blick zu den Häusern sagte ihm, dass hier doch nicht alles so verlassen war: Das Mädchen vom Nachmittag stand bei ihrem Brunnen und kurbelte das Wasser nach oben. Am Nachmittag hatte sie ihre Haare noch im Rücken zusammengebunden, jetzt flossen sie ihr in weichen Locken über die Schultern. Das Gefühl vom Nachmittag war wieder da, die Wehmut, die Aiden jetzt plagte. Eigentlich war er nicht der Typ dafür, Frauen einfach so nachzugaffen, aber in der aufsteigenden Dunkelheit konnte sie ihn sicher nicht sehen und er vergewisserte sich ja nur, dass sie wieder hineingehen würde. Nicht wahr? Also starrte er doch noch ein bisschen und wartete darauf, dass das hübsche Mädchen nachhause gehen würde.
      Danach zögerte er. Aber als er sich sicher war, dass niemand noch draußen herumlungerte, schlich er vorsichtig aus seinem Versteck nach draußen.
      Der Weg zu den Feldern war eine einzige Plage. Aiden fühlte sich beobachtet, dabei konnte er gar nicht sagen woher oder durch wen; er kam sich nur merkwürdig offen und verletzlich vor, so wie er dort auf den Zaun zu humpelte und einen Blick darüber warf. Nicht die Spur eines Menschen, weit und breit. Er lehnte sich gegen den Zaun und begann seine langsame, schmerzhafte Überquerung.
      Zuerst nahm er sich die Kartoffeln auf den Feldern vor, denn davon hatte das Mädchen nicht alle mitgenommen. Zu gutem Grund, wie er nur wenig später erkannte, denn sie waren noch nicht ganz reif: Grünlich verfärbte Stellen zeichneten sich auf ihnen ab. Aiden hatte keine Ahnung, was das bedeutete, er war schließlich kein Bauer, aber er steckte sie trotzdem ein, so viel, bis seine Hosentaschen voll damit waren. Dann schlich er weiter, vermied den Lichtpegel des Hauses und fand kurz darauf den Hühnerstall, der noch einmal abgegrenzt war - vermutlich, um die Tiere vor Wölfen zu schützen, nicht aber vor Menschen. Es war ein leichtes, das dünne Gatter zu entriegeln und hineinzuschlüpfen, es war schon viel schwerer, vor den kleinen, eingebauten Nestern auf die Knie zu gehen und so lange dort zu bleiben, bis er ein Ei heraus gefischt hätte. Sein Bein explodierte fast vor Schmerz und seine Hände zitterten in seiner Anstrengung. Er bekam tatsächlich ein Ei zu fassen -
      und dann bellte es plötzlich hinter ihm, gefolgt von einem warnenden Knurren. Erschrocken fuhr Aiden herum und kam gleichzeitig auf die Beine, schlingerte aber, als er mit dem Gleichgewicht kämpfte. Ein Hund kam auf ihn zugerannt, und was für einer: Ein großes, kräftiges Tier, das in wenigen Sprüngen den halben Hof überquert hatte und direkt auf ihn zugesprungen kam. Seine Augen waren groß und gemeingefährlich und diese Zähne erst; Aiden schwindelte es. Er wirbelte herum, aber das Hühnergehege hatte nur einen einzigen Ausgang und die Umzäunung war hoch genug, dass er es mit seinem Bein niemals gefahrlos schaffen würde. Aber das Gatter kam nun auch nicht mehr in Frage, denn dort preschte der Köter jetzt herein, bellte sich die Kehle aus dem Leib und kam auf ihn zugeschlichen. Er knurrte nicht noch einmal, stattdessen hatte er die Augen weit aufgerissen, aber Aiden vertraute keinem bisschen davon. Wie hatte er ihn übersehen können! Aber natürlich, er hatte in erster Linie nach Menschen Ausschau gehalten, für den Hund hatte er keine Aufmerksamkeit übrig gehabt.
      In abwehrender Manier hob er die Hände und hoffte nur, dass das Haus zu weit entfernt lag, um das Gebell zu hören. Natürlich war das völlig schwachsinnig.
      "Guter... guter Hund.... Braver Hund? ... Lässt du mich vorbei?"
      Aber das Vieh bewegte sich kein Stück und kurz darauf bildete er sich schon ein, die Haustür des angrenzenden Hauses zu hören. O großer Gott, man würde ihn erkennen, man würde ihn entlarven. Man würde ihn erschießen, vielleicht; man würde mit ihm nachholen, was man mit seinen Leuten schon getan hatte. Aiden wurde vor Angst ganz starr, während sein Blick zum Haus huschte.
    • Hatte Edda sich die männlich anmutende Silhouette in der Ferne etwa nur eingebildet? Nur einen Moment wandte sie den Blick zu dem mit Wasser gefüllten Eimer, bevor sie wieder in die Ferne spähte, zu dem Fleckchen Erde, an dem sie vermutete etwas, oder besser jemanden, gesehen zu haben. Doch dann war dort nichts. Niemand. Auch Fasco tat keine weiteren Anstalten, entspannte seine Glieder und legte sich ferner des Brunnens ins Gras. Nicht weiter darüber nachdenkend, und diese kleine Einbildung auf den heißen Tag und die harte Feldarbeit schiebend, nahm sie den Eimer Wasser und trug ihn in die Stube. Dort machten sich alle fertig, um zu Bett zu gehen. Jedes der Töchter hatte ein eigenes Zimmer, welche direkt nebeneinander lagen, und von Größe und Form identisch wirkten. Sie waren eher spärlich eingerichtet, boten nicht mehr als ein Bett, einen kleinen Tisch mit einem Stuhl, einen Kleiderschrank und eine Truhe, in der sich allerlei Habseligkeiten der Sevenburgh-Töchter befanden. In Eddas Zimmer stand neben der Truhe, die Fidel ihrer Mutter, welche ihr unendlich viel bedeutete, denn es war neben einem Kleid und etwas Schmuck, das einzige, was sie an sie erinnerte. Darum pflegte sie sie wie einen Schatz. Mit einem Nachtgewand bekleidet, welches weit an ihrem zierlichen Körper herabhing, legte sie sich nieder und blickte zum geöffneten Fenster hinaus, durch welches ein angenehm warmer Windhauch wehte. Die Sterne strahlten hell am Firmament, und mit ihnen der fast kugelrunde Mond, der die Nacht erleuchtete. Leider war die Erinnerung an ihre Mutter nur noch spärlich. Es waren nur einzelne Bruchteile, die sich kaum noch zu einem vollständigen Bild zusammenfügen ließen. Nur der Klang ihrer bezaubernden Stimme war Edda in Erinnerung geblieben. Ihre Geschichte über die Sterne, welche sie Edda vor dem Zubettgehen öfter erzählt hatte, hatte ihr Vater ihr erst nach vielen Jahren ihres Todes offenbart. Sie sagte immer, dass es unendlich viele Sterne gab und der hellste würde ihr den Weg weisen, wann immer sie sich verlaufen hatte.
      Gerade als Edda am einschlafen war, und schon einen tiefen Dämmerzustand erreicht hatte, wurde sie durch das laute Gebell des Hofhundes geweckt. Sie fuhr auf, schwer atmend, blickte instiktiv zum Fenster, bevor sie sich vom Bett schwang, zu eben diesem lief, hinunterblickte und Fasco sah, der bellend bei der Scheune stand. Schnell eilte sie hinaus aus ihrem Zimmer. Ihr Vater schlief noch. Er hatte einen unglaublich tiefen Schlaf. Praktisch konnte neben ihm eine Detonation den ganzen Hof vernichten, er würde einfach friedlich weiter schlafen. Gerade als Edda die Treppen nach unten eilen wollte, spitzte ihre jüngere Schwester aus dem Türspalt hinaus. Sie gähnte und rieb sich ihre Augen vor Müdigkeit.

      "Geh, leg dich schlafen, Corinne. Es ist wahrscheinlich nur wieder ein Fuchs, der sich ein Huhn stehlen möchte. Ich gehe schnell nachsehen."
      "Ist gut", erwiderte Corinne einverstanden und gähnte mit weit geöffnetem Mund. "Sei vorsichtig", fügte sie noch hinzu, bevor sie die Tür schloss und Edda nach unten in die Stube ging. Sie nahm einen Schlagstock mit, der stets links neben der Wohnungstür stand. In letzter Zeit gab es viele Füchse im Umkreis, die sich des Nachts gerne auf Höfen herumtrieben, um die Hühner zu stibitzen. Das wäre nicht das erste Mal, und da Edda nicht von einem jungen fremden Mann ausging, der sich auf ihrem Hof herumtrieb, ging sie todesmutig in Richtung der Scheune. Fasco hatte sich inzwischen beruhigt, doch ein tiefes Knurren drang noch immer aus seiner Kehle. Man gewann fast den Eindruck, als könnte er wirklich jemandem etwas zuleide tun. Rein theoretisch könnte er dies auch, doch in seinem Fall galt der Spruch "Hunde, die bellen, beißen nicht" zu 100 Prozent.
      "Schon gut, alter Junge. Wo versteckt sich denn das Tierchen?", fragte Edda mit dem Schlagstock in der Hand. Wirklich zuleide tun konnte sie dem Tier nichts, doch etwas zur Verteidigung war schließlich nie eine schlechte Idee. Doch als sie dann sah, dass es sich nicht um ein Tier, sondern um einen stattlichen jungen Mann handelte, erschrak sie, riss die Augen weit auf und erstarrte zunächst. "Wer seid Ihr!? Und was macht Ihr in unserer Scheune!?"
      Als er dann nur den Ansatz einer Bewegung vollzog, holte sie aus, doch sie schlug nicht zu. Noch nicht. "Bleibt, wo Ihr seid! Keinen Schritt, oder ich schlage zu! Das tue ich!", betonte sie mit zitternden Händen und ließ den Fremden nicht aus den Augen.

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.

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    • Mit großer Gewissheit hatte Aiden den vermeintlichen Vater des Hauses erwartet, den Hausherrn, dem hier wohl der Hof gehören musste. Mit noch größerer Gewissheit hatte er erwartet, dass es hier aus für ihn sein würde, hier in einem Hühnerstall, wo er doch schon so weit gekommen war.
      Aber beide Vermutungen waren augenblicklich in den Wind geblasen, als er nicht die stämmige Gestalt des Vaters auf sich zukommen sah, sondern eine kleinere, zierliche Silhouette. Sie musste dem Mädchen gehören, das er auf dem Feld und später beim Brunnen gesehen hatte. Sie hatte so jung gewirkt und auch, wenn Aiden niemals einer Frau etwas zuleide tun wollte, war er sich doch sicher, dass er sie zu seinem Wohl überwältigen könnte.
      Nur hatte sie augenscheinlich einen Schlagstock bei sich. Ein Hieb gegen sein Bein und er war überzeugt, es würde wieder brechen. Wenn es das nicht längst wieder war.
      Wie angewurzelt blieb er am äußersten Rand stehen, die Hände erhoben. Der Hofhund hatte sich noch immer nicht gerührt, starrte ihn nur mit erhobenem Schwanz weiter an. Das Mädchen kam von hinten, sah die Gestalt in den Schatten noch nicht und erschrak sich dann, als sie den Mann doch erblickte.
      Aiden hob seine Hände höher.
      "Ich bin ein Dieb! Nur ein Dieb!"
      Was für eine lächerliche Antwort das war - aber alles war besser, als seine eigentliche Herkunft preiszugeben. Denn ganz dem Anschein nach war es hier hinten zu dunkel, alsdass das Mädchen seine Augen auf die Entfernung hinweg erkannt hätte.
      "Ich wollte Eier stehlen - aber ich gebe sie zurück! Nur kein Grund zur Aufregung, ja? Seht her Fräulein, ich lege sie auf den Boden."
      Ganz langsam, weil eine zu schnelle Bewegung sie verschrecken könnte, beugte er sich hinab und legte das gestohlene Ei auf dem Boden vor sich ab. Er musste dafür ein Stück in die Knie gehen und sein Bein pochte dabei schmerzhaft. Als er sich wieder aufrichten wollte, gab es unter dem Gewicht nach und er strauchelte für einen Augenblick. An der Umzäunung fing er sich auf, bevor er noch gestürzt wäre, und riss die Hände wieder hoch.
      "Verzeihung! Verzeihung. Verzeiht mir. Ich werde gehen, Ihr braucht Euch nicht zu sorgen. Ich möchte keinen Ärger, bitte."
    • Prüfend musterte die junge Dunkelhaarigen den Fremden vor ihr. Durch das einfallende Mondlicht konnte man nur schwierig Details seines Ichs erkennen. Er war groß, wirkte recht schlank. Seine Haare trug er kurz, und irgendwie - und dies schien für die junge Frau das wichtigste Detail zu sein - wirkte er verletzt. Langsam, aber dennoch mit wachen Augen, nahm sie den Schlagstock Zentimeter für Zentimeter herunter, während sie den ihr Fremden nicht aus den Augen ließ. Neben ihr stand, treu ergeben, Hütehund Fasco, der sein tiefes Knurren abgestellt hatte, aber nicht weniger wachsam als Edda selbst auf den Eindringling starrte.
      "Seid Ihr... verletzt?", fragte die junge Frau vorsichtig, und schien einen Augenblick nachzudenken, wie sie sich nun verhalten sollte. Ganz offensichtlich war es nicht der Fuchs, der ein Huhn stehlen wollte, und den sie einfach mit ein paar Hieben - bewusst neben das Tier mit dem roten Fell, versteht sich - vertrieben hätte. Vermutlich ließ sich dieser Mann genauso schnell vertreiben, glaubte man seiner Geschichte, dass er bloß ein paar Eier stehlen wollte. Selbst im Mondschein wirkte er nicht wie ein Bettler. Das aufgeregte Gegacker der Hühner schien Edda etwas nervös zu machen, was sie sich versuchte, nicht anmerken zu lassen. "Am besten... Ihr kommt erstmal heraus aus dem Stall...", sagte sie, und es entfiel ihr keinesfalls, dass er große Müh und Not hatte, sich überhaupt fortzubewegen. "Was ist mit Eurem Bein?", wollte sie wissen, und verzog das Gesicht schmerzverzerrt, als würde sie jeden Schritt selbst fühlen. Doch noch bevor der Fremde, dessen Name sie nicht einmal kannte, antworten konnte, stürmte der Hausherr mit einem Gewehr bewaffnet auf seine Tochter und den Fremden zu. Hinter ihm, die völlig eingeschüchterte Corinne, die zielstrebig auf ihre ältere Schwester zulief und sich an ihren Arm haftete. Das Gewehr voraus, richtete er die Waffe genau auf den jungen Mann. Es waren nur ein paar Zentimeter, die ihn von seinem Ende trennten.
      "Nein, Vater!", mischte sich Edda sofort ein. "Er will nichts Böses! Er suchte nur Schutz vor dem nahenden Unwetter."
      Gerade in diesem Moment tat sich eine dichte Wolkenschicht am Himmel auf und vereinzelte Regentropfen fielen auf die Erde herab. Der Blick von Gerrit galt ausschließlich dem jungen Mann, den er prüfend musterte. Wenn Blicke töten könnten, dann würde es für unseren Helden schlecht aussehen. "Bitte, Vater. Lass ihn mit uns hereingehen. Er ist verletzt... und sicher hungrig. Tu' ihm nichts!"
      Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, als der Hausherr seine Waffe wieder neigte. Offenbar zeigte er Mitgefühl mit dem Verletzten. Doch er sagte kein Wort, als er sich umwandte und Richtung Haus stampfte. Corinne wirkte völlig verunsichert, sah wie ein scheues Reh zwischen ihrem Vater, Edda und dem Fremden hin und her, bevor sie eilig ihrem Vater in die warme, und vor allem trockene, Stube folgte. Edda deutete mit einer leichten Kopfbewegung an, ihr zu folgen.

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    • Langsam, ganz langsam nur, begann die junge Frau den Schlagstock zu senken. Aiden hätte vor Erleichterung beinahe laut aufgeatmet, aber angesichts der Tatsache, dass sie ihn doch nie ganz ablegte, wollte er sich keine einzige Bewegung erlauben.
      Sie war mutig, das musste man ihr lassen. Ganz alleine war sie herausgekommen, um dem Hundegebell auf die Schliche zu gehen und zögerte nun nicht davor, ihr Zuhause vor Fremden zu schützen. Das mochte man ihr gar nicht ansehen; am Nachmittag hatte sie aus der Entfernung ausgesehen wie eine junge, zierliche Frau, die ihr Leben schon auf dem Acker ihres Vaters verbrachte. Aber jetzt, in dem fahlen Mondlicht, wirkte sie nicht weniger wie eine Kämpferin.
      Vielleicht lag es genau daran, dass Aiden seine Vorsicht ein wenig schleifen ließ. Wenn sie sich von seiner Anwesenheit schon nicht verschrecken gelassen hatte, konnte er ihr zumindest etwas entgegenkommen.
      Ich bin verletzt”, gestand er zögernd und langsam. Es war in Ordnung, es zuzugeben; nur Aiden wusste, dass diese körperliche Verletzung ihn im schlimmsten Fall nicht weniger gefährlich machte. Aber ganz anscheinend war es dieses Unwissen, das ihm den nötigen Freiraum bei der Bäuerin gewährte, denn jetzt ließ sie ihn schon etwas friedvoller aus dem Hühnerstall hervor treten. Er bildete sich ein, ihrer Stimme einen leicht nervösen Unterton heraus zu hören - trotz ihres offensichtlichen Muts musste sie ängstlich sein. Das machte ihre Tapferkeit umso beeindruckender.
      Aiden setzte sich vorsichtig in Bewegung, sein Bein ein Aufflackern von Schmerzen bei jedem Schritt. Der jungen Frau schien es aufzufallen, sogar mehr als das: Ein Ausdruck huschte über ihr Gesicht, der in dem wenigen Licht kaum zu erkennen war. Doch Aiden kannte die Art bei Menschen, wie sich die Stirn in Falten legte und der Mund sich kaum merklich verzog. Nur wusste er nicht, warum die Fremde so gequält dreinsah, wenn er es doch war, dessen Bein ihm Mühe bereitete.
      Womöglich hätte er ihr auf diese Frage auch eine ehrliche Antwort gegeben, allein um sie weiter von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen, da sprang die Haustür ein weiteres Mal auf und dieses Mal war es der gefürchtete Hausherr, der mit einem ganzen Gewehr ausgestattet nach draußen preschte, als wolle er Kopf voran in den Krieg ziehen. Es war genau das, wovor Aiden sich gefürchtet hatte. Sein Herz sackte ihm herab, als er einen Schritt zurück stolperte und die Arme noch weiter hochriss als bisher.
      Aber gleichzeitig griff sein Unterbewusstsein nach der Erde aus. Direkt unter die Füße des Mannes.
      Der Lauf des Gewehres starrte ihn bereits aus nächster Entfernung an, als Aiden und die junge Frau zur gleichen Zeit zu reden begannen.
      Bitte verzeiht mir, ich wollte nicht…
      Zu seiner Überraschung erwähnte sie nichts von den Eiern, die er hatte stehlen wollen. Sie ließ ihn so aussehen, als sei er nur auf der Suche nach Unterschlupf gewesen.
      Aiden wusste, dass das besser war. Der Bauer würde mit Sicherheit keinen Dieb weiterleben lassen.
      Sie hat recht, ich suche nur… ich hatte gehofft, mich vor dem Wetter verstecken zu können. Ich will Euch nichts, guter Herr!
      Der Blick des Bauern bohrte sich in Aidens Schädel ein und Aiden beobachtete seinerseits den Finger am Abzug. Es wäre gar nicht viel vonnöten, nur eine kleine Welle im Erdreich, die den Mann umwarfen und seine Kugel ins Nichts schießen ließen. Vielleicht könnte Aiden sogar das ganze Gewehr im Boden versinken lassen, bevor man darauf aufmerksam würde. Es war sicher noch nicht alles vergebens.
      Aber es war die junge Frau, die ihren Vater zu ihrem aller Wohl umstimmte. Ganz langsam nur, als könne er es selbst nicht glauben, nahm der ältere Bauer sein Gewehr hinab und drehte auf der Stelle wieder um. Hinter ihm, bislang verborgen von seinem Körper, kam ein zweites, jüngeres Mädchen zum Vorschein. Das ferne Licht des Hauses beleuchtete ihr ängstliches, sorgenvolles Gesicht.
      Damit war es wohl entschiedene Sache: Aiden durfte bleiben. Vielleicht lange genug, um den aufkommenden Regen auszuharren? Dieses Mal atmete er wirklich erleichtert aus.
      Die ältere der beiden Töchter bedeutete ihm zu folgen und so setzte er sich humpelnd in Bewegung. Der Hofhund lief ein Stück mit, bevor er wieder abbog, um in den Schatten des Hofes zu verschwinden. Aiden blieb hinter der Frau, aber er holte ein Stück zu ihr auf.
      Habt vielen Dank. Ihr habt ein wahrlich gutes Herz.
      Danach schlug er die Augen nieder und starrte den Boden vor ihm an. Jetzt galt es nur noch, seine Augen verdeckt zu halten.

      An der Tür angekommen schlug ihm bereits die Wärme eines Kaminfeuers entgegen, das ihn frösteln ließ. Aiden ließ seinen Blick auf saubere, frisch geputzte Holzdielen gerichtet, während die junge Frau ihn ins Innere führte. Schlagartig stieg ihm der Geruch von köstlichem Eintopf in die Nase, der seinen Mund ganz wässrig machte. Er schluckte, dabei wusste er nicht, wie er am besten von seinem aufkeimendem Hunger ablenken sollte.
      Ich weiß nicht, wie ich Euch dafür danken soll, ich trage kein Geld bei mir”, sagte er gegen den Boden. Er hielt den Kopf gesenkt, als traue er sich nur nicht, etwas anderes als Unterwürfigkeit zu zeigen.
      Ich könnte mich im Haushalt dienlich zeigen oder im Morgengrauen die Tiere füttern. Ich schlafe im Stroh, das macht mir nichts aus. Nur für eine Nacht, dann ziehe ich schon weiter, das schwöre ich Euch.
    • "Dankt mir nicht zu früh...", antwortete die sonst so optimistische junge Frau mit einem zaghaften Lächeln, als sie die warme Stube betraten, in welcher sich Corinne im Nachtgewand bereits daran machte, den Eintopf aufzuwärmen, um die dampfende Schüssel dem Fremden, der nun fast so etwas wie ein Gast für die Familie geworden war, zu servieren. Die Schwestern wussten, dass ihr Vater nur im äußersten Notfall auf den Abzug gedrückt hätte. Für gewöhnlich vertrieb er Eindringlinge und tötete niemanden. Naja... zumindest sehr selten. Er hatte ein gutes Herz, und doch war es sein oberstes Bestreben, den Hof, aber vor allem seine beiden Töchter zu schützen. Er wollte den Fremden in keiner Minute das Gefühl von Sicherheit vermitteln, und darum ließ er das Gewehr angelehnt an den rechteckigen Holztisch, während er auf einem der vier Stühle Platz nahm. Er musterte den jungen Mann quälende Sekunden, die sich eher wie Minuten anfühlten. Edda stand neben ihrem Vater, hielt den Blick gesenkt, spitzte aber immer wieder neugierig zu dem jungen Mann herüber. Etwas zu sagen, das traute sie sich allerdings nicht. Dass ihrem Vater nun das erste Wort gebührte, das war selbstverständlich.
      "Setzt Euch", war das erste, was er sagte und deutete auf einen der freien Stühle. Auch dabei ließ er den Fremden nicht aus den Augen. "Wie ist Euer Name, Fremder?"
      Als er der Bitte des Hausherrn Folge leistete, sich auf den freien Stuhl niederließ und auch sogleich seinen Namen offenbarte, schwieg Gerrit eine ganze Weile. Es war wieder diese bedrohliche Stille. Er wandte seinen Blick dann für den Bruchteil einer Sekunde von Aiden ab, sah zu seiner Tochter Edda hoch und bat sie, ihm die Zigarettenschachtel aus der Schublade des antiken Holzschranks zu holen. Edda befolgte den Wunsch ihres Vaters, brachte ihm die Zigarrenschachtel, die der Bauer schweigend entgegen nahm. Er bot dem Gast keine an. Das wäre wohl zu viel des Guten gewesen, nicht wahr? Er zündete sich mit dem Streichholz die Zigarre an, lehnte sich etwas im Stuhl zurück, während er einen ausgiebigen Zug nahm und den ungesunden Dampf in die Stube blies. "Aiden... und weiter? Woher kommt Ihr?", wollte Gerrit als nächstes in Erfahrung bringen. Auch Edda schaute nun gespannt zu Aiden, denn sie war neugierig, woher ein junger, recht gutaussehender Mann kam, der es nötig hatte, Eier aus einem Hühnerstall zu stehlen. Währenddessen rührte Corinne mit nimmer müdem Eifer den Eintopf und lauschte dem Gespräch der beiden Männer.

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.
    • Aiden blieb in der, wie er schätzte, Mitte des Raumes stehen. Um sich herum schien die Familie des Hauses sich zu verfließen, ihm entging dabei aber nicht, dass das Gewehr im selben Raum verblieb. Kaum als sich die Tür hinter ihnen schloss, hatte das ganze eher den Geschmack einer Festnahme als einer reinen Unterkunft, wie Aiden fand.
      Aber er wollte sich nicht beschweren. Das alles war noch immer besser, als die Nacht draußen zu verbringen.
      Viele Sekunden lang war es einigermaßen still, dann forderte der Bauer ihn auf, sich zu setzen. Aiden gehorchte mit einem Dank, setzte sich auf den angezeigten Platz und streckte das linke Bein vorsichtig aus. Sein Blick war jetzt auf den Tisch vor sich gerichtet, auf dessen Oberfläche er seine Hände miteinander verschränkte, damit der Mann nicht auf die Idee käme, er würde unter dem Tisch eine Waffe ziehen.
      Mein Name lautet Aiden, guter Herr. Bitte, nennt mich gerne so.
      Eine weitere Antwort darauf blieb aus. Die Stube hüllte sich in Schweigen, lediglich unterbrochen von dem fernen Geklapper von Geschirr und dem gelegentlich leisen Rascheln von Kleidung. Das Feuer im Kamin war schon etwas heruntergebrannt, knisterte aber noch wohlwollend vor sich hin.
      Aiden hätte gern den Blick gehoben, um zu sehen, was der Bauer denken mochte. Aber er starrte nur weiter den Tisch an und manchmal auch sein Bein, dessen Schmerz durchs Sitzen alleine schon in ein dumpfes Pochen abgeklungen war. Es war sehr erträglich und gleichermaßen sehr erleichternd.
      Weitere Sekunden vergingen, in denen der andere sich wohl eine Zigarre entzündete. Es musste ein recht wohlhabender Hof sein, wenn er sich so etwas leisten konnte. Aiden wagte nicht, genauso nach einer zu fragen.
      Mein Familienname ist in dieser Gegend nicht bekannt, Herr. Er würde Euch nichts sagen; erlaubt mir, es bei Aiden zu belassen.
      Sein Familienname klang nämlich zu asteinisch, um ihn auszusprechen.
      Ich komme aus…
      Eine Pause. Er zögerte. Welchen Ort diesem Mann nennen, der nichts von seiner Abstammung auch nur ahnen sollte?
      ... Wellshafen, Herr. Das liegt an der Küste, weit draußen im Norden.”
      Das war der erste Ort, den Aiden nach seiner Strandung gefunden hatte. Eine Kleinstadt, groß genug für einen Hafen, nicht groß genug, dass in diesem Hafen Kriegsschiffe hätten anlegen können. Andernfalls hätte er diesen Ort gänzlich gemieden.
      Ich komme aus dem Krieg, der im Norden gewütet hat.
      Eigentlich in Astein, aber den Namen sprach er nicht aus. Er knetete seine Hände.
      Ich war zuletzt auf hoher See, als mein Schiff untergegangen ist. Ich muss es den Göttern zu verdanken haben, dass ich nicht ertrunken bin.
      Sein Blick wanderte über den Tisch, über das angelehnte Gewehr und schließlich ganz vorsichtig zur Küche. Es roch wirklich ganz fabelhaft von dort.
      Darf ich fragen, auf welchem Gutshof ich mich befinde und wem ich diese Großzügigkeit zu verdanken habe, Herr?
    • "Oh, Wellshafen!", sprach Edda voller Eifer ins Wort des Gastes hinein. Von der kleinen, verschlafenen Küstenstadt hatte sie in den Büchern ihrer Tante gelesen, die sie, gemeinsam mit ihrer Schwester, einmal wöchentlich besuchte. Sie kam aus Tasra, einer der größeren Städte in der Umgebung. Eine Kutschfahrt von etwa einer Stunde von dem Dorf Illdra entfernt, in dem die Familie schon immer lebte und die Mädchen aufgewachsen waren. Viel, außer die belebte Stadt Tasra, bekam die neugierige Edda kaum zu Gesicht. Viele Orte Estos kannte sie nur aus Büchern und Geschichten. Umso faszinierender war es für sie, dass Aiden von so weit herkam. Doch sie wagte nicht weiter ins Wort zu fallen, versuchte ihre Euphorie in Grenzen zu halten und lauschte weiter seiner Geschichte. Genau wie ihr Vater und Corinne, die kurz darauf den dampfenden Eintopf in einer Schüssel aus Ton auf den Tisch stellte, direkt vor Aiden.
      "Bitte sehr", sagte die 15-Jährige lächelnd, doch der Fremde hob nicht einmal den Kopf zum Dank. Etwas merkwürdig war das schon, dachte sich die Dunkelhaarige wohl in diesem Moment, denn in Illdra und auch in Tasra war es üblich, sich in die Augen zu schauen. Auch Edda und Gerrit fiel auf, dass der Mann keinen Blickkontakt suchte, was allmählich das Misstrauen des Familienvaters und Gutbesitzers weckte. Doch er ließ sich nichts anmerken. Noch nicht. Ganz im Gegenteil: er lauschte geduldig der Erzählung von Aiden. Als er seine Frage gestellt hatte, wandte sich Gerrit an seine jüngere Tochter.

      "Danke, Corinne. Geh nun zu Bett. Morgen kräht der Hahn zur gewohnten Zeit."
      "Aber Vater! Ich würde so gerne noch mehr über unseren Gast erfahren. Darf ich-"
      Doch die Blicke des 46-Jährigen sprachen Bände. Er duldete kein einziges Widerwort, und somit nickte das Mädchen, welches ihrer älteren Schwester, was die Neugierde betraf, in nichts nach stand. Sie wirkte betrübt, als sie gesenkten Hauptes zur Holztreppe schritt, dabei einen flüchtigen Blick zu Edda warf und die Mädchen sich ein Lächeln schenkten. Corinne wusste, dass ihre Schwester ihr spätestens am frühen Morgen, wenn die Morgensonne noch nicht in ihrer vollen Pracht am Himmel stand, und auch die letzte Regenwolke verzogen war, alles bis ins kleinste Detail erzählen würde. Das stimmte sie zufrieden.
      "Wellshafen liegt ein ganzes Stück entfernt von unserem Dorf", bemerkte Gerrit, ehe er einen weiteren Zug machte und Aiden in keiner weiteren Sekunde aus den Augen ließ. "Dort herrschte also Krieg... ja. Ja, die Nachricht ereilte uns."
      Erst jetzt antwortete der Hausherr auf seine Frage hin: "Ihr befindet euch auf dem Gut der Sevenburghs im Dorf Illdra. Die nächstgrößere Stadt ist Tasra. Mein Name ist Gerrit Sevenburgh. Das ist meine Tochter Edda, die jüngere heißt Corinne", stellte er sich trotz seiner Ablehnung höflich vor. "Nun, Aiden...", den Namen besonders stark betonend, denn so recht einverstanden damit, dass er seinen Familiennamen nicht preisgab, war er nicht. "Soweit es mir geläufig ist, pflegt man in Wellshafen einen guten Ton, nicht wahr? Der überwiegende Teil der Bürger ist wohlhabend und man weiß dort Anstand zu wahren."
      Sein Ton begann bedrohlicher zu klingen, während er jeden Löffel, den Aiden sich zu Munde führte, beobachtete, als würde er nur darauf warten, dass das imaginäre Gift sich in seinem Körper verteilte und er umfallen würde wie ein Sack Reis. Unter qalvollem Geschrei, versteht sich. "Ist es denn nicht so, dass der Anstand sagt, dass man seinem Gegenüber in die Augen schauen sollte?"
      Eddas Blick wandelte sich in den Ausdruck von Mitleid, und auch eine Portion Empörung war aus ihren braunen Augen zu lesen, denn sie war sich sicher, dass ihr Gast viel Leid durchstehen musste, als Flüchtling eines tobenden Kriegs. Er hatte sicher viele geliebte Menschen sterben sehen. Doch sie wagte es nicht, das Wort gegen ihren Vater zu erheben.
      "Hebt Euren Blick!"

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    • Kaum hatte Aiden den Namen ausgesprochen, klinkte sich auch die junge Frau in ihr Gespräch ein. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, genau diese Stadt zu nennen; Aiden war kaum lange genug dort verweilt, um viel über sie zu wissen. Sollte man ihn über seine Heimat ausfragen, wäre er aufgeschmissen.
      Das ganze ließ sich aber gut kaschieren, nachdem er auch weiterhin den Blick gesenkt hielt. Zum Glück folgten auch keine weiteren Nachfragen, denn in diesem Augenblick kam die jüngere der beiden herein und stellte eine dampfende Schüssel Eintopf vor Aiden ab. Seine Augen quollen ihm fast über, als er das himmlisch duftende Gericht direkt unter seiner Nase hatte.
      Vielen, vielen Dank.
      Energisch griff er zum Löffel. Dabei musste er sich zügeln, denn wenn er jetzt wie ein Ausgehungerter über seine Mahlzeit herfallen würde, wäre es noch unhöflich gegenüber dem Hausherrn. Nein, er musste mit quälender Langsamkeit den Löffel in den Eintopf schieben und ihn gemäßigt zum Mund führen. Es war ein Eintopf überwiegend aus Kartoffeln und Kräutern, der heiß genug war, ihm den Mund zu verbrennen, aber er schluckte trotzdem herunter. Das war das leckerste Gericht, das er vermutlich jemals in seinem Leben gegessen hatte.
      Die jüngere wurde entlassen, sehr zu ihrem eigenen Missfallen. Anscheinend erweckte der Fremde die Neugier der beiden Damen, aber der Bauer wollte davon nichts wissen. Seine Tochter, die wohl Corinne hieß, wurde in ihr Bett verbannt, seine andere Tochter, die ältere, durfte bleiben. Aiden aß, Löffel um Löffel, während er schweigsam zur Kenntnis nahm, dass er hier weit genug vom Krieg entfernt war, dass man ihn vermutlich gar nicht so sehr zu spüren bekommen hatte. Das war gut, damit riskierte er nicht, auf Angehörige der Soldaten zu stoßen, die ihn weiter ausgefragt hätten. Der Bauer zeigte nur mildes Interesse, auch das war gut.
      Er stellte sich selbst und den Hof als Sevenburgh in Illdra vor, zwei Namen, die Aiden als Reisenden und Ausländer nichts sagten. Er konnte nicht einschätzen, ob die Familie vielleicht von adeligem Geschlecht war oder das ganze Dorf mit dem Namen Illdra ein besonderen Status innehatte. Vorerst musste er darauf vertrauen, dass man ihn darin einweihen würde, sollte er hier an angesehene Leute geraten sein.
      "Gerrit Sevenburgh, es ist mir ein - unter den Umständen - besonderes Vergnügen."
      In Richtung der Frau - Edda - sagte er mit einem angedeuteten Nicken:
      "Miss Sevenburgh."
      Edda hieß sie. Ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen, soweit er das in der Dunkelheit hatte beurteilen können.
      Gerrit sprach weiter mit einem fast vernichtenden Tonfall, den Aiden die bislang aufgebaute Hoffnung wieder verlieren ließ. Auch, wenn sie sich gegenseitig vorgestellt hatten, hieß das noch nicht, dass er hier gänzlich aus der Gefahr war. Das Gewehr war noch immer in Griffweite und der Bauer war sich dessen wohl überaus bewusst.
      Schweigend aß er seinen Eintopf, die nächsten Worte mit Vorsicht wählend.
      "Sehr wohl, Herr Sevenburgh. Ich stamme aus gutem Haus."
      Womöglich war das eine Falle gewesen, denn Gerrits Tonfall wurde nur noch schneidender. Der bedrohliche Unterton kribbelte in seinem Nacken und ließ seinen Löffel in der Luft verharren. Ganz behutsam senkte er ihn und betrachtete bedauernd den noch verbleibenden Rest seines Schüsselinhalts.
      Die Frage nach dem Anstand ließ er unbeantwortet. Auch das war höchst unhöflich, dessen war er sich sicher, aber jetzt betraten sie sehr dünnes Eis. Wenn er aufsah, war es vorbei. Wenn er weiter den Blick gesenkt hielt, nun...
      Gerrits lauter werdende Stimme ließ ihn unmerklich zusammenzucken. Er starrte jetzt unablässig auf das Gewehr, weil er damit rechnete, dass der andere jederzeit die Hand danach ausstrecken würde.
      "Dort wo ich herkomme", versuchte er zögernd, "gebietet es der Anstand die Ehrfurcht vor dem eigenen Gastgeber. Ich bin Euch zutiefst zum Dank verpflichtet, aber", und dabei nahm seine eigene Stimme einen festeren Tonfall an, "ich werde nicht meinen Blick heben. Ich bitte Euch dabei nicht um Verständnis, aber um Akzeptanz."
      Für sein eigenes Wohl, wohlgemerkt. Aber der Bauer wusste das nicht, selbstverständlich, es war zu spüren von der Intensität des Blickes, der sich in Aiden bohrte. Die Luft um sie herum schien sich aufzuladen von der angespannten Stimmung, die jetzt von beiden Männern ausging. Gerrit war ganz eindeutig nicht von seinem Gast angetan und Aiden fürchtete, dass die ganze Sache jederzeit eskalieren könnte.
      Er schob die Schüssel kratzend weg von sich.
      "Ich danke vielmals für das großzügige Mahl, doch ich fürchte, es wäre fast besser, wenn ich mich auf den weiteren Weg mache."
    • Als er sich weigerte, dem Wunsch des Hausherrn zu folgen und seinen Blick nicht zu heben, verfinsterte sich die Miene von Gerrit noch ein klein wenig mehr. Seine Augen waren nur noch Schlitze und seine Stirn lag in tiefen Falten. Auch Edda schien es ganz mulmig zu werden, denn sie wusste genau, dass ihr Vater mit Widerworten nur schwer zurechtkam. Er würde darauf bestehen, in seine Augen zu schauen, und Edda wusste nicht einmal, warum seinem Vater dies so wichtig war. Doch Gerrit, der schon misstrauisch geworden war, als er nicht den Familiennamen des Fremden erfuhr, wusste nun ganz sicher, dass er etwas zu verbergen hatte. Denn ganz im Gegensatz zu seinen beiden Töchtern, die neben ihrem Heimatdorf und der Stadt Tasra kaum ein anderes Fleckchen Erde kannten, kam Gerrit in den jungen Jahren seiner Vergangenheit viel herum. Er kannte Estos und er kannte auch die andere Seite... die Asteiner.
      Bestimmend legte er die rechte Hand auf die linke Schulter seines Gegenübers und sagte eindringlich in strengem Ton: "Hebt den Blick!"
      Es klang mehr noch wie eine Bitte als ein Befehl. Überraschend war es, dass sich der Klang von Gerrits Stimme ein wenig in Sanftmut gewandelt hatte. Zögernd, aber ohne weitere Widerworte zu leisten, hob Aiden seinen Blick und sah direkt in die müden Augen des Bauern. Sofort fiel ihm die besondere Färbung darin auf. Es waren braune Flecken auf der blau-grünen Iris zu erkennen. Flecken, die stetig wanderten, nicht still standen. Und Gerrit... er wusste genau, was das bedeutete. Doch er schien nicht schockiert, nicht einmal überrascht. Es legte sich ein Lächeln auf seine Lippen, welches schwer einzuordnen war. Man sah ihm an, dass er erkannte, dass ein Asteiner vor ihm stand. Doch warum wirkte er nicht verblüfft darüber, gar fassungslos? Es war in Estos bekannt, dass Astein ausgelöscht wurde, bis zum letzten Mann. Und hier... hier stand nun einer, in Form und Farbe vor ihm. Doch Gerrit, er tat fast so, als sei er ein gewöhnlicher Kriegsflüchtling aus Wellshafen. Er zog die warme Hand von seiner Schulter, wandte den Blick von seinen Augen ab, während er sprach: "Unsinn. Ihr könnt im Hühnerstall übernachten. Morgen bringen wir Euch zu Axana, der Heilerin des Dorfs. Sie kann sich Euer Bein ansehen. Fehlt ein Ei, schieße ich Euch das andere Bein auch noch in Trümmer!", sagte Gerrit recht trocken, bevor er sich das Gewehr schnappte und den jungen Mann mit einer raschen Kopfbewegung aufforderte, ihm zu folgen. Er trat die Tür hinaus auf den Hof. Sogleich kam ihm Fasco entgegen. Edda traute sich nicht, ihrem Vater und Aiden zu folgen und beobachtete sie vom Fenster aus. Er ging durch den Regen in Richtung Hühnerstall. Seine Füße tauchten tief in den matschigen Untergrund, denn die Menge der Regenmasse, die in Kürze vom Himmel gefallen war, war beachtlich. Im Hühnerstall war es zwar immer noch recht kühl, doch wenigstens war man vor dem Wind und dem Regen geschützt. Die Hühner waren erneut in heller Aufruhr, als der Bauer den Stall betrat und das Gewehr fest mit seinen Händen umklammert hielt. "Da ist ein freier Platz.. Legt Euch da hin. Und ihr, hört endlich mit dem Gegacker auf!", schrie er die Hühner an, doch natürlich hörten nur die wenigsten auf ihren Herrn. "Denkt daran, Asteiner. Macht Ihr einen Fehler, werdet auch Ihr sterben!"
      Das war seine abschließende Drohung, ohne Aiden noch einen Blick gewürdigt zu haben. Er wandte ihm den Rücken zu und wollte den Hühnerstall verlassen, vor dem der treue Hofhund im Regen stand.

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    • Aiden zuckte zusammen, als der andere sich über den Tisch beugte und die schwere Hand auf seine Schulter legte. Die Annäherung gefiel ihm nicht, genauso wenig wie die Art und Weise, wie Gerrit seine Aufforderung noch einmal wiederholte. Er fühlte sich bei der rauen, älteren Stimme des Bauern fast wie ein Junge, der vor seinen Eltern antanzen musste, weil er etwas ausgebadet hatte, und sie jetzt mit einer Weise zu ihm sprachen, die vermuten ließ, dass sie schon längst wussten, was er getan hatte. Es war dieser Gedanke, der ihn innehalten ließ - seine Eltern. Lange dachte er über dieses mulmige Gefühl nach, das in seiner Magengrube währte und das ihn schließlich dazu verleitete, seine Vorsicht aufzugeben. Gerrit war schließlich auch ein Vater. Wie würde es wohl sein, wenn statt Aiden Edda etwa in Astein gestrandet wäre und bei seinen Eltern Zuflucht gesucht hätte?
      Langsam hob er den Blick. Seine Muskeln versteiften sich bei dem Gedanken an die erwartete Reaktion des Bauern. Hätte es auch nur den Anschein gemacht, als würde der Mann zu seinem Gewehr zucken, wäre Aiden vermutlich explodiert.
      Aber die Reaktion kam nicht. Beide Blicke trafen sich und der Asteiner konnte den Moment quasi beobachten, in dem die Iris des anderen über sein waberndes Braun zuckte und ihm auffallen musste, dass es nicht still stand. Besonders aber, was es hieß, dass es nicht still stand.
      Nur lächelte er. Das Lächeln war schwierig einzuschätzen, nicht gerade freundlich, aber auch nicht unfreundlich, nicht warmherzig oder amüsiert, einfach nur... ein Lächeln. Vielleicht eine Reaktion auf den Anblick, derer Gerrit sich selbst nicht bewusst war.
      Für Aiden war es aber genug, um seine bereits angespannten Nerven reißen zu lassen. Mit einem Satz fegte er den Stuhl zurück und kam auf die Beine gesprungen, sein linkes im sofortigen Protest dagegen. Geisterhafte Fühler tasteten ins Erdreich, zu seinem Element hinaus.
      "Ich werde gehen. Bitte verzeiht die Störung. Ich hätte nicht -"
      "Unsinn. Ihr könnt im Hühnerstall übernachten. Morgen bringen wir Euch zu Axana, der Heilerin des Dorfs. Sie kann sich Euer Bein ansehen. Fehlt ein Ei, schieße ich Euch das andere Bein auch noch in Trümmer!"
      Einen Augenblick lang starrte Aiden ihn mit offenem Mund an, dann schloss er ihn langsam wieder. Eigentlich müsste er gehen, er war schon viel zu weit gegangen. Nun wusste man, dass ein Asteiner noch am Leben war und wenn es nur an die falschen Leute geriet, wäre er verloren.
      Aber eine Nacht - nur eine Nacht nicht draußen schlafen mit seinem kaputten Bein. Was machten ein paar Stunden schon für einen Unterschied? Solange er darauf aufpasste, dass Gerrit nicht in der Zwischenzeit das ganze Dorf zusammentrommelte, um es auf Aiden abzusehen, konnte doch eine Nacht nicht schaden. Eine Nacht im Hühnerstall.
      Sein Blick wanderte für einen Augenblick zu Edda hinüber, die das Geschehen mit großen Augen beobachtete, aber hauptsächlich verwirrt schien. Sie hatte gar keine Reaktion auf seine wandelnden Augen, etwas, das Aiden mindestens genauso überrascht wie das Lächeln ihres Vaters.
      Dann wandte er sich Gerrit wieder zu.
      "Einverstanden. ... Habt Dank."
      Natürlich schnappte der andere sich wieder sein Gewehr. Aiden verzog knapp die Miene, dann folgte er dem Mann nach draußen.
      Mittlerweile hatte ein richtiger Wolkenbruch eingesetzt und begoss die ganzen Felder mit überschwänglichem Regen, der kaum abfließen konnte. Die Erde war matschig und jeder Schritt eine neue Qual, aber Aiden biss die Zähne aufeinander, bis sie drinnen waren. Im Vergleich zum kühlen Regen war es dort schon fast warm.
      "Ich danke", murmelte er erneut, während er zu dem ihm angezeigten Plätzchen humpelte. Gerrit sah ihm nicht noch einmal in die Augen, hatte es schon die ganze Zeit nicht mehr getan - vielleicht aus Höflichkeit, vielleicht wegen etwas anderem. Als er ihm den Rücken zukehrte um zu gehen, musste Aiden aber noch eine Sache loswerden.
      "Herr Sevenburgh."
      Der Mann blieb stehen und Aiden zögerte für einen Moment.
      "Ich meinte es ernst damit, dass ich Euch nichts will - nicht Euch und ganz sicher nicht Euren Töchtern. Ich war hungrig und auf der Suche nach etwas Essbarem, mehr nicht. Aber..."
      Er straffte sich zögernd. Nur ein bisschen, denn sehr viel war bei seiner schiefen Haltung sowieso kaum möglich.
      "Wenn Ihr auch nur einem Lebewesen berichtet, wer ich wirklich bin, dann lasse ich Euer Haus einstürzen. Dafür brauche ich weder Hände, noch Augen und wenn Ihr nicht glaubt, dass ich zu so etwas in der Lage wäre, dann würde ich Euch raten, lieber kein Risiko einzugehen. Ich kann Eure Existenz vernichten. Verratet es keinem."
      Und nach einem kurzen Augenblick des Schweigens fügte er, versöhnlicher und hörbar müde, hinzu:
      "Ich möchte nur leben."
      Gerrit nahm es zur Kenntnis. Dann ging er und Aiden humpelte nach einem Augenblick zurück zum Eingang des Hühnerstalls, um den Bauern dabei zu beobachten, wie er zurück in sein Haus ging. An einigen Fenstern brannte noch Licht und an einem davon stand Edda, eine bloße Silhouette auf die Entfernung und durch den Regen. Sie wandte sich ab, als die Haustür hinter Gerrit zuschlug.

      Aiden hatte eigentlich das Haus bewachen wollen um zu sehen, ob der Bauer sich doch irgendwann herausschleichen würde, um seine Existenz weiterzugeben. Das hatte er auch durchgehalten, als die Lichter im Haus schließlich wieder erloschen waren und nichts mehr auf dem Hof übrig gewesen war als der Regen und die finstere Nacht - sogar der Hofhund hatte sich irgendwohin verkrochen und wohl akzeptiert, dass der Mensch jetzt bei den Hühnern saß. Aber irgendwann war die Erschöpfung zu groß gewesen und Aiden war eingenickt. Ein kalter Windzug vermischt mit noch kälterem Regen hatte ihn bald wieder aufgeweckt und da war er doch in den Stall zurück gekrochen und hatte sich zwischen den Hühnern und ihren Nestern zusammengerollt. Er war wieder eingeschlafen und war von einem Fiebertraum in den nächsten gerutscht, von denen er mal zitternd, mal schwitzend und mal weinend aufgewacht war. Irgendwann hatte er sich so sehr an seine Umgebung gewöhnt, um tiefer zu schlafen.
      Sein Bein weckte ihn am Morgen mit einem fürchterlichen Schmerz. Es war noch immer geschwollen und in der Nacht musste er auf dem harten Boden unsanft darauf gelegen haben, was die ganze Sache nicht verbessert hatte. Jetzt war ihm übel von einer Pein, die sich tief in seiner Magengrube eingenistet hatte.
      Fiebrig richtete er sich auf und spähte in einen gräulichen Morgenhimmel hinaus. Der Regen hatte aufgehört, wenn auch nur für den Moment; es konnte jeden Augenblick wieder anfangen. Unweigerlich fragte er sich, ob Gerrit sein Angebot, ihn zur Heilerin zu bringen, wahr machen würde, oder ob er in der Nacht bereits genügend Nachbarn zusammengerottet hatte, um Aiden jetzt mit ihnen aufzulauern. Aber als er zum Eingang des Hühnerstalls kroch und nach draußen spähte, lag der Hof fast schon verlassen da.
      Auf der anderen Seite des Hauses musste es den Brunnen geben, den er gestern gesehen hatte. Er wollte einmal sehen, ob er hinüber humpeln konnte um etwas zu trinken; vielleicht auch, um sich zu waschen. Ihm war bewusst, dass er nicht gerade der sauberste im Moment war und es wäre wohl nur ein Versuch von Höflichkeit, sich für die potentielle Anwesenheit von Damen zumindest etwas ansehnlicher zu gestalten.
    • Ohne ein weiteres Wort verließ Gerrit den Hühnerstall. Unbeeindruckt schien er über die Worte des Asteiners, doch trügte der Schein? Gerrit war nur schwer zu lesen, oft nicht einmal für sein Fleisch und Blut sicher einzuschätzen. Er betrat also kurz darauf die Stube und zog seine vom Matsch verdreckten Schuhe aus. Gerne hätte Edda ihn ausgefragt, denn sie ahnte, dass ihr Vater mehr über den Fremden wusste, als er zugeben wollte.
      "Edda, geh nun auch zu Bett. Die Feldarbeit ruht nicht", sagte er und trat selbst die Treppen als Erster nach oben. Edda befürchtete, dass ihr Vater in dieser Nacht kein Auge schließen würde. Vermutlich würde er auf seinem Stuhl vor dem Fenster sitzen, von dem aus er eine perfekte Sicht über den ganzen Hof genießen konnte, fest sein Gewehr in Händen haltend, bis ihn doch die Müdigkeit übermannte, und er einnickte. Wieder und wieder und wieder. Darum wäre es fatal gewesen, sich nun heimlich hinaus zum Hühnerstall zu schleichen, um dem Gast eine Decke zu bringen. Edda sorgte sich, denn sicher fror er. Doch allein würde ihr Vater sie nicht zu ihm lassen, und er selbst? Er selbst würde nicht einmal im Traum daran denken, dem jungen Mann irgendetwas zu bringen. Dass er zumindest vor dem Regen und dem Wind geschützt war, das beruhigte die junge Frau ein klein wenig. Und so schritt auch sie, kurz nach ihrem Vater, die Treppen nach oben. Bevor sie sich schlafen legte, warf sie einen Blick aus dem Fenster, direkt auf den Hühnerstall. Es schien alles ruhig. Fasco hatte sich offenbar in eine trockenere Ecke verzogen. Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fensterscheiben, und dennoch fand die älteste Sevenburgh-Tochter recht schnell in einen friedlichen Schlaf. Ihrer Schwester würde sie morgen nicht viel erzählen können. Aber vielleicht würden sie beide am Morgen ein wenig mehr über den gutaussehenden jungen Mann mit dem Hinkebein erfahren.
      Am nächsten Morgen wurden die Töchter bereits durch das helle Krähen des Hahns geweckt, der stolz auf einem Holzstamm saß, seinen Hals der aufgehenden Sonne entgegen streckte und umschwärmt wurde von seinen vielen Frauen, von denen man hier und da ein Gegacker hörte. Etwas zögernd öffnete Edda die Augen. Sie war noch recht verschlafen, denn die wenigen Stunden der Ruhe waren eindeutig nicht ausreichend. Als sie die Augen zaghaft öffnete, war das erste, dass sie sah, das aufgeregte Gesicht ihrer Schwester, die auf Eddas Bettkante saß und freudig in die Hände klatschte.
      "Corinne...?", gähnte Edda verschlafen. "Wie lange bist du schon wach?", grummelte Edda nuschelnd und setzte sich auf, bevor sie sich den Schlaf aus den Augen rieb.
      "Oh, schon eine ganze Weile! Ich erwachte in der Nacht und sah immer wieder hinaus zum Hühnerstall. Ich lauschte, und wusste, dass Vater den Fremden doch nicht fortgeschickt hatte."
      "Corinne! Du sollst doch nicht lauschen!", ermahnte sie ihre ältere Schwester, die daraufhin kurz schuldbewusst den Kopf senkte, doch gleich wieder mit leuchtenden Augen in die ihrer Schwester sah.
      "Tut mir leid. Aber die Neugierde hatte mich gepackt. Hast du noch etwas über ihn erfahren? Woher kommt er?"

      "Aus Wellshafen. Oben im Norden. Erinnerst du dich an die Bücher von Tante Susanna?"
      "Oh ja! Natürlich."
      "Er ist offenbar ein Kriegsflüchtling und suchte Schutz vor dem Unwetter. Eigentlich wollte er ein paar Eier stehlen, aber das hatte ich vor Vater verschwiegen", gestand sie der Jüngeren und sie kicherten im Einklang. Manchmal waren sich beide einig, ihrem Vater nicht alles erzählen zu müssen. "Nun komm. Wir gehen hinunter in die Stube und bereiten das Frühstück vor. Ich ziehe mir schnell etwas an, und das solltest du besser auch tun."
      Corinne nickte einverstanden, lief eilig in ihr Zimmer, welches direkt neben dem von Edda lag und zog sich selbst ein schlichtes, hellgrünes Leinengewand über. Die Ältere entschied sich für ein blaues, welches an der Hüfte gebunden wurde und so ein klein wenig ihre zierliche Taille zur Geltung brachte. Ihr Haar band sie sich zu einem langen Zopf. Danach schritt sie hinunter in die Stube, in welcher Corinne schon fleißig den Tisch bestückte.
      "Ich werde schnell nach den Kühen sehen und auch die Schafe schon mal auf die Weide lassen."
      Gerrit war noch nicht zu sehen. So trat Edda also hinaus auf den Hof. Die Sonne stand nun fast in ihrer vollen Pracht am Himmel, der sich von seinen warmen Tönen nun in ein helles Blau färbte. Nur wenige Wolken zogen vorüber. Der Boden unter den Füßen der 18-Jährigen war noch nicht gänzlich getrocknet. Matschpfützen waren überall auf dem Hof zu sehen. Doch das Gras erblühte auf der Weide in einem saftigen Grün. Auf dem Weg zum Stall, in dem neben ein paar Kühen und zwei Pferden auch die Schafe untergebracht waren, und der gegenüber vom Hühnerstall lag, bemerkte sie, dass gerade Aiden in ihre Richtung lief. Er wirkte nicht mehr ganz so schmutzig und heruntergekommen wie am Tag zuvor. Sein Haar schien noch etwas feucht zu sein, was man im Schein des Sonnenlichts gut erkennen konnte.
      "Oh, Guten Morgen. Ihr seid ja schon wach", sagte Edda lächelnd, als sich ihr Weg kreuzte. "Wie habt Ihr genächtigt? War es sehr kalt im Hühnerstall? Ich hätte Euch gerne noch eine Decke gebracht, aber Vater... nun, er ist manchmal etwas eigen. Tut mir leid."
      Ihr Lächeln wirkte aufrichtig und ehrlich. Sie wusste, wie schwierig ihr Vater an manchen Tagen sein konnte. Und dennoch zweifelte niemand an seinem guten Herz.

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.

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    • Aiden kurbelte am Brunnen einen Eimer Wasser empor, trank daraus, wusch sich mit dem eiskalten Wasser das Gesicht und kämmte mit den noch nassen Fingern seine Haare. Er hatte keinen Spiegel um sich zu begutachten und er wusste auch, dass er mit so ein bisschen Wasser kaum den vielen Schmutz der vergangenen Tage loswerden würde. Aber solange er hier war und solange sein Schicksal noch nicht gänzlich besiegelt war, wollte er sich zumindest ein wenig Mühe geben.
      Danach war er ratlos, was er nun tun sollte. Sein Magen meldete sich mit allmorgendlichem Hunger, allerdings hatte Gerrit ihm recht deutlich vermittelt, dass er keine gestohlenen Eier dulden würde und an der Haustür zu klopfen, um nach etwas Brot zu fragen, das wäre so dreist, dass er sich sämtliche Aussichten auf einen tatsächlichen Besuch bei der Heilerin sofort verwirken würde. Er hatte die Kartoffeln noch in seinen Hosentaschen, die fielen ihm jetzt wieder ein, aber rohe Kartoffeln zu essen, würde ihm nur Magenschmerzen bereiten. Und wo käme er hier denn schon an einen Kochtopf, geschweige denn überhaupt an ein Feuer?
      Der Morgen war durch die Wolken ein wenig kühler als der gestrige Tag, daher entschied er sich, einfach wieder zurück zum Hühnerstall zu gehen und sich dort ein wenig hinzusetzen, um sein Bein zu entlasten. Der Weg zum Brunnen war schon langatmig und schwierig gewesen und er glaubte, dass er zu fiebern begonnen hatte; seine Haut fühlte sich ganz heiß an, auch wenn ihm definitiv eher kalt war. Es half auch nichts, dass sich sporadisch auch noch Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten, die ihn gleichzeitig kühlten und viel zu kalt waren. Das eiskalte Wasser hatte dagegen geholfen, war aber machtlos selbst gegen das glühende Feuer in seinem Inneren.
      Auf dem Weg zurück lief er dann aber Edda über den Weg. Zum ersten Mal sah er die junge Frau nun aus der Nähe und das bei hellem Tageslicht. Sie hatte die bäuerliche Kleidung vom gestrigen Tag gegen ein hübsches, gleichmäßig gefärbtes blaues Kleid eingetauscht, das ausgezeichnet ihren braunen, leicht lockigen Haaren schmeichelte. Als sich ihre Blicke begegneten, da erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, das kleine, bis dahin versteckte Grübchen in ihren Wangen hervorlockte. Ihre für Aiden starren, unbeweglichen Augen lagen so sanft auf seinen, dass er sich für einen Moment fast wie gefesselt davon fühlte.
      Wie lange war es schon her gewesen, dass er mit jemandem derartigen Augenkontakt gehalten hatte?
      Ein wenig vermisste er das vertraute, heimige Wabern der Augen seines Gegenübers, wie es alle seine eigenen Leute hatten, aber Eddas Blick war etwas anderes, nicht weniger schlechtes. Dort lag keine Verachtung oder etwa Angst drin, sie betrachtete ihn mit etwas, das Aiden fast normal vorkam. Sie sah ihn als Mensch an und nicht etwa als Asteiner.
      Unwillkürlich erwiderte er dieses Lächeln. Er kam näher gehumpelt und blieb dann im höflichen Abstand zu ihr stehen. Diesmal senkte er nicht den Blick und die braunen Flecken in seiner Iris schwammen in einem langsamen Tempo umher, vereinten sich manchmal, teilten sich wieder und offenbarten blau-grünliche Färbung zwischendrin. Seine Augen schienen stets in Bewegung zu sein, auch wenn seine Pupillen ganz zielgerichtet auf der jungen Frau lagen.
      "Guten Morgen, Miss Sevenburgh. Ihr seid ja ebenso schon auf den Beinen."
      Was für ein lockeres, schlichtes Gespräch. Aiden begriff in derselben Sekunde, in der er mit ihr so freundlich plauderte, dass er eine solch ungezwungene Begegnung bitter vermisst hatte. Er brauchte jemanden, von dem er keinen Argwohn und keine Furcht als Reaktion erwarten musste.
      "Ihr seid zu freundlich, Miss. Ich habe... den Umständen entsprechend genächtigt. Alles in allem war es aber doch angenehmer, als in der Wildnis zu übernachten - es war sehr großzügig von Eurem Vater, Ihr müsst Euch nicht für ihn entschuldigen. Die Hühner haben mir gute Gesellschaft geleistet, wobei ich glaube, dass mich der Hahn nun als Rivalen sieht. Ich würde ihm gerne sagen, dass ich kein Interesse an seinen Frauen hege, aber das wird er mir bestimmt nicht glauben."
      Sein Lächeln weitete sich ein wenig aus. Er wusste gar nicht warum, aber er hatte so ein stilles Bedürfnis, Edda zu amüsieren und vielleicht lachen zu sehen.
      "Oh - wartet."
      Sein Blick glitt kurz zum Haus, dann barg er die Kartoffeln aus seinen Taschen, trat näher und übergab sie ihr etwas ungeschickt.
      "Ich muss gestehen, dass ich mich gestern Abend noch an Eurem Feld bedient hatte. Bitte verzeiht mir ein zweites Mal und wenn es geht, dann nehmt diese Kartoffeln zurück. Ich fürchte, Euer Herr Papa wird seine Drohung tatsächlich noch wahr werden lassen und mir auch das andere Bein wegschießen, wenn er mich damit auffünde."
      Ein bisschen zweifelnd lächelte er wieder, dann wurde sein Gesicht ernst.
      "Sagt, hat er letzte Nacht noch... mit jemandem geredet?"
      Er straffte sich ein wenig und wischte sich knapp den wieder aufkommenden Schweiß von der Stirn.
      "Ich würde gerne vermeiden, dass man erfährt wer ich bin und woher ich komme. Das versteht Ihr doch sicher, oder? Es ist wirklich von dringender Wichtigkeit für mich, unentdeckt zu bleiben."
    • Erst jetzt, als sie direkt vor ihm stand und der Tag fast in seiner vollen Blüte angebrochen war, das Sonnenlicht auf sein Augenpaar fiel, erst da bemerkte die junge Bauerstochter, dass etwas mit seinen Augen... anders war. Das Blau-Grün, davor die braunen, fließenden Flecken, die nie still standen. Doch ihr Vater lehrte sie bereits früh, dass man seinem Gegenüber nicht zu auffällig in die Augen starren sollte. Sie ertappte sich sehr schnell selbst dabei, wich immer mal wieder seinem Blick verlegen aus. Im nächsten Moment aber, konnte sie nicht anders, als die sich windenen Flecken zu beobachten. So etwas hatte sie noch nie zuvor gesehen. War es vielleicht eine Krankheit? Oder gar Magie? Diese Bücher, die über alte Mythen handelten, der Verlockung fiktiven Wissens und allerlei Schabernack, den die Helden in den Sagen getrieben hatten, hasste ihr Vater besonders. Vor allem aber war ihm der regelmäßige Kontakt mit Susanna Calvert, seiner Schwägerin und Schwester von Corinne und Eddas verstorbener Mutter, ein Dorn im Auge. Sie, eine sehr wohlhabende Witwe, die der Welt mit offenen Armen entgegenlief, und dann Gerrit. Der verbitterte Bauer, der sich seit dem Tod seiner geliebten Frau in die Arbeit gestürzt hatte. Sehr oft waren die beiden Töchter, als sie jünger waren, bei ihrer Tante Susanna in Tasra, die zum Zeitpunkt des Todes ihrer älteren Schwester selbst erst zarte 19 Jahre alt war. Zu jener Zeit war es viel mehr die verstorbene Petunia Calvert, die Mutter von Susanna, die sich um die Schwestern kümmerte. Ihr Vater Gerrit hatte viele Jahre nach dem Tod seiner geliebten Frau den Kummer in flüssigem Gold ertränkt. Irgendwann aber, wollte er Verantwortung für das Einzige übernehmen, was ihm aus Fleisch und Blut von seiner Ehefrau geblieben war. Und so nahm er die Mädchen wieder bei sich auf. Immer mit der Unterstützung der Familie Calvert, versteht sich. Nun waren abermals Jahre vergangen, und das verbitterte Herz des Bauern war geblieben. Doch hin und wieder... ja, da konnte er sogar lachen. Besonders dann, wenn er in der Schenke saß, gemeinsam mit den anderen Bauern, und sie sich irgendwelche merkwürdigen Witze erzählten, über die niemand, außer sie selbst, wirklich lachen konnte.
      Edda fand diese Andersart des Fremden, dessen Name und Herkunftsort sie ja immerhin schon kannte, sehr interessant. Auch die Art wie er sprach. Ruhig und entspannt, angesichts all dem, was er durchgestanden haben musste. Auch dass er im Auge der Qual und dem weiten Weg, der hinter ihm lag, noch Sinn für Humor bewies, fand sie beeindruckend. Sie schmunzelte und musste sogar leise lachen, bei der Vorstellung, dass die Hühner, neben ihrem angebeteten Hahn, auch Aiden interessant finden könnten. Sehr kurz - nur für den Bruchteil einer Sekunde -, kam ihr der Gedanke, dass die Hühner nicht die einzigen waren, die ihn interessant finden könnten. Er war ein großer, attraktiver Mann, strahlte eine Ruhe und Gelassenheit aus. Sein Bein... das machte seiner Attraktivität keinen Abbruch. Diesen fast schon schmutzigen Gedanken beiseite schiebend, machte sie große Augen, als er die Ehrlichkeit bewies, auch noch die eingesteckten Kartoffeln herauszurücken.
      "Oh... Danke", antwortete sie ihm schmunzelnd und nahm die wenigen Kartoffeln entgegen. "Bei Vater würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen", scherzte sie, denn eigentlich wusste sie genau, dass ihr Vater niemanden ernsthaft verletzen würde, nur weil man Kartoffeln oder ein paar Eier gestohlen hatte. Erst wenn es um die Sicherheit seiner Existenz, aber vor allem um seine Töchter ging, musste man im Beisein ihres Vaters Vorsicht walten lassen. Erst dann wurde er unberechenbar. Genau wie wenn er mal wieder etwas zu viel über den Durst trank. Auch dann ging man ihm lieber aus dem Weg.
      Über die Frage, ob ihr Vater noch mit jemandem über die gestrigen Ereignisse gesprochen hatte, wunderte sich die junge Frau ein wenig. Fragend legte sie den Kopf in die Schräge, versuchte etwas aus seinen nicht still stehenden Augen zu lesen. Doch außer einem Berg von Fragezeichen, bot sich ihr nichts.
      "Oh, nein, mein Herr. Mein Vater hatte mit niemandem gesprochen. Doch erlaubt mir die Frage, warum-"
      Doch bevor Edda ihre Frage vollenden konnte, hörte sie die Stimme ihres Vater, der den beiden, in der Haustür stehend, zurief: "Kommt herein!"
      "Vater, ich komme gleich!", ließ sie Gerrit wissen, bevor sie ihr Augenmerk wieder auf Aiden richtete und voller Liebreiz lächelte. "Am besten, Ihr geht schon mal hinein. Corinne, meine Schwester, hat das Frühstück vorbereitet. Ihr seid sicher hungrig. Ich komme gleich nach. Ich werde noch nach den Kühen und Schafen sehen", ließ sie ihn wissen und eilte geschwind zur Scheune, um die Kühe und Schafe auf die Weide zu lassen, genau wie die beiden Pferde, die auf einer kleinen, separaten Koppel weideten. Es waren ältere Kaltblüter, die eine große Unterstützung für die Feldarbeit boten und sie überall hinbringen konnte, würde denn ihr Vater es erlauben. Das tat er natürlich nicht. Und so beschränkte sich der Umkreis der Schwestern auf das nächste Dorf und Tasra. Manchmal, da wünschte sich Edda einfach auf den Rücken eines der mächtigen Pferdes zu steigen und davon zu reiten. Dem Bauernleben den Rücken zu kehren und die Welt zu entdecken. Ihre "Tagträumerei", wie ihr Vater ihren Wunsch stets betitelte, hatte sie noch nicht aufgegeben. Irgendwann würde sie mehr sehen als ihr Dorf und Tasra. Ob ihr Vater nun einverstanden war oder nicht.
      Im Inneren des Bauernhauses saßen Gerrit und Corinne bereits am Tisch. Es gab einen Brotlaib vom Vortag und neben etwas Obst war der Tisch für ein Bauernhaus recht reich bestückt.
      "Setzt Euch", bot der Hausherr an, während er sich bereits eine Scheibe Brot mit einem Stück Käse schmecken ließ und auch Corinne Haferbrei zu sich nahm. "Ich sah, dass Ihr mit meiner Tochter spracht, draußen auf dem Hof", merkte er an. Und wieder war da dieser durchbohrende Blick, der Aiden bis ins Mark reichte. "Ich werde Euch nachher zur Heilerin führen, so wie ich es Euch versprach. Eure Herkunft gebe ich niemandem preis."
      Bei diesen Worten horchte die neugierige Corinne auf, doch das Wort Asteiner würde sie aus dem Munde ihres Vaters nicht hören. Und so wusste sie nicht, was er mit seiner Herkunft genau meinte. Immer langsamer führte sie den Löffel mit Haferbrei zu ihrem Munde, um bloß nichts zu verpassen. "Damit ist mein Sold getan. Ich kann und werde euch nicht weiter helfen. Drum bin ich sicher, dass dies mehr Hilfe ist, als ihr je erfahren werdet."
      Nun, nachdem er den letzten Bissen hinuntergeschluckt hatte, legte er seine beiden flachen Hände auf den Tisch, sah Aiden eindringlich an, als er sprach: "Von meiner Tochter haltet Ihr Euch fern! Sehe ich noch einmal, dass Ihr allein mit ihr sprecht, obgleich Ihr nach dem heutigen Frühstück keine Gelegenheit mehr dazu haben werdet, werdet Ihr es bereut haben, jemals unseren Hof besucht zu haben!"
      Nun entspannte er sich wieder ein klein wenig und aß das letzte Stück Käse. Mürrisch, und ohne dem Asteiner in die Augen zu sehen, grummelte er vor sich hin: "Sie wartet nur auf eine Gelegenheit wie diese, um Ihren Hirngespinsten nachzueifern."
      Den Wünschen ihrer Tochter konnte der Bauer rein gar nichts abgewinnen. Ging es nach ihm, würde sie bald verheiratet sein und endlich Enkelkinder zur Welt bringen. so wie es sich für eine anständige Bäuerin gehörte!

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.
    • Mit erhellendem Gemüt beobachtete Aiden, wie sich Eddas Gesichtszüge aufweichten und sie leise lachte. Es war fast so, wie er es sich vorgestellt hatte: Ihre Augen verkleinerten sich und seichte Lachfältchen bildeten sich um ihren Mund. Ihre Stimme war hell und weich, fast schon so samtig wie beim Sprechen.
      Aiden gefiel es. Und das war beinahe schon ein gefährlicher Gedanke.
      Er bemerkte auch erleichtert, dass Gerrit mit niemandem gesprochen haben musste, was seine eigene Frist noch etwas aufschob. Wer weiß, vielleicht würde er ja wirklich noch eine Heilerin zu sehen bekommen. Es wäre beinahe schon zu schön, um wahr zu sein.
      Bevor die junge Miss Sevenburgh ihre Frage aber noch aussprechen konnte, öffnete sich die Haustür und der Bauer rief sie herein. Das war eine zweite Sache, die Aiden kaum fassen konnte: Er durfte allem Anschein nach sogar mit ihnen frühstücken. Frühstücken! Wie sehr ihn der Ausblick darauf schon beflügelte.
      Ihr alle seid zu freundlich zu mir. Habt vielen Dank.
      Er lächelte und sein Lächeln wurde mit den strahlendsten Augen belohnt, die er jemals hatte erblicken dürfen.
      Edda ging fort zu den Scheunen und Aiden humpelte derweil zurück zum Haus. Die Stiefel schabte er am Eingang sauber, den rechten besser als den linken. Drinnen konnte er sich diesmal erlauben, die Stube zu betrachten.
      Vater und Tochter saßen bereits an einem Tisch, der großzügig gedeckt war. Brot, Käse, Schinken, Obst, Hafer; fast hätte man hier einen König nähren können. Es sah alles so frisch und gut aus, dass Aiden direkt das Wasser im Mund zusammenlief.
      Bescheiden hinkte er heran und ließ sich auf demselben Platz vom Vortag nieder. Diesmal begegnete er Gerrits Blick.
      Habt vielen Dank.
      Die Augen des Bauern waren an den Rändern gealtert und schon ein wenig trüb. Es lag ein Schatten in ihnen, den Aiden nicht so ganz benennen konnte, der ihn aber an eigene, schlaflose Nächte erinnerte. Sie waren auch hart; seine Iris mochte eine durchgehende Färbung haben, aber das hinderte den Mann nicht daran, Aiden mit der Macht seines Blickes allein zu bannen. Der bemühte sich trotz allem um ein höfliches, anständiges Auftreten.
      Ich habe Eurer Tochter einen guten Morgen gewünscht und mich für den Aufenthalt an Eurem Hof bedankt. Derselbe Dank gebührt auch Euch, guter Herr.
      Neben ihnen saß die kleinere Tochter, die ihren Vater und den Fremden mit großen, neugierigen Augen beobachtete. Aiden hätte ihr gerne zugelächelt, wollte aber nicht den Zorn des Hausherrn riskieren, dem es schon zu missfallen schien, dass Aiden mit seiner Tochter gesprochen hatte.
      Unbeweglich sah er dem älteren Mann in die Augen.
      Ihr seid zu gütig zu mir. Sollte ich jemals einen Weg finden, mich bei Euch zu revanchieren, werde ich keine Mühe dafür scheuen.
      Er lächelte schüchtern. Der Bauer lächelte nicht zurück.
      Es folgte ein Moment des Schweigens, in dem nun auch Aiden sich traute, sich etwas vom Tisch zu nehmen. Er versuchte, seinen Hunger nicht allzu sehr preiszugeben, konnte aber kaum kauen, bevor er schon den nächsten Bissen nehmen wollte. Unter dem Essen legte Gerrit irgendwann beide Hände auf den Tisch und ließ den jüngeren Mann innehalten. Fast schon schreckhaft nahm er die ausgesprochene Warnung zur Kenntnis.
      Ich habe verstanden, Herr Sevenburgh. Ich werde nicht noch einmal allein mit Eurer Tochter sprechen.
      Das war… nun, das war irgendwie schade. Edda schien Aiden wie ein liebreizendes Mädchen, mit der er sich gerne weiter unterhalten hätte. Aber solche Vorstellungen waren reine Träumereien, die sowieso nicht in Erfüllung gehen würden. Am morgigen Tag würde er schon auf der Straße weitergehen und Edda als ledigliche Erinnerung zurücklassen.
      Nach dieser Warnung suchte der Bauer nicht noch einmal das direkte Gespräch. Aiden war sehr beschäftigt damit, sich darauf zu konzentrieren, nicht allzu viel zu essen, damit er der Familie nicht unnötig zur Last fiel. Als Edda schließlich zu ihnen stieß, hob er noch nicht einmal den Kopf aus Sorge, der Hausherr könne das als Provokation auffassen. Ihre Schwester Corinne sah er auch nicht an. Eigentlich richtete er seinen Blick entweder auf den Teller vor sich oder ganz flüchtig auf Gerrit.
      In der warmen Stube, ohne die regnerische Kälte von draußen, wurde ihm bald schon schnell warm. Mehr noch als das, ihm wurde regelrecht heiß, während er sich mit einem Krug Milch noch abzukühlen versuchte. Seine Haut schien zu glühen, mehr noch als beim Brunnen, wie ein Feuer, das ihm durch die Adern floss. Das geschwollene Bein pochte gegen die Begrenzung seiner Hose an.
      Wie sehr er sich jetzt gerne hingelegt und geschlafen hätte, ganz egal wo, aber am besten genau hier, in der warmen Stube. Sich einfach irgendwo zusammenrollen und schlafen, so lange schlafen, bis der Sommer und auch der Winter vorbei wären. Ja, das wäre jetzt gut, das wäre wirklich, wirklich gut.
      Ein schwummriges Gefühl machte sich zunehmends in seinem Kopf breit, das sich auch schnell weiter ausbreitete. Konzentriert starrte er auf seinen Teller und blinzelte die Schleier fort, die sich in seinem Gesichtsfeld auszubreiten drohten. Er hob eine Hand an seine Stirn und bemerkte schockiert, dass er sie kaum wahrnahm, als er sich den Schweiß wegzuwischen versuchte. Alles schien mit einem Mal gedämpft und zu weit weg von ihm zu sein. Ihm war so heiß.
      Verzeihung, ich…
      Er schob den Stuhl knarrend zurück. Sein Bein fühlte sich an, als würde es jede Sekunde aus den Nähten seiner Hose platzen.
      Ich brauche ein wenig frische Luft, glaube ich…
      Abgehackt stand er auf und die Welt verschwamm vor seinen Augen. Sein rechtes Bein gab fast kraftlos unter ihm nach, während er blind nach dem Tisch angelte, um sich festzuhalten. Ihm war so heiß.
    • Gerrit verlor kein weiteres Wort am Tisch. Auch als seine Tochter Edda die Stube betrat, hob er nur flüchtig den Kopf. Dass er recht oft mürrische Tage durchlebte - und andere durchleben mussten -, das war den Schwestern durchaus bekannt. Darum schob die Bauerstochter es nicht einmal auf Aiden, der immerhin mit ihnen frühstücken durfte. Das war schon so etwas wie ein Privileg. Nachdem auch Edda sich niedergelassen hatte, auf dem einzig freien Stuhl, der übrig geblieben war, direkt gegenüber ihres Gastes, nahm sie sich eine Scheibe des Brotlaibs vom Vortag und ließ sich auch einen frischen, saftigen Apfel schmecken. Gerne hätte die 18-Jährige die ruhige Stunde, fern der harten Feldarbeit, genutzt, um den jungen Mann auszufragen. Und da war sie sicher nicht die Einzige an dem rechteckigen Tisch, der gerade genug Platz für vier Parteien bot. Doch die Lehre des guten Anstands war Gerrit schon immer wichtig gewesen. Und dazu gehörte auch beim Essen zu schweigen. Darum waren es nur einzelne, flüchtige Blicke, die sie dem fast Fremden zuwarf. Und hin und wieder war sogar ein Lächeln darunter, ganz zum Missfallen ihres Vaters. Doch ein Räuspern, oder der bestimmende Faustschlag auf den Tisch blieb aus. Was ihm nicht entging, und ebenso wenig den beiden jungen Damen am Tisch, dass sich Aiden zunehmend unwohl fühlte. Er begann zu schwitzen. Gut erkennbar an den Schweißtropfen auf seiner Stirn, die langsam seine blasse Wange hinunter rannen und letztlich an seinem Kind mündeten. Er wirkte unruhiger, hatte zunehmend mit kaum zu verdrängenden Schmerzen zu kämpfen. Gerne hätte Edda nach seinem Befinden gefragt. Und auch Corinne lag es auf der Zunge, zu erfahren, was ihrem Gast fehlte. Als dieser sich dann aber entschuldigte, sich auf wackeligen Beinen erhob und kurz darauf auch schon den Halt verlor, sprang Gerrit förmlich von seinem Stuhl auf und bewahrte den Asteiner vor dem unsanften Fall auf den Boden. Er hielt ihn in seinen Armen. Offensichtlich hatte er zu diesem Zeitpunkt sein Bewusstsein schon gänzlich verloren. Die beiden Mädchen wirkten fassungslos, ängstlich und betroffen. Beide tauschten hektische Blicke aus, folgten aber blitzschnell den Anweisungen ihres Vaters, Aiden in die obere Etage zu befördern. Mit vereinten Kräften half Edda ihrem Vater, den kräftigen jungen Mann in die erste Etage des Bauernhauses zu hieven. Jede Stufe fühlte sich wie ein Kraftakt an, denn Aiden war in diesem Moment so schwer wie ein Sack Zement. Corinne hechtete derweil zum Brunnen, um frisches Wasser zu besorgen, benetzte einen Lumpen, welchen sie samt gefülltem Eimer eilig zum Bett ihres Vaters brachte, auf dem nun Aiden lag, im Schweiße seines Angesichts. Er wirkte dämmerich, schien sich zurück zu seinem Bewusstsein kämpfen zu wollen, doch so recht schien ihm das nicht zu gelingen. Sorgenvoll betrachteten Edda und Corinne den Asteiner. Gerrit legte den nassen, feuchten Lumpen auf Aidens blasse Stirn. Einige Sekunden vergingen, in denen eine bedrückende Stille herrschte.
      "Er fiebert sehr hoch, Vater...", sagte Edda leise, sprach aus, was offensichtlich war.

      "Ich werde Axana zum Hof bringen. Ihr öffnet niemandem die Tür."
      Die Mädchen schienen einverstanden, auch wenn es Gerrit nicht recht war, seine Mädchen bei einem Asteiner zurückzulassen. Doch dieser würde sterben, würde er ihn ohne Hilfe liegen lassen. Der Bauer erhob sich von seinem Bett. Der Ausdruck in seinen Augen wirkte erschöpfter als an den restlichen Tagen im Jahr. Tiefe, dunkle Schatten zeigten sich unter seinen Augen und seine Wangen sahen eingefallen aus. "Wenn er sich merkwürdig verhält... lauft. Rennt weg und schaut nicht zurück! Ich meine es ernst...", sagte er eindringlich zu seinen beiden Töchtern. Und es waren die letzten Worte, die er sprach, bevor ihr Vater das Haus verließ und schneller als seine Füße ihn tragen konnten, zur Dorfmitte hechtete. Die Mädchen wachten am Bett ihres Gastes. Und die Minuten vergingen. Aiden erlangte sein Bewusstsein nicht zurück. Hin und wieder stöhnte er und windete sich, als würde ihn ein grauenvoller Albtraum plagen. Die Mädchen legten das Bein frei, welches ihm solch eine Pein bereitete. Es war stark geschwollen, und berührte man es, spürte man ein schnelles, aber gleichmäßiges Pochen.
      "Was glaubst du, meinte Vater, als er sagte, dass er sich merkwürdig verhalten könnte?"
      Im ersten Moment schien Edda darauf keine Antwort zu kennen. Doch dann beschloss sie das Wahrscheinlichste in Erwägung zu ziehen. "Vater sorgt sich doch immer so sehr um uns... vermutlich wollte er uns nur sagen, dass wir nicht die Heldinnen spielen sollen. Immerhin kommt Aiden aus dem Krieg. Wer weiß schon, was er gesehen hat... und was er durchleiden musste... zu was er fähig ist..."
      Und wieder war da dieses qualvolle Stöhnen.
      "Denkst du, er wird gleich sterben?", fragte Corinne nervös und kreuzte immer wieder ihre schweißbedeckten Finger.
      Edda, die auf Aidens Bettkante saß, den Blick von ihm abwandte, um zu ihrer Schwester zu sehen, schüttelte heftig den Kopf.
      "Unsinn. Er ist stark... Und Vater wird gleich zurück sein", antwortete sie, richtete erneut ihren Blick zu dem jungen Mann, dessen Haarsträhnen an seiner Stirn klebten. Zaghaft berührte sie seine Wange, kurz darauf seine heiße Stirn. "Er glüht... aber er wird es schaffen. Halte durch", flüsterte sie ihm leise zu, so als wären die letzten beiden Worte nur für ihn allein bestimmt.
      Es dauerte eine halbe Ewigkeit bis Gerrit mit Axana zum Bauernhaus zurückkehrte. Die Frau im langen, erdfarbenen Gewand und dem auffallenden Halsschmuck aus Gold und Perlen, betrat das Zimmer des Bauern. Ihr Gesicht wirkte uralt, ihre Stimme krätzig und ihre Statur hager, leicht gekrümmt und alles in allem war sie nicht größer als ein laufender Meter. Als die Heilerin das Zimmer betrat, erhoben sich die Mädchen voller Respekt und verbeugten sich kurz vor der alten Frau, die in Illdra und auch in weiteren Teilen Estos einen ausgezeichneten Ruf genoss.
      "Lasst die Formalitäten, Mädchen!", fuhr sie die beiden Sevenburgh-Töchter an, noch bevor sie einen Laut von sich geben konnten. "Geht hinaus! Ich werde mich um ihn kümmern."
      Nur beim genauen Hinsehen erkannte man, dass die Heilerin, die nur als "Axana" bekannt war, vor vielen Jahren erblindete. Eine Krankheit. Eine der wenigen, für die auch sie keine Heilung fand. Doch sie war schon öfter im Haus der Sevenburghs zu Besuch und kannte sich recht gut in dem Bauernhaus aus. Darum fand sie ohne große Probleme das Bett, auf welches sie sich niederließ. Die Mädchen und Gerrit hatten in dieser Zeit das Zimmer verlassen. Die Töchter wurden sogleich auf das Feld geschickt, während Gerrit sich um die Tiere kümmerte.

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.

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    • Die Welt entglitt ihm und dann befand Aiden sich in einem merkwürdigen Schwebezustand. Formen und Farben prasselten auf ihn ein, Stimmen die sich anhörten, als kämen sie von Unterwasser und von weit entfernt. Sein Körper fühlte sich fremd und schwer an, eigentlich war er sich gar nicht sicher, ob er überhaupt einen Körper besaß. Mehrmals versuchte er wieder die Augen zu öffnen, aber er hatte keine Kraft dort, wo er sich jetzt befand, und seine Augenlider folgten seinem Willen sowieso nicht.
      Bilder entstiegen seinem Unterbewusstsein, die sich aus den flüchtigen Formen zusammensetzten. Er sah einen Berg, so hoch, dass der Gipfel in den Wolken verschwand, mit einem Loch in der Mitte. Sein Zuhause. Er sah einen Strand, dessen Sand nicht gelb, sondern rot war, einen Himmel, der von Rauchwolken bedeckt war. Wasser schien über ihm einzuschlagen und im nächsten Augenblick war er vom Schiff gefallen und die Strömung packte ihn, riss ihn fort und runter, weiter runter, immerzu runter. Er wollte dagegen ankämpfen, aber sein Körper war so schwer, und wenn er den Mund öffnete um zu schreien, kam nichts dabei heraus. Er war alleine. Er fiel. Er ertrank.
      Sein Geist teilte sich und schlüpfte wie von selbst ins Erdreich hinein. Im einen Moment waren seine Fieberträume noch von unzusammenhängenden Szenen geprägt, im nächsten spürte er die vertraute Kälte der Erde. Im Erdreich zu sein war etwas anderes als oben, denn dort besaß er keinen Körper und damit auch keine Augen, keine Ohren, keinen Mund. Nur er alleine mit der Erde, die sich bis in die Unendlichkeit in alle Richtungen erstreckte. Die Erde war er, er war die Erde, sie beide waren jetzt ein und dasselbe. Bewegte er sich, würde auch sie sich bewegen.
      Doch die Träume hörten nicht auf, die Halluzinationen, die ihn auch in den Schlaf verfolgten. Er war an der Front und kämpfte, er war in einem brennenden Dorf, er war auf einem Schiff, während am Horizont hunderte, nein tausende, nein millionen Schiffe auf ihn zufuhren.
      Im Traum schrie Aiden. In der echten Welt kam nicht mehr als ein leises Wimmern über seine Lippen.
      Er kämpfte, in seinen Träumen und mit seinen Träumen. In seiner Erinnerung, als auch in der echten Welt, hatte er immer Angst gehabt, aber eigentlich war er eine Kämpfernatur, nicht? Immer nur weiterkämpfen. Hauptsache er konnte kämpfen.
      In der echten Welt zuckte er und warf stöhnend den Kopf auf eine Seite, als die Heilerin eine Hand nach ihm ausstreckte. Der nasse Lappen auf seiner Stirn kühlte ihn, aber seine Haut war immernoch brennend heiß. Er wand sich, schnaufte leise. Die Fingerspitzen der Heilerin berührten seine Haut.
      Mit einem Mal riss Aiden die Augen auf. Sie waren jetzt vollkommen braun, das blau-grün in ihnen verschwunden, selbst die verengten Pupillen mit Stichen von Braun durchsetzt. Sie waren nichtsehend, genauso wie sein Körper nichtfühlend war, als seine Hand nach oben schoss und die Heilerin am Handgelenk packte.
      Er zog ihr Bewusstsein mit sich ins Erdreich.
      Plötzlich waren sie zu zweit dort unten, sie waren die Erde und die Erde war sie. Die Erde gehorchte ihnen - oder eher Aiden.
      In seinem Kampf mit seinen Träumen griff er nach ihr aus. Sie gehorchte seinem Willen und setzte sich in Bewegung.
      Zuerst war es nur wie eine Welle, tief genug unter der Oberfläche, dass man sie nicht spüren konnte. Doch sie kam nach oben, nach und nach, bis der Boden schließlich zu vibrieren begann, die Erde unter dem Haus, die Felder, das Loch beim Brunnen. Das alles schien zu vibrieren, bevor ein tiefes, gedämpftes Rumoren ertönte, als sich noch so viel mehr tief in der Erde in Bewegung setzte. Aiden rief sein Reich zur Hilfe und es antwortete ihm. Es vibrierte und schließlich erbebte es großflächig. Das Haus erzitterte, die Scheune wackelte ein wenig. Hühner wurden gackernd aufgeschreckt.
      Und inmitten allem war Axana selbst, die nun ebenfalls die Erde spürte. Die Erde und Aiden.
    • Als Axana, die Heilerin, mit ihren langen, hageren und von Sehnen übersäten Händen die seine berührte, hinab wanderte zu seinem verletzten Bein, dabei die Augen schloss und sich gedanklich Worte zurecht legte, die ausgesprochen zum Heilen seines Peins führen sollte, spürte sie schnell, dass er kein Einheimischer war. Die Stärke, die durch seine Adern floss, das Anders sein, die Kraft, den Boden unter ihren Füßen vibrieren zu lassen und das ganze Bauernhaus dem Einsturz nahe zu bringen, war nicht von der Hand zu weisen. Und zu leugnen, dass dies gerade tatsächlich geschah, war es auch nicht. Denn auch wenn sich zu diesem Zeitpunkt des Geschehens niemand der Bewohner im Bauernhaus befand, so war der erschütterte Erdboden noch auf den Feldern zu spüren. Schwach, wie leichte Schwingungen im Erdreich, aber sie waren da. Die Mädchen schauten mit angsterfüllten Augen in Richtung des Hauses, legten ihre Feldarbeit für den Moment nieder. Und auch Gerrit, der seine Töchter sogleich zur Weiterarbeit drängte, musste, als er aus dem Schweinestall kam, einen Moment inne halten. Was ging da drin nur vor sich? Das war wohl die Frage, die sich alle drei Seelen in diesem Moment stellten.
      Indes hielt Axana ihre bernsteinfarbenen Augen geschlossen. Sie war ohnehin fast blind, konnte lediglich noch hell und dunkel unterscheiden. Doch das Bild, welches sich vor ihrem inneren Augen abzeichnete, war gestochen scharf. Es war ein Bild, dass sich selbst von einer Frau, die zweifellos eine beachtliche Magiebegabung besaß, nur schwer deuten ließ. Es war, als sei sie die Erde, ohne ein genaues Bild zu erkennen. Braun, Gestein, sich schwingende Wellen, das Geräusch von Wirbelstürmen und dann... dann wurde es still. Kein Windhauch, kein Vogel, der sang und kein Kieselstein, der fiel. Nichts. Sie spürte, dass sie ging. Jemandem entgegen. Es war eine schwache Silhouette in der Ferne zu erkennen. Schwarz, hinter dieser ein grelles Licht. Die Person, deren Identität sie nicht ausmachen konnte, streckte die Hand nach ihr aus. Die Füße der alten Frau bewegten sich weiter. Unweigerlich streckte sie dem Unbekannten ihre Hand entgegen, doch gerade als sich die Fingerspitzen berührten, riss auch Axana schwer atmend ihre Augen auf und sah hinab zu dem jungen Mann, der in einen erneuten Fieberkrampf gefallen war. Sie spürte seine kaltschweißige Haut. Seine Stirn hingegen brannte. Er zitterte vor Schmerz. Die Beben, die er allein durch seinen Willen erzeugt hatte, ließen langsam nach. Axana wusste, woher er kam. Dass er ein Asteiner war. Und unmittelbar musste sie sich die Frage stellen, ob Gerrit wirklich angenommen hatte, dass sie nicht in Windeseile dahinter kommen würde.
      "Ruhig", sagte die Heilerin, und es klang viel mehr wie ein Befehl als eine Bitte. Sie legte ihre Hände auf sein verletztes Bein, welches zweifellos die Ursache seines Schmerzes war. Sie flüsterte Worte in einer fremden Sprache, schloss dabei die Augen. Die Worte reihten sich Silbe für Silbe schneller aneinander, bis sie verstummte und Aiden in einen Schlaf fiel.
      Die hagere Frau beschloss am Abend noch einmal nach Aiden zu sehen. So verließ sie das Bauernhaus, verabschiedete sich bis zum besagten Abend von der Familie. Diese war den ganzen Tag mit Feldarbeit beschäftigt. Hin und wieder sah jemand nach ihm. Meistens war es Gerrit, doch wenige Male, da schlichen sich auch die beiden neugierigen Mädchen nach oben, um einen Blick auf den gutaussehenden jungen Mann zu erhaschen, dem es ganz offensichtlich besser zu gehen schien. Seine Stirn fühlte sich nicht mehr so heiß an und das schmerzvolle Stöhnen war ebenfalls verstummt. Als sich die Sonne schon allmählich verabschiedete und die Mädchen bereits den Tisch zum Abendessen gedeckt hatten, schlich sich Edda die Treppen ein letztes Mal nach oben. Ihr Vater war noch dabei, die Tiere in die Scheune zu bringen und nach einem verletzten Kälbchen zu sehen. Als Edda das Zimmer ihres Vaters betrat, war Aiden zu ihrer Verwunderung wieder bei Bewusstsein.
      "Oh, Ihr seid wach. Wie geht es Euch?", fragte sie lächelnd und setzte sich auf seine Bettkante. Das Haar trug sie inzwischen, wie häufiger am Abend, geöffnet, und die leichten Wellen glänzten im Abendlicht, welches durch die untergehende Sonne durch das Fenster fiel. Sie hatte sich von der Feldarbeit am Bachlauf gewaschen, so wie jeden Abend, und das blaue Leinengewand war durch ein schlichtes erdfarbenes gewichen. Um die Taille trug sie eine dunkelbraune Schürze und hölzerne Schuhe an ihren Füßen. Meistens aber bevorzugte sie es, sich ohne Schuhe fortzubewegen und das feuchte Gras unter ihren nackten Füßen zu spüren. Es gab ihr das Gefühl von Freiheit, denn sie wusste, dass sich das Gras an jedem Fleck auf der Welt gleich anfühlte. Genau wie der Himmel, unter dem alle Menschen lebten, denn es gab nur diesen einen. Wie die Sterne, der Mond und die Sonne. "Axana, die Heilerin des Dorfes, wollte am Abend nochmal nach Euch sehen. Sie sagte, dass es Euch sicher bald besser gehen würde, sie Euer Bein aber wohl nicht mehr vollends heilen könnte."
      Etwas bedrückt wirkte Edda schon, als sie ihm dies mitteilte. Doch da sie immer etwas Gutes in allem Schlechten fand, fügte sie lächelnd hinzu: "Aber solange Euer Schmerz erträglicher wird und Ihr kein Fieber mehr leiden müsst, ist doch schon viel gewonnen."

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.

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