One of the Last (Codren & Nordlicht)

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    • Im einen Moment noch hallte das Erdreich von dem geisterhaften Kampf des weit und breit einzigen Asteiners wider und im nächsten war es vorbei. Aiden glitt von einem Fiebertraum in den nächsten, zitternd und mit unsichtbaren Armen die Erde bewegend, und dann verfiel er in einen traumlosen Schlaf. Das Fieber ging mit der Schwellung seines Beines zurück, als sich gerissene Blutgefäße schlossen und kaputtes Gewebe sich wieder stärkte. Selbst der Knochen, oder eher das, was in diesem Stadium davon übrig war, schien sich mit den Einzelteilen verbinden zu wollen, aber er ließ sich nicht wieder zusammensetzen. Der Bruch war zu groß, die Verletzung zu alt. Es musste dabei belassen werden.
      Die Heilerin ging und Aiden schlief viele, ungestörte Stunden, in denen er lange vermissten, guten Schlaf aufholte. Er rührte sich kaum und schlief wie ein Toter, während sein Körper sich noch erholte. Aber sein Atem war gleichmäßig und er schwitzte nicht mehr.
      Als Aiden dann nach vielen Stunden zum ersten Mal aufwachte, war er völlig orientierungslos. Er war wohlig warm und lag in einem Bett, das so weich wie Himmelswolken war. Eigentlich hätte er nichts lieber getan, als sich umzudrehen und einfach weiterzuschlafen, aber die Wärme und die Sicherheit schienen ihm trügerisch. Er sollte nicht einfach so hier liegen bleiben, bis er nicht wusste, wo er war und ob er wirklich in Sicherheit war. Da zwang er sich doch wach zu bleiben und richtete sich auf, bis er sich sitzend ans Kopfende lehnen konnte.
      Der Raum, in dem er lag, war von der untergehenden Sonne in ein dämmriges Licht getaucht. Es roch hauptsächlich nach altem Holz, nach Erde - einer von Aidens Lieblingsgerüchen - und ganz entfernt nach Stall oder Heu oder irgendwas mit Tieren. Aus dem Winkel, den er auf das Fenster hatte, konnte er einen abendroten Himmel erblickten.
      Dumpf erinnerte er sich, dass er mit der Bauersfamilie zum Frühstück gegessen hatte und dass Gerrit ihn eigentlich zur Heilerin hatte bringen wollen. Er erinnerte sich, dass er versucht hatte, den Bauer nicht weiter zu reizen und dass ihm unheimlich heiß gewesen war - heiß und dann auch noch schwindelig. Danach herrschte in seiner Erinnerung ein großes schwarzes Loch.
      Er blieb eine Weile lang so sitzen und lauschte auf Geräusche, bis von unten gedämpfte Stimmen heraufkamen, Schritte und außerdem so etwas, das sich wie das Geklapper von Geschirr anhörte. Sogleich versteifte er sich. Man hatte ihn doch nicht ausgeliefert oder? Sollte er noch verschwinden, solange ihn niemand beachtete? Sein Bein fühlte sich auf wundersame Weise schon besser an, der Schlaf hatte wohl wirklich gut getan.
      Bevor er aber noch einen Fluchtplan hätte zusammenstellen können, kamen ein paar dieser Schritte näher und Aiden blickte mit angespannter Haltung auf die Tür. Als es dann nur Edda war, die hereinkam - er befand sich wohl noch im Haus - hätte er vor Erleichterung fast laut ausgeatmet.
      "Hallo."
      Er schenkte ihr ein Lächeln, das hoffentlich freundlich genug herüberkam. Seine Stimme kratzte ihm im Hals und er musste sich mehrfach räuspern.
      "Es geht mir nicht schlecht, eigentlich sogar ganz gut. Sagt, was ist passiert?"
      Ella kam näher und setzte sich furchtlos auf die Bettkante. Sie trug ihr Haar wieder offen, was sie wohl häufiger abends tat, und trug ein Gewand in Aidens Lieblingsfarbe, das ihr ganz ausgezeichnet stand, wie er fand. Von diesem Gedanken sollte bloß Gerrit nichts mitbekommen.
      Sie setzte sich auf die Seite des Fensters und für ein paar Sekunden lang strich das sanfte Rot der Abenddämmerung über ihre Haare hinweg, beleuchtete einzelne Strähnen und ließ ihre Augen aufleuchten. Edda war eine erstaunliche, wunderschöne Frau, wie Aiden durch den Kopf schoss. Jung, ja, aber davon entsprang ihre Schönheit nicht alleine. Er konnte sich gut vorstellen, wie sie mit ein paar Jahren älter eine genauso umwerfende Schönheit darstellen würde - vielleicht sogar noch mehr als das. Die Männer würden ihr wortwörtlich hinterherlaufen.
      Aiden blinzelte diese Gedanken beiseite, denn sie rühmten sich keineswegs für eine fremde Frau, deren Familie so nett war, ihm Unterschlupf zu gewähren. Stattdessen versuchte er sich auf ihre kurze Zusammenfassung der Geschehnisse zu konzentrieren und den leichten Heiligenschein um ihren Kopf herum auszublenden.
      Eine schier unmögliche Aufgabe, wie sich herausstellte.
      Es erleichterte ihn aber doch zu hören, dass die Heilerin hatte helfen können. Nur nicht in dem Maße, wie er es sich vielleicht gewünscht hätte.
      "Oh."
      Er sah auf sein Bein hinab, das unter der Decke verborgen lag. Vielleicht spiegelte sich da etwas in seinem Gesicht wieder, das der Bäuerin auffallen musste, denn sie schob gleich hinterher, dass es doch wenigstens gut sei, keine Schmerzen mehr zu leiden. Das fand Aiden auch und weil er sie nicht mit seinen trübseligen Gedanken herunterziehen wollte, lächelte er zur Antwort selbst leicht.
      "Ja. Das ist wirklich gut."
      In Wahrheit aber war er enttäuscht. Wie sollte das nur weiter in Zukunft funktionieren? Er würde nicht jagen können, er würde nicht einmal rennen können. Wie sollte er sich versteckt halten? Wie sollte er an Essen kommen, an Kleider? An eine Unterkunft?
      Mit einem gespielt unbeschwerten Lächeln sah er Edda an.
      "Würdet Ihr wohl - wärt Ihr so freundlich, mir etwas Wasser zu bringen? Mein Mund ist ganz trocken."
      Sie war so freundlich, die gute, bildhübsche Edda, und ging gleich wieder nach unten, um ein Glas zu holen. Aiden schlug derweil die Decke zurück, betrachtete sein Bein und betastete es vorsichtig.
      Es sah fast schon normal aus. Es begehrte auch nicht unter jeder noch so feinen Berührung auf, aber als er die Beine über die Bettkante schwang und aufzustehen versuchte, schoss der gleiche, bislang bekannte Schmerz durch seinen Schenkel. Er sog scharf die Luft ein und ließ sich wieder aufs Bett fallen, wo er darauf wartete, dass der Schmerz abklingen würde.
      Er wusste nicht mehr weiter. Wenn Axana ihm schon nicht helfen konnte, wer dann? Er konnte keine andere Heilerin aufsuchen, denn irgendwem würde er dabei seine Augen zeigen müssen. Die Bauersfamilie hatte sie schon gesehen, aber er konnte sich nicht hier niederlassen und sich auf ihre Hilfe verlassen oder so etwas. Gerrit würde ihn köpfen! Aiden wusste schon jetzt nicht, wie er sich für all diese Gefälligkeiten revanchieren sollte.
      Verzweifelt stützte er den Kopf auf den Händen auf.
    • Ob es ihm nichts ausmachte, was Edda ihm zu sagen hatte? Ob es für ihn keinen Schock darstellte, sein Bein nie wieder voll belasten zu können? Den Anschein nach außen erweckte er jedenfalls nicht. Vielleicht war es auch nur die stahlharte Fassade eines Mannes, der sicher schon schlimmeres gesehen hatte, als Edda sich je ausmalen konnte. Und so versuchte die junge Frau nicht weiter darüber nachzudenken und erwiderte sein aufbauendes Lächeln, dabei war sie es doch viel mehr, die ihn aufheitern wollte. Doch bevor sie ein weiteres Wort sprechen konnte, bat sie Aiden um ein wenig Wasser. Sie nickte, stand auf und tat sich sogleich daran, die Treppen nach unten zu eilen, um ihm einen Becher gefüllt mit glasklarem Wasser zu bringen. Sie beeilte sich bewusst, denn sie wusste, dass ihr Vater es nicht gerne sah, wenn sie mit fremden Männern sprach. Er wollte sie selbst ausmachen, kennenlernen und sich von dem Eifer ihres Tuns überzeugen, um den perfekten Ehegatten für sie zu finden. Denn Eddas Schicksal war bereits in den Augen ihres Vaters besiegelt. Sie sollte das Leben einer typischen Bäuerin führen. Einen Mann mit eigenem Land, jeden Tag hart arbeiten, viele Kinder in die Welt setzen und diese zu stolzen Persönlichkeiten erziehen. Dabei stets darauf achten, dass der Mann an den Sonntagen, am Kirchentag, stets gut gekleidet das Haus verließ und auch die Kinder ein perfektes Bild boten, während immerzu warmes Essen die Stube mit wohlwollendem Duft füllte. Ja, so sollte es aussehen, Eddas Leben. Zumindest wenn es nach Gerrit ging. Sie war wunderschön, das wusste ihr Vater. Sie war schön genug, um nicht irgendeinem Bauern versprochen zu werden, sondern gerade wegen ihrer Schönheit und ihrem Liebreiz einem Mann von Welt. Dass die 18-Jährige allerdings ganz andere Pläne und Ziele verfolgte, das wusste ihr Vater genau. Und genau diese Gewissheit war es auch, die ihn wie ein Dorn im Auge stach. Aiden war neu, Aiden war fremd. Er öffnete ihr Türen, zumindest mehr über die Welt da draußen zu erfahren. Immerhin kam er von weit her und kannte viele Orte sicher wie seine Westentasche. Außerdem sah er sehr gut aus. Viel besser als alle Männer, denen sie zuvor begegnet war, und die ihre potentiellen Ehemänner hätten werden können. Sie wollte Erzählungen aus der Welt hören, und sie nicht nur aus Büchern lesen. Und Aiden bot ihr diese Möglichkeit. Hätte sie doch nur genügend Zeit, mit ihm zu sprechen... doch da kam auch schon ihr Vater die Stube herein. Und das nicht allein. In Begleitung von der finster drein schauenden Axana, die den beiden Mädchen nur ein "Hm!" zur Begrüßung entgegen zischte. Bevor sie die knarzenden Treppen nach oben ging, führte ihr Weg zu Edda. Die Heilerin hielt ihr ihre faltige, dürre Hand entgegen. "Gib das Wasser her! Ich nehme es mit."
      Ob Axana die fragenden Blicke von Edda spürte? Wohl schon, denn sie fügte ihren Worten in schroffem Ton hinzu: "Ich bin zwar blind, aber nicht taub! Meine Ohren funktionieren noch ausgezeichnet, Mädchen! Hab' von draußen schon gehört, dass du deinen braven Frauchen-Pflichten perfekt nachkommst und dem Besuch bewirtest. Vati ist sicher stolz auf dich."
      Sie riss den Tonbecher an sich, den Edda ihr bereitwillig entgegen hielt. Dann stampfte sie zur Treppe und nuschelte recht grimmig vor sich her: "Brauch' nur nicht zu glauben, dass das hier zur Gewohnheit wird, der Bursche!"
      Kurz darauf schon betrat sie Gerrits Zimmer, auf dessen Bett Aiden saß. Die anderen ließ sie unten zurück. Corinne tauschte mit ihrer Schwester fragende Blicke aus, und Edda... sie schien enttäuscht, dass sie abermals nicht die Möglichkeit bekam, mit Aiden allein zu sprechen, und ihn alles zu fragen, was ihr auf dem Herzen lag. Doch sie versuchte sich vor ihrem Vater nichts anmerken zu lassen und seine langsam vor Wut kochenden Blicke zu ignorieren. Sie setzten sich an den gedeckten Tisch und alle sprachen im Einklang das Tischgebet.
      "Hast wohl jemand anders erwartet, was Jungchen?", fragte Axana und reichte ihm den Tonbecher, nachdem sie sich auf seine Bettkante niedergelassen hatte und mit ihren bernsteinfarbenen Augen zu Aiden sah. Sie sah ihm nicht direkt in die Augen, sondern viel mehr an ihm vorbei. "Deinem Bein geht's besser, nehm' ich an. Hat doch dieser Stümper von Gerrit gedacht, ich würde nicht darauf kommen, dass du ein Asteiner bist! Und nach deiner kleinen Kraftaktion, während die halbtot hier herumgelegen hast, weiß es sicher ganz Illdra. Ach wobei... diese Tölpel sehen ja nicht mal eine lila Kuh, wenn sie vor ihnen steht", schimpfte sie, ohne auch nur den Ansatz eines Lächelns zu zeigen, vor sich her und tastete nach dem in Mitleidenschaft gezogenen Bein, nachdem sie die Decke zur Seite gelegt hatte. "Wie hast du es geschafft, da lebend rauszukommen, hm?", wollte sie wissen.
      "Soweit ich weiß, sind alle Asteiner gefallen. Wurden zerquetscht wie Fliegen, die armen Dinger. Einer nach dem anderen. Und dann... dann sitzt hier einer. Ich glaube das alles nicht! Dass ich sowas noch auf meine alten Tage erleben muss..."

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.
    • Edda kam schon bald mit dem versprochenen Wasser zurück - nur, dass es nicht Edda war. An ihrer Stelle kam eine hagere, alte Frau herein, die Aiden gerade mal bis zur Brust reichte. Ihre Augen waren trüb und blickten starr vor sich und als Aiden sie erblickte, sprang er doch auf ein Bein auf und schlug den Blick gleich nieder. Er wusste nicht, wer sie war, hatte sie in seinem Leben noch nie zuvor gesehen. Und wenn Gerrit ihn nun doch ausgeliefert hatte! Vielleicht könnte er ja einen Sprung aus dem Fenster wagen... aber wenn es zu hoch war? Er konnte es sich nicht leisten, auch noch das andere Bein zu brechen.
      "Hast wohl jemand anders erwartet, was Jungchen?", kam die schnarrende Stimme, als sie unbeeindruckt zu ihm schlurfte. Aiden starrte noch immer den Boden an, daher sah er überrascht den Becher Wasser, den sie ihm hinhielt. Er nahm ihn behutsam entgegen, trank ihn aber auch in einem Zug leer.
      "Habe ich. Edda, um genau zu sein."
      Die alte Frau ließ sich geräuschvoll auf dem Bett nieder, während er sich nicht rührte. Er wusste noch immer nicht, wer sie war oder was sie hier wollte, aber diese Fragen beantwortete sie ihm unbewusst schon selbst. Es war Axana, diejenige, die ihm auch das Bein geheilt hatte. Und noch mehr als das: Sie wusste, wer er war. Wusste es von... seiner Kraftaktion?
      Aiden hob jetzt doch den Blick - er musste ihn ja nun nicht mehr verbergen - und sah sie verständnislos an. Seine Kraftaktion? Aber...
      Aber natürlich. Er war alleine hier weit und breit, es gab niemanden, keinen anderen Asteiner, der seiner Kraft hätte entgegen wirken können. Er musste sie in seinem Fieberkrampf entladen haben. Wobei...
      Sein Blick ging einmal durch den Raum und dann aus dem Fenster hinaus. Das Haus stand noch und es schien noch kein Chaos ausgebrochen zu sein. Das bedeutete, dass er wesentlich weniger Energie hineingesteckt hatte, als möglich gewesen wäre. Was für ein Glück im Unglück.
      "... Ich bitte um Verzeihung für... was auch immer geschehen ist."
      Er würde Edda fragen müssen. Und Gerrit... vor dem würde er sich wohl lieber verstecken müssen.
      Je länger er die alte Frau musterte, desto deutlicher fiel ihm auf, dass ihre Augen sich nie wirklich ganz fokussierten. Für Aiden waren die Augen eines Esters tot, sie waren ganz unbeweglich und schienen nur auf Reize zu reagieren. Ihre Farbe änderte sich nie und bis auf die winzige Veränderung der Pupille bewegte sich auch nichts. Ganz persönlich vermisste er in ihnen die Lebendigkeit und das Bewegungsspiel, das er von seinen eigenen Leuten kannte.
      Aber die Augen von Axana waren selbst für solche Verhältnisse schon unbeweglich. Kurzerhand kam er zu dem Schluss, dass sie blind sein musste, oder zumindest eine Variante davon.
      Was bedeutete, dass sie es gar nicht von sich aus hätte herausfinden können. Wenn er nicht die Kontrolle in seiner Bewusstlosigkeit verloren hätte, hätte sie es niemals erfahren, wer er wirklich war.
      Grimmig presste er die Lippen aufeinander. Dafür gewährte er ihr zumindest, dass sie sein Bein ein weiteres Mal berührte.
      "Mein Schiff wurde zerstört und ich bin von Bord gegangen, irgendwo vor der Küste. Wir hatten zu wenig Männer, um die Flotte aufzuhalten. Ich bin am Strand zu mir gekommen."
      Er beobachtete die Miene der Alten, um irgendwelche Anzeichen von Lügen zu erkennen, aber Axana schien die Wahrheit zu sprechen. Und die Wahrheit machte ihn wütend.
      "Es können nicht alle Asteiner gefallen sein, das ist unmöglich. Ein ganzes Land kann nicht einfach so ausgelöscht werden! Ich war doch da, wir haben gekämpft, wir haben uns verteidigt, wir haben sie nicht durchgelassen! Wie hätten sie das schaffen sollen? Wie hätten sie..."
      Aber eigentlich hatte es nicht sehr gut um Astein gestanden, oder? Wer anderes hätte es bezeugen können als Aiden, der viel zu früh an die Front geschickt worden war, der ein Abzeichen verdient hatte, das ihm gar nicht zugestanden hatte, allein weil alle ranghöheren schon gefallen waren. Den man zum Kapitän eines zur Hälfte besetzten Schiffes befördert hatte, das er noch nicht einmal lenken konnte mit seinen wenigen Monaten der Ausbildung.
      Nein, das waren wohl nicht die Fakten eines gewinnenden Landes, oder? Er fasste sich an die Stirn.
      "... Nein, es ist trotzdem ganz unmöglich. Es gibt noch andere und ich werde sie finden. Wir werden uns woanders niederlassen, irgendwo weit weg von Estos."
      Aiden setzte eine verbissene Miene auf.
      "Aber dafür brauche ich mein Bein. Könnt Ihr es wieder richten? Ich kann es Euch sicher bezahlen, irgendwie. Ich werde alle meine Schulden bezahlen."
    • "So erzählt man sich", antwortete die Heilerin kurz und knapp, wenig berührt, denn es betraf nicht ihr eigenes Volk. Und selbst wenn. Axana hatte nur selten Mitleid mit jemandem. Sie hatte bereits selbst zu viel in ihrem Leben verloren, als dass das Leid anderer sie noch mitnehmen würde. Warum sie Heilerin geworden war? Der Grund, Menschen zu helfen, hatte sie lange hinter sich gelassen. Heute tat sie es viel mehr aus Gewohnheit, weil es ihre "Aufgabe" war und sie nicht völlig nutzlos sterben wollte. Über den Tatendrang, der sich schon kurz darauf im Gespräch herauskristallisierte, konnte die grauhaarige alte Frau nur müde lächeln. Diese Asteiner... sie waren schon immer ein zähes, aber auch törichtes Volk, wie sie fand. Meilenweit überlegen, so dachten sie, denn ihre Gabe, eins mit der Erde zu sein, den Stürmen und den Katastrophen, die sie erschaffen konnten, solch eine Magie hatten nur die wenigsten Wesen aus Estos. Darum wurden Asteiner in weiten Teilen ihrer Heimat schon seit vielen Jahrhunderten gefürchtet. Nicht ohne Grund. Natürlich nicht. "Schön, dass du noch Träume hast, Jungchen. Aber die werden dir nicht viel nützen", nahm sie ihm ganz trocken den Wind aus den Segeln. "Ich weiß nicht, ob du dir im Klaren darüber bist, wo du dich eigentlich befindest, hm? Selbst wenn es noch welche deines Volkes gäbe, sie sind nicht so dumm wie du es bist. Haben sich sicher in irgendeine dunkle Ecke verkrochen und warten auf ihr Dahinscheiden. Wenn es welche gibt, sind es sehr wenige, und sicher überall auf Estos verteilt. Träumen soll man nacheifern, doch wenn sie solch ein lächerliches Ziel verfolgen, sollten sie welche bleiben."
      Die mahnenden Worte gingen ihr dabei wie Butter von der Zunge, und sie klangen wesentlich weicher, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Darum räusperte sie sich kurz, schlug die Decke wieder über das vermaledeite Bein und fuhr fort: "Was dein Bein angeht... keine Ahnung, was du damit gemacht hast, Kleiner, aber meine Magie kann dir in keiner Weise mehr helfen. Es gibt einen alten Freund. Weit weg im Norden. Jeronimus ist sein Name. Er verfügt über eine weitaus mächtigere Magie als ich. Der Weg ist weit und beschwerlich. Und die Wahrscheinlichkeit, dass du dort lebend ankommst, sehr gering. Er ist der Einzige, den ich kenne, der dir helfen könnte. Lebend dorthin schaffen wirst du es aber ohnehin nicht. Also rate ich dir, mein Junge, verkriech dich irgendwo in einer einsamen Hütte und versuch solange wie möglich unerkannt und am Leben zu bleiben. Ist die weitaus gesündere Entscheidung. Hier in Estos warten nämlich dutzende hungrige Wölfe darauf, über den offensichtlich letzten deiner Art herzufallen. Du wirst nicht lange unentdeckt bleiben. Also danke, wem auch immer, dass du überhaupt noch am Leben bist, und an Gerrit und nicht an irgendeinen anderen Bauern geraten bist."
      Dann erhob sie sich allmählich und ein schmerzvolles Stöhnen ging einher mit dem Krachen ihrer Glieder. Zwar war Axana einiger Magieformeln mächtig, doch der Verfall ihres eigenen Körpers war etwas, dem sie auch nicht entgegenwirken konnte. Und das war auch nicht ihr Wille. Viel mehr betete sie ihr Ende bei, denn sie war müde über den Lauf der Zeit und all die unschönen Veränderungen. "Wenn du dieses törichte Vorhaben dennoch verfolgen möchtest... Jeronimus lebt in Rewalka, auf dem höchsten schneebedeckten Berg. Dort fristet der alte Kauz ein einsames Leben. Er hat eine Vorliebe für Asteiner. Ganz im Ernst. Er wird dich sicher wie den Sohn behandeln, den er nie hatte."
      Axana hatte ihren alten Freund Jeronimus in guter Erinnerung behalten und viel von ihm gelernt. Er war ein ehrenwerter Mann, der viel zu viel Herzblut in alles steckte, was er tat, auch wenn er jemand war, der weitaus mehr Leid erfahren hatte als viele andere, die Axana kannte. Wieder räusperte sich die Heilerin und war bereits dabei aufzubrechen. Mehr als das, was sie für Aiden getan hatte, konnte sie nicht tun. "Meine Arbeit ist nun getan."
      Dennoch blieb sie stehen, um abzuwarten, ob der Aiden noch eine Frage stellen wollte. Man merkte der Alten allerdings an, dass sie es eilig hatte. Ein Mensch war, der nur selten innere Ruhe fand. Immer auf dem Sprung, ständig unterwegs, niemals rastend.

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.
    • Leider hatte die Heilerin recht mit ihren Worten, die Aiden am liebsten abgewehrt hätte. Asteiner und sich zum Sterben verkriechen... niemals! Sie würden keinen Kampf um ein Land aufgeben, in dem sich als Asteiner sehr gut leben ließ. Die Erde gab auch nicht einfach auf, wenn Spaten sie zerfurchten, Erdbeben sie auseinanderrissen und Stürme sie verwirbelten! Die Erde war ein lebendiges Wesen, das immerzu da und niemals kaputtbar war und so sahen sich auch die Asteiner. Aufzugeben und zu verstecken war lächerlich!
      Aber wenn Axana wirklich nur Unsinn redete, dann stellte sich die Frage, weshalb Aiden bisher auf keinen seiner Artgenossen gestoßen war. Jeden Tag horchte er in die Erde und schickte seine Zeichen aus, die ihn als den Asteiner Aiden identifizierten, aber er hatte noch nie eine Antwort bekommen, nicht einmal einen Nachhall dessen. Wenn seine Artgenossen sich nicht versteckten und auch nicht antworteten, ließ das nur eine Schlussfolgerung zu, die genauso wenig in Frage kam. Nein, Aiden war nicht der letzte, das konnte er einfach nicht glauben.
      "Sie werden sich zurückgezogen haben und ihre Revanche planen. Astein gibt nicht auf", gab er hinter gepressten Zähnen hervor zurück, was im Nachhinein betrachtet wohl keine sehr gute Idee war. Diese Leute hier waren alle nicht auf seiner Seite, sie waren der Feind, wenn auch nicht persönlich. Aiden tat sich selbst keinen Gefallen damit, sie auch noch gegen sich aufzubringen.
      Daher schloss er den Mund schnell wieder und ließ die kurze Diagnose der alten Frau über sich ergehen. Sie konnte nicht mehr für sein Bein tun, sie konnte es nicht wieder heilen und richten. Er brauchte gar nicht zu fragen warum, denn die Antwort war offensichtlich. Er hatte es sich gebrochen und sein Sturz darauf, der vor wenigen Tagen, hatte vermutlich die Lage nicht gebessert. Wenn er es sich so überlegte konnte er wohl froh sein, dass das Bein noch nicht entfernt werden musste.
      Dafür kannte sie einen anderen Heiler, Jeronimus, der weit im Norden hauste und vielleicht mächtig genug dafür war. Im Norden... das hieß in Richtung Küste, Richtung Wellshafen. Richtung Astein, wenn man den Ozean überquerte. Es bedeutete aber auch in Richtung des Krieges, der dort oben mehr Spuren hinterlassen hatte als so weit im Süden von Estos. Ja, es war wirklich ein schwieriger und nahezu unmöglicher Weg, auch mit einem gesunden Bein wäre es das gewesen. Nichts, was Aiden in seinem jetzigen Zustand bewältigen könnte.
      Aber die Alternative... Was war die Alternative? Nunja, verkriechen und dahinscheiden, wie die Heilerin so schön dazu gesagt hatte.
      Rewalka hieß der Ort. Aiden prägte sich den Namen so fest ein, als würde sein Leben davon abhängen.
      Gewissermaßen tat es das auch.
      Etwas sanfter sagte er:
      "Ich danke Euch für den kostbaren Rat. Wirklich."
      Aber selbst mildere Worte sorgten nicht dafür, dass die harte Fassade der Heilerin bröckelte und einen weicheren Kern zum Vorschein gebracht hätte. Wer wusste schon, was passiert wäre, wenn es nicht Gerrit gewesen wäre, der sie beauftragt hätte, sondern Aiden selbst zu ihr gekommen wäre. Er mochte es sich gar nicht vorstellen.
      Die Heilerin wandte sich zum Gehen um und Aiden ließ sie ziehen. Sie hatte ihm keinen Preis für ihre Arbeit genannt und nun traute er es sich auch nicht mehr, noch einmal danach zu fragen. In seinem Kopf schwirrte bereits die Vorstellung von Rewalka.
      In den Norden hinauf. Hilflosigkeit packte ihn, während er sich bereits ausmalte, wie weit er laufen müsste. Von Wellshafen aus hatte er fast ein dreiviertel Jahr bis in den Süden gebraucht, von dem er ein halbes Jahr lang gesund und fit gewesen war. Mit seinem Bein... und dann auch noch einen Berg hinauf... vorbei an Städten, die noch vom Krieg selbst betroffen waren...
      Langsam sank er zurück aufs Bett und starrte verloren in den abendlichen Himmel hinaus. Er schaffte das nicht, so lautete die Antwort auf die ungestellte Frage. Er würde das niemals schaffen, erst recht nicht alleine. Wie sollte er sich das vorstellen? Wenn Rewalka auf einem Berg lag, gab es sicher keine Bauernhöfe wie diesen hier, wo er bei Nacht und Nebel seinen Proviant aufstocken könnte. Ein paar Wochen lang hatte er versucht, sich als blind auszugeben und seine Augen verbunden, damit er zumindest auf einen Markt gehen und etwas einkaufen konnte, aber dabei war er auch nur ausgeraubt worden. Das Gold hatte er nie wieder gesehen. Es war unvorstellbar, das ganze auch noch mit einem gebrochenen Bein zu versuchen.
      Nein, das schaffte er nicht. Er konnte diesen Jeronimus nicht suchen gehen, egal wie sehr er es auch gewollt hätte.
      Ein paar Minuten blieb er noch sitzen, während er versuchte, seiner Verzweiflung Herr zu werden, dann stand er auf und hinkte aus dem Zimmer hinaus. Im Gang waren noch zwei weitere Zimmer, die er für die Zimmer der beiden Töchter hielt und eine Treppe, die nach unten führte. Nach einem ganzen Tag des Schlafens fühlte er sich noch nicht gänzlich fit genug, weshalb er sich mit beiden Händen am Geländer festhalten musste, um nach unten zu wanken. Die Familie hatte bereits angefangen zu Abend aufzutischen und der Anblick ließ ihm, wie schon am Vorabend, das Wasser im Mund zusammenlaufen. Aber er wollte die Gastfreundschaft des alten Bauerns nicht zu sehr strapazieren, nachdem das vielleicht die letzte Gastfreundschaft war, die er in Estos erwarten durfte. Rewalka... er war noch immer gänzlich verzweifelt davon.
      "Hallo."
      Er lächelte in die Runde, sah aber dabei am meisten die hübsche Edda an, bevor sein Blick sich auf Gerrit festsetzte.
      "Ich möchte mich für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, ich hoffe ich habe nichts... kaputt gemacht."
      Das Haus sah so aus, als stünde es noch vollständig, das war gut. Ihm tat bereits die Warnung der letzten Nacht leid, als er Gerrit in seiner Verzweiflung gedroht hatte, sein Haus einstürzen zu lassen, wenn er irgendwem von Aiden erzählte. Jetzt hatte Aiden sich selbst bei Axana enttarnt und auch noch die Familie in Bedrängnis gebracht. Das wollte er beides nicht.
      "Ich würde Euch gerne dafür entschädigen. Vielleicht... vielleicht kann ich bei der Ernte behilflich sein. Ich kann die Erde auflockern oder Unkraut beseitigen, den Dünger verteilen. Das geht ganz schnell, ein paar Minuten nur, dafür müsst Ihr nicht den ganzen Tag auf dem Feld stehen. Ich schlafe auch wieder im Hühnerstall, das macht mir nichts aus."
      In Wahrheit vermisste er schon jetzt das Bett, das so himmlisch weich gewesen war wie nichts anderes. Aber Aiden würde auch den Hühnerstall akzeptieren, wenn das nur bedeutete, dass er eine weitere Nacht geschützt schlafen konnte.
    • Die Heilerin zog von dannen. Zurück blieb Aiden, der begann zu verstehen, wie unmöglich der Weg nach Rewalka werden würde. Überleben würde er die beschwerliche Reise nicht. Nicht allein. Sie würden ihn enttarnen und sein Leben beenden. Das war glasklar. Eine Tatsache, an der man nichts ändern konnte. Früher oder später würde es so enden. Immer.
      Axana hatte sich recht schnell verabschiedet. Sie hatte bereits vorhin ernste Worte mit Gerrit gewechselt, ihn als Tölpel und als völlig von Sinnen bezeichnet. Doch es war genug für einen Abend. Auch für die resolute Heilerin. Sie zog sich zurück. Wortlos saßen die Drei am Tisch, als Schritte den Blick aller auf den Asteiner lenkten. So recht wussten die Mädchen nicht, wofür dieser sich entschuldigte. Die Erschütterung, die sie gespürt hatten, in der Mittagssonne auf dem fruchtbaren Land... diese hätten sie niemals mit ihm in Verbindung gebracht. Sie wussten ja nicht einmal, dass er ein Asteiner war. Ganz im Gegensatz zu Gerrit, der sich dieser Tatsache voll und ganz im Klaren war. Gerrit schaute finster drein. Keiner der Mädchen wagte auch nur ein Wort zu sagen. Sie tauschten lediglich unsichere Blicke aus. Und einen Moment länger, als es nötig gewesen wäre, ruhte Eddas Blick auf dem jungen Mann, der nun zumindest wieder einigermaßen gerade stehen konnte. Auch aus den Worten, was die Feldarbeit betraf, wurden die Sevenburgh-Töchter in keiner Weise schlau.
      "Wir brauchen Eure Hilfe nicht. Niemand in diesem Haus. Wir verrichten unsere Arbeit selbst", gab Gerrit herrisch zur Antwort, erhob sich noch im selben Atemzug von seinem Stuhl. Sein Teller war bereits geleert. "Morgen werde ich nach Tasra aufbrechen. Ihr könnt mit mir kommen. Ab dort könnt Ihr tun und lassen, was Ihr möchtet", fügte er seinen Worten hinzu. Sofort mischte sich jedoch seine älteste Tochter ein: "Aber Vater... morgen ist Donnerstag. Wir besuchen doch Tante Susanna jeden Donnerstag."
      Zusammen brach die Familie nämlich nie nach Tasra auf, denn den Hof alleine zu lassen, auch nur für einen halben Tag, war keine Option. Dies sorgte selbstverständlich für Verwirrung bei den Schwestern. "Ja, Vater. Morgen ist Markt. Wir-", warf Corinne ein, wurde jedoch von der zornigen Stimme ihres Vaters unterbrochen.
      "Schweigt! Morgen wird es keinen Besuch bei Tante Susanna geben! Ich werde morgen nach Tasra reisen und ihr werdet euch um die Feldarbeit kümmern!", bestimmte er und wandte sich vom gedeckten Tisch ab. Er ging zu den Treppen, und ohne sich noch einmal zu Aiden umzudrehen, richtete er die Worte ohne Zweifel an ihn: "Der Hühnerstall steht Euch für diese Nacht noch zur Verfügung."
      "Nein, Vater! Unser Gast wird nicht im Hühnerstall schlafen müssen!", erhob die Älteste nun das Wort gegen das Oberhaupt der Familie. Der fassungslose Blick von Corinne ruhte auf ihrer älteren Schwester. Sie konnte wohl nicht recht fassen, was sie da hörte. Es war nicht das erste Mal, dass sie das Wort gegen ihren Vater erhob, doch der sonst so liebliche Klang ihrer Stimme, der auch in den zornigsten Momenten noch herauszuhören war, war nun vollends verklungen.
      "Was sagst du da?", fragte Gerrit ungläubig und wandte sich mit ernster Miene zu seiner Tochter um, die mit geballten Fäusten am Tisch saß und den Blick starr vor sich gerichtet hielt.
      "Du hast mich schon verstanden, Vater", entgegnete sie ihm wie ein mutiges Lamm einem müden Löwen.
      "Bist du denn völlig von Sinnen, Kind!? Ist dir nun deine Tagträumerei völlig zu Kopf gestiegen und hat dich jeglichen Verstandes beraubt!? Wie kannst du es wagen, so mit deinem Vater zu sprechen!? Und das auch noch vor jemand Fremden!"
      Edda erhob sich und sah zu ihrem Vater. Ihre Augen füllten sich mit Tränen der Wut und der Enttäuschung. "Spielt es denn eine Rolle, Vater!? Ob nun jemand mehr im Raum steht, oder nicht!? Du behandelst unseren Besuch wie Dreck! Was ist nur aus dir geworden, hm!?"
      "Was aus mir geworden ist!? Die Frage, was aus dir geworden ist, Mädchen! Diese Frage stellt sich! Aber ab morgen werden dir deine merkwürdigen Flausen vergehen! Morgen wird Balthasar Winchester kommen und dich zur Frau nehmen! Am besten gleich, damit du endlich zur Vernunft kommst!"
      Die Worte klangen schroff, herzlos, kalt. Und vor allem klangen sie so, als würde kein einziges Widerwort geduldet werden.
      "Der älteste Winchester?", fragte sie ungläubig. Ihre Stimme klang leise und zerbrechlich.
      "Ganz recht! Du durftest ihn bereits kennenlernen. Und ich habe deine Widerworte allmählich satt! Du bist immer noch meine Tochter, und du hast in keiner Weise das Recht, die Stimme gegen mich zu erheben!"
      Sie wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. Allein der Gedanke an diesen schmierigen Winchester-Sohn bereitete ihr Magengeschwüre. Sie wandte sich ab, verließ die Stube mit einem lauten Türknall, was Corinne zusammenfahren ließ. Die Rufe ihres Vaters ignorierte sie. Er folgte ihr nicht, winkte nur ab und ging die Treppen nach oben. Corinne wusste hingegen weder wohin sie schauen noch wohin sie greifen sollte. Ihr schien diese Situation mehr als unangenehm zu sein. Darum begann sie stillschweigend den Tisch abzuräumen und dem Asteiner flüchtige, gar entschuldigende Blicke zuzuwerfen.

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.

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    • So sehr eine leise Hoffnung in Aiden aufgekeimt war, so schnell war sie auch wieder vollständig verschwunden. Selbst jetzt verweigerte Gerrit seine Hilfe und Aiden fühlte sich ganz hilflos davon. Er hätte gedacht, dass der Bauer, wenn er sich denn für ihn nützlich machen könnte, ihm zumindest etwas wohlgesonnener begegnen würde und vielleicht - ja, nur vielleicht - ihn im Haus übernachten lassen könnte. Der Keller wäre ihm sogar recht gewesen oder der Boden vor dem Kamin, alles eigentlich, er musste gar nicht im Bett schlafen. Aber Gerrit war so stur wie sonst was und da fiel Aiden nichts anderes ein, als sich geschlagen zu geben. Das Glück im Unglück hatte nicht lange genug angehalten, um ihm auch jetzt zugute zu kommen.
      Ergeben nickte er. Zumindest könnte er mit nach Tasra kommen. In welche Richtung lag das? Vielleicht nördlich?
      "Ich habe verstanden. Danke Euch."
      Sogleich mischte sich aber schon Edda ein. Anscheinend hatten sie Familie in Tasra, die sie an einem solchen Tag besuchten, was jetzt aber wohl ausfallen musste. Aiden fühlte sich nur umso schuldiger, dass er den Plänen der Bauersfamilie nun im Wege stand. Aber selbst für seine Tochter ließ der alte Bauer sich nicht erweichen und das war etwas, was sich weniger leicht mit ansehen ließ. Dass er die unbeholfenen Angebote des Asteiners ausschlagen mochte war verständlich, vermutlich sogar notwendig, aber bei seiner eigenen Tochter sollte es doch etwas anderes sein. Hätte Aiden zumindest gedacht.
      Es ging aber sogar noch weiter als das. Sie stellte sich wahrhaftig an die Seite des Asteiners und das war etwas ganz erstaunliches, denn selbst als Außenseiter konnte man gleich sehen, dass Gerrit starke Meinungen vertrat und sich nicht davon abbringen ließ. Manch einer mochte das vielleicht als Sturköpfigkeit betrachten, doch Aiden, der sich merkwürdigerweise an seine ganz kurze Zeit als Befehlshaber zurückversetzt spürte, konnte dort auch etwas anderes erkennen. Gerrit hatte eine festgefahrene Meinung, sicher, aber sie kam nicht von irgendwo her. Da war diese Zielstrebigkeit und diese Härte in seinem Gesicht, die in einer solchen Ausprägung niemals nur oberflächlich sein konnte. Dieser Mann dort kalkulierte und plante und er setzte um, was umgesetzt werden musste. Wenn er Aiden in den Hühnerstall verbannte, dann nicht aus Laune heraus, sondern weil dort auch eine größere Bedeutung mitschwang, etwas, das Aiden als Außenseiter aber nicht verstehen konnte.
      Was er dafür gut verstand, war die Richtung, in die dieser plötzliche Streit mit einem Mal ausartete. Ganz anscheinend war eine Vermählung vorgesehen und das überraschte Aiden nun nicht, nachdem Edda durchaus alt genug schien, sowohl den Hof zu führen, als auch Kinder zu gebären. Er hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, ob die Bauerstochter verheiratet sein mochte, erfuhr nun aber gleich die Umstände dazu. Offensichtlich schlugen dort zwei Meinungen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein konnten.
      Aber wie der Vater, so auch die Tochter. So wie Gerrit hatte auch Edda eine starke Vertretung ihrer Ansicht und gab nicht so einfach klein bei.
      Aiden vermutete, dass dieser Streit schon länger ein Zwiespalt zwischen beiden war. Er vermutete auch, weil sie sich in der Hinsicht ihrer Sturköpfe so ähnlich waren, dass dort niemand gewinnen würde. Und ganz bestimmt nicht jetzt.
      Schweigend verharrte er an Ort und Stelle, während Edda nach draußen stürmte und Gerrit die Stufen nach oben polterte. Zurück blieben lediglich er und Corinne, die ihm jetzt entschuldigende Blicke zuwarf, als wolle sie sich für das Benehmen ihrer Familie entschuldigen. Aiden lächelte sie seinerseits freundlich an. Sie tat ihm leid, weil sie vermutlich zwischen den Fronten stand und sich doch nie für eine Seite entscheiden konnte. Stattdessen würde sie nur alle Launen abkriegen und womöglich auch den Sturm ausbaden müssen.
      Ein paar Sekunden blieb er noch dort unten stehen, aber der Bauer kam nicht wieder und ebenso wenig Edda. Er überlegte sich, ob er Corinne vielleicht beim Abräumen helfen sollte, aber er hatte keine Ahnung, wo all die Sachen hinkamen und Gerrit hätte es sicher gar nicht gern, wenn er einfach in ihrer Küche herum schnüffelte. Also entschied er sich dazu, auch nach draußen zu gehen und sich in den Hühnerstall zu legen.
      Er hätte nach einer Decke fragen sollen, aber auch das fiel ihm viel zu spät ein.
      Draußen war es durch das schlechte Wetter recht kühl und so schlurfte er durch die weiche Erde hinüber zu der Umzäunung, als er die einsame Gestalt von Edda erblickte. Sie stand zwar beim Haus, aber noch weit genug entfernt, damit das Licht der Fenster sie nicht gut erreichte. Vermutlich wollte sie nicht, dass Gerrit seines öffnete und heraus rief, dass sie gefälligst wieder hereinkommen sollte.
      Aiden warf einen flüchtigen Blick aufs Haus zurück, dann hinkte er stattdessen in Eddas Richtung.
      "Fräulein."
      Sie drehte sich zu ihm um und Aiden lächelte, als sich ihr Blick auf ihn richtete. Selbst nach diesem Streit, mit verbissener Miene und glühenden Augen, hatte sie noch immer etwas Weltenschönes an sich. Ihre Haare umrahmten ihr Gesicht auf ganz natürliche Weise, das konnte auch die gelegentliche Brise nicht kaputt machen.
      Aiden merkte, dass er ein wenig neidisch auf diesen Winchester war. Er hatte großes Glück, ein solch hübsches Mädchen als Frau zu erhalten.
      "Ich hoffe, ich habe Euch mit meiner Anwesenheit nicht in Verlegenheit gebracht. Ich wollte keinen Streit in der Familie provozieren. Aber ich danke Euch für den Mut, den Ihr meinetwegen gegenüber Eurem Vater aufgebracht habt."
      Er blieb in höflichem Abstand zu ihr stehen. Ihr erdenes Kleid bewegte sich ganz leicht im Wind, als würde eine Zauberhand Bewegung in den Stoff bringen.
      "Verzeiht mir, wenn ich Euch zu nahe trete, aber möchtet Ihr diesen Winchester nicht heiraten? Ihr klangt nicht sehr glücklich von dieser Idee."
    • Edda stürmte hinaus, Gerrit nach oben. Zurück blieben also Corinne und der Asteiner. Es war nicht das erste Mal, dass Vater und Tochter in den letzten Wochen im Streit auseinander gingen, und es die gerade einmal 15-Jährige Sevnburgh-Tochter war, die zwischen den Stühlen stand, insgeheim aber mehr ihrer Schwester beipflichtete. Sie selbst war zum Glück noch nicht in dem Alter, verheiratet zu werden. Und sie verfolgte ähnliche Träume wie ihre ältere Schwester, denn auch für sie war die Vorstellung, mehr von der Welt zu sehen und vielleicht einen gutaussehenden Aristokraten zu heiraten anstatt einen dickbäuchigen Bauern vom Land, wesentlich angenehmer. Nicht, dass Corinne Edda nicht um Balthasar Winchester beneiden würde. Sie fand nämlich, ganz im Gegensatz zu Edda, dass er ein durchaus ansehnlicher Mann war, mit reichlich Gold und einem riesigen Land, dass er weiterführen würde. Immerhin war der der Erstgeborene. Doch Edda war er zu "schmierig", wie Corinne in einem Gespräch, kurz nach dem Treffen erfahren hatte. Dabei hatte sich Gerrit an diesem Tag alle Mühe gegeben, es den wohlhabenden Winchesters so angenehm wie nur möglich zu machen. Er hatte sein bestes Hemd getragen, welches er sonst nur an Sonntagen trug. Und es war keinesfalls zu verleugnen, dass Balthasar aufrichtiges Interesse an der schönen 18-Jährigen gezeigt hatte, obgleich sie gute zehn Jahre jünger war als er selbst. Doch diese wollte weder ihn noch irgendjemand anderen heiraten. Sie wollte weder ein Leben als brave Bauersfrau führen, die sich die Hände an der Feldarbeit blutig schuftete und mindestens acht Kinder gebar, noch wollte sie mit Menschen des Adels dinieren. Sie wollte frei sein wie ein Vogel. So hoch fliegen, bis der Himmel endete und sie zumindest das Gefühl verspürte, die untergehende Sonne berühren zu können. Dass diese Vorstellungen nun mehr und mehr Träume blieben, das wurde auch ihr allmählich bewusst.
      Während Corinne stillschweigend das Geschirr abräumte und dem Asteiner hinterher sah, als er nach draußen ging, stand Edda etwas entfernt vom Haus. Tränen rannen über ihre Wangen und ein leises Schluchzen war nur bei genauem Hinhören zu vernehmen. Sie verstand nicht, warum ihr Vater ihr dies antun wollte. Sie arbeitete hart, war stets gütig und fleißig. Warum musste sie nun unbedingt vermählt werden? Edda war sich sicher, dass es der reine Stolz ihres Vaters war, der ihn antrieb. Oder die Angst gegenüber der Zeit. Edda war jung und ausgesprochen schön. Und je schöner die Frauen waren, desto bessere und angesehenere Männer fanden sie. Vielleicht glaubte Gerrit, wenn mehr und mehr Jahre ins Land zogen, sie ihren sinnlosen Träumereien nacheiferte, keinen Gatten finden würde, der sich nach dem Ableben von Gerrit um sie kümmern würde. Pah! Sie brauchte keinen Mann an ihrer Seite, um für sich zu sorgen! Selbst niedere Arbeiten wären ihr recht, könnte sie, sie selbst bleiben und müsste sich nicht zu einer Ehe zwingen.
      Sie schreckte zusammen, als sie die Anwesenheit von Aiden bemerkte. Ohne sich zu ihm umzudrehen, wischte sie sich die Tränen hastig aus den Augen, und erst als sie glaubte, einigermaßen passabel auszusehen, wandte sie sich zu ihm um, zwang sich zu einem Lächeln. Nach einem kurzen Räuspern antwortete sie ihm: "Ihr müsst mir nicht danken. Ich muss mich viel mehr für den Eklat gerade eben und für meinen Vater entschuldigen. Er ist in letzter Zeit nur schwer zu ertragen. Er hat kein Recht dazu, so mit Euch zu sprechen. Mit niemandem von uns."
      Diese Worte ließen kaum noch Zweifel daran, dass Gerrit öfter de Stimme gegen seine Töchter erhob. "Er ist nicht mehr der Vater, der er einst war...", musste sie seufzend feststellen und ihre Miene wurde kurz ernst. Doch da sie keine noch schlechtere Stimmung verbreiten wollte, zwang sie sich zu einem weiteren Lächeln. Erst als er diesen schmierigen Winchester-Sohn ansprach, verfinsterte sich ihr Blick. Hierbei fiel es ihr einfach zu schwer, einen gut gelaunten Schein zu wahren. Wenn sie nur schon an ihn dachte... an sein perfekt gestriegeltes Haar, den vornehmen Anzug, das kahl rasierte Gesicht und dieser Ausdruck von Arroganz in seinen braunen Augen. Sie war sich sicher, dass er auf dem Hof seines Vaters keinen Finger krümmen musste, und vermutlich nicht einmal wusste, wo die Kuh ihre Zitzen hatte. Sicher meinte es Gerrit gut... irgendwie. Denn die Winchester-Familie war in aller Munde. Sie besaßen ein riesiges Land, waren aber keine typischen Bauern. Sie besaßen einen beneidenswerten Reichtum. Doch Balthasar hatte genaue Vorstellungen von seiner Gemahlin. Sie würde alles bekommen, wonach sich ihr Herz verzehrte, doch für Edda wäre es nur ein weiterer goldener Käfig an der Seite eines Mannes, für den sie außer Abscheu nichts empfand.
      "Nein. Ich möchte ihn nicht heiraten", antwortete die Braunhaarige auf seine Frage hin, konnte aber nicht klar sagen, ob sie diese Frage zu direkt fand oder nicht. Sie würde gerne mit jemand anders darüber sprechen, als mit ihrer Schwester oder ihrer Tante. Mit jemand Außenstehendem, doch sie zweifelte daran, ob jetzt der richtige Zeitpunkt für derlei Konversation war. "Vater möchte mich schon lange an der Seite eines wohlhabenden Mannes wissen. Ich habe allerdings... andere Vorstellungen, wie mein Leben aussehen soll", begann sie trotz aller Zweifel zu erzählen. "Ich möchte frei sein. Dahin gehen und das tun, wonach sich mein Herz verzehrt, und nicht mein Leben an der Seite eines Mannes fristen, der mir fremder ist als jeder andere, den ich kenne."
      Man hörte deutlich, wie schwer es der Ältesten fiel, über dieses Thema zu sprechen. Allein die Vorstellung bereitete ihr Bauchschmerzen. "Aber tut mir leid, Herr... ich habe mich hinreißen lassen", unterbrach sie schnell ihre Worte, wandte den Blick ehrfürchtig zu Boden. "Ich werde Euch noch etwas zu essen und eine Decke in den Hühnerstall bringen..."
      Und ohne, dass Aiden die Möglichkeit dazu gehabt hätte, noch einen Einwand zu bringen, huschte sie an ihm vorbei in die Stube. Ihre Schwester war bereits nicht mehr zu sehen, ebenso wenig wie ihr Vater. Darum versuchte sie so leise wie möglich ein paar Reste des Abendessens zusammenzustellen: etwas Brot, Käse und Schinken und brachte diese, zusammen mit einer Decke aus Schafswolle in den Hühnerstall, wo sie wieder auf Aiden traf. Es tat ihr sehr leid, dass sie diesen Kampf - und ja, sie würden dieses Wortgefecht schon als einen Kampf bezeichnen, denn hierbei ging es um viel mehr als den Schlafplatz ihres Gastes - verloren hatte. Sie stellte ihm den reichlich gefüllten Teller auf das Heu und reichte ihm die wohlig warme Decke. Das Gegacker der Hühner ignorierte sie dabei.
      "Es tut mir wirklich sehr leid, dass Ihr hier nächtigen müsst", sagte sie sichtlich frustriert. Doch die beiden waren nun allein. Und jetzt hätte sie endlich die Möglichkeit, wenn auch nur für einen kurzen Moment, mit ihm zu sprechen. "Erlaubt Ihr mir, eine Frage zu stellen, Herr?", begann sie vorsichtig und bevor sie sich zu ihm auf den Heuboden setzte, zündete sie die Laterne an, die an dem Haken eines Holzbalkens ging. So wurde der kleine Hühnerstall in ein angenehmes Dämmerlicht gehüllt.
      "Woher kommt Ihr wirklich, und was meintet ihr damit, dass Ihr uns bei der Feldarbeit viel schneller helfen könntet? Wer seid Ihr?"

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.
    • Edda hatte geweint. Es war ihr nicht so deutlich anzusehen, aber Aiden erkannte die verräterische Röte auf ihren Wangen und die geschwollenen Augen. Jetzt gab sie sich größte Mühe normal für ihn zu wirken, mit einem wackeligen Lächeln im Gesicht, und dafür tat sie ihm noch viel mehr leid. Sie hätte jetzt einen Freund gebraucht, jemanden, dem sie sich anvertrauen konnte, und keinen Fremden, der am morgigen Tag schon wieder verschwinden würde. Aber bis auf Aiden war hier niemand und das tat ihm so fürchterlich leid, dass er selbst gern versucht hätte, sie zu trösten. Nur wäre die Nähe zu ihr viel zu unanständig und wenn Gerrit sie dabei erwischen würde, würde er ihm sicherlich alle Knochen brechen.
      So musste er wohlgedrungen einfach dort stehen bleiben und so tun, als wüsste er nicht, dass das Mädchen soeben geweint hatte. So konnte sie sich zumindest etwas die Blöße ersparen.
      Zumindest schien sie das etwas zu ermuntern, seine Frage auch wahrheitsgemäß zu beantworten. Für eine junge Bauersfrau war es ein gar überraschendes Ziel, den heimischen Hof zu verlassen und in die Welt hinaus wandern zu wollen. Aiden konnte seine Überraschung darüber nicht verbergen. Normalerweise waren Bauern sehr auf ihr Gut beschränkt - und das war auch richtig so, denn niemand anderes konnte das eigene Land so leiten wie die Familie, die dort aufgewachsen war. Das musste Edda als ältere sicher auch bewusst sein, aber doch wollte sie von hier weg. Warum nur? Warum den heimischen Hof verlassen, wenn es ihr doch hier ganz gut ging?
      Aber ging es hier wirklich ganz gut? Konnte Aiden sich, mit seiner wahnsinnig kurzen Bekanntschaft, erlaubten, ihr etwas derartiges anzumaßen? Nein, konnte er nicht. Für ihn mochte der Hof der Sevenburghs sicher und friedlich aussehen, aber er wusste nicht, mit welchen Schrecken hier zu kämpfen war. Er selbst kannte schließlich nur den Schrecken, der mit gespitzten Waffen auf ihn zukam.
      Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da unterbrach sich Edda selbst schnell. Sie senkte ihren Blick und Aiden brachte es einfach nicht übers Herz, sie weiter zu dem Thema zu drängen, wenn es ihr ein derart sichtliches Unbehagen bereitete. Daher klappte er den Mund wieder zu und hoffte, dass sein freundliches Lächeln herauszuhören war, wenn sie ihn schon nicht mehr ansah.
      "Ihr seid zu gütig. Ich danke Euch vielmals."
      Dann verschwand sie auch schon wieder, ein wenig so, als würde sie vor ihm die Flucht ergreifen. Aiden hoffte, dass dem nicht so war. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den restlichen Weg zum Hühnerstall zu humpeln und es sich dort bequem zu machen. In der letzten Nacht war er so von seinem Vorhaben, das Haus zu beobachten, abgelenkt gewesen, dass er sich einfach irgendwo zusammengerollt hatte. Jetzt nahm er den kleinen Innenraum genauer in Anschein und suchte sich Platz an einer Wand, wo er sich anlehnen konnte. Kurz darauf kam schon Edda zurück und brachte ihm die versprochenen Dinge - wie ein Engel, schoss ihm dabei durch den Kopf. Unweigerlich musste er dabei ein bisschen lächeln und nahm die Sachen entgegen, während Edda sich überraschenderweise zu ihm setzte. Sie hatte eine Laterne mitgebracht, die jetzt ein warmes Licht verteilte, wo das Licht des Hauses nicht mehr ausreichend war.
      Die Hühner beschwerten sich darüber ein bisschen, aber als beide Menschen sich nicht mehr bewegten, wurden auch sie wieder ruhiger.
      Aiden war dabei nicht unglücklich über die Gesellschaft, die das Mädchen ihm wohl leisten wollte. Es war schön, einem Menschen wieder in die Augen zu sehen und dabei reine Normalität zu erhalten. Sicher, es hätte ihn wohl irgendwie mehr beruhigt, wenn er ein Braun in Eddas Augen hätte beobachten können, das gar nicht existierte, aber auch so fand er ihre Augen sehr schön. Sie hatten eine strahlende Farbe und wirkten lebendig auf eine Art, die einem wabernden Braun in nichts nachstand.
      Nur ihre unverblümte Frage traf ihn gänzlich unvorbereitet. ... Hatte sie etwa noch nicht begriffen, wer er war? War es nicht deutlich geworden durch seine Augen? Dabei hatte er gedacht, dass in ganz Estos den Kindern Schauergeschichten von Asteinern erzählt wurden, deren Augen Seelen verschlingen würden und jeden hypnotisierten, der zu lange in sie hinein blickte.
      Aber wenn Edda eine solche Frage stellte, hatte sie dann nicht dieselben Gruselgeschichten erzählt bekommen? Was hatte ihr Vater nur über Astein erzählt, wenn es schon keine haarsträubenden Märchen waren?
      Hatte er den alten Bauern vielleicht falsch eingeschätzt?
      Zögerlich betrachtete er die junge Frau und legte das Paket mit Essen auf seinem Schoß ab. Eine derartige Frage hatte er noch nie beantwortet. Das würde vielleicht erklären, weshalb sie sich nicht vor ihm fürchtete.
      Und Aiden wollte nicht, dass sie Angst bekam, wenn sie in seiner Nähe war. Er könnte sich damit anfreunden, dass die Frau ihm mit einem Lächeln begegnete und das wollte er auf keinen Fall ruinieren. Wie sollte er ihr also erklären, wer er wirklich war?
      "Habt Ihr jemals von einer Insel im Ozean, weit, weit im Norden gehört?"
      Nein, so war das nicht richtig. Aiden versuchte sich an einem Schneidersitz, machte eine Grimasse und begnügte sich damit, das rechte Bein anzuwinkeln und das linke ausgestreckt zu lassen.
      "Moment, lasst es mich anders versuchen. Lasst mich zuerst eine Geschichte erzählen von dort, wo ich herkomme. Eine Geschichte, wie wir sie unseren Kindern erzählen."
      Er lächelte ein bisschen und versuchte sich an der Geschichte, die er selbst schon seit Jahrzehnten nicht mehr gehört hatte.
      "Dort, wo ich herkomme, gibt es große, weite Gebirgsketten, die sich in alle Richtungen erstrecken. Sie gehen so weit in die Höhe, dass die Gipfel manchmal in den Wolken verschwinden, aber sie gehen auch so tief hinab, dass man im Tal auf fruchtbare, gesunde Erde trifft. Man muss aber aufpassen, dass man das richtige Tal erwischt, denn in der Mitte dieser Gebirge geht es eine tiefe Senke hinab, wo der Vulkan Elldrea haust.
      Elldrea ist ein Vulkan, der so, so alt ist, dass er sogar schon auf der Welt war, bevor sich die Ozeane mit Wasser gefüllt haben und bevor die Sonne beschlossen hat, das Wasser und das Land aufzuwärmen, damit dort Leben gedeihen konnte. Er ist ein Vulkan, der die Erschütterungen der Welt ausgehalten hat und den noch kein Tsunami brechen konnte, der mit der Veränderung der Welt geht und sich genau an sie anpasst. Er ist so, so alt, dass er noch die ersten Tiere mitbekommen hat, die aus den Früchten der Erde und der Wärme der Sonne entstanden sind.
      Nun kam eines Tages auf der Insel von Elldrea ein Fisch an Land, der schon eine Lunge besaß und frische Luft atmen konnte. Bisher hatte sich noch kein Lebewesen bis auf die Insel gewagt, denn Elldrea war damals noch ein sehr aktiver Vulkan und hat regelmäßig seine Insel mit glühendem Feuer überzogen, um die Erde gesund und fruchtbar zu halten. Da wollte keiner kommen, denn das Feuer hatte die Hitze der Sonne und hatte die Zerstörungswut eines Tsunamis und das war daher zu viel für die meisten Lebewesen.
      Aber dieser eine Fisch, der ging dort an Land und weil Elldrea zu der Zeit schon eine Weile lang geruht hatte, war es schön und ungefährlich auf der Insel und so legte er seine Eier dort ab, bevor er zurück ins Wasser schlüpfte.
      Der Vulkan durfte dabei zusehen, wie die Eier in der Wärme der Sonne vor sich hin brüteten und wie eines Tages viele winzige Fischlein schlüpften, die über den Boden krochen und auf das Meer zurollten, wo ihr Mutterfisch schon darauf wartete, dass sie sich zu ihr gesellen würden. Elldrea gefiel der Anblick von entstehendem Leben so sehr, dass der Vulkan sich gleich fragte, ob auch er dazu in der Lage war, seine Eier abzulegen, um dort kleinere, zuckersüße Vulkanbabys schlüpfen zu sehen. Er wollte es jetzt unbedingt, wollte wie der Fisch seine Nachkommen zeugen und da begann er das einzige zu tun, was ein Vulkan in der Lage war: Er sammelte die Quelle seiner Hitze an einer Stelle und ließ sein flüssiges Feuer ansteigen und ansteigen, bis es über den Rand herausbrach und sich über die Insel verteilte. Das machte er sehr, sehr lange, weil es die einzige Art war, die er kannte, um etwas von sich zustande zu bringen. Und bald zeigten sich auch die ersten Früchte seiner Arbeit, denn seine Ablagerungen wurden hart und türmten sich bald zu den großen, langen Bergen auf, die heute den Vulkan Elldrea umgeben. Da war er zufrieden, denn es war ihm gelungen, etwas von sich zu schaffen.
      Aber diese Berge, dieses neue Leben, bewegte sich nicht und eigentlich lebte es auch gar nicht. Es waren einfach nur große Berge von verhärteter Lava, die sich dort neben ihm auftürmten, aber sie gingen nicht in die Welt hinaus und sie gingen auch nicht ins Wasser hinein. Sie antworteten ihm auch nicht, denn eigentlich waren sie gar nicht lebendig, sie waren nur Abbildungen von ihm selbst. Das war nicht, was Elldrea zu schaffen erhofft hatte.
      Also versuchte er es noch einmal und noch einmal, aber es gelang ihm einfach nicht, er konnte kein Leben schaffen. Da rief er die Erde und den Ozean und die Sonne um Hilfe an, denn zu dritt hatten sie es schließlich geschafft, einen Fisch und Vögel zu kreieren, da konnten sie ihm doch sicher einen Rat geben, was er bräuchte, um sein eigenes Leben zu schaffen. Alle drei erklärten sich bereit dazu, dem Vulkan ihre Unterstützung zu leisten, und so wurde es ganz heiß auf der Welt, als die Sonne näher kam, und die Insel wurde überschwemmt von ganz vielen, hohen Wellen und die Erde erbebte und erschütterte von der eigenen Macht. Der Vulkan prustete seine Lava aus, die sich über die Berge und die Insel verteilte und aus der Kombination der nahen Sonne, der hohen Wellen, der fruchtbaren Erde und des spuckenden Vulkans, traten die ersten Menschen hervor. Sie waren anders als die Fische und als die Vögel, aber sie waren auf ihre eigene Weise gut und schön. Elldrea war stolz auf sie. Er behielt sein glühendes Feuer in sich, damit er beobachten konnte, wie die Menschlein auf seiner Insel ihre Nester einrichteten und wie sie sich untereinander vermehrten. Seine Kinder.
      Doch eines Tages bauten die ersten Menschlein ein Floß, fuhren über den Ozean weg und kamen viele, lange Jahre später zurück, um ihren zurückgelassenen Artgenossen zu erklären, dass es über dem Ozean ein viel größeres und fruchtbareres Land gäbe als hier. Da wurde Elldrea ein ganz fataler Fehler bewusst: Er hatte seinen Menschlein nie verraten, dass sie von ihm stammten. Sie wussten es nicht. Und jetzt, da stiegen sie alle auf ein Floß und fuhren davon zu diesem schöneren, besseren Land, das sie erwartete.
      Das machte ihn traurig. Er spie sein Feuer, er zerstörte alles, was diese Menschen dort gelassen hatten, aber als alles wieder weg und bereinigt war, da wollte er es noch einmal versuchen. Diesmal wusste er ja, wie es geht. Also schuf er noch einmal die Menschen, nur diesmal nicht mit der Hilfe der Sonne, des Wassers und der Erde, sondern diesmal nur durch seine Lava und seine Asche. Er formte sie, so wie er auch die anderen geformt hatte und zum Schluss - und das war ganz wichtig - steckte er einen Teil von sich selbst in sie hinein, denn er brauchte einen Weg, wie er mit ihnen kommunizieren konnte. Und als die Menschlein aufwuchsen, unterhielten sie sich mit ihm und er erzählte ihnen alles, was er als so alter Vulkan wissen konnte und die Menschlein verehrten und liebten ihn dafür. Sie blieben bei ihm. Sie bevölkerten seine Insel und lebten von seinem Wissen und als sie alt und zahlreich genug waren, da nannten sie sich...
      Die aus dem Gestein entstandenen. Astein."
    • Aufmerksam lauschte Edda der Erzählung des Asteiners. Asteiner. Nun hatte sie einen Begriff. Ein Wort, an welches sie sich klammern konnte. Wissen, das ihr zuvor fremd war, und welches sie ohne seine Geschichte wohl nie in dem Umfang erfahren hätte. Es war nicht dasselbe, Geschichten aus Büchern zu lesen, als ihnen selbst zu lauschen. Für die Schwestern hatte es immer nur Estos gegeben. Ein Leben in Estos, ein Sterben in Estos. Ihr Vater hatte ihr nie viel über die Welt da draußen erzählt. Für Corinne und Edda hatte es nur ein Leben in Tasra oder auf dem Bauernhof, in ihrem Dorf Illdra, gegeben. Hier wuchsen sie auf, hier würden sie ihr Leben fristen und hier würden irgendwann sterben. So der Plan ihres Vaters. Dass er ihnen dabei ein ganzes Volk verschwiegen hatte, schmerzte die 18-Jährige sehr, die das alles gar nicht so recht fassen konnte. Auch aus den Büchern und von Susanna, ihrer Tante, die sie so ziemlich alles lehrte, hatte sie das Wort Astein noch nie gehört. Diese Augen... sie waren etwas ganz besonderes. War es ein Zeichen für das, was und wer er war? Ein Kind von Elldrea? Es war eine schöne, jedoch auch traurige Geschichte, die ihn mit seinem Dasein verband. Und nun hatte es Krieg gegeben, doch wie konnte es sein, dass Edda selbst hiervon nichts erfuhr? Tobte der Krieg so hoch oben im Norden, dass er ihre Landen nicht erreichte? Doch Gerrit wusste davon, da war sich Edda sicher. Und er sagte kein einziges Wort. Wie sollte sie ihrem Vater mit diesem Wissen gegenübertreten? Eintausend Fragen und mehr stellten sich zu Aiden und seiner Geschichte. Zu dem, wer er war, was ihn auszeichnete, wie er mit dem Verlust seiner Brüder und Schwestern zurechtgekommen war, was seine Gaben und seine Flüche waren. Wer er war. Doch es waren zu viele Fragen, um sie an einem Abend zu stellen. Nicht mal war es ihr gewährt, eine einzige weitere Frage zu stellen, da ertönte schon die Stimme ihres Vaters, der voller Zorn ihren Namen rief.
      "Edda? Edda! EDDA! Wo bist du, Mädchen!?", was die junge Frau zusammenfahren ließ.
      Doch bevor sie aus dem Hühnerstall eilte, wandte sie sich noch einmal Aiden zu.

      "Ich danke Euch, dass ihr mir Eure Geschichte erzählt habt. Sie klingt so voller Wunder und so traurig zugleich. Hört... ich werde mit Vater sprechen und ihn bitten, Euch noch ein paar Tage auf dem Hof verweilen zu lassen. Vielleicht wird er stur sein und laut. Niemals sofort einsichtig, das steht fest. Aber wenn ich gehorsam bin und mich seinem Willen füge, als Bedingung, Euch weiter auf dem Hof zu lassen, und sei es nur für den Schein... dann wird er sicher verstehen. Also... ich wünsche Euch eine gesegnete Nacht, Herr."
      Es war ein Lächeln voller Liebreiz, bevor sie sich vom Heuboden erhob und sich aus dem Hühnerstall schlich. Sie entfernte sich leisen Schrittes einige Meter von diesem, sodass ihr Vater nicht den Verdacht schöpfte, dass sie dem Asteiner einen Besuch abgestattet hatte.
      "Hier bin ich, Vater", rief sie ihm entgegen, und Gerrit, der in seiner einen Hand das Gewehr und in der anderen eine Laterne hielt, welche ihm die Nacht ein wenig erleuchtete, schien erleichtert.
      "Komm rein, Kind!", bat er. Dabei klangen seine Worte sanfter und weniger schroff als bei ihrem Eklat. Gehorsam folgte sie ihrem Vater in die warme Stube, doch heute würde es nicht mehr zu jenem Gespräch kommen, bei dem sie alles versuchen würde, um ihren Vater vom Bleiben des Asteiners zu überzeugen.
      Gleich in den frühen Morgenstunden jedoch, noch bevor die Familie sich zum Frühstück traf, suchte sie das Gespräch mit ihrem Vater. Sie entschuldigte sich für ihr schlechtes Verhalten am Vorabend, beichtete Gerrit sogar, noch mit Aiden gesprochen zu haben, zu wissen, wer und was er war. Auch sagte sie ihm, dass sie tiefes Mitleid für ihn empfand, und anders als Edda erwartet hatte, reagierte ihr Vater besänftigt. Er klärte sie auf, zu was die Asteiner fähig waren, nannte ihr aber mit keiner einzigen Silbe den Grund, warum er das andere Land so lange vor ihr und Corinne verschwiegen hatte, und warum selbst Susanna die Asteiner nie erwähnt hatte. Es gab ein Land neben Estos, das für die Schwestern auf der Landkarte nie existierte. Und dann auch noch ein Krieg, der tausende Leben dahinraffte, und von keinem einzigen Tod, obgleich sie nie einen Asteiner kennengelernt hatten, wurden sie jemals in Kenntnis gesetzt.
      "Du verstehst das nicht, Edda... sie sind ein unberechenbares Volk. Sie sind keine Menschen wie du und ich. Sie sind eine Naturgewalt."
      Es waren diverse Warnungen und unheilvolle Prophezeiungen, die Gerrit aussprach, um seine Tochter vom Fernbleiben Aidens zu bewegen. Doch als sie ihm versicherte, dass sie der Vermählung mit dem Winchester-Sohn zustimmen würde, aber als Gegenleistung einforderte, dass Aiden sich noch ein paar Tage auf dem Hof erholen könne, willigte der Bauer doch tatsächlich ein. Sogar, dass dieser anstatt im Hühnerstall im Keller nächtigen durfte, war eine Vorstellung, mit der der Bauer letztendlich leben konnte, denn er wusste seine Tochter nun in festen Händen. Und die paar Tage, gemeinsam mit einem Asteiner, würde er auch überstehen.
      Unter dem Vorwand, kurz nach dem neu geborenen Kalb zu sehen, eilte sie schnurstracks in den Hühnerstall, um Aiden die frohe Botschaft mitzuteilen. Wildes Gegacker entfachte unter dem lauten Krähen des Hahns entgegen der aufgehenden Sonne.
      "Seid Ihr wach?", fragte sie vorsichtig, als sie sich zugleich neben ihn auf den Heuboden kniete. Voller Frohmut teilte sie ihm mit: "Ihr dürft bleiben. Ich führte mit Vater gerade ein Gespräch, und er akzeptiert Eure Anwesenheit für ein paar Tage. Ihr dürft sogar im Keller schlafen!"
      Edda brachte jene Worte mit solch einem Frohmut hervor, dass man meinen konnte, es sei eine so gute Nachricht, dass sie sein ganzes Leben verändern konnte. Doch es waren lediglich ein paar Tage in der Ewigkeit, die für ihn Sicherheit bedeuteten.

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.

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    • Beide zuckten sie zusammen, als die Stimme des Bauern vom Haus herüber schallte. Es war schon erstaunlich, wie sehr sie sich in dieser Hinsicht schon ähnelten, dabei kannte Edda ihren Vater schon ihr ganzes Leben lang und Aiden erst einen Tag. Aber dieser Tag war genug, um ihn dieselbe Ehrfurcht zu lehren, wie auch die Bauerstochter sie vor dem alten Mann empfand.
      Aiden lächelte sie freundlich und ein bisschen auch erleichtert an, als sie sogleich aufsprang und sich noch einmal zu ihm umdrehte. Fast hatte er gedacht, dass das Mädchen ihn durch seine Geschichte erkennen und ihn fürchten könnte, aber das stille Wunder war ihren Augen noch immer nicht verschwunden. Ganz aufmerksam und neugierig hatte sie ihm bis zur letzten Silbe gelauscht und Aiden war sich sicher, wenn er länger erzählt hätte, hätte sie sich kein bisschen gerührt, bis er nicht fertig gewesen wäre. Es war schön, auf diese Weise mit jemanden zusammen zu sitzen. Ein bisschen hatte Aiden die Geschichten schon vermisst, die sie sich in den Bergen von Astein gegenseitig erzählten.
      Aber das hier war auch nicht schlecht. Gemessen an seiner gegenwärtigen Lage, war es wirklich nicht schlecht.
      "Wenn auch Ihr einen Vulkan habt, den Ihr verehrt und als Euren Schöpfer betrachtet, so hoffe ich, dass er Euch mit seinem Wohlwollen segnen wird. Zumindest für diese Nacht."
      Dabei meinte er die Worte ganz ernst. Egal, was Edda für einen Glauben haben mochte, sie sollte für ihre Güte davon gesegnet sein.
      Sie ging nach draußen und Aiden blieb im Hühnerstall auf dem Boden sitzen, packte die kleine Abendmahlzeit aus, die sie ihm mitgebracht hatte, und aß sie im verbleibenden Licht der Laterne. Vor seinen inneren Augen sah er noch immer Eddas so hübsches Lächeln und wie ihre Augen ihn so warmherzig betrachtet hatten. Unweigerlich musste er auch da lächeln.

      Wie auch immer die junge Frau es geschafft hatte: Sie hatte Erfolg. Entgegen sämtlicher Annahmen erklärte Gerrit sich tatsächlich bereit, Aiden noch ein paar Tage bleiben zu lassen, was die junge Bäuerin ihm gleich als allererstes am Morgen erzählte. So wie sie dabei strahlte, konnte Aiden ja fast nicht anders, als groß zurück zu lächeln, während er sich aufsetzte.
      "Das ist ja ganz wunderbar! Wie habt Ihr das nur hinbekommen?"
      Er hätte den Bauern niemals so eingeschätzt, dass er den Asteiner weiter dulden würde. Aber was auch immer Edda getan hatte, es hatte ihn wohl umgestimmt.
      Damit zog er in den Keller zu den Konserven und den Fässern um. Dort war es zwar etwas kühl, aber windgeschützt und vor allem ruhig. Mit Eddas Hilfe richtete er sich dort eine kleine Ecke ein, wo es sich mit etwas Stroh und Bettzeug einigermaßen erträglich liegen ließ. Das Mädchen war sogar so hilfsbereit ein extra Kissen aufzutreiben, damit sein Bein nicht auf dem harten Boden liegen musste. Aiden war so gerührt von dieser Freundlichkeit, dass ihm fast die Tränen in die Augen stiegen.
      Er legte sich im Keller noch einmal schlafen, nachdem Edda ihm auch ein Stück Brot und Wasser besorgt hatte und versuchte sein vergangenes Fieber auszukurieren. Er war gerademal vor einer Stunde eingeschlafen, als es an der Tür des Hauses klopfte.


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      Ein Pferd in den Farben der größeren Stadt Tasra war bis vor die Tür geritten und hatte einen Mann herabgelassen, der in ganz Illdra mehr als bekannt war: Remy Highair, der örtliche Steuereintreiber. Beliebt war er bei niemandem und seine Ankunft wurde alles andere als mit Fanfaren begleitet. Er war berüchtigt für seine Skrupellosigkeit, die ihn für diesen Beruf so sehr auszeichnete und mit der er schon immer die nötigen Gelder eingetrieben hatte. Remy war ein Mann des Gesetzes durch und durch und daher war er auch für Bestechungen niemals zu haben.
      Nur war heute nicht der Tag für die Steuergelder. Als ehrlicher Bauer hatte Gerrit schon immer seine Abgaben fein säuberlich kalkuliert und zurückgelegt, damit er Remy nicht mehr begegnen musste als vor der Tür, wo sie das Gut gegen den Steuerbescheid austauschten, aber an diesem Tag hatte er nichts. Remy war auch eigentlich schon letzte Woche dagewesen.
      "Guten Tag liebes Fräulein Sevenburgh", säuselte er an der Tür, als Edda ihm öffnete. "Lasst mich doch Euren werten Papa einmal sprechen. Ist er hinten im Hof? Ich kann schon zu ihm hingehen."
      Er lächelte mit scharfen Eckzähnen und ließ dann den Bauern für sich antanzen. Gemeinsam zogen sie sich in die Wohnstube zurück, weil Remy ein Papier bei sich hatte, das er dem Bauern nun über den Tisch hinweg zuschob.
      "Seine Herrschaft von Tasra lässt verkünden, dass die Provinz für einen Teil der nördlichen Kriegsschäden mit aufkommen muss. Das betrifft nämlich unter anderem die Wendelsstraße, die Hauptstraße durch die Wälder in den Norden, die erheblichen Schaden abbekommen hat und wegen der die Handelsgilde Umwege durch Landstriche nehmen muss, in denen es vor Gesetzlosen und Kriegswaisen nur so wimmelt. Wöchentlich gehen Waren im Wert von mehreren hundert Goldmünzen verloren und die müssen ausgeglichen werden. Steht alles hier drauf. Hinzu kommt der Export in den Norden, der nun eingestellt wird, nachdem der Krieg gewonnen ist. Seiner Hoheit gehen wichtige Einkünfte verloren, die er für die Sicherheit seiner Landen aufbringen muss. Es ist alles in Eurem eigenen Interesse."
      Sein Lächeln war das eines Schakalen und seine Augen spritzten Gift wie das einer Schlange. Nein, Remy war sicherlich kein beliebter Mann.
      "Wenn Ihr hier unten schaut, werdet Ihr sehen, dass Eure monatliche Abgabe damit zu wenig war. Bisher habt Ihr monatlich 125 Silbermünzen im Namen der Provinz abgegeben, aber ich fürchte, sie werden sich zukünftig auf 230 belaufen. Ihr habt 105 Münzen zu wenig gezahlt, Herr Sevenburgh."
    • "Ehm...", stotterte Edda zunächst. Was sollte sie dem Asteiner auch sagen? Dass sie ihrem Vater ihr Wort gegeben hatte, diesen schmierigen Winchester zu heiraten? War es ihr das wirklich wert? Nur damit er einen schier Fremden auf dem Hof verweilen ließ? Nur für ein paar Tage? Auf mehr würde sich ihr Vater keinesfalls einlassen, selbst wenn dies nötig wäre, um das Leben des Asteiners zu retten. Ein paar Tage in der Ewigkeit, mehr blieb ihm nicht auf dem Hof der Sevenburghs. "Bedingungen", presste sie daher nur hervor, schmunzelte, zuckte mit den Schultern, als wäre es eine Leichtigkeit sondergleichen, bevor sie sich aufmachte, wo sie schon von ihrem Vater und Corinne in der Stube erwartet wurde.
      Im Laufe des Tages zog Aiden in die Kellerräume des Bauernhauses um. Edda war sehr froh darüber, denn hier war er eindeutig besser aufgehoben als im Hühnerstall. Auch wenn die Nächte kalt würden, denn die Wärme des Ofens zog nicht hinab in den Keller, so würde die schöne 18-Jährige dafür sorgen, dass er stets einen gefüllten Magen hatte, denn ihr Vater beschloss, Aiden fortan von den Mahlzeiten auszuschließen.
      "Er wird nicht länger mit uns am Tisch sitzen!"
      Selbst die braunen Augen seiner Tochter konnten das scheinbar kalte Herz nicht erweichen. Doch immerhin durfte er bleiben. Und vielleicht, so hoffte die Älteste, würde er sich in den nächsten Tagen als "nützlich" erweisen, und ihr Vater würde verstehen, dass er nur eine arme Seele auf der Durchreise war, und er sein sicherster Anker.
      Kurz nachdem der adrette junge Mann also den Kellerraum bezogen hatte, und Edda so gut es ging half, natürlich nur unter den wachen Augen ihres Vaters, der nicht einen Handgriff tat, um zu helfen, machten sich die Töchter und der Bauer selbst an die Arbeit. Gerade als Corinne dabei war, Kartoffeln zu schälen und Edda frische Blumen auf den Tisch stellte - es war Mittagszeit -, ließ das Gewieher eines Pferdes und dessen Galoppieren die Mädchen aufhorchen. Kurz darauf schon klopfte es an der Tür, und nachdem die Mädchen fragende Blicke ausgetauscht hatten, öffnete Edda die Tür. Begrüßt wurde sie von dem falschen Grinsen des örtlichen Steuereintreibers, Remy Highair. Niemand wurde annähernd so gehasst wie dieser schmierige, schleimige... doch die Dunkelhaarige wollte sich gedanklich nicht versündigen und erwiderte darum sein Lächeln.
      "Schönen guten Tag, mein Herr. Nehmt bitte Platz. Ich werde Vater für Euch rufen."
      Auch wurde er von der schüchternen Corinne höflich begrüßt. Nachdem Edda ihren Vater auch sogleich gerufen hatte, wurden die Mädchen nach draußen geschickt. Er wollte allein mit Herrn Highair sprechen. Doch wie konnte es anders sein? Natürlich lauschten die Mädchen unauffällig unter dem Fenster, welches offen stand, und durch welches eine leichte Brise ins Innere wehte. Gerade wollte Corinne den Ansatz machen, etwas zu sagen, als Edda mit dem Zeigefinger, den sie auf ihre eigenen Lippen hielt, die Jüngere zum Schweigen verdonnerte.
      Krieg... im Norden... verlorene Einkünfte seiner Hoheit. Zunächst regte sich Gerrit auf. Und obgleich das Fenster nicht sehr weit von dem Holztisch entfernt stand, an dem die beiden Männer saßen, verstanden die Schwestern nur Bruchteile des Gesprächs. Doch auch wenn nicht jede Silbe deutlich klang, so verstanden sie nur allzu schnell den Sinn hinter dem Besuch des miesen Steuereintreibers, dem es eine wahre Freude bereitete, Menschen ihren letzten Pfenning aus der Tasche zu ziehen. Gerrit regte sich zunächst darüber auf, dass sie das Geld nun von denen nahmen, denen Illdra so viel zu verdanken hatte, schimpfte, dass der König auf viel zu hohem Fuß lebe und es eine Schande sei, dass sie Familien ihre Existenzen nahmen. Doch mit jeder Minute wurde seine Stimme rauer und kraftloser. Er schlug vor, fast beschwichtigend, die Ressourcen doch aus anderen Quellen zu nehmen. Den Beitrag der Steuern langsamer zu erhöhen oder schlichtweg nicht so viele Ressourcen zu verschwenden. Doch schnell stellte sich heraus, dass das Gespräch nirgendwo hinführte und das Wort des Steuereintreibers deutlich mehr Gewicht trug. Gerrit zahlte die 105 Münzen, die für ihn, als fleißiger Bauer, eine ganze Menge waren, weswegen er auf das Ersparte zurückgreifen musste, welches für Zeiten der schlechten Ernte und die regnerische Tage gedacht war. "Hier...", warf er Remy den Beutel mit Münzen auf den Tisch. Mit geballten Fäusten und mit einem deutlichen Zähneknirschen hatte er den Blick abgewendet. "Und jetzt verschwindet!"

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.
    • All dem Krawall und der Aufregung des Bauernvaters begegnete Remy nur mit seinem süffisanten Lächeln und ein paar sehr unverbindlichen Worten. Natürlich wurde eine Steuererhöhung niemals mit offenen Armen empfangen und natürlich war er, als die Anlaufstelle dafür, das Gesicht des Teufels höchstpersönlich. Aber würde er sich in seinen Arbeiten davon beeinflussen lassen? Sicherlich nicht. Der Bauer konnte toben und wüten wie er wollte, er konnte auf Remy losgehen und die Konsequenzen dessen auf sich ziehen, aber letzten Endes würde er bezahlen.
      Letzten Endes bezahlten alle. Auf die eine oder andere Weise.
      Daher musste Remy ganz einfach nur abwarten, bis der erste Ansturm vorüber gegangen war und nun die Verhandlung stattfand. Gerrit beschwörte ihn, die Zahlungen aus flüssigeren Quellen zu nehmen, aber das war natürlich nichts, was in der Macht des Steuereintreibers stand. Er war lediglich derjenige, der dafür sorgte, dass die Zahlungen auch durchgeführt wurden, nicht etwa woher sie kamen oder gar für was sie eingesetzt wurden. Der Bauer hatte daher keinen Erfolg, dass er Remy damit zu beschwichtigen versuchte. Der Mann aus Tasra würde lediglich seine Aufgabe erfüllen.
      Auch das ging vorüber und dann wechselte das Silber den Besitzer. 100 Silbermünzen waren wahrlich kein kleines Geld und bei einer plötzlichen Steuererhöhung von satten 84 % konnte man es Gerrit wohl auch nicht verübeln, dass er es gewagt hatte, darum zu kämpfen. Nur behielt Remy, wie immer, die Oberhand. Der Mann mochte alleine mit seinem Pferd hier sein und im Angesicht der wuchtigen, starken Hände des Bauern sicher kräftemäßig unterlegen, aber Remy hatte die Stadtverwaltung von ganz Tasra im Rücken. Und immerhin sah man es nirgends gern, wenn Steuereintreiber schlecht behandelt wurden.
      Er bedankte sich auf seine falsche Weise, ließ den Zettel zurück, der ausweisen sollte, dass in Zukunft mehr Steuern anfielen, und stakste dann wieder nach draußen. Ohne einen weiteren Blick zurück stieg er auf sein Pferd, gab ihm die Sporen und galoppierte davon, zweifellos zum nächsten armen Bauernhaus, das nun die gleiche Überraschung erfahren würde.
      Wahrlich kein guter Tag für ganz Illdra.

      Es schien wohl, als hätte sich die Nachricht über die erhöhten Steuern schon längst herumgesprochen, als Remy gerade erst das Dorf wieder verließ. Die Feldarbeiten lagen für einen Moment still, während sich die Familien darüber berieten, wie sie mit den neuen Forderungen umgehen sollten.
      Noch am selben Nachmittag klopfte es erneut an der Tür und der jüngste der Winchesters stand in der Tür. Er war gerade mal 11 Jahre, glich aber seinem Vater bereits Haar um Haar.
      "Verehrter Herr Sevenburgh, die Dorfgemeinschaft hat beschlossen, sich alle heute Abend bei Axana zu treffen, um über den neuen Beschluss zu beraten. Ihr seid ganz dringend dazu eingeladen. Dies ist etwas, das uns alle betreffen wird."
    • Neu

      Am Nachmittag des selben Tages, klopfte der jüngste Winchester an der Tür des Bauernhauses der Familie Sevenburgh. Er war ein kleiner, dickbäuchiger Junge mit schulterlangem blondem Haar, auffallend roten aufgepolsterten Wangen und stets schien sein Herz schneller zu schlagen, als das der anderen Kinder, was man unschwer an seiner schnellen Atmung erkennen konnte. Er wirkte immerzu interessiert und auch wissbegierig. Zweifellos löbliche Eigenschaften, doch redete er definitiv zu viel. Der wohlhabende Junge überbrachte Gerrit eine wichtige Nachricht. Heute Abend, nach Anbruch der Dunkelheit, wollten sich also die Bürger Illdras vor Axanas Haus treffen, um sich zu beraten. "Ich werde da sein", gab Gerrit zur Antwort, nachdem er noch wenige Stunden zuvor mit seiner Tochter Edda eine hitzige Konversation über das Thema Susanna Calvert geführt hatte, die Tante der beiden Sevenburgh-Töchter und Schwester von Gerrits verstorbener Ehefrau Loreley. Edda, wie auch Corinne, fanden es, wie alle Bürger Illdras, eine Unverschämtheit, dass nun noch mehr Steuern gefordert wurden, für Ausgaben, von denen die Bürger der kleinen Städte und Dörfer Estos keinen Gewinn verspürten. Der König galt als skrupellos und wohl öfters hysterisch, wie einige vertrauenswürdige Quellen verlauten ließen. Ob es nur ein Vorwand war, um in noch größerem Reichtum zu leben? Auch seine Gemahlin, Königin Zaratella Parasajanata, eine Eingewanderte aus fernen Landen und zugleich eine Frau von Adel, hatte große Ansprüche. Sie hatte den älteren Herrn schlichtweg mit ihrer Schönheit so sehr verzückt, dass er nicht anders konnte, als der gnädigen Hoheit jeden noch so großen Wunsch zu erfüllen. Zumindest sprach sich das herum. Wie dem auch sei. Die Steuern sollten erhöht werden, doch keine Familie Illdras war damit wirklich einverstanden. Den Vorschlag, Susanna, die schon öfter ihre finanzielle Unterstützung angeboten hatte, zu bitten, der Bauersfamilie auszuhelfen, wurde wehement von Gerrit abgelehnt.
      "Lieber sterbe ich!", sagte er des Öfteren an diesem Nachmittag. Das letzte Mal nuschelte er sich selbiges in seinen stoppeligen Dreitagebart, bevor der kleine dicke Winchester vor seiner Tür stand. Er versicherte zu kommen, und da er sich auf keine weiteren Diskussionen mit seiner Tochter einließ, beschloss er auch an diesem Abend alleine der Zusammenkunft beizutreten, auch wenn ihm dies nicht sonderlich recht war, denn er konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass ein Asteiner in seinem Hause wohnte, und dazu noch mit seinen Töchtern! Immer wieder trichterte er den beiden ein, Vorsicht walten zu lassen, am besten die Kellertür zu verschließen, nur für den Fall. Dabei wusste Gerrit genau, dass eine Tür für einen Asteiner wohl das kleinste Problem darstellte. Selbst Fasco, dem Hofhund, gab er den Auftrag, auf seine Töchter, den Hof und seine Bewohner Acht zu geben, doch außer ein schief gelegter Kopf und ein fragender Blick, bekam er von dem mächtigen Vierbeiner nichts zur Antwort.
      Mit einem letzten Blick und einem unguten Gefühl in der Magengegend, verließ er das Haus, nachdem seine Töchter in ihre Zimmer eingekehrt waren und die Sonne sich bereits verabschiedet hatte. Sein Weg führte zu Axanas Haus, an welchem schon die meisten Bewohner Ildras, darunter viele der ärmsten Familien und auch einige Bauersleute, standen. Die wilden Diskussionen waren schon von Weitem zu hören. Inmitten alle dem, vor ihrer Haustür, saß Axana auf einem Heuballen. Sie schaute ins Nichts, gedankenverloren, als sei sie überall und nirgendwo. Nichts besonderes eigentlich. Doch an diesem Abend wirkte ihr Blick noch leerer als sonst. Ihre Miene schien mürrisch. Ebenfalls nichts besonderes, und in Anbetracht der widrigen Umstände, sogar verständlich. Gerrit trat zu der Gemeinschaft, wurde von manchen mit einem freundlichen Händeschütteln, von anderen mit einem Klopfen auf das Schulterblatt und sogar mit einer Umarmung begrüßt. Am Haus von Axana brannten Fackeln, die die sternenklare Dunkelheit erleuchteten und etwas Wärme spendeten.



      Zaratella Parasajanata
      Die anspruchsvolle Königin

      Muttersein ist eine Liebesgeschichte, die niemals endet.
    • Neu

      An diesem Abend fand ein wahrer Trubel um Axanas Haus herum statt. Natürlich waren es nicht nur die Bauern, die von der plötzlichen Steuererhöhung betroffen waren, und so fand sich hier unter anderem auch der Metzger wieder, die Schneiderin, die Kräuterfrau und sogar der selbsternannte Schmied. Illdra mochte nicht groß genug sein, um die wirklich fähigen Leute anzulocken oder Besucher, die nicht etwa auf der Durchreise waren, aber es wusste sich durchaus selbst zu helfen. Bisher war Illdra mit seiner Selbstständigkeit immer ganz gut zurechtgekommen und das sollte sich auch nicht ändern.
      Doch mit den viel zu hohen Steuern, erhoben sich ganz eindeutige Probleme.
      "Wenn ich jeden Monat so viel zahlen muss, werde ich wieder selbst Eisen abbauen müssen, anstatt es aus Tasra liefern zu lassen", beschwerte sich der Schmied gerade bei einem der Bauern. Er war mindestens so alt wie Axana.
      "Aber dann habe ich keine Zeit mehr dazu, am Ofen zu stehen. Und jemanden anzustellen geht auch nicht - das kostet doch wieder nur Geld!"
      "Die können sich bald ihr Fleisch wieder selbst besorgen. In Zukunft werde ich nur Illdra beliefern. Tasra soll mit seinen eigenen Jägern auskommen!", maulte der Metzger.
      Die Kräuterfrau hingegen war relativ gefasst.
      "Ich werde eben den Preis für Zierhut erhöhen und das alles wieder ausgleichen. Das gibt es sowieso nur in unserer Gegend, also haben sie gar keine andere Wahl, als die neuen Preise zu bezahlen."
      Das Chaos der Versammlung schwoll noch einige Minuten so an, während sich jeder über seine ganz eigenen Probleme beschwerte, die damit einhergingen. Irgendwann tauchte eine Gestalt über den Köpfen der Menschen auf: Balthasar Winchester, der älteste der Söhne, und erklomm ein paar umgestürzte Kisten, um sich über der Menge zu erheben.

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      Er richtete sich ganz auf und schwenkte mit den Armen, um die Aufmerksamkeit der Menge zu erhaschen.
      "Bürger von Illdra! Hört mir zu - wir können und werden sowas doch nicht auf uns sitzen lassen! Oder?"
      Langsam wurde es leiser, während man sich dem jungen Mann zuwandte. Seine Backen glühten in einem sanften Rot, entweder vor Zorn oder vor Nervosität, ganz so leicht ließ sich das nicht bestimmen.
      "Eine solche Erhöhung ist eine Unverschämtheit, das finden wir alle! Fast doppelt so viel als im vergangenen Monat - dabei sind wir ein kleines, beschauliches Örtchen, keine Stadt wie Tasra! Was wollen sie von den paar mehr Silbermünzen, die sie von uns bekommen? Sollen sie es sich doch von den anderen holen!"
      Vereinzelte Zurufe erhoben sich, darunter der Metzger, der wohl auch schon im Vorhinein mit Balthasar geredet hatte.
      Bekräftigt davon fuhr er ein bisschen lauter fort.
      "Sowas können sie nicht mit uns machen! Wir sind das Rückgrat von Estos! Ohne unsere Felder und unsere Tiere gibt es kein Essen, mit dem sich Krieg führen ließe! Oder Steuern eintreiben! Aber wenn wir viel mehr zahlen müssen, als wir verdienen, gibt es bald solche Felder nicht mehr! Oder Tiere!"
      "Ja!"
      "Recht hat er."
      Balthasar fuhr mit einer ungeahnten Leidenschaft fort.
      "Das lassen wir nicht auf uns sitzen! Oder? Wir werden uns dagegen wehren! Wir zahlen unsere Steuern - aber nicht für einen Krieg, der schon längst vorbei ist! Und nicht für eine Sache, bei der wir schon unsere Abgaben geleistet haben! Wofür wurden unsere Weizen immerhin verwendet? Ganz richtig - um unsere Soldaten zu verpflegen!"
      Wieder zustimmende Rufe, diesmal wieder ein bisschen mehr als vorhin. Es waren zwar hauptsächlich die Bauern, die sich hier lautstark anschlossen, aber auch die anderen Bürger von Illdra waren noch immer zugegen, definitiv zu betroffen von der ganzen Sache, um einfach zu gehen.
      Als Balthasar wieder weitersprach um das auszusprechen, was sich wohl die meisten versammelten hier sowieso irgendwie dachten, schob sich sein Vater, Conrad Winchester, zu Gerrit durch.

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      "Gerrit, alter Kollege."
      Die beiden Männer begrüßten sich mit einem halb höflichen, halb freundschaftlichen Handschlag. Conrad war Gerrit gegenüber definitiv sehr viel gütiger gestimmt, seitdem er ihm die Hand seiner ältesten Tochter für dessen Sohn versprochen hatte.
      Gemeinsam wandten sie sich diesem Sohn wieder zu, als er mit seiner Rede fortfuhr.
      "Er macht sich gut dort oben, findest du nicht?", fragte Conrad mit hörbarem Stolz in der Stimme. "Ich verspreche dir Gerrit, der Junge wird eines Tages noch Bürgermeister. Illdra ist zu klein für sowas, aber vielleicht ja in Tasra. Wäre das nicht ein schöner Gedanke? Mein Balthasar und deine Edda gemeinsam als Herrscherpaar in Tasra? Sie müssten auch nicht mehr auf dem Feld arbeiten - und deine Edda kann doch schreiben und rechnen. Sie kann die Steuern regeln, so wie es sich gehört."
      Er verstummte, um seinem Sohn etwas weiter zuzuhören. Der hatte gerade angefangen, die Leute endgültig für sich zu gewinnen. Die Stimmung, die er hier heraufbeschworen hatte, schaukelte sich nur immer weiter nach oben.
      "Ich sage, sie können sich ihr Silber sonst wo hinschieben! Gleich morgen werden wir einen Boten zu Mr. Highair schicken, der diesem Gauner sagt, dass er nur eins von uns bekommen kann: Silber - oder Ernte! Aber nicht beides zusammen! Das werden wir ihm sagen! Wer stimmt mir zu?!"
      Und diesmal war es fast schon großer Lärm, der sich über die Menschen erhob, als sie ihm definitiv zustimmten.
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