Behind the Screens [Michiyo & Kiimesca]

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    • Behind the Screens [Michiyo & Kiimesca]

      Vorstellung
      @Michiyo


      Ein Date?!
      Ein richtiges Date?!
      So von Angesicht zu Angesicht?!

      Mein Herz schlug wie wild, während ich auf mein Handy starrte und die Nachricht immer und immer wieder las, die zwar von meinem Handy abgeschickt, aber nicht von mir geschrieben wurde. Ich wusste sofort, dass Jenny, meine Cousine, wieder an meinem Handy war. Ich liebte sie wirklich, aber sie stieß mich schon so oft ins eiskalte Wasser. Vielleicht brauchte ich das aber auch.. Ohne sie, hätte ich mich nie bei dieser Dating App angemeldet. Und dann hätte ich niemals Sam kennengelernt. Wir schrieben schon ein paar Wochen, aber zu einem Treffen ist es nie gekommen. Er hatte nie gefragt und ich natürlich auch nicht! Nun sah es aber so aus, als hätte ich gefragt und die Nachricht war auch bereits als gelesen markiert, weshalb ich sie nicht mehr löschen konnte. Vielleicht sollte ich mein Handy in Zukunft mit ins Bad nehmen, wenn ich dusche...
      Jetzt saß ich hier, an meinem Schreibtisch, und stützte meinen Kopf mit beiden Händen, während ich auf den kleinen Bildschirm auf dem Tisch starrte und auf eine Antwort wartete. Was, wenn er nein sagt? Dann mag er mich wohl doch nicht so sehr, wie ich gehofft hatte..
      Aber was, wenn er ja sagte?!
      Alles war super, so wie es war. Ich hatte zumindest das Gefühl, einen Freund zu haben. Nun raste mein Herz wie das eines Kaninchens und etliche Gedanken schossen mir durch den Kopf. Wir hatten viel geschrieben. Sehr viel. Sehr viel peinliches! Ich war immer ehrlich, außer bei meinem Profilbild. Wobei.. es zeigte zumindest wirklich mich, nur nicht so, wie ich für gewöhnlich aussah. Jenny fotografierte sehr gern und kannte auch ein paar Tricks, wie man gute Profilbilder machte. Dazu steckte sie mich in eines ihrer Kleider und trug mir ihr Make-Up auf. Dann suchten wir uns einen hübschen Hintergrund und da - Abigail in hot. Mir war nicht klar, dass ich so aussehen konnte.. Irgendwie liebte ich dieses Bild, aber zugleich hasste ich es auch. Was, wenn Sam von meinem normalen Aussehen enttäuscht wäre? Gnaaahhh.. und was, wenn er mich trotzdem hübsch fand? Was, wenn er mich doch nur veraschte? Oh Gott.. Ich war so aufgeregt. Einerseits war ich neugierig und freute mich darauf, aber andererseits hatte ich große Angst.
      "Du bist eigentlich ganz süß für eine Brillenschlange.."
      "Warum versteckst du deine Arme? Hast du Tattoos? Bist du ein Emo?"
      Solche Sprüche durfte ich mir während der High School dauernd anhören. Im College wurde das zwar etwas besser, aber es gab sie immer noch. Die coolen Jungs und Mädchen, die auf uncoolen Leuten wie mir herumhackten. Die sich hinter meinem Rücken über mich lustig machten, aber so, dass ich sie gut hören konnte.
      "Die ist bestimmt noch Jungfrau.."
      Na und..? Was war so schlimm daran? Nur weil ich schon 21 war.. Dafür hatte ich kein erstes Mal, dass ich bereute... Zum Glück...
      Es wäre vielleicht fast dazu gekommen, als ein gutaussehender Junge mich nach einem Date fragte. Als ich zu seinem Auto auf dem Schulparkplatz kam, hatte sich Jenny jedoch auf ihn gestürzt und verprügelte ihn. Er traute sich nicht, zurückzuschlagen, weil sie ein Mädchen war, aber sie hatte keine Skrupel. Deswegen liebte ich sie, denn auch wenn sie mich an meine Grenzen brachte, war sie immer für mich da. Ryan hatte sich mit ein paar anderen Schülern über mich lustig gemacht. Sie wollten Wetten abschließen, wie lange er brauchen würde, um mich.. naja.. flachzulegen.. Es war also alles nur gespielt..
      Und wenn Sam mir auch nur etwas vorspielte? Ich mein.. er ist viel zu heiß für jemanden wie mich.. Anfangs war ich skeptisch und habe es nicht all zu ernst genommen, doch je besser wir uns kennenlernten, desto mehr mochte ich ihn.
      Aber es war scheiße peinlich. Fuck! Keine Ahnung, was sich Jenny dabei gedacht hatte.. Sie wollte mein Selbstbewusstsein stärken oder so'n Scheiß.. Das war nicht die erste Nachricht, die sie in meinem Namen verschickt hatte. Und die letzte vor einer Woche hatte zu.. einem wirklich schönen, aber unglaublich peinlichen Moment geführt! Gott... Er konnte sich ganz sicher noch gut daran erinnern, als wir.. keine Ahnung.. irgendwie Sex im Chat hatten.. Wieso sollte er das auch vergessen..
      Nur weil ich noch nie mit einem Jungen geschlafen hatte, war ich ja nicht komplett unwissend, ja? Selbstbefriedigung ist doch nichts verwerfliches... Aber was, wenn er glaubt, dass wir schon so weit waren? Also, dass wir in echt rumknutschen und.. Sex haben.. Gleich beim ersten Date? Oh Gott..
      Ganz ruhig, Abby..

      Neugierig streckte Jenny nun auch noch ihren Kopf durch die Tür.
      "Hat er schon geantwortet?" In ihren Augen lag aufrichtige Neugier und sie sah so unschuldig aus. Als hätte sie nicht gerade vielleicht mein Leben zerstört. Sie glaubte wahrscheinlich, dass sie Armor war und für mein Glück gesorgt hatte.
      "Noch nicht...", murmelte ich und rührte mich nicht.
      "Das wird er noch... genau wie letztes Mal..", schmunzelte sie und stellte mir einen Pfefferminztee vor die Nase, ehe sie sich auf meinen Schreibtisch setzte und zu mir runter sah. Nun blickte ich zu ihr auf - seine Antwort käme ja nicht schneller, wenn ich die ganze Zeit aufs Handy starrte.
      "Ich hätte ihn auch selbst gefragt... Irgendwann.."
      "Klar. Aber ein kleiner Stupser kann ja auch nicht schaden."
      Ein kleiner Stupser? Sie stieß mich die Klippe hinab und sah nun dabei zu, ob Sam mir die Hand reichte oder mich fallen ließe...
      Ich fühlte mich unruhig. Wie in einer Achterbahn. Ein unangenehmes Gefühl.. Diese Unwissenheit machte mich echt fertig. Wollte er es auch oder doch nicht? Wenn er Nein sagte, dann wäre es wenigstens schnell vorbei. Kurz und schmerzlos. Naja. Zumindest nicht so schmerzhaft, als wenn er mir erst beim Treffen einen Korb gab. Oder danach!
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco
    • Freitag Nachmittag, der Beginn des tobenden Lebens und der wochenendlichen Sorglosigkeit. Während die meisten Studenten sich nach dem Trott der Vorlesungen auf die unvergesslichen Partys, belebende Musik und aufheiternde Getränke freuen, bevorzuge ich das Gefühl von kühlem Leder zwischen meinen Fingern. Hinter dem Lenkrad unseres Game Simulators, dem wohlbehüteten Schatz unserer Wohngemeinschaft, für den wir alle unser gesamtes Erspartes haben fließen lassen, konnte ich so tiefe Wurzeln schlagen wie ein Baum. Eine Schande, Verschwendung wertvoller Lebenszeit und nichts als ein dummes Spiel in den Augen meiner Familie, die Erfolg und Lebensfreude an die Anzahl von Bekanntschaften knüpfte. Quantität war noch nie besser als Qualität, zumindest nicht in meiner Welt. Zugegeben, selbst meine besten Freunde waren mittlerweile der Meinung, ich sollte meine Fühler ausstrecken, um mich wie das zarte Pflänzchen, das ich war, zur Sonne zu drehen, doch ehrlich gesagt hielt ich das für schwachsinnig. Ich war glücklich. Menschen sind scheiße. Waren sie immer, werden sie immer sein. Ein einziges Krebsgeschwür, das unaufhaltsam über dem Körper der Erde wuchert. Kaum eine Spezies beweist sich so talentiert in der Zerstörung der eigenen Art. Ich hatte genug Freunde, zwei an der Zahl. Keine hervorragende Leistung, wenn man berücksichtigte, dass ich in einer Vierer-WG wohnte, aber mit Tristan wurde ich einfach nicht warm. In ihm verbarg sich die Verkörperung aller Übel, was in der Gesellschaft schief lief. Schwächere verspeiste er zum Frühstück und auch wenn ich ihm aufgrund der Freundschaft zu seinem Bruder bisher im Hals stecken blieb, so war auch ich nicht verschont von seinen Angriffen. Darauf, einer seiner “Homies” zu sein, konnte ich gepflegt verzichten. Allein das bloße Wort sorgte mittlerweile für Augenrollen meinerseits.

      Ich fand nie, dass ich allein war. In den unzähligen Stunden, in denen ich mit dem Brummen des Motors und dem Flackern der digitalen Rennstrecke verbrachte, hatte der Raum neben mir nie eine Bedeutung gehabt. Der Beifahrersitz war nichts weiter als ein unberührtes Polster. Doch in letzter Zeit schien sich das zu ändern. Als wäre die Luft dort dichter geworden, das Flüstern meiner Gedanken, die langsam Gestalt annahm. Nicht als Person, nicht wirklich. Eher eine Fata Morgana oder Anhäufung von Pixeln, die in meiner Vorstellung die Leere neben mir füllten. Es war, als hätte jemand die Schaltfläche für den Beifahrer plötzlich aktiviert, bereit jemanden zu empfangen, dessen Stimme über das Rauschen des Online-Spiels eine Brücke in meine reale Welt baute. Manchmal, in kurzen Pausen, wenn das Game lud, schweifte mein Blick zur Seite. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn sie dort säße. Jemand, der mit mir durch die nächtlichen Straßen fuhr. Durch die schlafende Stadt, entlang des leeren Asphalts, während das vorbeiziehende Licht der Straßenlaternen einen sanften Schein auf ihr Gesicht warf. Hier, neben mir, realer als alles. Ein flüchtiger Blick zu ihr hätte genügt, würde mein Herz einen schnelleren Takt schlagen lassen bei dem Gedanken, wie nah sie mir wäre. In einem Moment der Kühnheit, hätte ich meine Hand vom Lenkrad gelöst und auf ihren Oberschenkel sinken lassen. Ihre Finger würden den Weg zu meinen finden. Jede rote Ampel wäre eine willkommene Pause, in der meine Aufmerksamkeit nur ihr gehören würde. Diese Gedanken waren neu für mich, ungewohnt und ein wenig beängstigend. Aber sie waren nicht mehr als das. Hirngespinste, pures Wunschdenken und, wie vieles in meinem Leben, keine greifbare Realität. Und da war es wieder. Das Pingen meines Handy-Klingeltons und der Dating-App, die in den letzten Wochen meinen Alltag bestimmte. Fast wäre ich beim Schulterblick zum leuchtenden Bildschirm aus der Kurve geflogen. Ich hasste es, ein Rennen zu pausieren, nachdem ich es gestartet hatte und doch tat ich es immer häufiger.
      “Naa, was haben wir denn da? Eine neue Nachricht von Abigail?” stimmte mein Mitbewohner und bester Freund Elliot melodisch ein, bevor ich die Gelegenheit hatte, das Spiel zu stoppen. Er war der Grund, weswegen ich überhaupt in dieser Misere steckte.
      “Worauf wartest du? Ließ vor.” rief Max meine Gedanken vom Sofa aus herüber.
      Auf das Drängen folgte lediglich ein heiteres Lachen, ehe eine Antwort ohne meine Kenntnis versendet wurde.
      “Unser Rory hat ein Date!” Wandte sich der dunkelhaarige mehr an Max als an mich.
      “Was?!” zischte ich, sah dem flüchtenden Zwerg, der sich zu unserem Kumpel mit der Chipstüte gesellte, hinterher und erschrak bei der plötzlichen Vibration des Sitzes, in dem ich saß. In der digitalen Welt fand ich mich gecrashed im Reifenstapel wieder, was ironischerweise eine ziemlich treffende Darstellung meiner Gefühlswelt war. Die Anmerkung, dass der Crash meine Statistik ordentlich in den Keller zog, verarbeitete mein Hirn nicht länger. Das Spiel war irrelevant, so sehr sogar, dass ich vergaß, wie ich mich aus dieser Zwangsjacke von realistischem Motorsportsitz überhaupt befreien konnte. Ich strauchelte mit einem Gegenstand, der meinen Alltag seit Jahren prägte, und das nur, weil mein Herz beschloss, wie ein eingesperrter Vogel panisch gegen den Rippenkäfig zu knallen. Endlich aus dem Gurt gelöst, stolperte ich zur Couch, konnte mich gerade noch mit der Hand an der Rückenlehne stützen und einen Sturz verhindern, bevor meine Ungeduld die Oberhand gewann und den beiden Witzbolden mein Smartphone entriss.
      Tatsache. Schwarz auf weiß stand es geschrieben. Abigail fragte nach einem Treffen, so draußen - im echten Leben. So ganz in Fleisch und Blut, live und in Farbe. Meine vermeintliche Antwort hingegen gab mir den Rest. Ich sagte zu.

      “Hast du komplett den Verstand verloren?” Entglitten mir jegliche Gesichtsmuskeln, während bereits einhundert Ausreden mir wie kleine Teufel auf den Schultern Beistand leisteten.
      “Was denn? Bist du nicht der Meinung, dass ihr nach eurer Cyber-Sex-Session euch mal endlich auf ein Kaffee treffen solltet? Du weißt schon, dass man sowas auch wirklich mit einer Person machen kann, statt nur darüber zu schreiben?”
      “Und es in echt um Längen besser ist?” ergänzte Elliot, bevor beide herzlich lachten.
      “Okay, klar. Ja, was hab ich denn bloß für Sorgen? Ich geh hin, mach ihr den Hof und wir leben glücklich bis ans Ende unserer Tage. Nur mit dem klitzekleinen Haken, dass sie Nicholas erwartet.”
      “Fängt diese Laia wieder an?” stöhnte Max, der sich genervt quer über das Polster warf.
      “Nic und du seht identisch aus!” Bewahrte Elliot die Fassung.

      Natürlich, wenn man alle Menschen mit rotem Haar und heller Haut als identisch betrachtete, hatte ich keinen Grund zur Sorge. Nicholas war alles das, was ich nicht war. In mir steckte der billige Abklatsch meines älteren Bruders, als wäre dem Drucker die Tinte oder meinen Eltern das feine Erbgut ausgegangen. Sportlich, breit gebaut, beliebt und der Schwarm jeder Frau beschrieb ihn nunmal und nicht mich! Schlaksig, unbeliebt und unscheinbar hätte es schon eher getroffen. Nicholas entsprach einem Meisterwerk, gemeißelt mit der Präzision und Leidenschaft Michelangelos, während ich einer Skizze aus der Hand eines Straßenkünstlers glich - voller Potential, doch unvollendet im Schatten meines Bruders. Nic war makellos, ich hingegen nur eine Kopie, die zwar Herz und Seele besaß, aber in Perfektion und Glanz nicht mit dem Original mithalten konnte.

      “Wenn man sich mit der Reflektion in einem zerbrochenen Spiegel zufrieden gibt.” Wank ich kopfschüttelnd ab. Meine Haut war wie Porzellan, das einmal in unzählige Stücke zerbrochen und dann Stück für Stück wieder zusammengefügt worden war. Eine Narbe küsste die andere, teilte nicht nur mein Gesicht, sondern annähernd meinen gesamten Körper in unschöne Einzelteile. Keine Frau hätte mir freiwillig ein Match gegeben. Und nun stand ich vor der Wahl, mich dem Endgegner zu stellen oder aus dem Rennen auszuscheiden, bevor es überhaupt begann.
      A heart's a heavy burden.

    • Jenny blieb noch wie ein Geier auf meinem Tisch sitzen, während ich in meinen Bestechungstee pustete und vorsichtig daran nippte. Der Geruch beruhigte mich ein wenig, aber als mein Handy verkündete, dass ich eine Nachricht erhalten hatte, musste ich schnell meine Hand darauf legen, damit sie es sich nicht krallen konnte. Dabei verschüttete ich etwas Tee auf dem Schreibtisch, aber das war jetzt nicht so wichtig. Aufgeregt hob ich das Smartphone und erstarrte.
      "Er hat zugesaaaaagt~", trällerte Jenny und grinste breit, während sie freudig von einem Fuß auf den anderen tappte, als hätte sie gerade selbst eine Zusage bekommen.
      "Wir müssen shoppen gehen. Du brauchst was hübsches zum anziehen. Vor allem Unterwäsche. Kondome könnten auch nicht schaden" Den Rest ihres Gebrabbels nahm ich nicht mehr wahr, weil sie in meinem Zimmer auf und ab ging und mein Kopf gerade wie ein Computer abgestürzt war.
      Unterwäsche.. Kondome.. Date?
      "Jennyyy...", quängelte ich und sah mit einem Schmollmund zu ihr auf. Das war alles nur ihre Schuld. Alles. Die App, das Sexting, der erste Anruf - Der ging auch auf ihre Kappe, als sie ihm einfach meine Nummer gab! Die ganzen Wochen - Monate - schrieben wir nur über diese App. Ich mochte seine Stimme, sie war so.. sanft.. und er wirkte überhaupt nicht aufdringlich. Gar nicht das, was man bei seinem Bild erwarten würde. Aaaaber man soll ja nicht nach dem Äußeren urteilen. Vielleicht hatte er sich meine Stimme auch verführerischer vorgestellt.
      Jedenfalls klammerte ich mich an diesen Gedanken, dass ihm das Äußere wirklich nicht so wichtig war. Das alles, was er bisher geschrieben hatte, wahr war. Denn darüber hatten wir natürlich auch gesprochen. Das die inneren Werte viel wichtiger waren.
      Ich könnte mich natürlich zurecht machen und mich mit ihm im Eiscafé treffen, aber was dann? Wollte ich dieses Spiel bis an mein Lebensende spielen, sollte sich unsere Beziehung weiter entwickeln? Für mich fühlte es sich bereits so an, als wären wir ein Paar, aber da fehlte was. Ich wollte in seine Augen sehen, sein Lächeln. Seine Hand halten. Ja und ihn küssen und all das! War doch logisch.. Ich war total in ihn verknallt.. Sein Bild war mir nicht mal wichtig gewesen - ich hatte eigentlich fast alle Typen geliked, die ich zu sehen bekam. Außer die, die irgendwie unheimlich aussehen.. Bei dieser App sah man ja nicht viel mehr als das Bild. Total oberflächlich. Aber die meisten Chats waren schnell vorbei. Nur dieser nicht. Er war so ein wundervoller Mensch. Ich glaubte ganz fest daran, dass er wie ich, wirklich auf der Suche nach etwas ernstem war.

      Also

      Ganz einfach.
      Augen zu und durch. Wieviele Dates wollte ich haben, bis ich aufflog und er mich abwies? Ich gehe einfach hin, so wie ich bin. Ganz natürlich. Kurz und schmerzlos. Wie ein Pflaster, das man ganz schnell abzog. Dann hätte ich Gewissheit, ob er wirklich der Richtige war.

      Natürlich zerrte mich Jenny am Samstag ins Einkaufscenter, aber sie versuchte wirklich etwas zu finden, dass ich war. Es war Herbst, also wurde es schon frischer und sie schlug mir einen hübschen Strickpullover vor. Die waren ja auch wieder in Mode gekommen, worüber ich mich sehr freute. Ich wollte nichts kitschiges und nichts aufdringliches, also nahmen wir einen in cremefarben. Dann schleppte sie mich jedoch wirklich in ein Dessougeschäft, was mir total peinlich war. Ich kaufte sehr ungern Unterwäsche ein.
      "Schwarz. Ganz klar", meinte sie und schielte zu mir rüber, als sie bereits ein paar Sets durchstöberte.
      Schwarz? Sagte man nicht, dass man schwarze Unterwäsche trug, wenn man.. naja..
      "Ich weiß ja nicht.."
      "Das war ein Scherz. Für dein erstes Mal such ich dir etwas weißes raus. Sam wird das Wasser im Mund zusammen laufen, wenn er so eine unschuldige Schönheit vernaschen darf.."
      Schmunzelnd betrachtete sie also nun die weißen Teile, während meine Wangen vor Scham glühten. Zum Glück hatte das niemand gehört, aber.. Wasser im Mund zusammenlaufen? Schönheit? Ich fand mich nicht hässlich, das war nicht das Problem, meines mangelnden Selbstbewusstseins. Es war eher das Gesamtpaket, dass die anderen verspotteten. Ich war ein Mauerblümchen.
      "Ich werd Sonntag ausgehen. Du kannst ihn also ruhig zu uns bringen.." Es war offensichtlich, was sie damit meinte. Allerdings hatte ich gelesen, dass man sein erstes Mal an einem Ort haben sollte, wo man sich wohl fühlte. Und das war mein Zimmer. Bei dem Gedanken wurde mir ganz anders. Ich wollte es. Vielleicht nicht unbedingt beim ersten Date, aber.. irgendwann natürlich schon.. Aber ich wusste doch noch gar nicht, ob ich ihm wirklich vertrauen könnte. Und ob er mich immer noch mögen würde, wenn er mein wahres Ich sah.
      Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Jenny mich in eine Umkleidekabine schob und mir einige Sets reichte. Die sahen schon ganz gut aus, aber.. Nein. Stell dich nicht so an, Abby. Tatsächlich war die Auswahl gar nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Die Unterwäsche war hübsch. Irgendwie süß und dennoch sexy. Der BH hatte noch etwas Spitze unterhalb der Brust, was mir irgendwie gefiel. Und sie hatte mir auch keinen Tanga oder sonstigen Hauch von Nichts gereicht, sondern Panties, die oben und unten ebenfalls mit Spitze verziert waren. Jenny kannte mich eben doch sehr gut..
      Tatsächlich gefiel mir mein Spiegelbild und ich musste lächeln. Das hatte ich nicht erwartet. Ob sie Sam ebenfalls gefallen wird? Das werde ich früher oder später herausfinden.. Vielleicht..

      Dazu musste ich jedoch die erste Hürde meistern. Das erste Date.
      Viel zu nervös blickte ich in den Spiegel an meiner Schranktür, um mein Outfit zu überprüfen. Natürlich trug ich die Unterwäsche - nur für den Fall, der Fälle, meinte Jenny - und den neuen Strickpullover, zusammen mit einer blauen Skinny Jeans und braunen Stiefeletten. Das Haar an meinen Seiten hatte ich hinten mit einer kleinen roten Schleife hochgebunden, während mein restliches Haar offen blieb.
      "Wenn irgendwas ist, gib mir einfach ein Zeichen."
      Jenny wollte sich ebenfalls ins Eiscafé setzen, um mir zu helfen, falls ich mich unwohl fühlte. Sie war meine Beschützerin und ich fühlte mich dadurch wirklich ein wenig sicherer. Wenn man sie nicht zügelte, würde sie Sam 'die Fresse polieren', sollte er sich über mich lustig machen.
      Ich war etwas früh dran und wartete wie abgemacht unter dem Baum vor dem Café. Wir kamen nicht zusammen, aber Jenny saß bereits an einem Tisch und hatte einen guten Blick auf mich. Ob er mich erkennen würde? Ich hatte ihm zwar geschrieben, dass ich eine rote Schleife im Haar und einen cremefarbenen Pullover trug, aber ich hatte ihm nichts von der Brille gesagt. Sollte ich das nachholen? Vielleicht war er schon da und ist weitergegangen, als er mich gesehen hatte? Ich wurde immer nervöser, je länger ich dort stand und blickte auf den Boden, während sich meine Finger fest ineinander verschränkten.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco

      Dieser Beitrag wurde bereits 5 mal editiert, zuletzt von Kiimesca ()

    • Die gesamte Charade war an Absurdität nicht zu übertreffen. Von den eigenen Mitbewohnern für nichts und wieder nichts gefeiert zu werden, fühlte sich falsch an. Ich hatte kein Date mit der “rattenscharfen Abigale”, wie El sie fortan nannte,ergattert, sondern wenn man es genau betrachtete, hatte mein Bruder das Herz dieser Frau erobert. Ausgerechnet das Herz jener Frau, die ich leider verdammt gut fand. Die Stunden bis zu unserem Treffen zählte ich vor meinem inneren Auge an meinen Fingern ab, während mir die beiden Idioten mit Worten in den Ohren lagen, die weder Abby, noch mir gerecht wurden. Max schien mir in der Zeit der ewigen Zweifel eine Stütze zu sein, bot sogar an, mir seine Schmink-Künste zu Nutze zu machen. Als sei meine Haut eine leere Leinwand, die mit Sorgfalt zu übermalen gedacht war. Jede Schicht Farbe ein Versuch, die darunter liegende Unvollkommenheit zu verbergen. Wie sehr ich mir wünschte, dass ein einfacher Pinselstrich genügte, die Spuren vergangener Fehler zu überschminken. Doch mit dem Retuschieren von Narben kannte sich die Hobby-Dragqueen leider nicht aus. Mutlos trat ich den Tagen entgegen, kämpfte mit den verfolgenden Gedanken mit der Zusage, einen großen Fehler begangen zu haben, auch wenn es technisch gesehen gar nicht mein Verfehlen war. Ich schrieb kaum noch auf der App, wollte mir meine Nervosität nicht anmerken lassen, doch jeder Blick auf dieses kleine Herz-Icon ließ mein eigenes aus dem gewohnten Takt geraten. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

      “Du hast doch nicht ernsthaft vor, diese Unterwäsche zu tragen?” verurteilte mich mein bester, der im Türrahmen stehend einen Blick auf meine roten Boxershort warf. Eigentlich wollte ich mich für das Treffen anziehen, stattdessen hielt ich halbbekleidet inne.
      "Wieso nicht?” eine Frage, auf die ich aufrichtig keine offensichtliche Antwort fand.
      “Weil die nicht sexy ist? Nimm ne schwarze. Muss man dir denn alles erklären?” Patzte er die Worte in meine Richtung, während er seine Arme vor der Brust verschränkte.
      Seufzend warf ich einen Blick in den Spiegel, ehe ich mich wieder an El wandte.
      ”Was spielt es für eine Rolle?”
      “Sag mal, willst du ihr gefallen oder nicht?”
      “Seit wann ist der entscheidende Faktor dafür die Farbe meiner Unterwäsche, die sie wohlbemerkt nicht zu Gesicht kriegen wird?" Urplötzlich war Elliot, der Herr, der in seinem Leben auf weniger Dates gegangen war als jeder andere Mann, den ich kannte, der Experte in Sachen Sexappeal?
      “Rory, Rory, Rory… Naiv wie eh und je. Eine Granate wie sie wird auf deine ich-bin-ein-kleiner-unschuldiger-Junge Nummer nicht abfahren. Frauen wie sie können jeden haben, meinst du ehrlich, die gibt dir ne zweite Chance, wenn du ihr nicht beim ersten Date zeigst, wie vielseitig talentiert du bist?” Seine Worte verursachten Kopfschütteln meinerseits.
      “Okay, nur so zum Spaß spinnen wir dieses Gedankenkonstrukt weiter. Angenommen, ich wäre darauf aus, beim ersten Date lediglich ihren Körper, statt die Person dahinter kennenzulernen - was ich nicht bin - und würde auf magische Art und Weise das Wunderwerk vollbringen sie im Café davon zu überzeugen mich in ihre Wohnung einzuladen-”
      “Oder für eine heiße Nummer in der Öffentlichkeit” warf Max ein, eine Bemerkung, die so absurd war, dass wir sie nicht weiter beachteten.
      “-stoßen wir spätestens hier auf ein Problem." Mit einer Geste auf meinen Oberkörper legte ich die Wurzel meines Unbehagens dar. Doch dann wies Elliot auf ein grundlegendes Problem hin, während sein Blick ernst wurde. "Sam." Er nannte mich selten bei meinem tatsächlichen Vornamen. "Ist dir eigentlich jemals in den Sinn gekommen, dass es die Leute nicht so sehr stört wie dich selbst? Wenn du bis zu dem Punkt kommst, wird sie die paar Narben nicht stören."
      Seine Worte spendeten kaum Trost. Im Gegenteil, es hielt mir erneut vor Augen, dass bereits mein Gesicht sie vermutlich abschrecken würde. Mich vor ihr auszuziehen - davon konnte ich nur träumen. Das würde nicht geschehen, nicht in diesem Leben.

      “Was mache ich hier eigentlich?” stöhnte Ich verzweifelt und ließ mich auf die Matratze meines Bettes fallen. Meine Hände schlug ich die entstellten Züge bedecktend vors Gesicht. Horror-Szenarien überwältigten meine Gedankenwelt wie eine Flut, deren Wasser die Dämme der Vernunft brach und alles mit sich riss, was mir Halt gab.
      “So ein Schwachsinn. Du bist ein feiner Kerl, wenn sie das nicht erkannt hätte, würdet ihr nicht rund um die Uhr an den Bildschirmen kleben.” Elliots Versuch mich aufzumuntern, ging ins Leere, denn feine Kerle fakten nicht ihr Profil mit Bildern des eigenen Bruders. Der Unfall, der mich in einen Menschen verwandelt hatte, der sich vor seinem eigenen Spiegelbild fürchtete, saß zu tief und die Narben in meiner Seele waren längst nicht verheilt.

      Ich erinnerte mich ungern an jene Nacht zurück. Ein Abend, wie jeder andere, dachte ich, als ich die Schwelle zur Party überschritt, deren Erinnerung später nur noch in schmerzhaften Splittern existieren sollte. Rückwirkend stellt sich mir noch immer die Frage, was ich überhaupt in der überfüllten Studentenbude zu suchen hatte. Die Feier brodelte wie ein Hexenkessel. Betrunkene Seelen zelebrierten ihre Existenz und machten die Nacht zu ihrem Dschungel. Die Machos unter den Gästen glichen einer Schar wilder Tiere, entfesselt und ungestüm. Ihr Löwengebrüll hallte in der sticken Luft, um ihr Territorium zu beanspruchen. Bereit, ihre Pranken auszufahren und alles zu ergreifen, was ihrer Vorstellung von Beute entsprach, verstand ich nie wie eine Spezies in solch primitives Verhalten verfallen konnte. Mit jedem Glas zu viel verwischte die Grenze ihrer Hemmungen, bis sie nicht mehr waren als triebgesteuerte Kreaturen, die ihr Unwesen trieben. Die Könige des Dschungels. Es war ein falscher Schritt, ein unbeabsichtigter Zusammenprall gegen die falsche Schulter - mehr brauchte es nicht. Worte wurden zu Fäusten, und Fäuste ließen die Vernunft verstummen. Was als ein Stoß begann, entlud sich in einem Strudel aus Schreien, Schlägen und dem klirrenden Geräusch von Glas. Ich lag dort, umgeben von den Trümmern. Der Scherben getränkte Boden empfing mich härter als jeder menschliche Hit es je konnte. Ein Gedanke, durchzieht noch heute meinen Geist - die wirklichen Monster, vor denen man sich fürchten sollte, tragen kein Fell oder scharfe Zähne. Sie tragen das gleiche Gesicht wie wir.

      Ein Grund mehr auf das Kennenlernen mit Abby zu verzichten. Meine Hoffnung in der Menschheit lag schwarz verbrannt vor mir. Stattdessen herrschte die Ödnis, wo nichts als Asche zurückblieb.
      Zu meinem Glück schien das Schicksal mir einen kleinen Gefallen zu tun, da der Herbst in vollem Gange war. Die kühle Jahreszeit erlaubte mir, lange Kleidung zu tragen, die zumindest die Narben auf meinen Armen verbarg. Jeder Schritt, den ich durch das raschelnde Laub setzte, fühlte sich an wie ein kleiner Sieg über meine Ängste. Die bedeckten Arme gaben mir ein Stückchen Würde zurück, ein schwacher Trost zwar, aber in diesem Moment nahm ich, was ich bekommen konnte. Mit einem schweren Herzen und einem ratternden Kopf machte ich mich schließlich auf den Weg zum Café, dem Ort unseres Treffens. Die Straßen der Stadt waren mit fallenden Blätter in warme Farben gehüllt und schenkten mir für einen kurzen Moment die Illusion von Frieden. Doch je näher ich dem Café kam, desto lauter schlug mein Herz. Als ich schließlich vor dem Ort stand, zögerte ich einen Moment. Mit jedem Atemzug versuchte ich, die aufkommende Panik zu unterdrücken, die mich daran erinnerte, wie viel auf dem Spiel stand. Immer wieder ging ich an dem Lokal vorbei, traute mich nicht, einen Blick hinein ins Innere zu werfen, um mein Gesicht zu wahren.
      Dann, mit einem tiefen Atemzug, der mehr Mut erforderte, als ich zu haben glaubte, öffnete ich die Tür und trat ein,in der Hoffnung, dass vielleicht, nur vielleicht, die Asche meiner verbrannten Hoffnung doch noch Nährboden für etwas Neues sein konnte. Doch von ihr schien jede Spur zu fehlen.
      A heart's a heavy burden.

    • Irgendwann warf ich einen Blick zu Jenny, da sich das Warten wie eine Ewigkeit anfühlte. In Wahrheit waren es gerade mal ein paar Minuten. Dennoch war es unangenehm, hier zu stehen und zu warten. Am Ende würde er nicht kommen und ich wäre wieder die Dumme.
      Meine Cousine trank in Ruhe ihren Kaffee und schien mich weiter hier stehen lassen zu wollen. (Kerle verspäten sich schon mal, war ihre Aussage dazu).

      Dann nahm ich aus den Augenwinkeln rote Haare wahr und bekam fast einen Herzstillstand. War er das? Ich sah nur flüchtig hin, doch er kam nicht zu mir. Aber er ging ein paar Mal auf und ab, was mich etwas verwirrte. Erkannte er mich also wirklich nicht? Er wirkte irgendwie anders.. Ich war mir nicht ganz sicher, aber es sah aus, als hätte er.. Narben im Gesicht? So gut konnte ich es nicht erkennen, da ich fremden Leuten nicht ins Gesicht schauen konnte.
      Als er jedoch ins Lokal verschwand, sah ich noch einmal zu Jenny, die ihre Sonnenbrille hochzog und mich mit hochgezogener Augenbraue ansah. Ihr war der Typ auch aufgefallen, aber ob er das war? Schnell zog ich mein Smartphone aus der Tasche und schickte ihr eine Nachricht.
      Ist er das?

      Möglich. Ich frag ihn.

      Mein Blick huschte schnell zu ihr rüber, da war sie schon aufgestanden. Ihren Mut hätte ich gerne.. Sie konnte immer einfach auf Fremde zugehen.
      Also folgte sie ihm ins Lokal und sprach ihn an.
      "Hey, bist du Sam?" Direkt mit der Tür ins Haus gefallen. Falls er nein sagen würde, würde ich im Boden versinken, aber Jenny würde sich einfach locker entschuldigen und das wär's. Allerdings hatte Jenny sein Gesicht im Gegensatz zu mir deutlich gesehen. Sie war ein wenig verdutzt, aber hatte entschieden, dass es mich nicht abschrecken würde. Außerdem wusste sie, dass ich nicht so sehr auf Äußerlichkeiten achtete und vor allem: Wir verstanden uns einfach zu gut, als das sie jetzt wegen einem Fake-Bild (Von dem ich ja mehr oder weniger auch eins hatte) aufgeben würde.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco
    • Jeder Atemzug brannte in meiner Lunge wie giftiges Gas, als hätte ich unentdecktes Land betreten und mich vorher nicht ausreichend mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut gemacht. Mal wieder, wie zu oft seit geraumer Zeit, spielte mir mein Verstand einen Streich. Mein rasendes Herz hämmerte so schnell wie der hastige Puls eines Kindes. Mein Körper empfing das stille Kommando zur Flucht – eines meiner bekannten Muster, da ich das Risiko meistens mied und selten neue Freundschaften schloss. Selbst ein offenes Buch birgt Geheimnisse zwischen den Zeilen, und genau diese Unvorhersehbarkeit der Menschen schüchterte mich ein. Gerade als ich kehrt machte, meine bleiernen Beine einen Schritt nach dem anderen machten, trat sie in meinen Weg. Ihr gelocktes Haar umspielte sanft ihre Schultern, und das Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlte, blendete fast. Nachdenklich legte ich den Kopf zur Seite im Versuch, mir einen Reim daraus zu machen. Ihre Frage, ob ich Sam sei, traf mich unerwartet. Innerlich angespannt biss ich auf meiner Unterlippe. Je länger ich ihr feines Gesicht betrachtete, desto mehr Ähnlichkeiten mit der Frau, für die ich all diese Strapazen in Kauf genommen hatte, entdeckte ich. Ich hatte sie mir anders vorgestellt, sicherlich dachte sie das Gleiche von mir.Ich hatte eine weniger einschüchternde Aura des Selbstbewusstseins erwartet, die sie umgeben würde. Sie war zweifellos eine Schönheit, aber bei ihr gab es einen Unterschied zwischen bescheidener Anmut und der Ausstrahlung einer femme fatale. Ihre zierliche Erscheinung war feurig, fast so, als würde man sich verbrennen, wenn man ihr zu nahe kam. Schluckend setzte ich einen Schritt zurück, um etwas Distanz zwischen uns zu bringen. Wurde mir nun Karma zum Verhängnis? Hatte ich mit den Bildern meines Bruders zu hoch gepokert und mich blindlings in eine Frau verknallt, die mein Herz in tausend Teile zerschmettern könnte? Keine Frage - verdient hätte ich es. Lügen hatten bekanntlich kurze Beine, passend, da meine Just in dem Moment im Boden versanken. “Abby?” fragte ich zögerlich nach, schämte mich gleich darauf für den erbärmlichen Klang meiner Stimme, die meine Unsicherheit verriet. Worte fühlten sich fremd auf meiner Zunge an, zu schwer beladen mit der Angst einer unerfüllten Sehnsucht. Ihr Bild, das ich so sorgfältig in meinen Gedanken bewahrt hatte, zerfiel zu Asche und hinterließ nur die harte, kalte Realität einer Begegnung, die nie meinen Träumen entsprechen konnte. Ich, der sich in die Vorstellung einer Person verliebt hatte, stand nun der Wahrheit gegenüber, die weder die Wärme noch die Sicherheit bot, die ich all die gemeinsam verbrachten Stunden empfunden hatte. Die Idee von ihr, die mich getragen hatte - eine sanfte, verständnisvolle Gestalt - zerrann wie Morgennebel in der Sonne. Ihre Präsenz war sowohl anziehend als auch abschreckend für mich. Die tiefe Verbundenheit war verschwunden und das obwohl wir keine sieben Sätze miteinander gewechselt hatten. „Du hast sicherlich einige Fragen wegen der Bilder und um ehrlich zu sein hast du vollkommen Recht. Ich sollte sowas nicht tun. Ich bin ein schlechter Mensch und habe deine Zeit verschwendet. Tut mir mega leid. Ich..ähm mach mich dann mal auf den Weg.“ Von Nervosität übermannt, brachte ich jeden noch so dummen Gedanken hervor, der mir in den Sinn kam. Meine Gedanken kreisten und hingen sich ausgerechnet an dem Fakt auf, dass es viel zu warm in dem Lokal war. Urplötzlich bereute ich die Wahl meiner Kleider. Zum Verdecken meiner Narben waren sie gut geeignet, doch nun wo mir die Hitze zu Kopf stieg, fühlte sich das lange Sweatshirt an wie ein siedender Kessel voll Öl. Alle Alarmglocken läuteten, verlangten nach der Flucht, von der ich mich dummerweise hatte abbringen lassen. Wann fing ich endlich an, auf meine Instinkte zu vertrauen? Ich schwor mir meinen Mitbewohnern eine Lektion zu erteilen, damit sie mir nie wieder erlauben würden das Haus zu verlassen. Die Hektik meiner Glieder ließ mich zum Ausgang stolpern und gerade so wenige Zentimeter vor dem nächsten Gast zum Stehen kommen. Ich hatte von Glück reden können, da mir die Blamage einer Kopfnuss erspart blieb. Und erst dann realisierte ich es. Sie trat unter den Türrahmen hervor, der hängende Efeu, der sich um den Eingang schlängelte, wirkte als würde er nur in ihre Richtung wachsen. Es war, als hätte jemand das ganze Universum angehalten. Ihre Haare fielen in weichen, braunen Strähnen gegen das Gestell ihrer Brille, jede Locke schimmerte im Licht wie gewoben aus dem Stoff aus dem die Sterne waren. Ihre Augen leuchtend und tief, spiegelten die Farbe der Loyalität, einem warmen Strudel aus Honigbraun. Ein stürmisches Pochen in meiner Brust übertönte alle Vernunft. Kein Traum hatte mich auf ihren Anblick vorbereitet, der sich mir bot. Die Stürme meines Inneren, die meine Gedankenwelt zuvor umgeben hatten, verblassten zu einer rauschenden Leere der Ruhe. Es gab nur noch sie und ihr schüchternes Lächeln, das meine Zweifel dahinschmolz. Liebe auf den ersten Blick entsprang meines Empfinden nach nur der Fantasie von Poeten, aber noch nie zuvor verschaffte mir die bloße Anwesenheit eines Menschen solch ein unerklärlichen Frieden, dass ich nicht mal bemerkte, wie meine Lippen ein leises „Hi.“ hauchten.
      A heart's a heavy burden.

    • Zum Glück war Jennifer sehr verständnisvoll, auch wenn sie nicht immer die Geduld eines Engels hatte, bedrängte sie den Rothaarigen nicht. Später erzählte sie mir, dass Sam sie ewig sprachlos angestarrt hatte und sie das Gefühl hatte, er sei ein scheues Reh. Das konnte ich sehr gut nachvollziehen.
      Jedenfalls kam sie nicht dazu, seine Annahme sie sei ich zu korrigieren, als er sich - wie sie sagte - holprig auf die Flucht begab. Ob sie seine Aussage dazu richtig wiedergab, konnte ich nicht sagen, aber er dachte wohl, dass er ihre beziehungsweise meine Zeit verschwendete.

      Ich stand währenddessen noch immer draußen und fühlte mich wie bestellt und nicht abgeholt. Was dauerte da so lange? Nahm sie ihn nun erstmal ins Verhör? Nervös sah ich mich um und hatte das Gefühl, dass mich alle ansahen. Das sie Mitleid mit mir bekamen, weil mein Date nicht auftauchte. So sah es wohl für sie aus und so war es auch!
      Deshalb setzte ich mich in Bewegung. Notfalls würde ich einfach die Toilette ansteuern, Hauptsache ich musste hier nicht mehr warten. Mein Herz schlug mit jeden Schritt schneller und ich hatte einen riesigen Kloß im Hals. Ich hatte fast das Gefühl zu ersticken.

      Allerdings kam ich nicht weit, als der Mann, wegen dem Jennifer mich hier stehen ließ, mir den Weg versperrte. Ich konnte gerade so rechtzeitig bremsen und sah mit gefärbten Wangen nach oben. Natürlich wollte ich mich entschuldigen, doch als ich die roten Haare erblickten, blieb mein Herz beinahe stehen. Die Wangen um mein verlegenes Lächeln leuchteten bestimmt wie eine Tomate, doch die Panik vor dem Treffen und der Scham wegen des Beinahe-Unfalls wurden von seinen blauen Augen weggespült. Als würde sich die Welt nur noch um uns drehen, konnte ich mich von diesen warmen Augen nicht abwenden.
      Ich hörte wie ein leises 'Hi' seine Lippen verließen, die in seinem blassen Gesicht beinahe rot wirkten. Sofort packte mich die Sehnsucht einen echten Kuss zu erleben und nicht nur darüber zu schreiben.
      "Hi..", antwortete ich ebenso leise, während sich jemand an uns vorbeischlängelte, bemüht uns nicht zu berühren. Er nuschelte auch irgendetwas, doch das konnte ich gerade nicht verarbeiten.
      Jenny meinte, wir hätten uns wie in einer Schnulze angestarrt, als hätten wir uns unsterblich ineinander verliebt. Etwas, worüber sie immer nur gelacht hatte.

      Genau genommen sah ich Sam ja nicht zum ersten Mal. Durch seine Nachrichten sah ich ihn deutlich vor mir. Ein gefühlvoller, charmanter und humorvoller Mann, von dem ich glaubte, dass er wie Quasimodo aussehen könnte und ich ihm dennoch bereits vollständig verfallen war. Das tat er zum Glück nicht, auch wenn mir seine Narben in diesem Moment kaum auffielen.
      "Ja, Hi. Wie wärs, wenn ihr euch hinsetzt", holte meine Cousine uns in die Realität zurück, wobei sie uns an den Ellenbogen fasste. Ich sah sie an, als hätte ich gerade vor mich hingeträumt. Dann sah ich wieder kurz zu Sam und lächelte entschuldigend.
      Dank Jenny konnten wir den Weg zu einem Tisch bestreiten. Sie verabschiedete sich stumm von mir, sodass ich mit dem Mann, der immer nur hinter meinem Bildschirm existiert hatte, allein war. Ich wusste nicht was ich sagen sollte und sah völlig ratlos zu der Bedienung, die uns die Karten reichte.
      "Eiskaffee.. bitte.." Mit der Karte konnte ich mich gerade nicht befassen, also bestellte ich das übliche.
      Sam schien es ähnlich zu gehen, oder er wusste eben ganz genau, was er wollte.
      Wir saßen auf einer runden Bank, sodass uns nur wenige Zentimeter voneinander trennten. Noch immer unsicher was ich sagen sollte, sah ich herab und legte meine Hand zwischen uns; darauf hoffend, dass er sie halten würde.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco

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    • Im Trubel der Ereignisse hatte ich gar nicht bemerkt, wie tief meine schweren Glieder bereits Wurzeln geschlagen hatten. Erst die sanfte Berührung der zum Verwechseln ähnlichen Gestalt katapultierte mich zurück in die Realität. Ich schluckte, verwirrt und ein wenig verloren, während mein Verstand noch versuchte, sich einen Reim daraus zu machen, wer sie war und woher diese Ähnlichkeit stammte. Eine ältere Schwester vielleicht? Überraschend gefasst und ohne zu stolpern, folgte mein Körper ihrer Anleitung zum Tisch. Dann verschwand das Double wie ein Schatten in der Nacht. "War das deine Schwester?" fragte ich mit einer Stimme, die mir halb im Hals stecken blieb. Ihr Lächeln, so vertraut und doch fremd, ließ ihn mir eine Wundertüte der Gefühle aufkeimen und trug alle Bedenken, die mich den Tag über geplagt hatte, hinfort. Was ich dafür gegeben hätte dieses befreite schmetterlingsgleiche Kribbeln als ständigen Begleiter zu wissen. Es fühlte sich an, als stünden mir alle Türen offen und jede noch so schwere Bürde könnte mit Leichtigkeit getragen werden. Noch nie zuvor fühlte ich mich so… Bevor meine Gedanken weiterer Tagträumerei verfielen und ich mich in dem warmen Karamell ihrer Augen gänzlich verlor, brachte mich die Bedienung aus dem Konzept. Ich bestellte das gleiche wie Abby, wollte meine Zeit nicht mit solch einer Banalität vergeuden, wie dem Studieren der Karte, da ich ohnehin wusste, dass eine Entscheidung zu treffen, eine halbe Ewigkeit dauern würde. Also legte ich die Karte auf dem Tisch nieder, realisierte daraufhin meine Gedankenlosigkeit und streckte sie der Kellnerin zu, die jedoch schon das Weite suchte. “Smooth Operator” klingelte die Stimme von Max in meinen Ohren, der - wäre er Zeuge dieser Szene geworden - mich bis auf die Knochen belächelt hätte. Eine seltsam mechanische Geste, die meine inneren Aufruhr kaum verbarg. Jenny saß mir so nah, dass ich ihren Duft einatmen konnte – nur wenige Zentimeter trennten uns, zu nah und doch unendlich fern. Die plötzliche Nähe ließ mich fast in Panik geraten. War die Hand, die zufällig zwischen uns lag, ein Zeichen? Ich kämpfte mit dem Impuls, ihre Hand zu ergreifen, traute mich jedoch nicht. Was, wenn mir mein Verstand einen Streich spielte und keine weitere Intention dahintersteckte? Plötzlich sah ich mich in einer dieser Klischee-Szenen meiner Kindheit gefangen. Eine Engelsgleiche Gestalt auf der einen und einen teuflischen Zwerg auf der anderen Schulter. Beide flüsterten mir Anweisungen zu, wie ich die Gunst meiner Herzensdame für mich gewinnen könnte. “Sie will, dass du ihre Hand hältst, du Feigling.” schimpfte die rötliche Figur mit mir, daraufhin Einspruch von der anderen Seite folgte. “Musst du immer ausfallend werden? Sie lernen sich doch gerade erst kennen.” Gerne hätte ich die Worte des Engels mit einem Nicken bejaht. Den ersten Eindruck, den ich hinterlassen wollte, war nicht der eines aufdringlichen Mannes. Doch das Teufelchen ließ nicht locker. “Ach, komm schon! Wissen Menschen, die sich gerade erst kennenlernen, welche Knöpfe sie bei einander drücken müssen? Ihr habt doch längst mehr geteilt als nur Worte.” Die Röte, die mir bei dem Gedanken auf die Wangen schoss, glühte warm auf meiner Haut. Das dringende Bedürfnis, meine Mitbewohner anzurufen, von denen ich wusste, dass sie mir einige klare Worte der Vernunft spenden könnten, machte sich in mir breit. Ich musste eine Entscheidung treffen und wusste, dass ich mich nicht länger verstecken konnte. Mit einem tiefen Atemzug entschloss ich mich, dem Rat des Teufelchens zu folgen. Langsam, fast zögerlich, streckte ich meine Hand aus und legte sie sanft auf ihre. Ein kurzer, elektrisierender Moment entstand, als unsere Haut sich berührte. In dem Augenblick wich eine unsichtbare Last von meinen Schultern. Doch gerade als ich mich sicher fühlte, drängte sich die Realität zurück in meinen Kopf. Die Nervosität kehrte mit voller Wucht zurück, und ich entschuldigte mich hastig. "Ich... ich muss kurz mal weg," stammelte ich und stand auf, bevor ich ihre Reaktion abwarten konnte. Wie ein Angsthase beschritt ich den Weg zur Toilette im Versuch, der eigenen Nervosität zu entkommen. Im Badezimmer angekommen, stützte ich mich auf das Waschbecken und blickte in den Spiegel. Mein Gesicht war rot, und meine Augen wirkten unruhig. Das kalte Wasser, das ich mir ins Gesicht spritzte, war eine willkommene Erfrischung, doch es konnte das Chaos in meinem Kopf nicht beseitigen. Mit zitternden Händen griff ich in meiner Hosentasche nach meinem Handy und schrieb eine Nachricht an Max: "Hilfe! Sie denkt sicher, ich bin ein Freak." Ich schickte die Nachricht ab und wartete, mein Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Kaum eine Minute später vibrierte mein Handy. Max hatte geantwortet: "Atme tief durch, Kumpel. Sei einfach du selbst. Wenn du es bis hierher geschafft hast, läuft es doch gut. Geh zurück und zeig ihr, dass du interessiert bist. Viel Glück!" Lächelnd spürte ich wie etwas von meiner Nervosität verflog. Max hatte recht. Es gab keinen Grund zur Panik. Sie hatte mich gesehen und nicht unweigerlich die Flucht ergriffe. Mit einem letzten tiefen Atemzug verließ ich das Badezimmer und ging zurück zu unserem Tisch. Abby sah auf, als ich mich setzte, und ich bemerkte, dass ihre Hand immer noch in Reichweite lag. "Sorry." entgegnete ich mit einem Lächeln, das hoffentlich selbstsicherer wirkte, als ich mich fühlte. "Wo waren wir stehengeblieben?" Das schmetterlingsgleiche Kribbeln war wieder da, stärker als je zuvor, und diesmal war ich bereit, ihm zu folgen.
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    • Als Sam mich fragte, ob Jenny meine Schwester war, konnte ich nicht sofort antworten. Gott, war ich nervös. Dabei war das nur eine ganz harmlose Frage. "Meine Cousine. Jenny...", erklärte ich ihm. Mir war etwas schlecht vor Aufregung. Mein Herz raste unaufhörlich und auch wenn dieses Gefühl deutlich schlimmer war, als damals vor der ganzen Schulklasse sprechen zu müssen, war da noch ein anderes Gefühl. Glück. Ich war so glücklich ihn endlich richtig vor mir zu haben. Den Mann, in den ich mich so verliebt hatte. Den Mann, dem ich schon so viel von mir preisgegeben hatte. Und mit dem ich.. schon wirklich intime Momente hatte, die mir gerade wirklich peinlich wurden. Ich bereute es nicht, aber ich hatte sie schließlich nicht angeleiert. Das war Jenny! Aber.. es war schön. Jede Minute mit Sam war wundervoll.
      Mein Herz drohte stehen zu bleiben, als er tatsächlich meine Hand nahm. Von diesem Moment hatte ich so lange geträumt! Ja.. ja.. auch von anderen Dingen, ja... Puh, ich wusste gar nicht mehr wo mir der Kopf stand. Ich konnte mir gut vorstellen, wie die kleinen Wesen aus dem Film 'Alles steht Kopf' in meinem Kopf panisch im Kreis liefen. So fühlte es sich für mich jedenfalls an.

      Doch plötzlich endete dieser Moment viel zu schnell. Er ließ meine Hand wieder los und sprang ja schon fluchtartig auf! Stimmte etwas nicht? Störte es ihn vielleicht doch, dass ich nicht ganz so aussah wie auf dem Bild? Ich mein.. er doch auch nicht! Irgendwie schon, aber.. irgendwie auch nicht! Jedenfalls hatte er keine Narben... Aber davon würde ich mir meinen Traummann nicht ausreden lassen! Ich war dafür, dass mehr Menschen auf den Charakter achteten und wer wäre ich, wenn ich meine eigenen Prinzipien über Bord werfen würde?
      Sam war ein toller Mensch und er war trotzdem ziemlich attraktiv, fand ich. Aber wie sah er das? Nachdenklich hatte ich meinen Blick gesenkt und bemerkte, dass er zurückkam, weshalb ich sofort meinen Blick hob, als er sich bereits setzte. Gott sei Dank! Er war zurück! Ich atmete erleichtert auf.
      "Ah, alles gut!", sagte ich schnell, damit er sich nicht schlecht fühlte.
      Wo wir stehen geblieben waren? Bei Jenny. "Eigentlich... haben wir noch gar nicht wirklich angefangen...", sagte ich und lächelte verlegen.

      "Aber.. warum machen wir nicht bei dem weiter, was neu ist?", meinte ich. Wir hatten ja schon so viel geschrieben. Was wir mochten und was nicht. Was wir so erlebt hatten. Aber unser Aussehen.. unser echtes Aussehen.. das war eben noch neu und unergründet. "Für das Foto hab ich meine Brille abgesetzt...", erklärte ich und zog meine Brille ab, ehe ich ihn ansah. "Aber.. ohne Brille bin ich eher wie ein Maulwurf.. Und mit Kontaktlinsen komme ich nicht zurecht...", gestand ich, ehe ich meine Brille wieder aufsetzte. Dabei fiel mein Blick auf seine Narben und ich biss mir auf die Unterlippe. Ich Dummerchen! Hatte ich ihn jetzt indirekt aufgefordert mir davon zu erzählen? "Ich mag deine Augen...", sagte ich schnell und oh Gott! Mein Herz platzte gleich! Meine Lippen zitterten ein wenig, als ich in seine Augen sah und als ich wegsehen wollte, sah ich versehentlich auf seine Lippen! "S-sorry.. Ich hatte noch nie ein Date... Aber.. ich bin wirklich froh, dass du hier bist...", sprach ich und nahm seine Hand in der Hoffnung, dass ich etwas ruhiger werden würde. "Sam... ich mag dich... sehr..", sagte ich ganz leise und fühlte wie meine Wangen glühten. Ich.. redete zu viel, oder?! Aber ich konnte nichts dagegen machen. Ich wollte einfach, dass er wusste, wie viel mir dieser Moment bedeutete.
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      - Eugene Ionesco
    • Gott, kaum war ich zurück, sprach sie vom Aussehen und wie sie ihre Brille für das Profilbild absetzt. Eine Brille! Die sie all die Zeit verheimlicht hatte. War das ihr Ernst? Hatte sie wirklich Sorge, dass so eine Lappalie, ein einfaches – zugegeben lebensnotwendiges – Accessoire, irgendeine Rolle spielte? Nervös fuhr ich mir mit einer Hand in den Nacken, bereitete mich seelisch darauf vor, meine Charade zu enthüllen. Da griff sie hastig nach meiner Hand, murmelte Worte, von denen ich mir nicht sicher war, ob ich sie mir nur einbildete. „Ich glaub, ich brauch nach diesem Date einen Herzschrittmacher.“

      Seufzend zog ich meine Hand sanft zurück und fuhr mir damit durchs Haar, nicht weil ich ihre Berührung nicht schätzte oder gar unterbrechen wollte, sondern weil es sich falsch anfühlte, ihr so nah zu sein, bei dem, was ich im Begriff war zu sagen. „Die Brille steht dir,“ begann ich mit dem weniger schwierigen Teil und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. Es war nicht gelogen, sie sah hervorragend aus, wie frisch aus einem Modekatalog – nicht, dass ich wusste, wie Frauen für gewöhnlich darin aussahen, aber für mich hätte sie in jedem Zeitungsregal stehen können. Dann würde ich die Magazine zumindest mal lesen. Wobei ich sie wohl weniger wegen ihrer literarischen Inhalte erwerben würde. Ich driftete ab! Fokus. In der Zwischenzeit waren unsere Getränke erschienen. Gerne hätte ich einen Schluck genommen, um meine trockene Kehle zu benetzen, fürchtete jedoch in dem Moment, den flüchtig gewonnenen Mut wieder zu verlieren. Schwer ausatmend lehnte ich mich zurück, schloss erst meine Augen, bevor ich den Mut aufbringen konnte, es auszusprechen. „Die Bilder… sie zeigen meinen Bruder aus Gründen, die du dir vermutlich denken kannst.“ Erst dann öffnete ich meine Augen. Vermutlich nur, um zu sehen, ob sie die Flucht ergriff. „Meine Mitbewohner hatten das Profil angelegt – mit meinen Bildern natürlich – aber ich fürchtete mich davor, meine eigenen Fotos zu verwenden und statt das Profil zu löschen – was ich hätte tun sollen – verwendete ich einfach die Bilder von Henry. Es tut mir leid. Ich weiß, was ich tat, war falsch, dich so hinters Licht zu führen. Mir. Ich. Es gibt keine Rechtfertigung dafür…“ seufzend ließ ich geschlagen meinen Kopf hängen. „Ich wurde nicht so geboren. Also… mit den Narben… Gott natürlich weißt du das, kein Mensch wird so geboren.“ Verhaspelte ich mich in all der Aufregung, an die der dröhnende Takt meines Herzens schmerzlich erinnerte. „Nochmal, es macht es nicht wieder gut. Und war absolut falsch. Ich bin nicht im Reinen mit mir selbst, es ist einfach noch nicht so lang her, dass ich mein neues Spiegelbild ertragen muss… Aber das rechtfertigt nicht, dass ich das über deinem Kopf ausgetragen habe. Ab-aber alles andere war 100% aufrichtig und ehrlich.“ Nun war ich es, der sich nach ihrer Hand ausstreckte und sie zwischen meine Finger nahm. Ich konnte selbst nicht fassen, was ich da tat. Vermutlich stiegen mir ihre Worte zu Kopf. Sie waren wie der Wermutstropfen in meiner beinahe erlöschenden Flamme. Ohne sie hätte ich längst die Flucht ergriffen. „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass du mir verzeihst. Denn ich mag dich wirklich gern.“

      „Wenn du mich aber abstoßend findest oder lieber nicht mit mir gesehen werden willst, habe ich dafür vollstes Verständnis. Ich war nicht ehrlich zu dir und ich weiß, dass ich mit den Konsequenzen meines Fehlverhaltens klarkommen muss.“ Erleichterung machte sich in mir breit, die Karten endlich auf den Tisch gelegt zu haben. Alles, was blieb, war die Anspannung, wartend auf eine Reaktion. Mein Herz polterte in meiner Brust, meine Lungen brannten, als hätte ich zwischen all meinen Worten das Atmen vergessen.
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    • Ein leises Kichern entwich mir, als er meinte, einen Herzschrittmacher zu brauchen. Das Gefühl hatte ich auch. Meine Knie waren total weich und ich wusste nicht, ob ich jemals wieder aufstehen könnte.
      Als er dann jedoch meine Hand wieder los ließ und seufzte, betrachtete ich ihn etwas in Sorge. Für einen kurzen Moment dachte ich, dass es an mir liegen könnte, doch das war es nicht. Er schien sich nicht gut zu fühlen und warum das so war, erklärte er mir auch.
      Das Bild seines Bruders also? Das.. war schon ein wenig hinterhältig, könnte man sagen. Aber die Ähnlichkeit war da. Meine Probleme hingegen fühlten sich auf einmal so winzig an. Vielleicht war ich einfach noch nicht erwachsen genug, um über den Neckereien von Gleichaltrigen zu stehen. Ich wollte ja nie auf Jenny hören, die meinte, dass ich gar keinen Grund für mein geringes Selbstbewusstsein hätte.
      Da hatten wir beide etwas gemeinsam, denn er hatte sein Profil auch nicht selbst erstellt. Nicht freiwillig. Also könnte man unsere Freunde für die Drahtzieher bezeichnen, nicht wahr? Für Liebesengel. Denn egal, wie weit er sich mir in diesem Moment öffnete um die Wahrheit zu offenbaren - ich war in ihn verliebt.

      Mein Blick ruhte unentwegt auf seinem Gesicht, abgesehen von dem Moment, als ich der Bedienung kurz dankend zulächelte. Wie sehr er bisher wohl gelitten haben muss... Mein Herz schmerzte bei dem Gedanken, doch ich wollte ihn bestärken und drückte seine Hand sanft, als er sie wieder ergriff.
      "Es gibt nichts zu verzeihen...", sagte ich und lächelte zaghaft. Es fiel mir nicht leicht mich in einem realen Gespräch zu öffnen, doch ich wollte ihm unbedingt meine Gefühle gestehen.
      "Okay.. es war ein Trick.. Aber.. ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn du dein Bild nicht getauscht hättest.." Vielleicht hätte ich dennoch mit ihm geschrieben, aber ich wusste es nicht, also wollte ich auch nichts derartiges behaupten. "Das ist nicht so wichtig.. Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben. Jenny hat mich zu dieser App überredet.. Anfangs konnte ich mich nur schwer damit anfreunden, doch je mehr ich mit dir geschrieben hatte, desto glücklicher war ich." All die Worte, die wir getauscht hatten... Das war einfach etwas besonderes. Er war der Mensch hinter diesen Worten und das war alles, was zählte.
      Puh.. mein Gesicht heizte wieder ordentlich auf und ich brauchte einen Schluck, nach dem ich kurz durchatmete und ihn dann wieder ansah. "Ich... habe mir so lang vorgestellt, wie es wohl ist, deine Hand zu halten..", sagte ich und blickte auf unsere Hände. "Ich.. will sie gar nicht mehr los lassen...", fügte ich hinzu und kicherte verlegen, als ich meinen Blick wieder hob. "Ich.. möchte mit dir zusammen sein, Sam..." Nicht nur in der virtuellen Welt. Ich wollte ihm in die Augen sehen können, seine Wärme spüren und seine Stimme hören. Auf viele weitere Dates mit ihm gehen und eine richtige Beziehung führen!
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      - Eugene Ionesco
    • Das war zu schön, um wahr zu sein. Ich war mir sicher, jeden Moment aus meinem Traum zu erwachen, in meiner Unterhose im Bett zu liegen und über die dröhnend laute Musik meiner Mitbewohner zu schimpfen. Vielleicht hatte mich auf dem Weg zum Treffen auch ein Auto erfasst, einer dieser wilden Raser – die ich zugegebenermaßen besser kannte, als ich sollte – und lag nun im Koma, den Blick auf das Himmelreich erhaschend. So bitter diese Einsicht auch war, letzteres schien mir wahrscheinlicher, als dass alles, was geschah, die wahrhaftige Realität war. So viel Glück konnte ich nicht haben. Mein Bruder? Ohne Frage! Jeder Tag seines Lebens glich dem eines Filmstars: Frauen, die sich um seine Aufmerksamkeit rissen, von den Männern als Sportgigant gefürchtet und die Welt, die es als seine zu erobern galt. Ihm hätte sowas widerfahren können. Henry, der locker am Küchentisch davon erzählt, mal eben in die Liebe seines Lebens gestolpert zu sein und nun das Happy Ending seiner persönlichen Geschichte auszuleben, bevor es jemand niederschreiben und als Bestseller verkaufen würde. Durchaus plausibel. Doch das hier? Das grenzte an ein Weltwunder. Abby war zu gut, zu schön, zu warmherzig, als dass so ein trotteliger Nerd wie ich sie verdient hatte. Sie verzieh mir nicht nur meine Lügen, ließ ihr Vertrauen zu mir dadurch nicht verblühen, sondern sprach diese zuckersüßen Worte, die wie klebriger Honig an meinem Gaumen haften blieben. Hatte ich womöglich tatsächlich einen Herzanfall und lag in Wahrheit schon für meinen Herzschrittmacher unter dem Messer? Ich lachte, schüttelte ungläubig den Kopf. Wo war der Haken?

      „Hör auf damit, du machst mir Angst.“ Witzelnd löste ich meine Hand aus ihrem Griff und rutschte ihr stattdessen ein Stück auf der Bank entgegen, sodass ich meinen Arm um ihre Schultern legen konnte. Beflügelt von ihrer offenen Bekundung, schien mir das Adrenalin zu Kopf zu steigen. In keinem Szenario der Welt hätte ich mich sonst getraut, einer Frau beim ersten Date so nahe zu kommen und mich dabei auch noch wohl zu fühlen. Mein Herz sprudelte vor Zuneigung nahezu über. Am liebsten hätte ich sie in meinen Armen wie einen Plüschteddy zerquetscht oder in Küssen übersät. So übermütig war ich dann aber doch nicht. „Ich hoffe, das ist auch okay,“ spielte ich auf die Tatsache an, ihre Hand nicht länger zu halten. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, da ich bei den wenigen Zentimetern, die uns jetzt noch trennten, Sorge trug, gesprochene Worte würden wie Schreie an ihr Ohr gelangen. Eine Antwort auf die Frage, woher ich die Tapferkeit nahm, ihr direkt in die Augen zu sehen, fand ich selbst nicht. Umso weniger verstand ich, wie mein Augenmerk auf ihre Lippen fallen konnte. Naja, zu meiner Verteidigung muss ich gestehen, dass mir ihr eigenes Linsen auf meinen Mund nicht entgangen war. Ich legte lediglich dieselbe Neugier an den Tag wie Abby auch. Als sich mein Körper jedoch verselbständigte und meine Zunge beschloss, meine Unterlippe zu benetzen, stieg mir die Hitze in die Wangen. Mit einem Räuspern versuchte ich, meine durchgebrannten Synapsen zur Besinnung zu bringen. Wie verzweifelt wollte ich denn bitte rüber kommen? Ich war keiner dieser Idioten, die sich blind von ihren Trieben leiten ließen. Zumindest war ich bis zu diesem Tag fest davon überzeugt! Doch diese Frau… Sie trieb mich in den Wahnsinn.

      „Wollen wir uns die Beine vertreten?“ Das Teufelchen auf meiner Schulter hasste mich für die Unterbreitung dieses Vorschlags, doch wäre ich länger in dieser Position verweilt, hätte ich sicherlich Wege gefunden, etwas Dummes anzustellen. Etwas frischer Wind würde mir sicherlich helfen, wieder klaren Verstand zu erlangen. Die bestellten Getränke verweilten unberührt, während die schmelzenden Eiswürfel den Kaffee verdünnten. Mir war nicht danach, an Essen oder Trinken zu denken, und von den Blicken, die wir teilten, konnte ich sagen, dass es ihr genauso ging. Trotzdem ließ ich unsere Bestellung mit einer kurzen Handbewegung in To-Go-Becher umfüllen. Verschwenderisch zu sein, gehörte nicht zu einer meiner Eigenschaften. Dann streckte ich meine Hand nach Abby aus, grinste wie ein Honigkuchenpferd vor mich hin und wartete darauf, mit ineinander verschlungenen Fingern durch die Gegend zu schlendern.
      A heart's a heavy burden.

    • Etwas unsicher hob ich einen Mundwinkel. Ich machte ihm Angst? War ich zu forsch? Erdrückte ich ihn schon?
      Aber es klang nur halb so schlimm, während ich beobachtete, wie sich unsere Hände lösten und er näher rutschte. Wurde es gerade heißer hier drinnen? Ich fühlte mich wie in einem Auto, das in der prallen Sonne stand. Sein Arm über meiner Schulter fühlte sich nicht real an. Wie gern ich mich nun an ihn lehnen würde.. Aber.. Sein Gesicht hielt mich davon ab. Ich konnte nicht anders, als in seine Augen zu sehen und diese Nähe machte mich tierisch nervös. Wollte er mich jetzt küssen?! Bei der Frage sah ich kurz auf seine Lippen hinab und wagte es kaum zu atmen. Es war nicht so, dass es mir zu schnell ging, schließlich hatten wir schon ganz andere Dinge.. getan.. Aber damit hatte ich nicht gerechnet. Okay.. doch schon irgendwie.. Oder viel mehr gehofft..
      Mein ganzer Körper kribbelte und ich ermahnte mich nicht einmal selbst, dass wir in einem Café saßen. Mein Körper, meine Lippen, ich sehnte mich schon so lange nach diesem Mann.

      Doch der Kuss blieb aus und er fragte stattdessen, ob wir gehen wollten. Gehen? Wohin? Etwa.. Nein.. So weit waren wir sicher noch nicht... oder doch? Gott ich wusste nicht mehr wo oben und unten war!
      "Ja...", antwortete ich und nickte lächelnd. Nachdem unsere Getränke umgefüllt wurden, nahm ich seine Hand und betete, dass mich meine Beine nicht im Stich lassen würden. Sie fühlten sich wie Wackelpudding an. Und ich hatte plötzlich das Gefühl, als würde meine Blase explodieren.. "Ich.. bin gleich wieder da...", meinte ich und reichte ihm meinen Becher, ehe ich noch einmal kurz auf der Toilette verschwand. Erleichtert atmete ich auf, als ich einen Moment für mich hatte und mich gesetzt hatte. Schnell hatte ich mein Handy aus meiner Tasche gekramt und entdeckte die Nachricht von Jenny. Sie hatte... was?! Mehrere Packungen Kondome in meinen Nachtisch gelegt, da sie schließlich nicht wusste wie gut Sam bestückt war... Sie meinte das wirklich ernst, oder?
      Ich wusste nicht, was ich darauf noch hätte antworten sollen, aber der Grund, warum ich mein Handy in die Hand nahm, war mir auch entfallen. Jenny hätte sowieso keine wirklich hilfreichen Tipps, die nicht damit endeten, dass wir im Bett landeten..

      Nachdem ich mich erleichtert und mein Gesicht gekühlt hatte, kehrte ich zu Sam zurück und lächelte ihn strahlend an. "Bereit!", verkündete ich und nahm ihm mein Getränk ab, damit wir beide eine Hand frei hatten, um die des anderen zu halten, während wir durch die Straße spazierten. "Hast du.. an etwas bestimmtes gedacht?", fragte ich und sah ihn kurz an. Ganz in der Nähe war ein Park. Da.. waren viele Pärchen unterwegs.. Bei dem Gedanken kehrte die Hitze in meinen Wangen zurück. Die würde heute wohl sowieso mein ständiger Begleiter sein.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco
    • Die subtile Nachfrage, ob ich mir etwas Bestimmtes gedacht hatte, ließ meine Gedanken auf Wege abdriften, die ich in diesem Moment lieber nicht beschritten hätte. Herrgott, wie oft hatte ich mir schon Szenarien ausgemalt, so viele, dass ich sie an den Fingern nicht mehr abzählen konnte. Unzählige Nächte lag ich wach, halb schlafend, halb träumend, und ließ Fantasien von ihr durch meinen Kopf spuken. Pläne, die sich wie unsichtbare Fäden in meinem Kopf spannen, geschaffen von den zwei kleinen Teufelchen auf meinen Schultern, die eifrig ihre Skripte für den weiteren Verlauf dieses Abends verfassten. Sie schrieben sie mit unsichtbarer Tinte auf endlosem Stapel Papier– schwarze Buchstaben auf weißem Blatt, das Schicksal schien in Stein gemeißelt. Und doch hatte ich keinen blassen Schimmer, was als Nächstes geschehen würde. Mehr als die Hälfte meiner Einfälle waren völlig unangemessen. Bevor der Drang, einem dieser Impulse nachzugeben, zu stark wurde, erwähnte ich den Park. Zu dieser Jahreszeit verwandelte sich die Landschaft in eine Oase aus Orange und Braun, als hätte jemand die warmen Farben des Herbstes auf die Leinwand geworfen. Die Bäume, deren Kronen in den prächtigsten Tönen erblühten, ließen ihr Laub sanft zu Boden segeln. Das knisternde Blättermeer sammelte sich um die Füße der alten, stolzen Stämme, und der Wind spielte eine leise Melodie, während die Blätter umhertanzen. Ein perfekter Tag, um Hand in Hand durch den Park zu schlendern. Doch mein eigenes Herz spielte den Takt der Panik. Es schlug so wild in meiner Brust, dass es mich beinahe lähmte. Das Knistern in der Luft war kaum zu übersehen. Der Wind streichelte sanft die Bäume und trug den Duft von nassem Holz und kühler Erde zu uns. Wir schlenderten gemächlich durch den Park, unsere Hände streiften sich immer wieder, als könnten sie den Abstand zwischen uns nicht länger ertragen. Abby lachte leise über etwas, das ich gesagt hatte, und ihr Haar wehte im sanften Wind, ungestüm und wild wie die Gedanken in meinem Kopf. Sie war nicht von dieser Erde, sondern von Engeln geschaffen - da war ich mir sicher. Ein Blatt, vom Wind mitgerissen, verfing sich spielerisch in einer ihrer Haarsträhnen. „Warte mal“, murmelte ich und trat näher an sie heran, um das Blatt vorsichtig zu entfernen. Meine Finger glitten fast wie von selbst in ihr Haar, und für einen Moment hielt die Welt den Atem an. Die Welt um uns herum schien zu verblassen, als wäre alles andere unwichtig, außer dieser eine Berührung. Der feine Duft ihres Shampoos stieg mir in die Nase, und die Wärme, die von ihr ausging, ließ mein Herz schneller schlagen. Langsam zog ich meine Hand zurück, ließ sie jedoch nicht ganz los. Stattdessen strich ich sanft eine Haarsträhne hinter ihr Ohr, und meine Finger verweilten länger als nötig. Unsere Blicke trafen sich. In diesem Moment war die Welt still, und ich konnte spüren, wie sich der Raum zwischen uns schloss. Mein Blick wanderte zu ihren Lippen und ich konnte den Drang kaum zurückhalten, sie zu küssen. Ihre Anziehungskraft war so stark, dass es beinahe schmerzte. Doch genau in dem Augenblick, als ich den Mut fand, den letzten Schritt zu gehen, vibrierte mein Handy laut in meiner Tasche. Verdammt. Der Zauber zerbrach. Ich fluchte innerlich, zog mein Handy heraus und sah den Namen meines Mitbewohners auf dem Display aufleuchten. Max. Er rief selten an, also musste es wichtig sein.
      „Tut mir leid, murmelte ich entschuldigend und nahm das Gespräch an. „Max, was gibt’s?
      Seine Stimme klang panisch. „Mann, es ist ein Notfall! Du musst sofort nach Hause kommen. Es ist wirklich ernst!“
      Mein Magen drehte sich um. „Was ist passiert?“
      „Keine Zeit zum Erklären! Beeil dich einfach!“ Dann legte er auf, bevor ich weitere Fragen stellen konnte.
      Meine Gedanken hingen in der Schwebe. „Ich glaube, wir sollten kurz nach dem Rechten schauen. Max klingt echt aufgebracht.“ Mit leiser Zustimmung machten wir uns auf den Weg.

      Als wir die Wohnungstür öffneten, war es allerdings nicht das, was ich erwartet hatte. Statt eines Notfalls empfing uns der warme Schein von Kerzen, die überall im Wohnzimmer verteilt waren. Ein sanfter Duft von Parfum lag in der Luft, und die Sachen, die normalerweise chaotisch herumstanden, waren ordentlich arrangiert. Der Couchtisch war hübsch gedeckt mit einem Fläschchen Wein und zwei Gläsern. Das war kein Notfall. Das war ein Hinterhalt!
      Ich seufzte tief und ließ die Tür hinter uns zufallen. „Max!“, rief ich durch die Wohnung, während ich mich Abby zuwandte. Mein Mitbewohner tauchte aus der Küche auf, ein breites Grinsen im Gesicht. „Na, wie gefällt’s euch? Ich dachte, ich mach’s mal so richtig romantisch!“
      „Du blöde Ratte.“, zischte ich leise, damit Abby es nicht hörte. „Du hast mich hierhergelockt, weil du... was? Ein paar Kerzen anzünden wolltest? Das ist doch nicht dein Ernst!“ Vor Gästen zu Flüstern entsprach keiner Gastfreundschaft, weswegen meine Stimme anschließend wieder fester wurde. “Ich hab mir Sorgen gemacht, du Idiot!”
      Max zuckte unschuldig mit den Schultern. „Hey, ich wollte nur helfen! Kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass unser Rory sein Glück versucht.“ Sein Grinsen verschwand jedoch, als er meinen entsetzten Blick sah. „Was ist?“
      Ich zog ihn zur Seite und somit aus Abbys Hörweite. „Das ist kein Spiel! Abby soll nicht denken, dass ich... dass ich sowas arrangiere. Sie hält mich noch für verrückt!“
      Max verdrehte die Augen. „Junge, entspann dich mal. Die steht doch total auf dich, das kann man sehen. Glaubst du, sie rennt jetzt raus, nur weil’s hier ein bisschen nett aussieht?“
      Ich seufzte tief, kämpfte gegen die aufsteigende Verzweiflung. „Das ist nicht der Punkt.” Mein Blick wanderte unweigerlich zu Abby, die sich neugierig umsah und offensichtlich versuchte, sich einen Reim aus der Situation zu machen.
      Max legte eine Hand auf meine Schulter und nickte. „Schon kapiert. Geh einfach zu ihr, sei du selbst. Sie mag dich – und das kannst du nicht mit ein paar Kerzen vermasseln.“
      Ich sah ihn skeptisch an, aber seine Worte machten Sinn. Vielleicht hatte er recht. Tief durchatmend ging ich zurück zu Abby, die mich mit einem sanften Lächeln erwartete. „Tut mir leid wegen Max“, begann ich leise. „Er neigt manchmal zu Übertreibungen.“
      Mit einer einladenden Geste sollte sie sich ganz wie zuhause zu fühlen. Doch mein Herz setzte einen Schlag aus, nachdem ich mich aufs Sofa setzte und ihrem neugierigen Blick folgte. All die Statuen und Figuren, wertvolle Sammlerstücke, kamen mir plötzlich wie Babypuppen vor. Ich wurde mir meiner Lage unangenehm bewusst. Abby war in meiner Wohnung!
      A heart's a heavy burden.

    • Als hätte er meine Gedanken lesen können, schlug er den Park vor, dem ich sofort zustimmte. Ich mochte Spaziergänge und.. mit einem Mann an meiner Seite würde es sicher noch viel schöner werden. Sam war so unglaublich süß. Keine Ahnung, wie ich reagiert hätte, wenn er der coole, lässige Typ vom Foto wäre, der jede Frau haben könnte. Aber er war auch in echt total liebenswert und vielleicht beinahe genau so schüchtern wie ich. Das gefiel mir. Es ließ mich sicherer fühlen.
      Es gab etliche Szenarien, die nicht nur meinen eigenen Gedanken entsprungen waren. Jenny liebte es meinen Verstand zu vergiften, aber irgendwie fühlte ich mich so... ich weiß auch nicht.. Wenn ich ihn direkt in meine Wohnung einladen würde, käme ich mir so billig vor... Oder machte ich mir da nur zu viele Sorgen? Es war zwar unser erstes Date, aber wir schrieben schon seit Monaten. Da konnte man es fast nicht als überstürzt sehen, oder doch? Gott, keine Ahnung. Okay, Abby. Immer mit der Ruhe. Wir müssen nichts erzwingen und egal wie der heute Tag enden wird... ich hatte ganz sicher vor mich öfter mit Sam zu treffen. Kein Zweifel.
      Aber wenigstens einen Kuss würde ich mir schon wünschen. Davon träumte ich schon so lange! Und dann schien der Moment endlich da zu sein, als wir uns in die Augen sahen und er mir eine Strähne hinter mein Ohr strich. Vielleicht ein wenig kitschig, aber ich liebte es. Mir wurde ganz flau im Magen und mein Herz schlug wie wild.
      Doch dann rief ihn jemand an und unterbrach uns. War das Schicksal gegen uns? Nein. Wir waren bis hierhin gekommen. Doch nicht, um dann wegen eines Anrufs zu scheitern.
      Allerdings machte ich mir auch Sorgen, als Sam von einem Notfall sprach. Ich ging davon aus, dass er mich nun stehen lassen würde. Zum Vortäuschen wäre das allerdings wirklich zu spät gewesen, oder? Das.. würde er doch nicht tun..
      Aber entgegen meiner Befürchtung, durfte ich ihn begleiten. Ich wusste zwar nicht, ob ich bei diesem Notfall helfen könnte, aber ich würde es zumindest versuchen.
      Nun galt mein schneller Herzschlag der Angst, dass etwas schlimmes passiert sein könnte. Immerhin ging es um einen Freund von Sam. Das wäre schrecklich.

      In seiner Wohnung sah es allerdings ganz und gar nicht nach einem Notfall aus. Es sah.. verdächtig romantisch aus.. M-moment.. Wir.. waren in seiner Wohnung! M-mit Kerzen! Und.. Wein?! Mein Herz nahm den Rhythmus von dem eines Kaninchens an, während ich meinen Blick flüchtig durch die Wohnung schweifen ließ. Wollte... Wollte Sam etwa.. War das nur ein Vorwand, um mich in seine Wohnung zu locken? Um.. Ich.. hätte ihn sicher auch so begleitet... denke ich.. aber irgendwie machte mich das nun unglaublich nervös. Das hieß, dass er Erwartungen hatte, oder? Und wenn ich seinen Erwartungen nicht gerecht werden würde?
      Sam sprach mit seinem Mitbewohner und ich wollte wirklich nicht lauschen, aber es klang fast so, als wäre Sam nicht begeistert davon. Dann.. war das vielleicht gar nicht seine Idee..
      Ich war nicht sicher, was ich davon halten sollte, aber als Sam sich mit Max von mir entfernte, wandte ich meinen Blick ab, um mich zu beruhigen. Stattdessen sah ich mich in der Wohnung um. Sie war.. speziell.. Aber irgendwie süß.
      Als Sam zu mir zurück kam, lächelte ich verlegen. Inzwischen hatte ich mich wieder gefasst. Zumindest so gut ich konnte, denn ich war immer noch ganz spontan in seiner Wohnung gelandet. Ich kicherte leise, als er sich wegen Max entschuldigte. "Das kenn ich... Jenny ist genau so...", beruhigte ich ihn und setzte mich zu ihm auf das Sofa. Während mein Blick noch immer die Einzelheiten seiner Einrichtung erfasste, zog ich langsam meinen Schal aus und legte ihn auf meinen Schoß. Er lebte hier mit 3 anderen, aber für gewöhnlich richtete man das Wohnzimmer doch gemeinsam ein, oder? Außer einer von ihnen würde einen auf Boss machen. Da ich jedoch wusste, dass Sam solche Spiele mochte, war das irgendwie gar nicht so überraschend. Dafür hortete ich Kakteen und Lichterketten zuhause.

      Ich senkte meinen Blick und betrachtete den angerichteten Tisch, während ich mir leicht auf die Unterlippe biss. Mir wurde hier drinnen mit jeder Sekunde wärmer. Meine Jacke würde ich ja sowieso nicht mehr brauchen, also begann ich sie auszuziehen und legte sie neben mich. Dann atmete ich tief durch. Das war nicht gut durchdacht! Er hatte es sicher gesehen und dachte, dass es mir hier nicht gefiel oder so. Es.. war doch normal, dass ich immer noch nervös war.. Ich musste irgendwas sagen!
      "Ich.. bin froh, dass es kein Notfall ist...", sagte ich zurückhaltend und richtete meinen Blick langsam auf ihn. Dabei nahm ich jedes Quäntchen Mut zusammen und nahm seine Hand. Gott.. meine Wangen fühlten sich an, als würden sie anfangen zu schmelzen.
      Schüchtern sah ich kurz nach unten, hob meinen Blick wieder und sah in seine Augen. Das wollte ich zumindest, doch ich sah wieder flüchtig auf seine Lippen und musste daran denken, dass wir uns vielleicht beinahe geküsst hätten, wenn Max nicht angerufen hätte. Wie.. konnte ich ihm denn zeigen, dass ich das wollte? Vielleicht indem ich seine Aufmerksamkeit auf meine Lippen lenkte? Ich hatte wirklich keine Ahnung, ob das in irgendeiner Form wirklich verführerisch oder total bescheuert aussah, aber ich öffnete meine Lippen ein wenig, um sie dann kurz leicht aufeinander zu pressen, ehe ich verlegen lächelte.
      Jenny hätte einfach die Initiative ergriffen, aber das traute ich mich nicht! Außerdem hätte ich mich ihm dafür entgegen strecken müssen, was ich bestimmt irgendwie vermasselt hätte. Und aufdrängen wollte ich mich auch nicht.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco
    • Ihre Jacke glitt so elegant von ihren Schultern, dass ich nicht anders konnte als Abby in Trance zu beobachten, bevor sie neben mir Platz nahm. Ihre Nähe löste ein Kribbeln in meinem Bauch aus. Ohne zu zögern, nahm sie meine Hand und verschränkte ihre Finger mit meinen. Ihre Berührung war warm und ließ mein Herz unweigerlich ein paar Takte schneller schlagen. Im Stillen war ich froh, dass es hier keinen echten Notfall gab. „Ich bin auch erleichtert, obwohl ich immer noch nicht glauben kann, dass Max das hier eingefädelt hat.“ Nervös richtete ich mich etwas auf, der Raum um uns schien plötzlich kleiner geworden zu sein. „Ich meine – wir müssen nicht bleiben, wenn du lieber in den Park möchtest –“ Doch ich kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Ihr Blick war fest auf meine Lippen gerichtet. Die Worte blieben mir im Hals stecken. Das Funkeln in Ihren wunderschönen Rehaugen brachte mich aus dem Konzept. Alles an ihr, ihre Nähe, ihre Wärme, das flackernde Licht der Kerzen, ließ mich verstummen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an sie. Es schien mir nicht, als hätte sie auch nur den Hauch einer Absicht zu gehen. Und, wenn ich ehrlich war, wollte ich selbst keinen Schritt zurück machen. Sekunden vergingen, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Ihre Finger schlossen sich fester um meine, und ein sanftes Lächeln spielte auf ihren Lippen, das all meine Zweifel hinweg fegte. Ich schluckte unsicher. Alles schrie danach, den Moment für immer in meiner Erinnerung einzufangen. „Abby...“ entkam mir ein Flüstern, ehe ich mich fallen ließ und den Augenblick der Spannung in der Luft überwand. Ab diesem Moment schien alles um uns herum bedeutungslos – keine Mitbewohner, keine vorbereiteten Kulissen, keine Unsicherheiten. Nur wir, hier und jetzt. Lange hatte ich darüber fantasiert, wie sich das Zusammentreffen unserer Lippen wohl anfühlen würde. Der Moment sprengte jegliche Vorstellungskraft und für einen Augenblick fürchtete ich mich davor, mich selbst in ihren warmen Berührungen zu verlieren. Der vergängliche erste Kuss war von Zärtlichkeit geprägt, die schon bald von unseren wahren Gefühlen verdrängt wurde. Die Sehnsucht, diese Frau wahrhaftig in meinen Armen zu halten, sie mein nennen zu können und ihr nah zu sein, ließ jede Synapse in meinem Hirn durchbrennen. Ich küsste sie. Wieder und wieder. Überwältigt vom Glück immer euphorischer. Vorsichtig legte ich meine freie Hand an ihre Wange, streichelte die weiche Haut und fühlte, wie sie sich in meine Berührung lehnte. Ich fürchtete, jeden Moment aus einem Traum zu erwachen, und nur sie war der Anker. Ihr Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus, eine Mischung aus herbem Kaffee und einer Süße, die sich nicht beschreiben ließ. Ich hätte sie noch ewig küssen können - wollte es! Mit meiner Stirn an ihre gelehnt löste ich mich von ihren Lippen. Ich traute mich nicht, die Augen zu öffnen und atmete stattdessen tief aus. “Tut mir leid, ich wollte dich nicht überrumpeln. Es war nur das einzige, woran ich denken konnte, nachdem ich deinen Blick auf meine Lippen gesehen habe.” lächelnd sah ich sie nun doch an. Mein Herz klopfte wie ein Trommelschlag in meiner Brust. Mein pumpendes Blut erinnerte mich daran, dass ich es lieber langsam angehen sollte, statt etwas zu überstürzen. Abby war jedes Warten wert. Auch wenn wir wohlgemerkt schon weit über die Unschuld eines Kusses hinausgegangen waren. Nur halt online… Fuck, die Gedanken daran waren wenig Hilfreich, wenn ich mich in Geduld üben wollte. Bevor mein Geist sich den unüberwindbaren Tiefen dieser Erinnerung hingeben konnte, entwich mir ein Räuspern. Doch die Lust übermannte mich immer wieder, erinnerte mich an die Worte, die wir getauscht hatten, die Berührungen, die wir einander versprochen hatten und beinahe greifbar waren, konnten nun real werden. Erneut tief ausatmend sank mein Kopf in meinen Nacken, der vom weichen Polster des Sofas aufgefangen wurde. Mir blieb keine andere Wahl, als Distanz zwischen uns zu bringen, wenn ich einen kühlen Kopf bewahren wollte. Mein Blick wanderte erneut zu ihr, ohne mich jedoch zu regen. “Du bist nicht echt. Das alles hier ist nicht echt. Es ist nur ein Traum und wenn es am schönsten ist, klingelt mein Wecker.” Auch wenn ich scherzte, schloss ein Teil von mir diese Möglichkeit nicht gänzlich aus. Noch nie war mir solch ein Glück wie diese Frau zuteil geworden. Also könnte es doch nur ein Traum sein, oder?
      A heart's a heavy burden.

    • Das Flüstern meines Namens jagte mir einen kleinen Schauer über den Rücken. Ich hielt es kaum noch aus und wünschte mir so mutig wie Jenny zu sein. Warum hatte sich in meinem Kopf die Illusion eingebrannt, dass er den ersten Schritt machen müsste? Aber bevor ich mich überwinden konnte - was ich vermutlich auch nicht geschafft hätte - trafen sich endlich unsere Lippen. Ich schloss meine Augen, um diesen Moment besser in meinem Inneren abspeichern zu können. Um mehr auf meine Gefühle eingehen zu können, die in mir übereinander stolperten und nicht mehr wussten, wo links noch rechts war. Während mein Herz versuchte aus meiner Brust zu entkommen.
      Ich verlor mich in diesem Kuss, der besser war, als ich es mir erträumt hatte. Die Wärme seines Atems in meinem Gesicht und seine weichen, warmen Lippen auf meinen, die ihre Zurückhaltung mit jedem Kuss etwas mehr verloren. Seine Hand an meiner Wange, an die ich mich schmiegte, obwohl er so die Hitze darin spüren konnte. Und wo.. waren meine Hände? Warum hatte ich mich nicht gerührt? Ich hätte meine Arme um seinen Hals legen sollen oder sie wenigstens auf seine Brust legen. Irgendwas. Stattdessen hatte sich eine Hand an den Saum meines Pullovers gekrallt, als wollte ich so sicher gehen, dass er... ihn mir nicht auszog? So wirkte es im Nachhinein jedenfalls auf mich, als ich darüber nachdachte.
      "Hast du nicht...", hauchte ich und lächelte, als er sich bei mir entschuldigte. Vermutlich wegen meiner eigenartigen Haltung. Ich musste wirklich lernen lockerer zu sein, aber ich war schon total unentspannt, als wir Unterwäsche einkaufen waren. Das war mir schon immer unangenehm.
      Ich war mir nicht sicher, ob ich etwas falsch gemacht hatte, als Sam sich von mir entfernte und sich zurücklehnte. Stimmte etwas nicht? Doch seine Worte waren etwas anderes als ich erwartet hatte. Wie konnte ich auch so dumm sein? Sam.. hatte offensichtlich schon sehr leiden müssen in seinem Leben und vielleicht hatte er Angst? Angst davor, dass ich ihn doch nicht wollte? "Das ist kein Traum... jedenfalls keiner aus dem du aufwachst...", sagte ich und lächelte sanft, während ich mich neben ihn anlehnte und meine Hand an seine Wange legte. "Ich bin echt.. und.. und ich bin.. in dich verliebt, Sam..." Wir schrieben schon so lange, wobei es neuerdings auch sehr intim wurde und ich wollte einfach mit ihm zusammen sein. In meinen Augen führten wir bereits eine Beziehung und das hier war einfach nur der nächste Schritt.
      Nachdem ich ihm meine Gefühle gestanden hatte, konnte ich nicht anders als meine Lippen erneut mit seinen zu vereinen. Als hätten wir so viel nachzuholen, was wir bisher verpasst hatten, weil wir uns nicht getraut hatten aus der virtuellen Welt herauszukommen. Dabei fühlte es sich noch viel besser an als morgens mit einem Lächeln den Chat zu öffnen und sich einen guten Morgen zu wünschen.
      Ich zwickte ihm leicht in die Seite und löste mich kichernd von ihm. "Siehst du... das ist echt..", flüsterte ich und wurde noch roter, weil ich mir dabei plötzlich so kindisch vor kam.
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      - Eugene Ionesco
    • Ihre sanfte Stimme durchbrach den Nebel in meinem Kopf, und als sie mir gestand, dass sie in mich verliebt war, fühlte es sich an, als würde die Welt um uns herum explodieren. Ich konnte es kaum fassen. All die Nächte, in denen ich mir den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob sie wohl ähnlich fühlte – all das wurde durch ihre wenigen Worte einfach ausradiert. „Ich bin echt... und ich bin in dich verliebt, Sam...“ Ihre Worte hallten in mir wider, während ich versuchte, meine eigene Überraschung und Freude zu verarbeiten. Sie war in mich verliebt. Es fühlte sich an, als hätte ich den Boden unter den Füßen verloren, aber auf die bestmögliche Weise. Und bevor ich etwas sagen konnte, spürte ich ihre Lippen wieder auf meinen. Es war, als ob all das, was wir durch Nachrichten und über die Distanz aufgebaut hatten, jetzt endlich einen Platz gefunden hatte. Das Kribbeln in meinem Bauch war zurück, aber diesmal war es kein nervöses Zögern – es war pure Aufregung. Es fühlte sich an, als hätten wir Jahre der Zurückhaltung überwunden, und nichts konnte uns jetzt noch aufhalten.
      Abby zwickte mich leicht in die Seite, und ich zuckte spielerisch zusammen, während sie sich kichernd von mir löste. Ihr Lachen war ansteckend, und für einen Moment vergaß ich all meine Sorgen. Leise lachend konnte ich nicht anders, als sie erneut anzusehen, meine Augen über ihr gerötetes Gesicht wandern zu lassen. Sie war wunderschön. Alles an ihr schien perfekt, und obwohl ich scherzhaft daran gezweifelt hatte, dass das alles real war, hegte ich keinen Zweifel mehr. „Bist du dir da ganz sicher?“ neckte ich sie und ließ meinen Finger spielerisch in ihre Seite gleiten. Meine Bewegungen waren schneller, als ich beabsichtigt hatte, und ehe ich mich versah, wurde das harmlose Piken zu einem sanften Kitzeln. Abby lachte laut auf und versuchte, meinen Angriffen auszuweichen, während ich immer wieder versuchte, sie erneut zu pieksen. Es war, als wären wir plötzlich in die Zeit zurückversetzt, in der wir frei und unbeschwert waren, wie Kinder, die sich in einem unschuldigen Spiel verloren hatten. Lachend rangten wir miteinander, drehten uns, schubsten uns sanft hin und her, bis die spielerische Energie uns beide mitriss. Und ehe ich es bemerkte, lag ich über ihr, auf den Armen abgestützt, während sie unter mir lag. Der plötzliche Moment der Stille fühlte sich surreal an. Unsere ausgelassene Fröhlichkeit war so schnell verschwunden, dass ich nicht begriff, wie wir in diese Position gekommen waren. Das Einzige, das ich hören konnte, war das Pochen meines Herzens. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es war nicht mehr nur das spielerische Geplänkel. Mein Blick fiel erneut auf ihren Mund. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr abwenden. Wie erstarrt, als ob jede Bewegung den Zauber brechen könnte, sah ich einfach zu ihr hinunter. Und schließlich wurde der Abstand zwischen uns immer kleiner. Dieser Kuss war zärtlich, nicht mehr als ein Hauch, weil ich fürchtete, sie zu verschrecken. Sie sollte sich nicht gedrängt fühlen. Mir war klar, dass ich Abby nie wieder loslassen wollte. Alles an ihr, an uns, fühlte sich richtig an – und ich würde alles tun, um dieses Glück festzuhalten. Mit Bedacht rückte ich den Kragen ihres Strickpullovers zur Seite, um ihren Hals zu liebkosen. “Abby, ich bin genauso verliebt in dich und ich bleibe so lange an deiner Seite, wie du mich erträgst.” hauchte ich gegen ihre Haut, weil ich mich ihrem Blick nicht stellen konnte. Die Röte legte sich auf meine Wangen, bevor ich mich erneut ihrem Körper mit Küssen widmete.
      A heart's a heavy burden.

    • Es war einfach... wundervoll... Ich wusste nicht, wie ich es beschreiben sollte und wusste genau, dass meine Cousine mit so einer undetaillierten Antwort nicht zufrieden sein würde. 'Und du studierst Literaturwissenschaft?' würde sie sagen. Aber mir fehlten tatsächlich die Worte. Was ich spürte war mein schneller Herzschlag und die Hitze, die sich in meinem gesamten Körper ausbreitete.
      Als wir lachten, wurde alles wieder etwas lockerer. Entspannter. Er kitzelte mich und ich fühlte mich einfach nur total kindisch, aber.. ich hatte auch das Gefühl, dass es okay war. Das es richtig war, wenn wir uns einander so zeigen konnten. Das ich einfach sein konnte, wie ich war. Das ich ihm vertrauen konnte.
      Und ehe ich mich versah, kamen all die intensiven Gefühle zurück, als er plötzlich über mir war. Das Herzrasen, die Hitze, das Kribbeln. Auch wenn ich noch keine Erfahrungen mit einem Mann hatte, wusste ich dennoch was Lust war und wie es sich anfühlte erregt zu sein. Was war ich froh, dass man uns Frauen diese Lust nicht so gut ansehen konnte. Vor allem nicht unter der Kleidung, die ich trug.
      Sein Kuss schwappte all diese Gefühle nochmal in Form von einer riesigen Welle über mich, dass ich fürchtete, bald den Verstand zu verlieren. Wenn ich jetzt allein wär, würde ich.. nicht mehr all zu lange warten, bis ich zu dem Spielzeug greifen würde, dass Jenny mir geschenkt hatte. Es war mir total peinlich, aber irgendwann war ich ganz froh darüber. Zum Beispiel, als ich es während unseres ziemlich intimen Chats benutzt hatte.. Gott.. diese Gedanken machten es nicht besser. Aber der Kuss war viel zu kurz. Viel zu flüchtig. Doch ich konnte nicht darüber trauern, dass wir ihn nicht vertieft hatten, denn schon bald spürte ich seine Lippen auf meinem Hals. Ich fühlte mich, als wäre ich ein Stück Butter, dass gerade dabei war sich zu verflüssigen.
      "Sam...", hauchte ich leise, doch wegen seines Kusses und der Nähe zu meinem Hals kam es eher keuchend aus meinem Mund. Er hatte mir gerade auch seine Gefühle gestanden und gesagt, dass er so lange an meiner Seite bleiben würde, wie ich ihn ertrug. "Ich.. werde dich sehr sehr lange ertragen...", flüsterte ich und hoffte, dass meine Stimme wegen seiner Küsse nicht zu zittrig klang. Ich meinte natürlich für immer, aber für immer war so kitschig und stark, dass es oft etwas abschreckend sein konnte. Auch wenn es das war, was ich gerade fühlte.
      Ich hatte meinen Kopf langsam zur Seite gedreht, damit er besser an meinen Hals kam. Vielleicht hätte ich einen anderen Pullover tragen sollen.. Währenddessen strichen meine Hände über seinen Rücken, bis ich an seiner Hüfte ankam. Ich fragte mich, wie sich seine Haut wohl anfühlte. Ich wollte ihn berühren. Deshalb ließ ich meine Hände sanft unter seine Kleidung gleiten, bis ich seine weiche, warme Haut an meinen Fingern spürte. Hörbar atmete ich tief ein und hielt den Atem kurz an, um ihn etwas kontrollierter wieder rauszulassen. Mein Gesicht glich vermutlich gerade einer Tomate. Ich war nervös, obwohl ich mir mit jeder Sekunde sicherer war, dass Sam der richtige war und das ich ihm näher sein wollte. "K-können wir... in dein Zimmer...?", fragte ich leise, als ich die Kerzen sah und mir bewusst wurde, dass uns hier jederzeit jemand sehen könnte. Allerdings wurde ich mir daraufhin auch bewusst, wie er meine Frage vielleicht auffassen könnte. Doch.. das war okay. Ich müsste es nicht erzwingen, aber ich müsste mich auch nicht dagegen wehren. Alles was ich wollte war bei Sam zu sein. Und ja.. so wuschig wie ich gerade war, dachte ich natürlich schon daran! Aber vor allem wäre es mir unangenehm seine Freunde kennen zu lernen, wenn er.. gerade auf mir lag. Auch wenn wir angezogen waren.
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      - Eugene Ionesco

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Kiimesca ()

    • Abby lag unter mir, und der leise Hauch meines Namens, als ich ihre Haut küsste, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ihre Finger, die sich sanft unter mein Shirt schoben, ließen mich tief durchatmen. Jede Berührung war sanft, vorsichtig, aber sie entfachten ein Feuer in mir, das ich nur schwer kontrollieren konnte. Ihr Atem, der sich immer schneller zuziehen schien, das leise Zittern ihrer Stimme - ein Spiegelbild meiner Selbst. Ich wollte ihr antworten, wollte ihr sagen, dass ich genauso fühlte – dass ich mir kein Leben ohne sie vorstellen wollte –, aber die Worte blieben mir im Hals stecken, als ich spürte, wie ihre Finger über meinen Rücken glitten. Leise und kaum hörbar entging mir beinahe ihre Frage, ob wir uns zurückziehen könnten. Nervosität hallt in ihren zarten Stimmbändern nach und ich spürte, wie unruhig sie sich auf dem Sofa bewegte. Der Gedanke warf all meine coolen, locker geplanten Reaktionen über den Haufen. Stattdessen war ich wie gelähmt. In meinem Zimmer... Mein Herz setzte einen Moment aus. Ein Teil von mir konnte kaum glauben, dass wir an diesem Punkt angekommen waren. Dass wir wirklich so nah beieinander waren, nach all der Zeit. Ich wusste nicht, wie ich die Worte herausbringen sollte, ohne wie ein kompletter Idiot zu klingen. „Bist du dir sicher?“ flüsterte ich sanft, während ich mich etwas aufrichtete, sodass ich ihr wieder in die Augen sehen konnte. Meine Hände ruhten auf ihren Seiten, meine Finger die stillen Zeugen ihres Brustkorbs, der sich bei jedem Atemzug hob und senkte. Mein Herz schlug laut in meinen Ohren, während ich ihre Antwort erwartete. Ich wollte sie nicht drängen, wollte nicht, dass sie sich in irgendeiner Weise unwohl fühlte. Ich konnte den Drang kaum unterdrücken, sie erneut zu küssen, doch ich wartete auf eine Reaktion. Meine Hand glitt von ihrer Seite auf ihre Wange, und ich sah ihr tief in die Augen.

      Langsam stand ich auf und zog Abby behutsam mit mir. Mein Herz klopfte so laut, dass ich sicher war, sie würde es hören. Verdammt, fluchte ich innerlich, während ich den Anflug von Panik verspürte. Mit jedem Schritt, den wir Richtung meines Zimmers machten, schien die Welt um uns herum zu verblassen. Die Kerzen, das leise Knistern der Flammen – all das war nichts mehr im Vergleich zu dem, was zwischen uns geschah. Ich öffnete die Tür und ließ sie hinter mir eintreten, ehe ich die Tür behutsam hinter uns schloss. Tief durchatmend drehte ich mich zu ihr um und die Welt stand still. Abby sah mich mit diesem umwerfenden Blick an, ein vertrautes Lächeln, das mir jedes Mal den Atem raubte. Meine Beine verwandelten sich in Wackelpudding, als ich langsam auf sie zutrat, ihre Hand wieder in meine nahm und sie vorsichtig näher an mich heran zog. „Du weißt, dass du mir vertrauen kannst, oder?“ flüsterte ich, während meine Finger sanft über ihren Handrücken strichen. Ich wollte, dass sie sich sicher fühlte, wollte, dass jeder Schritt, den wir gemeinsam machten, von ihr gewollt war. Ich wollte nicht, dass sie dachte, es ginge mir nur um diesen einen Akt. Sie war so viel mehr für mich. Mit einer leisen Antwort legte ich meine Hände sanft um ihren Rücken und überbrückte auch die letzten Zentimeter, bevor ich überhaupt wusste, was ich tat. Unsere Körper verschmolzen zu einem, und der Gedanke, dass dieser Moment real war, wirkte schwindelerregend. Etwas in mir warf mir all die Zweifel und Ängste vor die Füße, erinnerte mich an die Narben, die unter meiner Kleidung verborgen waren. Das Letzte, was ich wollte, war, dass Abby mich sah und ihre Meinung änderte, sobald sie erkannte, wie kaputt ich wirklich war. Aber ich konnte sie auch nicht einfach ablehnen. Ich konnte dieses unsichtbare Band zwischen uns nicht zerschneiden, nur weil ich Angst hatte. Oder? Der Raum, der mir sonst immer so viel Sicherheit gegeben hatte, fühlte sich plötzlich wie eine Bühne an. Die Panik gewann oberhand, nicht aus Angst vor ihr, sondern vor dem, was sie sehen würde, wenn ich mich ihr wirklich öffnete. Sie hatte mich so nah an sich herangelassen, mehr als jeder andere Mensch zuvor. Aber würde das so bleiben? Was, wenn sie meine Narben sieht? Der Gedanke jagte durch meinen Kopf, und eine Sekunde lang war alles, was ich fühlte. Angst davor, dass sie sich von mir abwenden könnte, sobald sie die kaputten Teile meines Körpers entdeckte. Ich senkte den Blick, unsicher, ob ich das Risiko eingehen könnte, mich so zu zeigen. Schwer schluckend kostete es mich, Überwindung sie anzusehen. „Es gibt etwas, das du wissen musst...“ flüsterte ich, während ich meine Finger sanft in ihren Haaren vergrub. „Die Narben… Sie sind nicht nur auf meinem Gesicht. Ich weiß nicht, ob...“ Meine Stimme brach ab, als ich versuchte, die richtigen Worte zu finden. Alles an mir war anders, falsch und schon gar nicht Makellos. Abby hingegen entsprang einem Bilderbuch - ihre Haut weich und ebenmäßig. Ihre Finger würden auf Unebenheiten, Huckel und schlecht verheilte Narben stoßen. Nichts an einer zerschlagenen Puppe, die man wieder zusammengesetzt hatte, war attraktiv. Statt mich weiter in Worten zu verlieren, die ich eh nicht aussprechen konnte, suchte ich erneut ihre Lippen. Küsste sie, als könnte sie meine eigene Haut vergessen lassen. Mit wenigen eng umschlungenen Schritten stießen wir auf die Bettkante, auf der ich Abby sanft niederlegte. Der Wunsch, einfach bei ihr zu sein, keine Zweifel zu hegen, war größer als je zuvor. Zumindest nahm ich mir vor, alles für sie zu tun, damit sie sich niemals so fühlen musste. “Du bist wunderschön,” entwich mir zwischen den Küssen, die ich über ihren Hals verteilte, während meine Hände unter ihren Pullover rutschten. Auf meinen Unterarm gestützt, begann ich, mit der freien Hand ihre Hose zu öffnen und hinein zu gleiten, um sie liebevoll zu massieren. Meine Lust sprengte ohnehin schon jeden Rahmen und wenn sie aufs Ganze gehen wollte, würde ich ihr nicht lange dienen können. Der Gedanke, ihr eine schöne Nacht zu bereiten, gefiel mir mehr als mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was sie von mir halten würde. “Sag mir, was dir gefällt.” hauchte ich gegen ihre Haut. “Ich erfüll dir jeden Wunsch, du musst nur darum bitten.” fuhr ich fort, bevor sich unsere Lippen wieder vereinten. Als ich ihr verlegenes Lächeln sah, wurde mir klar, dass nichts davon falsch war. Ihre Augen funkelten im schwachen Licht, erinnerten mich daran, warum ich sie so sehr wollte. Weil sie Abby war. Die Furcht, die mich seit Jahren begleitet hatte, schien langsam zu schwinden. Ich ließ meine Hand unter meinen Hoodie gleiten und zog ihn über den Kopf, ließ den Stoff auf den Boden gleiten, während ich ihr den Blick auf die Narben an meinen Armen freigab. Die kühle Luft des Zimmers traf auf meine Haut, während ich versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu halten. Zum Glück trug ich noch ein T-Shirt darunter. Ich schluckte erneut, unfähig, zu sprechen, und anstatt auf meine Zweifel zu hören, ließ ich mich einfach fallen. Mit meiner Stirn sanft an ihre gelehnt schloss ich die Augen, um ihren Atem auf meiner Haut zu spüren. Vorsichtig wandten sich meine Finger ihrem Pulli zu, zogen den Stoff vorsichtig über ihren Kopf und eine Sekunde lang musste ich über meinen Mut staunen. Alles an ihr war perfekt. Sie war wunderschön, doch was mich am meisten beeindruckte, war die Art, wie sie mich ansah – als wäre ich derjenige, der schön war.

      Nichts an diesem Moment fühlte sich überstürzt an. Es war, als ob wir beide wussten, dass dies der natürliche Verlauf war – das, was wir beide wollten. Das Adrenalin, das durch meinen Körper jagte, ließ jede Nervosität von mir abfallen, als hätte sie nie existiert. Meine Hände ruhten noch immer auf ihrer Haut, während ich mich über sie beugte und alles tat, um sie zu verwöhnen. Streichelte jeden Zentimeter, liebkoste jede noch so empfindliche Stelle und küsste sie, wo ich hoffte, dass keiner zuvor seine Lippen anlegte. Unsere Körper endlich völlig vereint, auch wenn sie es sich vermutlich anders vorgestellt hatte.
      A heart's a heavy burden.