Maledictio Draconis [CodAsuWin]

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    • Der Flaum brannte nicht.
      Was vielleicht nur eine winzig kleine Eigenschaft sein mochte, war in den Augen des geschulten Jägers eine Information gigantischen Ausmaßes. Weder Tava noch Malleus schienen zu wissen, dass die periphere Fähigkeit eines Drachen meistens auf seine Grundnatur hindeutete. Und wenn dieser Flaum nicht brannte, dann …
      Devon ging nicht weiter darauf ein, sondern ließ den Blick ein weiteres Mal schweifen. Sie befanden sich noch ein gutes Stück vom Dorf am See entfernt, aber die Zeichen waren bereits so bedeutsam, dass es sich mit Sicherheit nicht um einen Drachen der D-Klasse handeln würde. Diese Reichweite war mindestens in der C-Klasse angesiedelt. Schneller als die anderen beiden reagierte Devon auf den seltsamen Geruch in der Luft, der sich kontinuierlich verstärkte, und versteckte seine untere Gesichtshälfte hinter seinem Schlauchschal. Schließlich wusste man nie.
      Ebenso wenig wusste er, wie er dieses seltsame Lächeln des Kultisten deuten sollte. Da war nichts von dem Mitgefühl, das er den meisten Menschen zuschrieb oder gerade jenem, der seinesgleichen wie Lämmchen schickte. Alles, was Malleus bekam, war ein skeptischer Blick, durchwachsen mit der stummen Bestätigung, dass der Mensch emotional wahrlich abgestumpft sein musste.

      Als die Gruppe schließlich den Rand des Waldes erreichte und sich eigentlich ein beschaulicher Anblick auf Lacuna auftun sollte, war davon nichts mehr übrig. Was sich bereits angedeutet hatte, war hier zu einer vollkommenen Plage ausgewachsen. Jedes freie Stückchen rund um das ehemalige Dorf, das nun teilweise in Trümmern lag, war unter einer dicken, weißgrauen Schichte des Flaumes bedeckt. Er machte keinen Halt vor organischem Material noch anorganischem und was von Weitem noch wie Schnee aussah, entpuppte sich als haariges Meer von… was eigentlich?
      Tatsächlich hielt Devon für einen Moment an. Eine Mimik war schlecht von seinem Gesicht abzulesen, hatte er es noch immer halb unter dem Schal verborgen. Doch seine Augen waren ein wenig stärker geweitet als üblich, wenn man genau darauf achtete. Vor über zwanzig Jahren war der Jäger durch das Dorf bereits einmal gezogen und erinnerte sich gut an die Idylle, die hier geherrscht hatte, selbst als das Dorf noch enger an den See angesiedelt war als heute. Er erinnerte sich gut an die sauber gepflasterten Wege aus Bruchstein und die solide gebauten, kleinen Häuser für nur eine einzige Familie. Er erinnerte sich daran, wie man ihn hier nicht voller Vorurteil angesehen hatte und er es sogar gewagt hatte, seine schützenden Stoffschichten von Beginn an abzulegen. Die Menschen hier waren freundlich, genügsam. Und nun war nichts davon mehr übrig.
      Von den damals 650 Einwohnern war das Dorf auf beachtliche 800 angewachsen. 800 Bewohner, die vom Flaum wie verschluckt waren.
      „ᏰᏋᎥᎷ ᏬᏒᏰᏗᏬᎷ...“, murmelte Devon leise, dem erst jetzt etwas ganz anderes auffiel. Seitdem sie den Wald verlassen hatten, oder sogar schon ein Stück davor, war die Stille eingekehrt. Eine Stille, die man in Polarnächten erwarten würde oder in den tiefsten Grotten der Welt. Aber nicht an der Oberfläche, an einem See, umgeben von Wald. Irritiert horchte der Jäger ein weiteres Mal auf; und hörte nichts. Keine Vögel, keine Insekten, nicht einmal ein Knacken aus dem Gehölz war zu vernehmen. Als hätte der Ort sämtliche Geräusche außer den drei unfreiwilligen Besuchern ebenfalls vernichtet. „Hier ist nichts. Gar nichts. Kein Tier und kein Mensch.“
      Das konnte Devon immer sicherer sagen, je näher er dem Epizentrum kam. Mit augenscheinlich sicheren Schritten schob er sich an Tava vorbei, hinunter zu dem Dorf, wo keines mehr war. Sämtliche seiner Sinne waren hochgradig geschärft und so sehr er es auch versuchte; er nahm keine einzige Wärmesignatur von Lebewesen wahr.
      Stattdessen hielt er ein weiteres Mal inne, als sie sich den ersten ehemaligen Behausungen näherten. Den Kopf in den Nacken gelegt sah der Jäger zum Himmel auf und bemerkte die zahllosen kleinen Partikel, die träge durch die Luft schwebten. Alles, und damit war wirklich alles gemeint, war diesen Partikeln direkt ausgesetzt gewesen und dadurch befallen worden. Der Sinn dahinter erschloss sich Devon noch nicht ganz, doch die Erleuchtung brachte ihm seine weibliche Begleitung. Die Bewegung, die sich versetzt in seinem Blickfeld vollzog, packte ihn sofort mit ungeahnter Macht. Devon katapultierte sich regelrecht auf Tava zu noch bevor er realisiert hatte, dass sie lediglich gestürzt wäre. Seine Hand, ausladend und kräftig, schloss sich zur Gänze um ihren Arm und wich dabei den Hörnern aus, die sie mit einer Vorwärtsbewegung stoßartig bewegte. Es bedurfte nur einer kleinen Stabilisation, dann hatte die Cervidia ihr Gleichgewicht wiedergefunden und ein nüchterner Dank hinterher geschoben.
      Wesentlich interessanter war jedoch die behandschuhte Hand, die sich gerade noch seinem Blickfeld entziehen wollte. Devons rote Augen fixierten den Kultisten, der absichtlich und offensiv den Blickkontakt zum Jäger mied. Die ohnehin schon schmalen Pupillen waren noch schmäler geworden und unter dem Schal hatten sich seine Lippen bereits getrennt, um jede feinste Nuance schmecken zu können. Dass er dabei primär Staub und Moder auf der Zunge hatte, löste nur einen faden Beigeschmack aus. Also war auch dieser Mensch nicht unfehlbar und reagierte auf Dinge, die er nicht beeinflussen konnte. Er kannte Tava nicht sonderlich, und mochte sie vermutlich auch nicht unbedingt, aber dem Instinkt hatte er nicht nachgeben können. So tot und abgebrüht konnte dieser Mann im Inneren also gar nicht sein.
      Erst dann fiel Devons Aufmerksamkeit auf die Krähe, die von Tavas Füßen? Hufen? Zermatscht worden war. Einen Augenblick zögerte Devon, dann kniete er sich vor dem Überrest hin und beäugte den Körper. Sukzessiv setzten sich Flöckchen auf den frisch aufgeplatzten Stellen des Kadavers ab. Viel zu gezielt, als dass es einfach nur ein Zufall sein konnte. Wenn er sich den Vogel genau ansah, dann wirkte er schrumpelig. Irgendwie… alt.
      Devon sah sich um zum nächsten Haufen, der einmal ein Mensch gewesen sein musste. Mit großen Schritten ging er herüber, trat den Haufen ohne ein schmatzendes Geräusch um und enthüllte die Vorderseite des Mannes, der scheinbar auf sein Gesicht gestürzt sein musste. Das Gesicht war wie vertrocknet, die Züge eingefallen, die Augen nur trockene Klumpen. Vermutlich ereilten alle das Schicksal, wenn sie zu lange hierblieben. Ganz langsam richtete Devon seine Augen auf die Richtung des Sees.
      „Er bevölkert den See und zieht seine Kraft aus dem Element des Wassers. Aber wenn er einen ganzen See zur Verfügung hat, wieso befällt er seine Umgebung zusätzlich?“, teilte Devon ausnahmsweise seine Gedanken für seine Begleiter mit. „Je länger wir bleiben, umso gefährdeter sind wir. Ohne Schutzmaßnahmen sind wir dem Befall wie die Bewohner ausgeliefert. Ohne zu wissen, was genau für ein Drache das ist, sollten wir uns dem See nicht weiter nähern.“
      Das hier war mitnichten eine C-Klasse. Dieser Drache war ein Derivat eines Wasserdrachen, dessen war sich Devon mittlerweile sicher. Aber die Ausprägung war mehr als nur ungewöhnlich und darüber hinaus äußerst tückisch und tödlich und vereinnahmte ganze Landstriche.
      Unter dem Meer an Flaum entdeckte er weiter hinten in der Nähe einer Hausruine eine rundliche Form mit aufragenden Spitzen. Auch hier trat er den Körper um und enthüllte dieses Mal einen Schild mit Abwehrstacheln, ganz typisch für…
      „Es war schon ein Jägertrupp hier“, stellte Devon fest und schob mit seinen Stiefeln die unversehrte Kleidung des ehemaligen Jägers beiseite, um den Anhänger der Jägergilde freizulegen. Er selbst besaß auch eine, trug sie aber nicht zur Schau wie die anderen. Auf dem Emblem prangte ein bronzener Stern mit einer roten Banderole. Das hier war ein eingespielter Trupp mit Reputation gewesen. Wenn diese Gruppe den Kampf ausgelöst und dadurch das Dorf in Trümmer gebracht hatte, war vermutlich schon Zeit in die Lande gezogen. Viel schlimmer war allerdings, dass sich die Hinweise auf die wirkliche Klasse des Drachen häuften.
      Was auch immer dort im See sein Nest gebaut hatte, würde wahrscheinlich eine A-Klasse sein.
    • Die Entdeckung der Krähe schien Devon auf eine Spur gebracht zu haben. Aufmerksam kniete er sich nieder und begutachtete das Gewühl von Fleisch und Knochen, das gleichermaßen vom Schimmel wieder angegriffen wurde, bevor er sich aufrichtete und suchend umsah. Seine Gedanken teilte er nicht mit, das wäre wohl auch zu viel verlangt, als er zum nächsten Haufen schritt. Tava richtete ihren Blick mit einem Augenrollen auf Malleus, von dem sie erwartete, dass er ihr “natürlich weiht er uns nicht ein” verstand, aber da bemerkte sie, dass Malleus ungewöhnlich steif geworden war. Sein Blick wanderte immernoch über die Ruine, aber jetzt schien er starr und fokussiert, als hätte ihn etwas wachgerüttelt. Dabei war Tava fast schon überzeugt, dass sie ihn aus dem Augenwinkel zucken gesehen hatte, als sie ausgerutscht war. Wie das eine aber mit dem anderen zusammenhängen mochte, konnte sie sich jedoch nicht erklären.
      Devon machte derweil eine menschliche Leiche unter dem ganzen Belag aus, die für Tava kaum anders als ein Trümmerteil aussah, für den erprobten Jäger aber hervorstechen musste. Er drehte sie beinahe schon geräuschlos um und entblößte eine fast mumifizierte Leiche. Die Haut war noch vollständig intakt, die Augen vertrocknet, die Statur knochig. Nicht einmal die Maden hatten sie angefressen und den Körper aufgerissen, um sich an seinem Inneren zu bedienen. Es war, als hätte die Natur für diese Leichen andere Regeln aufgespannt.
      Tava gab ein interessiertes Geräusch von sich.
      Zu ihrer nicht minder Überraschung entschloss Devon sich da, seine beiden Begleiter doch in seine Gedanken einzuweihen, allerdings mit äußerst sparsamen Kontext. Wie kam er denn nun darauf, dass es ein Wasserdrache sein sollte? Schließlich hatten die Spuren doch auf dem Land angefangen - und überhaupt, was hatte Schimmel mit dem Wasser zu tun?
      Skeptisch verzog Tava das Gesicht, während der Lacerta sich bereits nach einer neuen Leiche umsah.
      Wie kommst du denn darauf, dass es ein Wasserdrache sein soll? Mir sieht das nicht sehr Wasser-typisch aus. Abgesehen davon ist er doch ganz eindeutig ans Land gekommen und zwar mindestens mal eine Stunde lang in diese Richtung.
      Devon mochte zwar ein Jäger sein, aber ganz eindeutig hatte er doch keinen Plan. Ein Wasserdrache? Sicher. Und Tava war eine Ziege.
      Die nächste Leiche kam dann aber überraschend: Ein Jägertrupp, das, was Devon auch zu sein behauptete, nur als ganze Gruppe. Hatte er auch mal eine Gruppe gehabt? Tava konnte sich kaum vorstellen, dass jemand freiwillig mit der Rieseneidechse zusammen jagen würde.
      Ihr Blick wanderte wieder zu den Fischerbooten und dem winzigen Hafen zurück. Jetzt mehr denn zuvor wollte sie zum Wasser gehen und herausfinden, ob er die Wahrheit sprach; alleine schon, um zu beweisen, dass er doch keine Ahnung hatte. Als sie aber schon ein paar Schritte darauf zumachte und unweigerlich bemerkte, wie sehr sich der Schimmel hier verstärkte, blieb sie doch wieder stehen. Da war ein Gefühl in ihrem Bauch, eine Art von Vorahnung, ein Kribbeln, als ob ihr Körper etwas wusste, von dem sie keine Ahnung hatte. Der See lag ruhig vor ihr, ungestört, friedlich, aber doch gab es dort etwas, das ihn nicht ganz so friedlich wirken ließ - eher wartend. Ausharrend. Eine Fleischfressende Pflanze, die ihre Blüte selbst dann noch offen hielt, wenn das Opfer hinein gekrabbelt war. Nur noch ein bisschen mehr ausharren, nur ein bisschen.
      Dann sah Tava eine Bewegung im Wasser und das Gefühl war gänzlich verschwunden.
      Was redest du von Wasserdrachen? Da sind doch noch Fische drin, lebendig und gesund! Erklär das mal, du Genie", rief sie und marschierte damit direkt auf das Ufer zu.
    • „Je größer die Gefahr und umso katastrophaler die Auswirkungen des Drachen sind, sprich wie hoch er eingestuft wird, desto weiter kann er sich von dem Grundelement entfernen, dem er entstammt. Adrastus verkörpert das Grundelement des Feuers und ist deswegen so hoch eingestuft, weil er besonders ausgeprägt und wanderfreudig ist. Der hier ist ein Derivat.“
      Mit einer behandschuhten Hand wischte Devon den dichten Flaum von den restlichen Kleidungsstücken des ehemaligen Jägers. Wider seine Erwartungen fand er keine ausladenden Risse oder Beschädigungen vor. Nichts, was auf einen direkten, körperlichen Angriff hätte schließen lassen. „Die Leichen hier sind alle verdorrt. Er entzieht ihnen das Wasser, also muss er auf eben jenes Element fußen.“
      Devons rote Augen richteten sich abermals auf den See. Bislang hatte es immer eine Art Zusammenhang zwischen der Ausprägung und der Umgebung der Drachen gegeben. Angesichts der Lage konnte es sich also nur um einen Wasser- oder Winddrachen handeln. Seinetwegen auch eines Naturdrachens, wenn man denn so wollte. Der See war geradezu prädestiniert dafür, ein solches Geschöpf hervorzubringen. Aber warum ausgerechnet in Lacuna? War es nur ein schlechter Zufall gewesen oder war etwas geschehen, was die Natur dazu gebracht hatte, einen Drachen auf die friedfertigen Menschen loszulassen?
      Gerade war der Jäger dabei, dem Leichnam sein Emblem abzunehmen (immerhin stand dort eine Kennung und die Mitteilung über den Tod des Jägers kam über die Gilde zu seiner Familie), da zuckte der Lacerta zusammen, als Tava plötzlich etwas ausrief. Kurz gedachte er es als einen Warnruf aufzufassen, doch nach zwei weiteren Sekunden realisierte er, das dem gar nicht so war. Stattdessen durfte er feststellen, dass die Ziege schnurstracks auf das Ufer des Sees zumarschierte.
      Hatte er das richtig gehört? Da waren Fische noch lebend im See?
      „Bleib da weg!“, fauchte Devon in einer Mischung aus Schreck und Warnung, wie dumm jemand sein konnte, einem offensichtlich versteckten Drachen direkt in den Schlund zu laufen. Schnell aufspringen konnte er nicht, denn wie Tava zuvor rutschte auch er auf Kadavern aus, die der Flaum effektiv unter seinem Weiß verschluckte. Eine Gänsehaut überkam Devon mit einer ungeahnten Macht. Der Ausruf gepaart mit dem straffen Schritt der Cervidia hatte die Aufmerksamkeit von dem Drachen im See auf sich gelenkt, und obwohl Devon ihn nicht sah, spürte er die Kreatur im dunklen Wasser. Er spürte, wie sich eine Macht bewegte, genau auf die Stelle des Ufers zu, wo Tava gerade noch hin marschierte. Vielleicht war der Drache wie ein Krokodil, ein Lauerjäger, der zuschnappte, wenn seine Beute zu nahe herankam. Aber wieso dann dieser Schimmel…. Wieso das alles…
      Die Oberfläche des Wassers war spiegelglatt und düster, nicht mehr so klar und hell wie noch vor zwanzig Jahren. Irgendetwas war mit dem See geschehen und hatte das kristallklare Wasser trübe und dunkel gefärbt. So sah man nur an einer einzigen Stelle, vielleicht zehn Meter vom Ufer entfernt, wie sich das Wasser leicht kräuselte. So als schwämme etwas nah an der Oberfläche umher und ließ dabei nur zwei Wasserringe entstehen. Noch immer war es totenstill und kein einziger Windzug tat sich.
      Devons Kopf schoss zu Malleus zurück, der noch immer wie festgefroren dort stand, wo er ihn zuletzt gesehen hatte. Sein Gesicht war bleich, für seine Verhältnisse, und offensichtlich hatte er irgendetwas noch immer nicht ganz verdaut. „Wenn er kommt, lauf!“, wies der Jäger den Kultisten barsch an. Er stand am Weitesten weg, dann würde er die Kunde weiterbringen müssen, sollten Devon und Tava es nicht mehr können.
      Dann stieß sich Devon vom Boden ab, rutschte und knackte über unsteten Bodenbelag, der alles Mögliche sein konnte, direkt auf die Cervidia zu. Sie durfte das Ufer nicht erreichen, unter gar keinen Umständen. So sprintete er mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit, die fast nicht mehr menschlich sein konnte, auf das Ziegenmädel zu, erwischte sie an der Schulter und riss sie hart von sich zurück. Zeitgleich verlor er die Haftung am Boden, als er auf einem anderen Kadaver ausrutschte und nach hinten auf den Rücken fiel. Tava landete halb auf seiner Brust, sein Arm war fest um ihren Oberkörper geschlungen. Eine Wolke aus Partikeln und Dunst stob auf, als Devon mit einem Grunzen aufschlug und sich sofort mit seinem freien Arm halb aufrichtete, um den Blick zum See nicht zu verlieren. Gerade rechtzeitig, wie sich herausstellte, denn aus dem spiegelglatten Wasser hatte sich eine Kontur erhoben. Wo sie begann und wo das Wasser aufhörte war nicht ganz klar zu sagen. Die Kreatur hatte nur den oberen Teil ihres Kopfes aus dem Wasser erhoben, sodass man seine stechend roten, geschlitzten Augen sehen konnte. Seine Umrisse schienen wie mit Algen verhangen und schleimig zu sein, scharfe Konturen besaß es nicht. Ebenso wenig wie ein sichtbares Maul, sondern nur zwei Nüstern, die das Wasser leicht in Bewegung versetzten. In vollkommener Stille starrten sich Drache und Jäger an, dann versank das Wesen spurlos im Wasser, als sei es nie dort gewesen.
      Keine Sekunde später schnappte Devon nach Luft, der sie ohne es zu bemerken angehalten hatte. Auch Tava tat es ihm gleich und fing dann an, sich in seinen Armen zu winden. Vermutlich, weil sie nicht wollte, dass er sie weiter festhielt. Anders konnte er sich nicht erklären, warum sie so rabiat an seinem Arm herum kratzte, wie….
      Devon hustete. Einmal. Zweimal. Ein drittes Mal. Nach dem vierten Mal konnte er den Funken Panik nicht mehr ganz ersticken. Die Luft war nicht mehr modrig und stickig, nein, es juckte in seiner Kehle, in seinem Hals, in seiner Brust. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde er kleine Tierchen einatmen, die sich in seinen Schleimhäuten einnisteten und den Juckreiz auslösten. Das musste es sein, was auch Tava hatte.
      Sie mussten hier weg.
      Devon gestikulierte zu Malleus mit einer Hand ein Zeichen. Eine Abfolge von Bewegungen und Fingerzeigen, die eigentlich für die Kommunikation zwischen Jägern gedacht waren, wenn sie sich nicht akustisch verständigen konnten. Das Zeichen für Rückzug, so schnell es ging.
      Mit einem seltsamen Laut zwischen Husten und Ächzen stand Devon auf und zog Tava gleichsam mit auf die Füße. Er sah sie kurz eindringlich an und nickte dann zu Malleus und weg aus dem Dorf. Sie brauchten Abstand von hier, so schnell es ging. „Weg hier“, setzte er noch hinzu, wobei er so sehr krächzte, dass man ihn kaum noch verstand. Dann lief er mit Tava am Arm gepackt los, weg von dem See und was auch immer darin lauerte.
    • Mit der üblichen Sorglosigkeit, die Malleus in diesem Augenblick als katastrophalen und lebensgefährlichen Leichtsinn empfand, stapfte Tava erhobenen Hauptes in Richtung des Ufers. Das Gewässer, dunkel und getrübt, besaß mehr Ähnlichkeit mit einem Tümpel, als mit einem lebensspendenden See, der zuvor ein ganzes Dorf ernährt hatte. Etwas Bedrohliches lag in der Luft, das Malleus nicht ausschließlich auf die eigenartigen Partikel in zurückführte. Ein tiefer Urinstinkt regte sich in seinem Verstand, zwang sich penetrant in den vordersten Winkel seiner Gedanken und ließ sich kaum ignorieren, wie ein lästiger Juckreiz. Jede Faser seines Körpers drängte ihn dazu die Beine in die Hand zu nehmen und schleunigst das Weite zu suchen. Seine Nackenhaare stellten sich auf und als der einen Blick über die Schulter warf, um Devon einen zweifelnden Blick zuzuwerfen, fand er nur eine verwaiste Stelle vor. Ruckartig drehte er den Kopf zur Seite, dass die Wirbel in seinem Hals knackten. Der Lacerta sprintete mit beeindruckender Geschwindigkeit über den von weißem Flaum verschleierten Untergrund und das erstaunlich behände dafür, dass er nicht sehen konnte, wohin er überhaupt trat. Wäre die eindringliche Warnung nicht gewesen, die Devon ihm über die Schulter zuwarf, hätte er durchaus einen Gedanken der stillen Bewunderung übrig gehabt. Der barsche Ton rief ihm allerdings den Ernst der Lage vor Augen und erinnerte ihn an die lauernde Gefahr im Wasser. Er sah zu wie Devon die Hand nach der leichtsinnigen Cervidia ausstreckte.
      Malleus entschied binnen weniger Sekunden sämtliche Warnungen in den Wind zu schlagen und setzte bereits einen Fuß nach vorn, als Devon den Halt verlor und Tava mit sich riss. Einige Meter von ihm entfernt verschwanden Jäger und Alchemistin in einer Dunstwolke.
      Etwas bewegte sich im See und Malleus erblickte nur den Bruchteil der Bestie, die sich zweifellos unter der dunklen Wasseroberfläche verbarg. Allein der Blick der roten Augen, die unheilvoll ans Ufer starrten, verspürte Malleus ein eisiges Prickeln unter der Haut. In seinen Ohren ertönte ein schrilles Klingeln, ein verzerrten Echo: Lauf!
      Wie angewurzelt blieb Malleus an Ort und Stelle, bis sich die aufgewirbelten Partikeln legten und der Kopf des Drachen wieder gänzlich ins in den See eintauchte. Er verengte die dunklen Augen zu Schlitzen und erkannte in der Entfernung die gestürzten Körper seiner Reisegefährten. Devon gestikulierte wild mit einer Hand. Es waren Zeichen, die Malleus nicht kannte, aber die Dringlichkeit dahinter war unmissverständlich: Weg hier. Mit zum Zerreißen gespannten Nerven beäugte Malleus, wie Devon und Tava auf die Beine kamen und mehr schlecht als recht in seine Richtung stolperten. Vielleicht war doch ein armseliger Funken von Menschlichkeit in ihm übrig, der ihn warten ließ. Ein verkümmerter Rest, der ihn dazu aufforderte einen tiefen Atemzug zu nehmen. Malleus stählte sich gegen das Unausweichliche, mit knirschenden Zähnen und angespannten Muskeln. Vielleicht, war es auch schlicht und ergreifend das Wissen, dass er ohne Devon und Tava in der verseuchten Wildnis ein leichte Beute für Raubtiere aller Art war. Drachen, Tiere und Menschen.
      Mit einem letzten Schritt gerieten die Flüchtenden ins Straucheln und wären beinahe ein zweites Mal zu Boden gegangen, wäre Malleus nicht gewesen. Wie ein Bollwerk aus Muskeln und Knochen stemmte der Kultist sich gegen die strauchelnden Leiber und fing den Sturz ab. Devon prallte gegen seinen ausgestreckten Arm, Tava gegen seine Brust. Er hörte und spürte das krampfartige Husten, dass sie schüttelte und ihnen die Luft raubte. Malleus selbst rang nach Atem, als es ihm schlagartig die Luft aus den Lungen presste und beinahe wäre ihm die Cervidia entglitten, ehe sich seine Hand fest um ihren anderen Oberam schloss. Er nickte Devon flüchtig zu, der angespannte Zug um seinen Mund vom Tuch verborgen. Um keine wertvolle Sekunde mehr zu verlieren, nahm er dem Jäger die keuchende Tava und damit eine Last ab. Zumindest das konnte er tun. Immer wieder warf er einen Blick über die Schulter zurück und vergewisserte sich, dass Devon weiterhin Schritt hielt während er Tava mit sich zerrte.
      Mit jedem Meter, den sie zwischen sich und dem See brachten, wurden die eiligen Schritte wieder sicherer und das Gewicht an seinem Arm weniger. Das Husten und Ächzen mutete weniger gequält an und als kein Fleckchen weißer Flaum mehr zusehen war, atmeten Tava und Devon gierig die saubere Luft ein. Malleus half der Cervidia sich auf einem umgestürzten, morschen Baumstamm zu setzen. Erst dann wagte er es, einen Blick zu allen Seiten zu werfen. Die spärlichen, kargen Bäume um sie herum waren frei von Befall und das Gras zu ihren Füßen mehr vertrocknet als saftig grün, aber ohne eine Spur von Schimmel. Oder Sporen. Malleus Gedanken rasten. Der Atem ging zu flach, zu schnell. Den Druck auf seinem Brustkorb linderte nur das bisschen Abstand, dass er sich erlaubte, um die Wasserflasche von seinem Gürtel zu ziehen, die er Tava reichte.
      "Hier, das hilft vielleicht...", murmelte er mit gepresster Stimme und zog seine Hand zurück, sobald ihre zittrigen Finger die Flasche umfasste.
      Er wandte sich Devon zu, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Cervidia nicht vom Baum kippte. Bedächtig und langsam streckte er eine Hand aus und stoppte einen Millimeter vor der Schulter des Jägers, der hustend und keuchend die Hände in die Knie stemmte. Dennoch schienen die Symptome nachzulassen, je länger sie sich in nicht befallenem Gebiet befanden. Dieses weiße Zeug war nicht einfach nur Schimmel...
      "Was war das?", fragte er mit geduldigem Ton, aber einem kaum merklichen Zittern in den Silben.
      Er zweifelte nicht daran, dass der Lacerta er mit seinem verdammten Gehör bemerkte.
      "Du hast es auch gesehen, oder? Es sah aus wieder Kopf eines Krokodils...", murmelte er dunkel. "Wie der Kopf eines gewaltigen Krokodils."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Weit genug, um ihre Hypothese zu beweisen, dass der See keinen Drachen beherbergen konnte, kam Tava gar nicht. Sie war bereits ein ganzes Stück nach vorne marschiert, weit genug, um sicherlich bald auf den holzigen Untergrund der Stege zu stoßen, als ein Geräusch sie herumfahren ließ - und sie geradewegs in das Antlitz ihres größten Albtraums blickte. Der riesenhafte Lacerta kam mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit heran gerauscht und streckte eine Pranke nach ihr aus, die mehr Klaue als wirklich Hand schien. Tava hatte ihn nicht gehört, dabei musste er schon eine gewisse Strecke zurückgelegt haben, bis er bei ihr angekommen war. Jetzt war aber direkt hinter ihr und ausweichen war unmöglich.
      Mit einem abgehackten Schrei riss es ihr den Boden unter den Füßen weg und sowohl Lacerta, als auch Cervidia fielen mit einem Schlittern nach hinten zu Boden, direkt dorthin, wo Tava vor einigen Minuten noch selbst gelandet wäre. Es mochte die Ironie des Schicksals sein, dass derselbe Mann, der sie vorher noch vor einem Fall bewahrt hatte, sie jetzt nach hinten riss, als wollte er mit ihr in das Meer des Schimmels abtauchen. Dieser stellte sich als überaus leicht und nachgiebig heraus, so wie er in die Luft stob, federleicht und damit mit dem kleinsten Windhauch bereits verweht. Nur gab es keinen Wind und so verblieb die Wolke an Ort und Stelle, blähte sich auf und verschluckte die beiden Störenfriede, die sie überhaupt erst hervorgerufen hatten.
      Das Zeug setzte sich auf ihren Haaren ab, auf ihren Kleidungen, auf ihren Häuten - vermutlich sogar auf Schuppen, winzige Partikel, manchmal zu einem größeren Flaum zusammengepresst, den man kaum spürte. Aber sie waren da. Auf ihren Lippen blieben sie liegen, in ihre Augen wirbelten sie hinein, durch die Nase drangen sie mit dem ersten Atemzug und in ihren Ohren setzten sie sich ab. Und das alles kaum fünf Sekunden, nachdem sie gefallen waren, als der ganze Dunst sich noch kaum gelegt hatte.
      Tava hustete absichtlich, um ihre Atemwege zu reinigen und das mikroskopische Zeug wegzupusten, doch als sie hinterher einatmete, musste sie richtig husten. Ihre Kehle juckte, ihre Nase fühlte sich an, als stünde sie vor einer Erkältung. Dabei war das keine Erkältung, es war sogar weit davon entfernt.
      Dev-!
      Sie strampelte gegen den Arm, der sie aus einem unerfindlichen Grund weiter an sich presste und sich so anfühlte, als würde er ihr auch noch die Luft abschnüren. Instinktiv riss sie den Kopf zurück und schlug ihre Hörner auf den Boden, verfehlte den Kopf des Lacertas um einige Zentimeter.
      Devon!
      Da ließ er sie endlich frei, zumindest, um sich mit einer erstaunlich flinken Bewegung selbst aufzurichten und gleich darauf Tava auf die Beine zu ziehen, die marginal länger brauchte. Der See lag noch immer ungestört vor ihnen, aber jetzt tanzten auf der Oberfläche leichte, feine Wellen. Tava starrte, hustete und ließ sich schließlich unfreiwillig von dem Jäger mitziehen.

      Das Zeug schien sie zu verfolgen. Wie eine Dunstwolke waberte es hinter ihnen her, befleckte ihre Haare und bepuderte ihre Schultern. An frische Luft war hier nicht zu denken, denn egal, wie schnell sie auch vom See fort taumelten, der Schimmel war noch immer da. Vielleicht wurde er ja von der aufgewirbelten Wolke angezogen, dachte Tava in einem wirren Gedanken, als sie einem weiteren Hustenanfall unterlag und auf dem weichen, von Leichen gesäumten Boden fast wieder ausgerutscht wäre. Ihre Hörner retteten sie diesmal vor gar nichts, es war eine menschliche Gestalt, die direkt vor ihr auftauchte und in die sie ungebremst hineinflog. Malleus hatte gewartet. Der Mann hätte längst weg sein sollen, aber er hatte gewartet.
      Ihre Augen juckten. Ihre Kehle brannte, jetzt nicht nur von dem Schimmel, sondern auch von einem Husten, der nicht aufhören wollte. Hatte man einmal angefangen, konnte man ihn nicht mehr stoppen, dann wurde das Kratzen nur noch mehr und man wollte nur noch mehr husten. Tava krallte sich daher in Malleus’ Schulter, stützte sich schwer auf ihn und hustete den Boden an, nur für einen Moment, nur ganz kurz husten, ohne sich Gedanken ums Stehen zu machen. Das war aber eine Falle, wie sie bald merkte, denn wenn sie einmal damit aufgehört hatte, sich um gewöhnliche Dinge wie aufrecht Stehen zu scheren, wollte sie nicht mehr damit anfangen. Der Husten forderte ihre Aufmerksamkeit so stark, dass es ihr unmöglich schien.
      Alleine hätte sie den Weg wohl nie gefunden, immerhin schien hier alles aus Schimmel, Schimmel und noch mehr Schimmel zu bestehen. Ihre Augen tränten bereits, gereizt von einem Fremdkörper, den Tava noch nicht einmal entschlüsseln konnte. Für viele, unendliche Meter konnte sie nichts weiter tun, als angestrengt den beflaumten Boden vor ihren Füßen anzustarren, damit sie zumindest nicht noch einmal auf gestorbenem Fleisch ausglitt, während Malleus sie am Arm weiterlotste. Dem starken Griff des Mannes alleine war es zu verdanken, dass sie weder fiel, noch dass die Sporen sie endgültig eroberten; nach einigen Minuten lichtete sich die Umgebung und der Husten ließ nach, frische Luft kitzelte in ihrer Nase und sie wurde das flaumige, widerliche Gefühl in ihrem Mund etwas los. Ein paar Meter weiter und sie hatten die unbenannte Hölle hinter sich gelassen. Keuchend, als wäre sie bis hierher gesprintet, ließ sie sich von Malleus auf einen Baumstamm treiben, wo sie zum ersten Mal richtig ausatmete.
      Ihr Kopf fühlte sich wattig an. Ihre Zunge war wie von einem Belag überzogen. Ihre Kehle, ihre Lunge, ihre Nase brannten. Über ihre Wangen liefen die, hoffentlich, reinigenden Tränen.
      Malleus bot ihr mit angestrengter Stimme seine Wasserflasche an, die Tava wortlos entgegennahm. Sie wollte die Flasche nicht mit was auch immer jetzt auf ihrer Haut lebte kontaminieren, aber sie schüttete sich zumindest einen Schwall Wasser über das Gesicht, um sich etwas davon zu befreien. Ohne Zweifel würde sie sich später, irgendwo anders, ausgiebig waschen müssen. Ihre Ohren würde sie reinigen müssen, ihre Nase, ihren Mund. Ihre Hände, ihr Gesicht. Ihren ganzen Körper, eigentlich.
      Sie gab die Flasche zurück und spuckte einige Male auf den Boden aus, um das widerliche Gefühl von Watte im Mund loszuwerden, da wurde sie sofort hellhörig, als nun auch Malleus von einem Drachen sprach. Oder etwas ähnlichem.
      Du hast ihn gesehen? Er war da?!
      Tava hatte rein gar nichts gesehen, nichts als heller Dunst und vielleicht ein paar Kringel auf dem Wasser. Jetzt waren sie aber schon zu weit weg vom See und ganz so bald wollte sie nicht wieder in die modrige Hölle zurückkehren.
      Wie sah er aus? Wie ein Krokodil?
      Und dann, nach einem Lichtblitz, der sie aufspringen ließ, auch wenn sie sich gleich darauf wieder setzte:
      Zeichne ihn auf! Du kannst das doch!
    • Es würde das erste Mal sein, dass sich Devon daran erinnerte, dankbar über Malleus‘ Hilfe gewesen zu sein. Während er die Flucht vor dem unbekannten Drachen antrat und darüber nicht einen Hauch Scham verspürte, schleppte er sich selbst und die Cervidia mehr als alles andere. Als das Gespann den Kultisten schließlich erreichte und er dem Jäger die junge Frau abnahm, fühlte Devon umgehend die Erleichterung, nur noch sich selbst auf den Beinen halten zu müssen. Sein Verstand überschlug sich derweil in dem Versuch, logische Rückschlüsse zu ziehen und nicht der Panik anheim zu fallen. In diesem Augenblick hinterfragte er nicht einmal, wieso Malleus gerade jetzt darüber hinwegsah, jemanden anzufassen. Er schusterte es einfach der Ausnahmesituation zu.
      Ihre Flucht gelang ohne Zwischenfall. Weder wurden sie verfolgt, noch anderweitig angegriffen. Zusammen stolperten sie aus der weißen Hölle zurück in den Wald bis Malleus Tava auf einem umgestürzten Baumstamm absetzte, nachdem sich sämtlicher weißer Flaum nicht mehr in Reichweite befand. Da war dem Jäger bereits aufgefallen, dass seine Theorie stimmte: Je weiter sie sich vom Epizentrum, dem See, entfernten, desto geringer wurde die Last. Der Einfluss verlor sich.
      Devon hatte angehalten und die Hände auf seine Oberschenkel gestemmt. Er stand vorn über gebeugt und begann hörbar weniger zu husten. Dennoch fixierte er den Boden, sein gesamter Körper schien gegen die plötzliche Gewalt zu rebellieren. Er wollte sich mit dem Arm über das Gesicht wischen, unterdrückte den Impuls jedoch vorzeitig. Er würde sich nur noch mehr von dem Zeug ins Gesicht reiben, wo er mit Sicherheit nichts mehr haben wollte. Also riss er sich den Schal vom Gesicht, der vom vielen Husten bereits feucht war, zog ihn rabiat vom Hals und warf ihn angesäuert auf den Boden.
      Dann drangen verständliche Worte an Devons Ohren, eine reine Wohltat nach dem ständigen Gehuste. Die sorgsam darauf bedacht gewählte Tonlage, die eigentlich Fassung widerspiegeln sollte, wankte, bebte minimal. Zu mehr als einem Nasenrümpfen führte er bei dem Lacerta allerdings nicht. Es war nichts Verwerfliches daran, dass der Schock noch tief in den Knochen des Menschen saß. Er selbst konnte sich nicht gänzlich davon freisagen.
      „Ich saß in seiner Sichtlinie. Natürlich hab ich den gesehen“, erwiderte Devon ruppig und räusperte sich aufgrund seiner angerauten Stimme. „Da war zu wenig Kopf um wirklich eine Form auszumachen. Da war nicht mal ein Maul.“
      Genau genommen hatte er sich nur auf diese grässlichen Augen konzentriert, die seinen so ähnlich waren. In der Vergangenheit waren ihm bereits zwei andere Drachen untergekommen, deren Seelenspiegel vergleichbar mit den seinen waren. Es überrumpelte ihn trotzdem jedes Mal aufs Neue.
      Dieses Bisschen an Konversation reichte aus, damit Tava ihre Lebensgeister wiederfand. Vielleicht war Wasser wirklich dermaßen schnell in der Linderung der Symptome, aber dass sie so schnell wieder auf die Füße sprang, zeugte von ordentlicher Vitalität. Für einen Augenblick betrachtete er die Cervidia, wie sie euphorisch Malleus angaffte, dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und ließ einmal den Kopf wandern. Er versuchte, sich auf seine Sinne zu konzentrieren, doch der Flaum hatte sie noch so sehr kontaminiert, dass er das Wasser der Zuläufe nicht orten konnte. Er klickte mit der Zunge, schätzte ein, von wo sie gekommen waren und stapfte los. „Wir müssen den Scheiß abwaschen“, fügte er noch dankbarerweise hinzu bevor er sich ohne zu warten auf den Weg machte.

      Tatsächlich fand Devon einen Bach innerhalb von 200 Metern Fußmarsch. Er hatte sich nicht umgedreht um zu sehen, ob der Rest seiner Gruppe ihm folgte. Schließlich konnte er das Knacken von Hölzern und das Rascheln von Blättern und Gebüsch auch so wunderbar hören. Glücklicherweise war der Bach ein Zu- und kein Ablauf, sonst hätten sie kein frisches Wasser gehabt, um Leiber und Kleider von den Sporen, oder was auch immer es war, zu befreien. Noch während der Lacerta auf den Bachlauf zumarschierte, zog er bereits sein Wams über den Kopf und ließ das sowieso zu eng sitzende Hemd folgen. Der Anblick seines breiten Rückens mit den ausgestellten Schulterblättern und den Schuppen war nichts neues, allerdings waren von den zahlreichen Wunden nur noch rosa Striemen übriggeblieben. Vor dem schlammigen Bauchlauf stoppte er kurz, schien nachzudenken, und entschied dann, sich mit Schuhwerk und Hose beinahe stupide in den Wasserlauf zu setzen. Wams und Hemd klemmte er unter Steinen fest bevor er sich mit seinen Händen Wasser über Kopf und Leib schaufelte. Der Bach war nicht tief und reichte ihm im Sitzen gerade mal bis zum Gesäß. Aber es erfüllte seinen Zweck.
      „Wir haben dem Drachen praktisch ins Gesicht gesehen, Tava. Keine Ahnung, wo du hingeguckt hast, aber er hat sich wie ein Krokodil oder ein Nilpferd nur so knapp aus der Wasseroberfläche erhoben. Er hat einfach nur gestarrt und das ist nicht unbedingt gut“, sagte Devon, langte nach seinem Hemd und wusch es im Wasser aus. Es war kalt, er fröstelte, und am liebsten hätte er sich hiernach direkt in ein loderndes Feuer gelegt. „Dass wir zwei plötzlich so stark reagiert haben ist passiert, nachdem er uns gesehen hat. Dieser Flaum wird nicht passiv von ihm produziert, sondern aktiv. Er kann ihn lenken. Das ist kein Schimmel, dafür geht das viel zu schnell.“
    • Sorgfältig klopfte Malleus den sonderbaren, weißlichen Flaum von seiner Lederjacke ab und breitete das Kleidungsstück über einem Felsen aus, der von der Sonne leicht erwärmt war. Überall dort, wo Tava sich in seine Seite gepresst hatte, bedeckte das Zeug das dunkle Leder. Selbst in seinen kohlrabenschwarzen Haaren hatte es sich festgesetzt und rieselte nun bei jeder Kopfbewegung aus seinen Haarspitzen.
      Er riskierte einen flüchtigen Blick zu der Cervidia, die mit Devon in Richtung Bachufer ging. Verwundert hatte er nur wenige Minuten zuvor beobachtet, wie Tava augenscheinlich voller Energie aufgesprungen war, nur um sich gleich wieder auf ihren Hintern zu setzen. Die Kraftreserven waren fast schon beneidenswert. Er hatte die aufgeregte Cervidia damit vertröstet ihr eine Zeichnung anzufertigen, sobald sie einen sicheren Ort für eine Rast erreicht hatten.
      Das Tuch hatte er längst vom Mund gezogen, weil er das Gefühl nicht loswurde, darunter zu ersticken, seit er Tava auf dem umgefallenen Baumstamm abgesetzt hatte. Malleus bildete sich nicht ein, dass die Atemnot von der eigenartigen Substanz stammte, die seinen Begleitern das Leben schwermachte. Es war auch nicht die mangelhafte Kondition, der sich Malleus peinlich berührt bewusst war, obwohl es schmerzhaft hinter den Rippen stach nach dem waghalsigen Sprint. Unter dem Deckmantel ließ sich die Wahrheit allerdings wunderbar verschleiern. Es passte zu dem Bild eines Mannes, der es sich in den Annehmlichkeiten einer großen Stadt wie Celestia ein wenig zu bequem gemacht hatte. Selbst die schroffe Antwort entlockte Malleus keine nennenswerte Regung, wenn er doch für gewöhnlich die Nase ein wenig darüber rümpfte. Dieses Mal hatte er nicht einmal eine entsprechende Erwiderung parat. Ein prüfender Blick glitt zu Devon, der sich missmutig umsah und sich offenbar zu orientieren versuchte. Wenn der Geruchssinn des Lacerta so feinfühlig war, wie Malleus vermutete, blieb ihm nur die Hoffnung, dass seine Sinne derartig durch den Übergriff des Drachen getrübt waren, dass er den beißenden Geruch ansteigender Panik nicht witterte. Der Jäger ahnte bereits, dass etwas nicht stimmte, während Tava über seine akribische Vermeidung von Kontakt wohl als verschrobene Marotte oder Arroganz abtat. Die Übersprunghandlung die Cervidia am Arm zu packen, kam ihm trotz der aufwallenden Emotionen vielleicht sogar zugute und zerstreute den Argwohn ein wenig.
      Niemand durfte es wissen.
      Malleus seufzte gedehnt und sah zum Bachlauf herüber, in den sich Devon unzeremoniell plumpsen ließ und Tava ihm zweifelohne wenige Sekunden später folgen würde. Er hatte sich in einer kleinen Entfernung zum Ufer auf einem weiteren Felsen niedergelassen. Stumm war er Devon und Tava als Schlusslicht gefolgt, als diese durch das Unterholz und vertrocknete Gestrüpp davon gestapft waren. Der Lacerta hatte sie zielsicher zu diesem fließenden Gewässer geführt und es juckte Malleus in den Fingern, die letzten Überbleibsel des Flaumes aus seinen Haaren zu spülen. Allgemein verspürte er den Drang sich den Staub und verkrusteten Schlamm von der juckenden Haut zu waschen. Wieder seufzte Malleus und zog ein Knie nah an die Brust, während er das anderen Bein scheinbar völlig entspannt ausstreckte. Er überließ seinen Begleitern den Vortritt und begnügte sich damit ein wachsames Auge auf die restliche Umgebung zu haben. Der Anschein eines gewissenhaften Mitreisenden, der um ihre Sicherheit besorgt war, hatte jedoch einen entscheidenden Makel.
      „Der Vergleich mit einem Krokodil ist eigentlich gar nicht abwegig“, erhob Malleus nach einer gefühlten Ewigkeit die Stimme. Sein Atem hatte sich beruhigt und die einzelnen Silben seiner Worte klangen ruhig und weich. Von dem gehetzten Ausdruck in seinen Augen war nichts mehr zu sehen. „Ich kenne das Jagdverhalten dieser Ungetüme aus meiner Heimat. Sie lebten in dort in den wenigen Wasserlöchern, die uns zum Überleben zur Verfügung standen. Die Grasebenen sind trocken und das Leben entbehrungsreich. Unser Drache ist ein Lauerjäger wie die Krokodile meiner Heimat. Er muss sich nicht aus seinem Habitat bemühen, seine Beute muss nur nah genug herankommen damit er zuschnappen kann.“
      Mit unverhohlener Neugierde glitt sein Blick über die Schuppen auf Devons Rücken. Im blassen Sonnenlicht der Berge schimmerten die veränderten Partien seines Rückens unverkennbar.
      „Sollte deine Vermutung sich bewahrheiten, Devon, muss der Drache nicht einmal das. Dieser Flaum macht die Arbeit für ihn. Ihr würdet ersticken bevor ihr einen Fuß zu nah ans Ufer setzen könnt.“
      Malleus streckte auch das zweite Bein aus. Sein Blick folgte den Wölbungen von Devons deformierten Schulterblätter, die sich unter der Haut hervorhoben. Er beobachtete das Zucken seiner Muskeln, während das eisige Wasser des Baches die Kälte in den Leib des Jägers trieb. Sollte er ein Feuer entzünden und riskieren, dass Tava ihm den Zündstein förmlich aus den Händen riss? Wann hatte er das letzte Mal selbst ein Feuer entfacht ohne jemand anderem eine Anweisung zu erteilen? Könnte er für die Bemühungen aus der Nähe einen Blick auf den Rücken des Jägers werfen? Er könnte sich die Farbe und Form der Schuppen ins Gedächtnis einprägen um den Anblick mit Kohle und Papier festzuhalten. Er könnte die exakte Farbe hinzufügen, sobald sie wieder einen Hauch von Zivilisations erreicht hatten. Vielleicht ein Haus der Signa Ignius? Würde Devon es ihm gestatten?
      Malleus schnaubte bei dem Gedanken.
      Sicherlich nicht, doch sein Blick verdunkelte sich.
      In einem Quartier der Gemeinschaft wäre Malleus in der Überzahl. Er müsste Devon nicht bitten.
      Und für Tavas spezielles, feuriges Talent hatte er sicherlich auch Verwendung. Sie könnte nach Herzenlust zündeln und fackeln, solange sie dabei seinen Anweisungen Folge leistete. Er würde ihre Ziele sorgfältig auswählen und ihre Gabe dort einsetzen, wo sie einen wichtigen Zweck erfüllte. Im Gegenzug würde Malleus dafür sorgen, dass ihr niemals Konsequenzen dafür drohten.
      Eine seiner Augenbrauen wanderte fragend in die Höhe, als er die blassrosa Linien bemerkte, die vor allzu kurzer Zeit noch blutige Wunden auf Devons Körper gewesen waren. Der Lacerta heilte beeindruckend schnell und Malleus glaubte nicht an Zufälle.Was ihn zum eigentlich Thema zurückbrachte und den manischen Gedankenfluss unterbrach. Dafür hatte er Celestia nicht verlassen, sondern für Spuren von Adrastus. Devon und Tava konnten ihn nicht zu der ehrwürdigen Bestien führen, wenn er ihnen Ketten umlegte.
      „Wie willst Du etwas jagen, an das Du nicht herankommst?“
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Die Reise ging zurück, bis sie in einiger Entfernung einen Bachlauf gefunden hatten, der sich als sauber erweisen sollte - so hoffte Tava zumindest, die äußerst skeptisch über die Sporen war und darüber, dass sie nicht auch unsichtbar weitergetragen werden konnten. Dafür wusste sie für ihren Geschmack viel zu wenig über ein Phänomen, das einen solch drastischen Einfluss auf sie und ihre Umwelt hatte. Wenn sie es mit höchster Seriosität angehen wollte, müsste sie einen halben Tagesmarsch zurücklegen, um die Region ganz sicher zu verlassen, müsste ihre Klamotten verbrennen und ihre gewaschene Haut mehrere Tage, wenn nicht Wochen beobachten, bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen könnte, mit was sie es zu tun hatte. Das müsste sie tun, wenn sie den wissenschaftlichen Grundsätzen Folge leisten wollte.
      Aber für sowas fehlte ihr die Geduld. Wer hatte schon Zeit dazu, eine unbestimmte Weile in der Natur zu verplempern, während ein Mysterium darauf wartete, entschlüsselt zu werden? Daher musste ein Kompromiss her und der sah so aus, dass Tava Devon in den stechend kalten Bach folgte, die Haare unter den Hörnern zusammenband und den Kopf ins Wasser tunkte. Der Bach war so kalt, dass ihr die Haut schmerzte; keine drei Sekunden später richtete sie sich wieder prustend auf, schüttelte sich und befand, dass das wohl schon genug Dekontaminierung war, um sie vor dem Tod zu bewahren. Sich schüttelnd kam sie wieder heraus und bemühte sich darum, sich schnell trocken zu bekommen, während Devon sich mitten in den Lauf gesetzt hatte, Wams und Hemd direkt neben ihm. Konnten Lacerta Kälte empfinden? Der hier auf jeden Fall, ganz offenbar, überhaupt nicht.
      Während die beiden sich in den Bach gestürzt hatten, hatte Malleus sich auf einem nahen Felsen positioniert und überschaute die Gegend. Bisher war er still gewesen, ein reiner Schatten, der sich an die Fersen der anderen beiden heftete, aber jetzt brachte er einen äußerst interessanten Einfall über die Krokodile seiner Heimat. Tiere, die auf ihre Beute warteten, anstatt sie zu jagen? Es kurbelte Tavas eigene Gedanken an, bis sie selbst ganz aufgeregt wurde.
      Er ist wirklich wie eine Venusfliegenfalle, ich habe es mir doch gedacht! Er wartet darauf, dass die Beute zu ihm kommt und hält sie mit seinem Schimmel fest - und verdaut sie? Aber eine Pflanze lockt ihre Beute mit Geruchssekreten an, damit sie überhaupt nahe genug kommt, um gefangen zu werden. Dieses… Zeug ist nicht gerade verlockend, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es das für Tiere ist. Verlässt er sich auf eine zufällige Begegnung? Das kann doch kaum genügen, oder?
      Ihre Frage galt Malleus, obwohl sie keine Antwort verlangte. Sie starrte ihn nur an und versuchte dabei im Kopf das Bild eines lauernden Krokodils und einer fleischfressenden Pflanze zu vereinen, damit dabei… was auch immer hier im See lebte herauskam. Aber irgendwie schien es nicht ganz zu passen, irgendetwas gefiel ihr daran nicht, um eine endgültige Aussage zu erstellen. Es war, als hätte der Drache einen Makel, dem sich die Evolution selbst nicht bewusst war.
      Warum kann er ihn lenken? Woher weiß er, auf was er ihn lenken soll? Auf alles, was einen Herzschlag hat? Aber dafür muss er ihn nicht lenken können. Es ist auch nicht so, dass er sich auf eine einzelne Beute festlegen muss, wie wir an dem Dorf gesehen haben. Vielleicht muss er ihn aktiv von sich selbst fernhalten? Vielleicht schädigt es ihn selbst? Aber wieso sollte er etwas beherrschen können, was ihm selbst schadet?
      Grübelnd klickte sie ein paar Mal auf ihrem Ring herum und ließ das dadurch entstehende Flämmchen flackern.
      Und am allerwichtigsten: Warum besitzt er ihn? Drachen haben doch normalerweise ein funktionierendes Maul mit spitzen Zähnen und mindestens zwei riesige Tatzen mit Klauen, das sind für Karnivoren typische Auswüchse. Sie brauchen keine Ausdünste, um ihre Beute heranzulocken oder zu verdauen, wenn sie dafür Reißzähne und Klauen haben. Soll das heißen, der hier hat keine? Ihr habt sein Maul nicht gesehen, nicht wahr?
      Sie sah sich dabei auch kurz nach Devon um, dessen knochiger Rücken den Verlauf seiner Schuppen wölben ließ. Wo sie schon einmal dabei war, warum besaß er überhaupt Schuppen? Was brachten sie ihm? Schuppen waren ja eigentlich ein Zeichen von…
      Nein, nicht ablenken lassen! Ein Drache nach dem anderen.
      In jedem Fall will ich die Gegend beobachten, sehen, was mit den Leichen geschieht, wo das Zeug sich alles absetzt. Bevor wir uns nicht ein Bild davon gemacht haben, mit was wir es zu tun haben könnten, können wir dem Vieh sowieso nichts anhaben.
    • Nach nur wenigen Minuten bemerkte Devon bereits, wie seine Bewegungen langsamer wurden und das kühle Nass seine Körpertemperatur empfindlich beeinflusste. Aber er konnte es nicht ändern und musste jedes Fitzelchen von diesem widerlichen Zeug loswerden, bevor sie noch weitere, unangenehme Eigenschaften feststellten.
      Sie würden ersticken noch bevor sie das Ufer des Sees erreichten? Irgendetwas an dieser Aussage störte Devon. Die Reihenfolge, in der die Geschehnisse abgelaufen waren, wirkten hektisch, aber der Hustenreiz kam erst, nachdem sie die Wolke ausgewirbelt und der Drache auf sie aufmerksam geworden war. Das glaubte er zumindest. Das Husten, was ihnen anheimgefallen war, schien jedoch kein Anzeichen für Ersticken gewesen zu sein. Dann wären sie nicht einmal mehr in der Lage gewesen, vom Ufer zu weichen. Außerdem hatte sich der Drache überaus passiv verhalten – auch das war ihm in seiner Laufbahn bisher nur zweimal untergekommen. Beide Drachen waren Sondervarianten mit ihren ganz eigenen Spezialitäten gewesen. Doch keiner von ihnen war minder gefährlich.
      Devon entstieg dem Bachlauf wesentlich später als Tava, die sich verhältnismäßig kurz nur übergewaschen hatte und tunlichst wieder aus der Kälte wich. Schwerfällig erhob sich der Jäger und stakste mit steifanmutenden Bewegungen zurück an Land, wo er seine Glieder schüttelte und sich das kurze Haar zurückstrich. Seine gespitzten Ohren stachen dadurch nur noch stärker hervor, doch vorerst müsste er damit klarkommen, dass die Umwelt ihn trocknete. Oder ein etwaiges Feuer, wenn man Tava darum bat. Jene Tava, die angeheizt durch Malleus ihre Gedanken nicht wie Devon in ihrem Kopf bearbeitete, sondern sie allesamt daran teilhaben ließ. Während sie wie ein Wasserfall plapperte, suchte er sich einen weiteren Findling und breitete seine gewaschene Kleidung darauf aus. Mit einem Schnauben stellte er fest, dass ein Feuer wirklich klüger wäre.
      „Kannst du mal die Luft anhalten und dich vielleicht etwas nützlich machen? Du bist doch so gut im Zündeln, dann fache ein Feuer an, damit wir unsere Sachen trocknen können“, fiel er Tava schließlich ins Wort, wobei er ihr nur einen flüchtigen Blick zukommen ließ. „Malleus hat da einen wichtigen Punkt schon erkannt. Ich komm an den Drachen nicht ohne Weiteres heran. Deshalb sitzt er im See; weil er sich somit Feinde vom Leib hält und nicht, weil ihn der Flaum auch angreift. Wahrscheinlich ist er weniger gut gepanzert und musste sich dadurch andere Taktikten überlegen, wie er sich ernährt.“
      Es gab allerdings einen gewaltigen Unterschied bei diesem Drachen im Vergleich zu allen anderen, denen er bislang über den Weg gelaufen war. Vieles hätte Devon dafür gegeben zu erfahren, wie lange der Drache schon im See saß und wie lange genau diese Angriffe her gewesen sein mochten. Ein Drache mit solch einer Fähigkeit und Einflussreichweite konnte doch unmöglich unbemerkt herangewachsen sein. Er hätte Spuren hinterlassen müssen oder irgendwo sein erstes Revier aufschlagen müssen. Wie um alles in der Welt hatte man dieses Ungetüm nicht bemerken können?
      „Wenn er wenig gepanzert ist, wird er auch mit wenig Waffen ausgestattet sein. Wenn er keine Klauen wie andere besitzt und auch keine Zähne, dann muss er sich auf andere Taktiken verlassen. Von Luft und Liebe wird er auch nicht leben können. Er sitzt in einem See, also wird er nicht nur Wasser basieren können. Stattdessen befällt er alles um sich herum, wie … „ Devon hielt inne und runzelte die Stirn. „Wie ein Parasit?“
      Was genau war Schimmel? Schimmel war ein Pilz, ein mikroskopisch kleines Lebewesen. Sie schlugen ihre Wurzeln im Medium und entzogen den Wirten Nährstoffe. Parasitäre Befälle machten das gleiche, sie entzogen dem Wirt Nährstoffe, töteten ihn dabei aber nie, denn das bedeutete ihren eigenen Untergang. Devon rümpfte die Nase und rieb sich anschließend die Nasenwurzel.
      Dann glitt sein Blick unauffällig zu Tava, danach jedoch auffälliger zu Malleus. Der Mann wirkte mittlerweile wieder deutlich gefasster und schien den Schock von vorhin verdaut zu haben. Beim zweiten Gedanken fiel dem Jäger allerdings auf, dass der scharfsinnige Mann doch garantiert eins und eins zusammengezählt haben musste bei den Wunden, die nurmehr rosa Linien auf Devons Rücken waren. Und trotzdem hatte er nichts angesprochen. Weil er seinen Fokus auf andere Dinge legte? War er abgelenkt?
      „Es bedarf weitergehender Vorbereitung, um sich dem Drachen da zu stellen. Das kostet Zeit und ihr habt eigentlich ein anderes primäres Ziel als ich. Ist also eure Entscheidung, ob ihr die Zeit aufbringen wollt oder die Reise in den Osten fortführen wollte. Ich habe in der Vergangenheit auch schon mal einen Drachen übersprungen, weil ich wusste, dass meine Fähigkeiten zu dem Zeitpunkt nicht ausreichten“, brachte er an. Sicher, er hasste es, wenn er seine Ziele übergehen musste, aber tot würde er sein Ziel nie erreichen. Deswegen konnte er sich allein den meisten Drachen stellen, weil er ganz genau wusste, wo seine Grenzen lagen und wann es klüger wäre, sich zurückzuziehen.
    • In der Vergangenheit war Malleus vielen großen Rednern begegnet. Eindrucksvolle Männer und Frauen, die allein mit ihren Worten ganze Säle füllten und deren Weisheiten und Predigten über Stadtgrenzen und Provinzen hinaus Gehör fanden. Historiker, Gelehrte, Alchimisten und Priester. Mit Hingabe philosophierten, diskutierten und referierten diese Menschen über die Dinge, die sie selbst Nachts nicht in den Schlaf ließen. Malleus hatte diesen Talent bereits als Jugendlicher bewundert. Erst das geschriebene Wort und später hatte er jede Silbe aufgesogen. Er hatte sich den die feinen, unterschiedlichen Nuancen im Klang der Stimmen eingeprägt. Energisch und unnachgiebig. Verstehend und mitfühlend. Höhen und Tiefen. Kälte und Wärme. Malleus hatte die Kunst der Mimik und Gestik studiert. Das freundliche Lächeln, ein zustimmendes Nicken oder die richtige Intensität eines Blickes um ein Gespräch zu seinen Gunsten zu kippen. Er hatte sie um den schnellen Verstand beneidet und um diese Hingabe, die sie empfanden während er selbst lediglich eine rasende, alles verzehrende Wut gespürt hatte. Das stärkste Gefühl, das er besaß und das ihn trotz alledem nirgendwo hin geführt hatte. Er hatte von den Großen gelernt.
      Aber kein Einziger von ihnen hatte mit derselben wissbegierigen Leidenschaft und Geschwindigkeit gesprochen, mit der Tava sich ihrem aktuellen Problem widmete. Es war beinahe beeindruckend, wie schnell ihre Zunge den sprunghaften Gedanken folgte ohne dabei zu stolpern. Die Cervidia besaß einen enormen Wissensdurst. Bedauerlicherweise in einem Übermaß, das keinen ihrer Begleiter zu Wort kommen ließ. Ein Umstand, der Malleus' Nerven für gewöhnlich strapazierte, hätte er die Denkanstöße in ihren Fragen nicht tatsächlich überaus interessant gefunden. Statt den überschwänglichen Redefluss zu stoppen, tat Malleus, was er am besten konnte. Der Mann richtete seinen Blick auf Tava, interessiert und aufmerksam. Zwischendurch nickte er, brummte zustimmend oder nachdenklich den Kopf zu Seite.
      Es war Devon, der Tava rüde unterbrach und damit einen Augenblick der Stille erzeugte, in der Cervidia und Lacerta sich mit Blicken taxierte. Malleus schnaubte und klang dabei ein wenig zu amüsiert über das Bild, das sich ihm bot. Fast galant glitt er von dem Felsen herunter zurück auf seine Füße. Ein letzter Rest der merkwürdigen, sporenartigen Substanz rieselte dabei aus seinen Haaren, die damit die aschgraue Farbe vollständig verloren.
      "Nachvollziehbar", antwortete er. "Wer weder Rüstung noch Waffen besitzt, verschanzt sich in vertrauter Umgebung. Er ist sicher, solange er den See nicht verlässt. Und wie wir bereits festgestellt haben, hat er keinen Grund diesen zu verlassen. Die einzige Möglichkeit an den Drachen heranzukommen, ist ihn aus seinem Habitat zu locken. Und aktuell haben wir weder einen Plan um ihn hervorzulocken noch die ausreichenden Mittel und Vorräte um diese Zwickmühle lange auszusitzen. Selbst für den Fall, dass Devon ihn aus dem Wasser locken kann, wissen wir nicht, was uns erwartet. Es ist gefährlich, leichtsinnig und dumm."
      Er sah zwischen den beiden anderen hin und her bis sein seine dunklen Augen bei Devon hängen blieb. Tatsächlich nahm sich Malleus die Freiheit aus der Nähe aber mit gebührendem Abstand einen Blick auf die verblassten Linien zu werfen, die den Torso des Lacerta zierten. Seine Augen hatten ihn durch die Entfernung wirklich nicht getäuscht. Er spürte, das Devon ihn ansah und hob vielsagend eine Augenbraue in die Höhe. Dabei blieb es. Er hatte das Gefühl, dass Devon nicht vor Begeisterung platzen würde, dass nächste Objekt der Begierde von Tavas schier unendlichem Fragenkatalog zu werden.
      Malleus schlenderte in Richtung Bachufer davon.
      Sorgfältig zupfte er an dem Leder, das seine Fingerspitzen bedeckte und zog die Handschuhe von seinen Fingern, stopfte sie in die Tasche bevor er sein Gesicht mit kühlem, sauberem Wasser benetzte. Es fühlte sich nicht danach an, als würden noch Überbleibsel des weißen Flaumes in seinem Gesicht kleben, aber zur Sicherheit nahm er das eiskalte Bachwasser in Kauf. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
      "Ein Parasit ernährt sich nicht ausschließlich von seinem Wirt", warf er ein. "Er benutzt ihn auch, um sich zu verbreiten. Die Kadaver und Leichen, die wir gesehen haben, sahen nicht aus, als wären sie weitgekommen. Die ersten Spuren haben wir an Tavas Fundstelle entdeckt. Also, wie vergrößert er sein Einflussgebiet? Wie schnell wächst er an bis der Befall nicht mehr kontrolliert werden kann? Verbreitet er sich über die Gewässer, die aus dem See gespeist werden, ohne, dass es überhaupt jemand bemerkt? Nutz er den Wind um sich in alle Himmelsrichtungen zu verstreuen? Das hier könnte sich zu einer Seuche ausbreiten und er muss sich ausbreiten, sobald er alles in Reichweite ausgehungert hat."
      Die Worte klangen kühl und sachlich aus seinem Mund. Es fand sich kein Hauch von Besorgnis darin. Falsches Mitgefühl hätte keiner seiner Begleiter ihm abgekauft. Es war kein Geheimnis, dass Malleus die Opfer der Drachen nicht betrauerte. Beiläufig er wischte die Hände an seiner Hose trocken und richtete sich ächzend auf. Der Schlaf auf dem felsigen, unebenen Boden war sein Rücken nicht mehr gewöhnt. Vielleicht konnte sie in der nächstgrößeren Stadt einen komfortableren Unterschlupf finden und sich unter den Bewohnern umhören. Gerüchte und Neuigkeiten sammelte man am besten dort, wo Getümmel herrschte.
      "Wenn wir weiterziehen, was wirst Du tun, Devon?"
      Die Frage war eher ob eine Schwierigkeit reichte und sich ihre Wege hier bereits wieder trennten.
      Malleus zog seine Handschuhe wieder an und richtete seinen Blick gen Osten.
      "Ich bin bin weder ein Kämpfer noch besonders gut darin mich in der Natur zurecht zu finden."
      Ehrlichkeit, dachte Malleus, ein Tröpfchen davon weckte Vertrauen.
      Er war kein Jäger wie Devon.
      Die Stärke besaß er nicht.
      Er war nicht kundig wie Tava.
      Sein Interesse für die Fauna war begrenzt.
      Aber er war nicht wehrlos.
      Nicht wenn er sich auf vertrautem Terrain befand.
      Ruhelose und brodelnde Städte, verwinkelte und dunkle Gassen, das Getuschel im Zwielicht...
      "Aber ich kenne mich in Städten aus. Es muss Aufzeichnungen über diese Gegend geben. Nicht über die aktuellen Ereignisse, aber Historien über diese Gebieten. Vielleicht sind Auffälligkeiten der letzten Jahre verzeichnet. Veränderungen, die zu früheren Zeitpunkten nicht ins Gewicht gefallen sind. Über alle Provinzen wird Buch geführt und ihr könntet euch umhören. Marktplätze, Tavernen, Gasthäuser, Spielunken. Irgendwo redet immer irgendjemand, der etwas wissen könnte."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Wenn es einen Moment gegeben hätte, an dem Devons sonst so schales Mundwerk endlich mal einen Sinn und Zweck erhalten hätte, dann wäre es dieser Moment gewesen, in dem alle von Tavas so sorgfältig konstruierten Fragen nur noch auf eine sinnvolle Antwort warteten. Aber nein, der Lacerta verschwendete seine kostbare Atemluft ja lieber damit, nach einem Feuer zu verlangen.
      Zu ihrem eigenen Missfallen tat sie ihm sogar den Gefallen und warf ein paar Steine zusammen, vermischt mit Laub und Gras, um es möglichst warm werden zu lassen. Wann hätte sie schon die Gelegenheit abgesprochen, ein Feuer hervorzurufen?
      "Achja? Dann werdet ihr zwei Genies mir sicher gleich auch noch verraten, wer diese sogenannten "Feinde" eines Drachen sind. Wir Menschen etwa mit unseren berüchtigt gefährlichen Klauen und mit den großen, scharfen Reißzähnen, mit denen wir selbst Schuppen durchschlagen können? Oder, oh - der Drache hatte sicher Angst vor meinen prächtigen Hörnern. Er dachte, wenn er herauskommt, werde ich die ihm in die Niere rammen und dann wird er an Organversagen sterben. Das wird's gewesen sein, bestimmt."
      Tava wusste selbst, dass sie nicht so höhnisch sein müsste, aber es ärgerte sie, wie schnell beide Männer über ihre ganz wichtigen und sehr schlauen Fragen einfach hinweggegangen waren. Ja, lasst nur die Feuer zündelnde Cervidia reden, bis ihr die Luft ausgegangen ist, und widmet euch dann den wirklich wichtigen Dingen. Schon klar. Tava konnte geheucheltes Interesse schon aus einem Kilometer Entfernung riechen.
      Sie presste grimmig die Lippen aufeinander und überlegte dann, Devons Klamotten einfach in die aufsteigenden Flammen zu werfen. Ein kleiner Ausrutscher, ups. Sobald er mal nicht hinsehen würde, würde sie es tun, davon war sie überzeugt. Aber anstatt sich anderen Dingen zu widmen, fuhr der Jäger lieber fort, seine eigenen Thesen aufzustellen. Dann hatte er sich also doch irgendwie an dem Gedanken aufgehangen, dass der Drache schlecht ausgestattet sein musste, wenn er sich auf seinen Flaum verließ.
      "So schnell geht das bei euch? Ihr nehmt einfach eine These hin und betrachtet sie als gegeben? Und wenn er nun doch Klauen und Schuppen hat und ein viel zu großes Maul und wir einfach nur irgendeine Sache übersehen? Wir sind hier alle keine Experten, selbst du nicht!"
      Anklagend deutete sie auf Devon.
      "So viele Drachen kannst du gar nicht erlegt haben, um eine allgemeine Tatsache festzustellen!"
      Eigentlich war ihr die Diskussion gar nicht mal wichtig, sie wollte nur, dass sie ernst genommen wurde - dass ihre eigenen Fragen ernst genommen wurden. Sie wollte nicht schon wieder als die verrückte Pyromanin abgestempelt werden, der man besser nichts anvertrauen sollte. Sie war eine Wissenschaftlerin! ... Wenn auch keine offizielle.
      Malleus war ihr dabei auch keine Hilfe. Der Mann war zum Bach herunter gegangen, hatte sich dann dort die nackten Hände gewaschen und den Gedankenfaden weiter aufgefasst. Jetzt ging es nicht einmal nur um einen wehrlosen Drachen, jetzt wurde außerdem noch mit Parasit um sich geworfen. Das müsste aber bedeuten, dass der Schimmel lebendig war und über ein gewisses Maß an Intelligenz verfügte - das müsste auch bedeuten, dass er irgendwoher entstammte. In jedem Fall müsste es irgendwo produziert werden, aber solange die Frage nach dem Warum nicht geklärt wäre, konnte man diesem Zeug auch keine Intelligenz zuschreiben.
      Natürlich war das ein völlig anderes Problem, aber Tava erwartete, dass man sich diesem Problem zuerst nähern würde.
      "Vielleicht ist es auch kein Parasit. Vielleicht sind es Sporen, die nur an Leichen gedeihen und der Drache frisst, was auch immer eines Tages davon entwächst. ... Ja, jetzt seid ihr euch nicht mehr so sicher, was es sein soll, nicht wahr? Deswegen sollte man auch nicht zu früh irgendwelche Schlussfolgerungen treffen."
      Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust. Dabei hatte Malleus nicht einmal unrecht mit seiner Sorge, dass das Zeug sich weiter ausbreiten könnte - und wie es sich weiter ausbreiten würde. Ja, das war wohl im Moment die einzige Sache, in der sich alle einig sein konnten. Nicht, dass das ihre Forschung in irgendeiner Weise voran bringen würde.
      Zu Tavas besonderem Ärgernis schien hier keiner sonderlich erpicht darauf, in der Nähe ein Lager aufzuschlagen und den Schimmel - Parasit, Sporen, war ja auch ganz egal - zu beobachten. Hier stand sie wieder alleine an der Front, denn Devon redete nur von "Vorbereitungen", die sicher darum rankten, wie der Flussdrache aussah und wie er ihn am effektivsten töten konnte, während Malleus wohl schon erschöpft von der Natur war und sich sicher nach einem weichen Bett sehnte. Es hätte die Cervidia auch gewundert, wenn der Mann nicht bei der ersten Gelegenheit zurück in sichere Stadtmauern wollte.
      "Wir ziehen das durch. Es ist ja wohl ausgeschlossen, dass wir den Drachen einfach hier sitzen lassen, oder? Ein bisschen Schimmel tut uns schon nichts, wenn wir auch wissen, was es genau ist. Aber fein, wenn ihr es so haben wollt, dann lasst uns doch in die nächste Stadt ziehen, um die Leute zu befragen. Vielleicht gibt's da Bücher... und sowas. Wir können gleich aufbrechen, ich habe nur da vorne noch was vergessen."
      Diesmal kämpfte sie nicht um die Durchsetzung ihrer Meinung, nein. Sie fügte sich, aber das würde sie nicht tun, ohne die kleine Probe von dem flaumigen Zeug, die sie heimlich einsackte, als sie sich weit genug von den anderen entfernt hatte. Sollten sie doch ruhig in den Gasthäusern ihre Pläuschchen abhalten und recherchieren, Tava würde das einzig richtige machen: Sie würde sich in ein funktionsfähiges Labor einschleichen und die Probe untersuchen. Davon mussten die anderen immerhin nichts wissen.
    • Geduldig hatte er den Hohn und die Spötteleien der aufgebrachten Cervidia ertragen, bis es selbst dem für gewöhnlich sehr, sehr, sehr geduldigen Malleus zu bunt wurde. Als Tava endlich einemal Luft holte, nachdem sie ihnen vorgeworfen hatte die Lage mit Scheuklappen zu betrachten, schnalzte Malleus missmutig mit der Zunge um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen.
      "Zumindest versuchen wir einen Gedanke bis zum Ende zu verfolgen, anstatt sich wie ein kopfloses Huhn auf alles zu stürzen, das annähernd wie ein Korn aussieht", antwortete Malleus reichlich trocken.
      Er sprach Tava ihr Talent und ihr Wissen nicht ab, aber die Frau musste wirklich, wirklich dringend lernen sich zu fokussieren.
      "Gemäß dem Fall ihr, wie hast du es ausgedrückt, 'zieht das durch'...Wie stellst du dir das vor, Tava? Du findest einen Weg die Kreatur aus dem See zu locken, und dann? Du weißt nicht wie der Drache aussieht, noch was dich erwartet, wenn er sich aus seinem Habitat bequemt. Und sollte er doch Zähne und Klauen besitzen, rennst du ihm geradewegs ins Maul? Ein Maul, das wir noch nicht einmal gesehen haben. Im Prinzip haben wir nichts gesehen. Gar nichts."
      Malleus näherte sich dem Feuer, dass Tava in der Zwischenzeit entfacht hatte und sah in die tanzenden Flammen. Feuer, dass ihn gleichzeitig faszinierte und mit Erinnerungen an unendliche Qualen gesegnet hatte. Die nachdenklichen Falten auf seiner Stirn gruben sich tiefer in die dunkle Haut, als bereitete ihm die Situation wahnsinnige Kopfschmerzen. Ganz abwegig war der Gedanke nicht. Die Sturheit der Cervidia verursachte ein rhythmisches Pochen ins einen Schläfen.
      "Du besitzt weder die notwendigen Ressourcen noch die Ausrüstung um es mit Glück zu versuchen. Es sei denn in deiner Tasche versteckt sich ein unendlicher Vorrat an Proviant, Arzneien, Instrumenten und genügend Nähfaden, falls einer von euch dabei einen Arm verliert."
      Er schnaubte.
      Devon saß unbewegt am Feuer. Der Lacerta machte keine Anstalten, der Cervidia ein weitres Mal den Kopf zurecht zu rücken. Im Grunde hatte er genauso wenig Sorge um das gesundheitliche Wohl seiner Begleiter wie Tava oder Malleus. Jedenfalls nicht, ohne darause einen Nutzen zu ziehen. Sie waren eine Zweckgemeinschaft, die gefährlich bröckelte und an der ersten Herausfoderung zu scheitern drohte. Malleus hatte bereits befürchtet, dass es Schwierigkeiten geben würde. Es war, als säße man auf einem Pulverfaß.
      "Wenn du unbedingt dieses...diese Sporen untersuchen willst, nimm deine Proben, verkork so viele Phiolen wie du willst und in der nächsten Stadt verschaffe ich dir Zugang zu einem gut ausgestatteten Alchemielabor."
      Sofern sie die richtige Stadt ansteuerte.
      "Ein Tag, Tava, um so viele Proben zusammeln, wie dein Herz begehrt und dann brechen wir auf. Ich spreche dir deine Fähigkeiten nicht ab, bei den großen Plagen, ich bin kein Alchemist."
      Malleus atmetete langsam und kontrolliert aus.
      "Sind wir ehrlich: Wir sind keine Freunde. Wir werden es nie sein, weil das Letzte, das jeder von uns sucht, sind Freunde."
      Langsam blickte er von Tava zu Devon und wieder zurück.
      Die dunklen Augen reflektierten die züngelnden Flammen des Lagerfeuers.
      Seine Stimme blieb sachlich, ruhig.
      Die ganze Zeit hatte er mit einer gleichmäßigen, nüchternen Tonlage gesprochen.
      "Aber wir können uns das Leben gegenseitig ein wenig einfacher machen"
      Malleus machte eine Pause.
      Wartete.
      "Um voneinander zu profitieren, müssen wir allerdings am Leben bleiben. Nicht wahr?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Beinahe hätte Devon ein bisschen mehr Mimik preisgegeben, als ihm lieb war. Beinahe hätte er offenbart, dass er sich ernsthaft darüber wunderte, dass Tava seiner spartanisch formulierten Bitte ohne weiteren Tumult nachkam und ein Feuer entfachte. Bevor er es nach außen trug, hatte er seine Gesichtszüge wieder straff an die Leine gelegt und sich brav in der nähe des provisorischen Scheiterhaufens gesetzt, weil er da diesen Ausdruck in den Augen der Cervidia gesehen hatte, der nichts Gutes versprach. Entweder, weil sie ihm die Augen ausbrennen oder seine Habe verbrennen wollte. Nichts davon stand auf Devons Plan, also setzte er sich einfach dazu und ließ den kleinen Feuerteufel machen.
      „Wenn ich diesen Drachen nicht kriege, dann suche ich mir den nächsten“, beantwortete er Malleus‘ Frage lapidar und bewegte dabei abwechselnd seine Schultern, kaum waren die ersten hungrigen Flämmchen dabei, den Zunder zu verschlingen. Er schenkte den anklagenden Fingern von Tava nur äußerste Aufmerksamkeit. „Woher willst du wissen, wie viele Drachen ich schon erlegt habe? Ich kann dir jedwede Zahl nennen und du würdest nicht einer von ihnen glauben. Es kann sein, dass er Klauen und Zähne hat. Genau aus diesem Grund gehen wir nicht ohne Plan an den See heran. Genau aus diesem Grund sind die Jäger am See gestorben. Weil sie nicht gewusst hatten, was auf sie lauert.“
      Eine sachliche Schilderung des Vorfalles, wie er wohl vonstattengegangen sein musste. Die Jäger hatten nur den Drachen gesehen und ihn vermutlich versucht, aus dem See zu locken. Was auch immer sie getrieben hatten, schien eine Zerstörung mit sich gezogen zu haben. Also besaß der Drache womöglich doch schlagfestes Arsenal, dessen Devon nicht weiter auf die Schliche kommen wollte. Vorerst jedenfalls.
      „Der soll fressen, was aus den Leichen wächst? Wie lange soll der Drache denn hungern?“, ging Devon spaßeshalber auf die Frage ein, wobei ein spöttisches Schmunzeln seinen rechten Mundwinkel verzog. „Du willst doch nur ein Stück seiner Haut oder irgendein anderes Körperteil.“
      Völlig die Ruhe breitete der Jäger seine Sachen vor dem Feuer aus, das mittlerweile ordentlich brannte und auch Devons kalte Glieder wieder die Wärme einhauchte. Zufriedenheit machte sich in seinem sonst so stoischen Gesicht breit und er breitete sogar die Hände vor den Flammen aus, damit seine klammen Finger schneller warm wurden. Auf Malleus‘ leichten Ausfall hin wurde das leichte Schmunzeln zu einem deutlich sichtbareren Grinsen. „Die Kleine denkt nicht so weit. Die denkt nur an ihre Proben, aber nicht, wie sie darankommen soll. Vielleicht sollte ich mal zurücktreten und ihr den Vortritt lassen.“
      Sie ist ja mit Sicherheit eine bessere Jägerin als ich.
      Aber das sagte Devon selbstverständlich nicht laut. Schließlich war Tava dem Drachen wortwörtlich direkt ins Maul gelaufen, wenn Devon sie nicht vorher gestoppt hätte. Angelockt von Fischen wäre sie selbst zum Futterfisch geworden. Allerdings schien die Geduld des Kultisten sich endgültig dem Ende zugeneigt zu haben. Derjenige in ihrer Gruppe, der den wenigsten Nutzen daraus zog, diesen Drachen zu erlegen, schien sich mit aller Macht an eine Diplomatie zu halten, die ihm irgendwie nützlich sein musste. Devon sah von den Flammen auf zu Malleus, der gerade seinen Blick von Tava zu ihm schwenkte. Bei seinen Worten hin verschwand das Grinsen aus Devons Gesicht vollständig und machte der Beobachtungsgabe des Jägers Platz. Dieser Mann zog einen Nutzen seinerseits aus diesem Zusammenschluss. Er besaß keine Waffen, er besaß nur Wissen, und die nötige schlagfertige Kraft stellte in seinen Augen der Jäger da. Aber welchen Nutzen hatte die Cervidia für ihn? Er suchte keine Freunde – das unterschrieb Devon ihm sofort. Niemand hier suchte aktiv Freunde, doch Devon sah Gefährten nicht als Freunde an. Seine Freunde starben in der Regel, und somit hatte er gar keine mehr.
      Da war das Feuer in Malleus‘ Augen gewesen, und das war nicht nur die Reflektion eben jenes gewesen.
      „Wir gehen nach Arbora. Keine Ahnung, ob es da ein Labor gibt, aber da weiß man immerhin, von wo wir kommen“, beschloss Devon und wrang sein Wams so gut es ging aus.






      Arbora war eine Kleinstadt, wie sie früher wohl im Bilderbuch gestanden haben musste. Sie lag gut zwei Tagesmärsche von Lacuna entfernt inmitten eines üppigen Waldgebietes, das an mehreren Stellen großflächig gerodet und mit Neubauten sowie Feldern bestellt worden waren. Als Devon das letzte Mal hier gewesen war, besaß die Stadt eher einen Siedlungscharakter mit großem Platz im Zentrum. Nun hatte sich die Siedlung ausgedehnt, besaß gepflasterte Wege und eine ordentlich gezogene, wenn auch kleine Stadtmauer. Die Häuser waren mit Efeu und anderen Pflanzen verwachsen und verdeutlichten noch immer die Verbundenheit zum Wald und zur Natur. Schon damals war Arbora für das Duft- und Räucherwerk aus den Dalmasbäumen bekannt, die nur hier wuchsen und wegen ihrer Nähe zu Wassergebieten und Tümpeln besonders beliebte Düfte beim Verbrennen entwickelten. Scheinbar hatte das der Stadt gutgetan, denn das Geld schien zu Florieren und die Kleinstadt stets weiterzuentwickeln. Die Gebäude waren wesentlich unspektakulärer errichtet worden und die Bevölkerungsdichte musste noch immer relativ klein ausfallen, verglichen zu den richtig großen Metropolen wie beispielsweise Celestia.
      Wie auch in Celestia zog sich Devon seinen Schal weit über das Gesicht. Arbora war großenteils von Menschen bevölkert, alles andersartige reiste nur durch. Die Bewohner waren nicht unbedingt feindselig, sie tratschten allerdings recht gern, wann immer sich ihnen eine Möglichkeit bot. Nachdem Devon aber etliche Jahrzehnte nicht mehr hier gewesen war, wusste er nicht, wie sehr sich der Kult hier eingenistet hatte oder es adäquate Labore zu finden gab. Was ihm dafür sehr wohl auffiel, war die Veränderung in den Straßen selbst. Es gab keinen dedizierten Marktplatz, weshalb die Leute noch in den Straßen vor den Häusern oder am Wegesrand ihre Karren aufgesetzt und ihre Waren feilgeboten hatten. Das war noch immer so, doch jetzt füllten alle möglichen Lebensmittel und Handelswaren das Sichtfeld. Das, weshalb die Stadt die Nähe zu Lacuna gesucht hatte, schien auf magische Art und Weise verschwunden zu sein.
      An einem Stand, wo eine mittelstämmige Frau kleingehacktes und gemahlenes Räucherwerk anbot, hielt Devon an. Er ließ seinen Blick über die Ware streifen ohne ersichtliche Kauflust, bis er dadurch die Aufmerksamkeit eben jener Dame hatte. Die Straßen waren sowieso überschaubar, da fiel der riesige Jäger sofort jedem ins Auge.
      „Habt Ihr noch nie echtes Dalmas-Räucherwerk so frisch gesehen?“, versuchte sie ihr Glück bei Devon, doch der nickte bedächtig mit dem Kopf.
      „Das beste Holz aus der besten Quelle. Ich war vor Jahren zuletzt hier und damals roch man das Holz gar nicht. Die Luft roch nur nach-„
      „Stinkendem Fisch, ich weiß!“, rief die Frau direkt aus und schien sich sichtlich darüber zu freuen, dass die maritimen Köstlichkeiten verschwunden waren. „Gut, nicht jeder davon stank, aber jeder dritte Wagen mit Fisch ist doch ein bisschen zu viel des Guten.“
      „Ist die Nachfrage gesunken in letzter Zeit?“
      „Was heißt letzter Zeit? Das ist nicht erst seit Kurzem so. Schon seit gut zwei Jahren bekommen wir kaum noch Fang aus Lacuna. Die Fische sind nicht mehr so groß und schön, außerdem haben sie immer weniger davon gefangen. Aber dass in den letzten drei Wochen nicht ein einziger Karren mehr aus Lacuna kam, war schon verdächtig. Man hat einen Jägertrupp dorthin geschickt, aber das ist auch schon wieder eine Woche her. Wer weiß? Vielleicht haben sie Gefallen an dem Örtchen gefunden?“
      „Die Sicht auf den See war wirklich eindrucksvoll und die Menschen sehr zugänglich. Wir machen vielleicht einen Stop dort. Danke“, sagte Devon und wandte sich von der Frau mit den Hölzern ab, um wieder zu Malleus und Tava zu stoßen.
      Der Drache war seit drei Wochen dort. Drei Wochen, in denen er aus einem schönen Dorf eine Geisterstadt gemacht hatte. Drei Wochen, in denen er das Gebiet um den See zu seinem Habitat gemacht hatte. Vor einer Woche erst waren die Jäger dort gefallen und sahen aus, als lägen sie dort mehrere Wochen. Die Probleme mit dem Fisch gingen dem ein Jahr voraus. Hatte sich der Drache ganz klein irgendwo hingelauert und auf seine Chance gewartet? Wie schnell wuchsen Drachen überhaupt? Es waren nur noch mehr Fragen als Antworten, aber diese würde er später definitiv mit Tava und Malleus teilen.
    • Tava begegnete Malleus' Kritik mit zusammengekniffenen Augen. Wenn es nur dabei geblieben wäre, hätte sie sich vermutlich gewehrt, sie hätte ihm gesagt, dass sie nicht dumm genug war, dem Drachen "geradewegs ins Maul zu rennen", dass sie aber auch nicht dumm genug war, seine offensichtliche Schwäche mit dem Wasser einfach ungenutzt zu lassen. Natürlich ging es nicht darum, ihre Meinung wirklich zu vertreten, denn Tava war sich bewusst, dass das hier nicht ihr Fachgebiet war, sie war weder eine Jägerin, noch hatte sie sich umfassender mit Drachen beschäftigt als sich ein bisschen über ihre Anatomie zu informieren. Devon war hier Experte, das konnte sie zu gewissem Maß auch anerkennen. Aber es ging darum, dass sie hier durchaus ein Mitspracherecht hatte und die beiden sie gefälligst ernst nehmen sollten.
      Aber nein, es blieb ja nicht nur bei Malleus, auch Devon schloss sich gleich damit an, ihre Aussage auseinander zu nehmen und sie niederzumachen. Sicher, sollten sie doch alle nur auf der kleinen, dummen Alchemistin rumhacken, die nichts besser zu wissen schien. Sicher. Tava war ja auch nichts anderes als eine fanatische Pyromanin, die ihre Launen nicht im Griff hatte und etwas zu viel Begeisterung an Unkraut und Dreck zeigte. Das war ja für sie nichts neues.
      Aus genau diesem Grund hatte sie vor Jahren schon damit aufgehört, mit anderen zu reisen. Jetzt kochte sie vor Wut und hätte am liebsten die ganze Gegend gesprengt mit den beiden Männern noch mittendrin, was sie aber fairerweise auch nicht weitergebracht hätte. Trotz allem wollte sie die Proben untersuchen und es war einfacher, sich von Malleus irgendwo unterbringen zu lassen, anstatt sich einzuschleichen und das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden. Devon könnte sie verbrennen, aber wenn Devon starb, würde Malleus womöglich das Interesse am Drachen verlieren und Tava alleine stehenlassen.
      Genau deswegen hatte sie aufgehört, mit anderen zu reisen.
      Anstatt ihrer Wut also freien Lauf zu lassen, ließ sie sie kochen und warf den beiden Beleidigungen an den Kopf, dass sie es selbst nicht besser wüssten und sie doch selbst zusehen sollten, wie sie den Schimmel untersuchen sollten. Trotzdem sammelte sie ihre Proben ein, stapfte zornig hinter ihnen her und wartete mit der größten Geduld, die sie aufbringen konnte, bis die Nacht eingebrochen war und sie sich von ihrem Lager wegschleichen konnte. Sie legte ein bisschen Schwarzpulver aus, ein bisschen Fischöl, platzierte kugelförmige Behältnisse und zog sich dann auf eine sichere Entfernung zurück. In dieser Nacht erschütterten ihre Explosionen die Erde, und das Feuer, das danach in den Nachthimmel leckte, war hell genug, um die Sterne zu vertreiben. Sie saß weit genug davon entfernt, um sich selbst nichts zu tun und stellte sich vor, dass ein Drache die Flammen leitete.
      Danach kehrte sie an ihr Lager zurück und schlief ruhig und einigermaßen befriedigt.

      Arbora war eine dieser Städte, die wie Samen aus der Erde gesprossen schienen und sich dann mit genug Sonnenlicht und Wasser weiter ausgedehnt hatten. Ähnlich wie Celestia hatte die Stadt sich ihrem Element angepasst, das hier die Erde war mit ihrem üppigen Gras, den kräftigen Bäumen und dem gesunden Pflanzenwuchs. Die Gegend musste von dem recht nahen See in Lacuna genug Wasser abbekommen, um die Felder fruchtbar und die Wälder lebendig zu halten, was sich letzten Endes auch in der Stadt selbst zeigte. Allzu groß war sie nicht, aber die überschaubaren Häuser, die hier gebaut waren, bestanden allesamt aus geschliffenem Stein und besaßen den Luxus von architektonischer Freiheit. Arbora mochte keine reiche Stadt sein, aber gab man diesem Fleck noch ein paar Jahrzehnte Zeit, würde er sich sicher weiter ausdehnen und schließlich auch den Reichtum anlocken.
      Einen eigenen Marktplatz gab es hier noch nicht, aber genug Händler, um die Straßen zu füllen. Hier war wohl die einzig gemeinsame Leidenschaft des Trios ersichtlich: Handelsware. Wie automatisch strebten sie alle die Verkaufsstraßen an und besahen sich die Waren - Tava auf der Suche nach nützlichen Zutaten, Malleus sicher auf der Suche nach kostbaren und bequemen Reisegewändern und Devon auf der Suche nach... Menschen. Er ließ sich gleich auf eine der Verkäuferinnen ein und langweilte sie mit Smalltalk. Tava hätten keine zehn Pferde dazu bringen können, diesem Plausch beizuwohnen.
      Er stieß später wieder zu den anderen dazu und die drei machten sich auf den Weg zum Zentrum, wo man wohl am meisten Gesellschaft erhoffen konnte. Hier trennten sich erstmal ihre Wege, denn Malleus würde sich jetzt erst mit Tava auf den Weg machen, um ein Labor ausfindig zu machen und es ihr dann auch noch zu unterstellen. Tava hatte keine Ahnung, wie er das anstellen wollte; sie hängte sich einfach stumm an seine Seite und verließ sich auf seine Führung. Er redete wieder mit Leuten, packte seine gruselige Kultisten-Nummer aus, aber siehe da - es gab ein Labor und Tava wurden drei Stunden darin gewährt. Besser hätte sie es niemals hinkriegen können. Sie bedankte sich nicht bei Malleus, verabschiedete sich aber ordentlich von ihm und verschwand dann in dem Raum unter der Erde, wo sie eine ganze Apparatur an Instrumenten erwartete.
      Begeistert machte sie sich ans Werk, nur um eine äußerst erschütternde, weltenbrechende Entdeckung zu machen: Ihre Phiolen waren leer. Ihre Proben, die sie beim See noch mitgenommen hatte, sie waren alle verschwunden. Verschwunden? Aber es war so, nicht ein weißes Staubkorn war von dem Zeug übrig geblieben. Tava konnte es kaum glauben.
      Eine halbe Stunde ihrer kostbar begrenzten Zeit verbrachte sie damit, ihren Rucksack auszuleeren und sämtliche Phiolen und Gefäße durchzugehen, in der Hoffnung, dass sie die Tage einfach nur irgendwas durcheinander gebracht hatte. Aber da war nichts, sie fand nichts, die Unordnung, die für Tava selbst Ordnung versprach, war nicht durcheinander gebracht worden. Also verbrachte sie weitere zehn Minuten damit, unbeweglich auf einem der Hocker zu sitzen und ins Leere zu starren.
      Sie hatte versagt, irgendwie. Irgendwas hatte sie falsch gemacht. Sie war sich sicher, die Gefäße luftdicht verschlossen zu haben, aber ganz anscheinend hatte sie es doch nicht getan. Jetzt waren die Proben verschwunden, sie konnte sie nicht untersuchen und Malleus und Devon hätten ein leichtes Spiel, sie dafür fertig zu machen. Immerhin war sie jetzt nutzlos, sie konnte nichts zu dieser Unternehmung beitragen. Sie hatte gedacht, dass sie es ihnen zeigen würde, dass sie ihnen klarmachen würde, was für eine Expertise sie an den Tisch brachte, aber das war wohl gelaufen. Malleus hatte recht, sie suchten nicht nach Freunden und das einzige, was Tava in dieser Gruppe behalten hätte, ihr Wissen und ihre Erfahrung in der Wissenschaft, konnte sie jetzt nicht beitragen. Sie hatte versagt.
      Nach diesen zehn Minuten war sie auf den Punkt gekommen, dass sie zumindest die verbliebenen zwei Stunden im Labor nutzen konnte und ein paar ordentliche Tränke brauen konnte, wenn die beiden Männer sie sowieso als nutzlos einstufen und zurücklassen würden. Dabei fiel ihr auf, dass nicht alles der Proben verschwunden war: Die Blätter, Äste und auch ein Fetzen Stoff, an dem der Flaum sich abgesetzt hatte, waren durchaus noch in ihren Gläsern. Wenn sie also schon nicht das Zeug direkt untersuchen konnte, könnte sie sich ja wenigstens noch das verbliebene Material anschauen.
    • Mit Bedacht bewegte sich Malleus durch die neugierigen und kauffreudigen Besucher der üppig gefüllten Marktgassen. Die kleinen, verzweigten Straßen besaßen einen eigentümlichen Charme, der Schaulustige geradezu verlockte einen Blick auf die ausgelegten Waren zu werfen. Die beschaulichen Marktkarren und kleinen Verkaufsstände reihten sich wie Perlen auf einer Schnur aneinander. Die Bürger von Arbora begrüßten Neuankömmlinge mit einer Herzlichkeit, die Celestia vermissen ließ. Die Anonymität einer Festungsstadt hatte an diesem malerischen Fleckchen noch keinen Einzug gehalten. Für Malleus' Geschmack war Arbora ein wenig zu beengt, aber immerhin handelte es sich nicht um ein bescheidenes Fischerdorf, in dem es kaum eine vernünftige Unterkunft zu finden gab. Wie lange die ungleichen Gefährten in Arbora verweilten würden, stand noch in den Sternen.
      Prüfend warf Malleus einen Blick über die Schulter.
      Tava schlich mit verdrießlicher Miene hinter den Männern her und machte keine Hehl um ihren Groll. Die Explosion in der Nacht hatte Malleus aus dem Schlaf gerissen und er hatte sich gedanklich die Notiz gemacht, ein wenig umsichtiger mit der Cervidia umzugehen. Rückblickend war es kein kluger Schachzug gewesen, die Frau gemeinsam mit Devon in die Ecke zu drängen. Vermutlich hatten sie wahnsinniges Glück gehabt, dass Tava in ihrem brennenden Zorn lieber ein Loch in die Landschaft gesprengt hatte als ihre Begleiter in die Luft zu jagen. Malleus hatte in den hellerleuchteten Nachthimmel aufgesehen und zu seinem großen Ärgernis das erste Mal wirklich begriffen, dass Tava durchaus gefährlich war. Die Cervidia war impulsiv und damit schwer berechenbar. Er hatte einen Fehler gemacht und die Frau unterschätzt.
      Malleus' Blick richtete sich wieder nach vorn, geradewegs zwischen die Schulterblätter des Lacerta. Dass Devon und er an einem Strang gezogen hatten, mochte ein glücklicher Zufall gewesen sein, aber Malleus würde sich darüber nicht beschweren. Dafür hatte er endlich wieder eine feste, ordentliche Straße unter den Füßen. Gegen die Idylle, die Arbora ausstrahlte, konnte er sich nicht gänzlich wehren. Gelegentlich erwischte er sich selbst dabei, wie sein Blick interessiert über die angebotenen Räucherwerke und Düfte wanderte. Die Wirkung solcher Essenzen weckte tatsächlich seine Neugierde. Räucherwerk konnte eine erstaunliche Wirkung entfalten, in der richtigen Komposition und Menge. Die Einsatzmöglichkeiten waren recht vielfältig, ob in geheimen Ritualen, zur Beruhigung oder gar einschläfernd und sich einen Vorteil im Verborgenen zu schaffen. Vielleicht fand sich in den nächsten Tagen die Zeit für ein Schwätzchen mit den Händlern. Eine gut bezahlte Lieferung in eine wohlhabende Stadt wie Celestia war ein kaum abzulehnendes Angebot.
      Zuerst galt es allerdings ein Versprechen zu halten und das würde sich hier in Arbora schwieriger gestalten, als Malleus gehofft hatte.
      Vor einiger Zeit hatte er noch Kontakt zu einem mittelklassigen Giftmischer, den Mann als Alchimist zu bezeichnen erschien ihm zu hoch gegriffen obwohl der Mann ein entsprechendes Siegel besaß. Nachdem er bemerkt hatte, dass der Mann ein erstklassiger Schwätzer war, hatte er seine Bemühungen in die Richtung eingestellt. Arbora war zu klein und zu handelsorientiert, um einen Unterschied in seinem Netzwerk zu machen, und die Bewohner offenherzig und tolerant. Etwas, das ihnen nun einen Vorteil bescherte. Hier würde sich ihnen keine Wache beim Anblick eines Lacerta in den Weg stellen. Hier, war jeder willkommen.
      Es kostete Malleus wertvolle Zeit den winzigen Laden des Alchemisten zu finden.
      Falk, ein gedrungener Mann mittleren Alters, der hinsichtlich seines Bauches ein wenig zu viel Zeit in der Schenke verbrachte und der Blässe in seinem Gesicht eindeutig zu wenig Sonne sah, ging hinter dem Verkaufstresen beinahe verloren. Überall standen bauchige Flaschen mit fragwürdigen Flüssigkeiten in allen Farben und Konsistenzen herum. Malleus ignorierte die Regale in denen Falk offenbar diverse Insekten in eine Flüssigkeit präpariert und in Flaschen verkorkt hatte. Von der Decke hingen getrocknete Kräuter, deren Duft das Atmen erschwerte, und dazwischen Skelette kleiner Säugetiere an dünnen Fäden. Alles an dem Geschäft wirkte bizarr. Was ihn allerdings interessierte, waren die Phiolen mit fast gänzlich schwarzer Flüssigkeit, die in einem Glasschrank weggeschlossen waren.
      Nach einer Begrüßung hatte sich Falk leicht überreden lassen, Tava in seiner Labor im Keller zu lassen. Die Cervidia würde ohnehin einen besseren Nutzen daraus ziehen, als der ansässige Alchemist. Ein Fünkchen geheucheltes Bedauern und Lobpreisung hatte Falk recht schnell überzeugt. Nach einem kurzen Gespräch hatte sich Malleus' Verdacht bestätigt: Falk fertigte kaum eine seiner Waren selbst an. Bei vielen der ausgestellten Mittelchen handelte es sich um zugekaufte Handelsware. Es war alles Augenwischerei und mit Täuschungen kannte Malleus sich aus.
      Der fehlende Dank von Tava rührte etwas. Das richtige Wort dafür fiel ihm erst später ein: Es kränkte ihn. Er sah zu, wie Tava im Keller verschwand und folgte widerwillig Falk in die hinteren Räumlichkeiten. Mit Gold oder Drohungen hatte er sich den Zugang nicht erschlichen, was Falk wollte, war seine kostbare Zeit. Also hörte er sich den restlichen Tag das Geschwafel des Alchemisten an.
      Als völlig nutzlos stellte sich der kauzige Alchemist am Ende doch nicht heraus. Falk mochte kein Talent für seine Zunft haben, besaß aber eine andere, brauchbare Eigenschaft. Er war sehr geschwätzig.

      Kurz vor Ablauf der gewährten Frist schaffte es Malleus sich aus den schmierigen Klauen des Alchemisten zu lösen. Unerwartete Kundschaft hatte den Laden betreten. Dem Gesichtsausdruck der Frau nach befand sie sich im falschen Laden, doch hatte Falk sie einmal entdeckt, gab es kein Entkommen mehr. Malleus nutzte die Gelegenheit um sich durch das Kabinett and Kuriositäten in den Keller davon zu schleichen. Einerseits, musste er Tava mitteilen, dass ihre Zeit im Labor ablief andererseits hatte den Mann doch ein wenig die Neugierde gepackt. Ob die Cervidia ihn an ihrem Wissen teilhaben ließ, war fraglich. Hatte er jemals Sympathiepunkte bei der wissbegierigen Frau besessen, hatte er diese am Abend zuvor gründlich verspielt. Die alten Holzstufen der Treppe knarzten nicht, als Malleus in das dämmrige Licht des Labors trat. In gebührendem Sicherheitsabstand blieb er im Türrahmen stehen, lehnte sich mit der Schulter dagegen und verschränkte die Arme vor der Brust. Für einen Augenblick, Tava hatte ihn noch nicht bemerkt, beobachtete er die Cervidia ungestört. Grübelnd und mit tiefen Furchen, die sich in ihre Stirn gruben, lehnte sie über ihren Fläschchen, Gläsern und allerlei anderem Kleinod. Der verdrießliche Zug um ihre Mundwinkel hatte sich noch stärker eingegraben.
      "Du siehst deine Proben an, als hätten sie dich persönlich beleidigt?"
      Die erhobene Stimme kündigte seine Anwesenheit an, denn bisher war der Mann mucksmäuschenstill gewesen. Er mäßigte seine Stimme bis er, seiner Meinung nach, einen gewissen Plauderton erreicht hatte.
      Erst als Tava aufsah und ihm nicht sofort eine der mit Flüssigkeit gefüllten Flaschen entgegenwarf, stieß sich Malleus vom Türrahmen ab und näherte sich bis er ihr gegenüber, den Tisch zwischen ihnen, stehen blieb. Zwischen seinen Fingern drehte er eine schlichte Phiole mit einer schwärzlichen Flüssigkeit hin und her.
      "Unser Freund war sehr gesprächig. Allerdings konnte er mir nicht wesentlich mehr erzählen, als alle anderen in Arbora. Die Handelsbeziehung mit Lacuna kam schleichend zum erliegen und was aus den Jägern geworden ist, die ausgeschickt wurden um der Ursache auf den Grund zu gehen, wissen wir."
      Malleus tippte mit den Fingernägeln gegen das Glas der Phiole.
      "Ein Gutes hatte der Besuch allerdings. Ich war reichlich verwundert, als ich bemerkte, dass dieser zweitklassige Giftmischer im Besitz von Alcidorum ist. Er kann es unmöglich selbst hergestellt haben. Es ist selten und überaus kostspielig. Eine kleine Phiole wie diese kostet ein Vermögen. Ein Geschenk, für meine Zeit. Großzügig, nicht wahr?"
      Er hob die Phiole auf Höhe seines Gesichts.
      Die Menge war ein Witz, kaum mehr als ein paar Tröpfchen.
      Die schwarze Flüssigkeit schien hinter dem dünnen Glas zu blubbern.
      "Ein überaus widerwärtiges Gift. Kein schöner Anblick, aber zuverlässig."
      Und zuverlässig, bedeutete tödlich.
      "Falk wird den Laden gleich schließen und dann müssen wir gehen. Konntest du etwas herausfinden?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Tava kam gar nicht erst dazu, noch einen Trank zu brauen. In den gut zwei Stunden, die ihr von der Zeit noch übrig blieben, unterzog sie die mitgebrachten Trägermaterialien einer ganzen Reihe an Untersuchungen, die sie sich fein säuberlich - sollte heißen in grausiger Handschrift und kreuz und quer - auf einem Stapel Blätter notierte. Sie unterteilte das wenige, das sie dabei hatte, in noch viel kleinere Stücke, um sie unterschiedlich zu behandeln. Bei den Blättern machte sie sich die Mühe, die feine Blatthaut in aufwendiger Kleinstarbeit vom Rest des Blattes zu schälen, um sie gesondert aufzubewahren. Bei den Ästen schabte sie ein Stück von hauchdünner Rinde ab, um das darunter liegende Holz freizulegen. Beim Stoff löste sie einzelne Fäden davon, bis das betroffene Stück sich ganz auflöste. Diese Kleinstarbeit alleine kostete sie schon 40 wertvolle Minuten von ihrer verbliebenen Zeit. Danach begann erst das Experimentieren, das sich auf 20 Minuten beschränkte, weil sie nicht unendlich viel von dem Versuchszeug zur Verfügung hatte. Jeweils eines der kleinen Teile steckte sie in Brand, grundsätzlich erstmal aus eigenem Interesse, aber auch, um es den Elementen auszusetzen. Eins steckte sie in Wasser, eins in Öl, eins in Säure. Mit einem Vergrößerungsglas, das groß und schwer war, aber dafür auch hundertfach vergrößern konnte, beobachtete sie die Reaktionen noch einmal im Kleinstformat. Ihre Entdeckungen schrieb sie sachlich auf ein Blatt, ihre Gedanken kritzelte sie unzusammenhängend auf das andere. Das war etwas, das sie von ihrem Lehrer ins Hirn geprügelt bekommen hatte.
      ("Es ist ganz egal, wie unwichtig deine Entdeckungen auch sein mögen, alles muss aufgeschrieben werden, jedes noch so kleine Detail. Ganz oben schreibst du die Uhrzeit, die benutzten Instrumente, die ungefähr herrschende Temperatur und den Ort, an dem du dich befindest. Dann machst du Spalten für das Material, für den Versuch, für die Reaktion und für das benutzte Instrument. Sobald du das Material auch nur anfasst, muss es in einer Zeile aufgeführt werden."
      "Das ist aber langweilig."
      "So ist die Alchemie nunmal gelegentlich. Eines Tages wirst du mir dafür noch danken."
      "Woher soll ich dann wissen, ob eins davon nützlich ist?"
      "Das machst du auf einem zweiten Blatt. Mach dir dort auch wieder Spalten, aber dieses mal führst du auf, welchen Zusammenhang es mit deiner Forschung haben könnte. Wenn du eine Zeile in deinem ersten Blatt beschriftest, musst du dieselbe Zeile auch auf dem anderen ausfüllen, sonst ist der Versuch unnötig.")
      Zugegeben, das war über die Jahre etwas, das sie ein wenig schleifen gelassen hatte, wenn man bedachte, dass sie keine Tabellen anlegte, sondern kreuz und quer schrieb, wo sie gerade Platz hatte. Aber das sollte nicht ihre Qualität beeinflussen.

      So verstrich die Zeit viel schneller, als sie geglaubt hatte, bis eine plötzliche Stimme am Türrahmen sie zusammenfahren ließ. In den letzten zwei Stunden hatte sie kein Wort gesprochen, nicht einmal mit sich selbst; es war totenstill gewesen, so sehr hatte sie sich auf diese Experimentreihe konzentriert. Jetzt stand Malleus unangekündigt in der Tür und erntete dafür ein paar prachtvoll präsentierte Hörner.
      "Wenn sie mir ihr Geheimnis vorenthalten, ist das eine persönliche Beleidigung. Es sind ein paar Blätter, wofür halten sie sich auch!"
      Es war ein Witz, nur nach Malleus' skeptischer Miene zu urteilen, fragte er sich eher, ob Tava das ernst meinte. Unzufrieden schnaubte sie.
      "War nur ein Witz."
      Da kam er endlich herein und hatte eine kleine Phiole zu präsentieren, die eine schwärzliche Flüssigkeit beinhaltete. Tavas Blick setzte sich auf den winzig, leicht blubberndem Inhalt fest, während sie bereits gedanklich abklapperte, was es sein konnte. Der Inhalt war zu 100 % flüssig, die Farbe ließ auf abgestorbene Wirkstoffe schließen, das Blubbern aber auf hochkonzentrierte Säure. Sie hatte nur eine Handvoll Mischungen im Kopf, die eine derartige Kombination auslösten, aber Malleus offenbarte es schon selbst: Alcidorum. Tavas Augen hellten sich sofort auf.
      "Dieser Dummkopf! So viel - geschenkt? Hau lieber ab, bevor er den Fehler noch merkt, so eine Gelegenheit kriegst du nie wieder." Neidisch betrachtete sie das Alcidorum selbst. Sie hatte nie genug ergaunern können, um ihre eigenen Experimente durchzuführen und es selbst herzustellen war purer Wahnsinn. Die Hauptzutat war das Gift einer Schlange im Norden, das sich allerdings nur in richtiger Weise entfaltete, wenn man es in ein sterbendes Froschlaich spritzte - woher sollte man bitte wissen, ob der winzige Punkt in einem Froschlaich sich noch entwickeln würde oder am Absterben war? Und dann war da auch noch die Bindung, die das Gemisch sich erst als zellenfressende Säure verhalten ließ. Allein dafür brauchte es eine Genauigkeit, die in den dreistelligen Bereich ging, weil sonst das empfindliche Eiklar zersetzt wurde. Ja, es gab durchaus einen Grund, weshalb Tava die Zeit nicht mit dem Versuch verbrachte, eigens eine Phiole davon herzustellen. Deswegen war sie jetzt aber umso neidischer darauf, dass Malleus eine bekommen hatte.
      "Ich bin nicht fertig, aber ich habe einen Anfang gemacht."
      Sie begann bereits, ihre Experimente vorsichtig einzupacken und alles wieder in ihren Rucksack zu stopfen.
      "Ich erkläre es euch. Aber zuerst musst du mir helfen und draußen eine alte Pflanze suchen gehen - eine alte, nicht vertrocknete! Da ist ein Unterschied."
      Sie schulterte ihre Sachen und marschierte dann zuversichtlich nach draußen.

      Eine Stunde später fanden sie sich in dem einzigen Gasthaus vor Ort wieder, an einem Tisch in der hintersten Ecke, weil Tava darauf bestanden hatte. Sie trug einen Blumentopf bei sich, in dem eine Ringelblume ihren Kopf hängen ließ und die Blüte geschlossen hielt. Es war zwar nicht perfekt, aber es würde ausreichen.
      "Seht euch das an, ich weiß, was der Flaum anrichtet. Zumindest grob."
      Sie packte ihre Sachen aus, die kleinen Gläschen, die winzigen Behälter, in denen sie die fummeligen kleinen Überreste ihrer Materialien aufbewahrte, die beschrifteten Papiere. Ein starkes Gefühl von Vorfreude ergriff sie dabei, die Früchte ihrer Arbeit präsentieren zu können. Natürlich würde sie auch irgendwie davon ablenken müssen, dass sie den Flaum selbst verloren hatte.
      "Hier, das hier - hier war überall das Zeug drauf - das ist die Innenseite des Blattes. Die Haut habe ich hier daneben. Das war einer der Bäume, die wir am Anfang gesehen hatten, die sahen alle noch gesund aus, nicht wahr? Genau. Das hier", sie tippte gegen den Blumentopf, "ist eine Ringelblume, die gerade am Verfallen ist. Sie blühen nur ein Jahr lang, deswegen ist es mit der wohl vorbei. Wenn ich jetzt..."
      Sie griff an ihren Gürtel, schnallte ihren Dolch ab und trennte eines der Blätter von der Pflanze ab. Sorgfältig durchschnitt sie es noch einmal in der Mitte, damit man den feinen, dünnen Inhalt sehen konnte.
      Strahlend präsentierte sie ihnen das Ergebnis, obwohl sie überhaupt kein Vergrößerungsglas hatten, um das Resultat ansehen zu können. Aber Tava, die das Zeug lange genug angestarrt hatte, konnte es gut erkennen.
      "Das ist abgestorbenes Gewebe, aber nicht von zu wenig Flüssigkeit. Ein Baum nimmt die Flüssigkeit durch seine Wurzeln auf und lässt sie auf seinen Blättern verdunsten, wenn nun aber etwas die Flüssigkeit aus dem Inneren des Blattes entnommen hätte, dann würde die Haut zuerst verwelken, weil sie sie zu schnell verliert. Diese Haut hier aber", sie präsentierte die abgeschälte Haut, "ist vollkommen gesund. Mehr noch, sie ist quasi unverändert. Nur das Innere wurde angegriffen. Und jetzt denkt mal darüber nach, dass ein Baum dieses Zeug ja nicht einatmet, sondern dass es auf den Blättern landet, außerhalb. - Aber das ist noch nicht alles."
      Sie griff nach dem obersten ihrer beschrifteten Papiere, runzelte die Stirn und drehte es auf den Kopf.
      "... Ah, hier. Es nimmt kein Wasser mehr auf, deswegen tot. Es bleibt unverändert bei Öl, deswegen nicht vertrocknet. Säure führt einen anderen Zustand her, da wird das Gewebe nämlich stattdessen zersetzt. Das Zeug hier ist in kürzester Zeit also einfach nur sehr, sehr alt geworden."
      Das erste Resultat war präsentiert, jetzt folgte ein Stück des Astes.
      "Hier dasselbe, das Holz ist ganz morsch, aber die Rinde ist gesund. Hier sieht man besser den Übergang. Außerdem sind die ganzen Sachen kalt - nicht eiskalt, aber kühl. An was erinnert euch das?"
      Sie stellte eine ernsthafte Frage, hatte aber nicht die Geduld, auf eine Antwort zu warten, die vielleicht gar nicht stimmte. Einen Versuch gab sie ihnen, dann klärte sie selbst auf.
      "Leichenkälte natürlich. Pflanzen sollten so etwas nicht haben, weil in ihnen kein Blut fließt, um sie warm zu halten. Wodurch entsteht eine solche Kälte also noch? Durch Luftentzug. Luft ist im Übrigen auch das einzige, das einem Körper entweichen kann, ohne seine Haut zu schädigen. Und Luft scheint für den Flaum ein gängiges Fortbewegungsmittel zu sein. Luft hat auch dafür gesorgt, dass es sich erst auf uns niederlassen konnte. Ich möchte wetten, dass sowas im Wasser nicht möglich wäre."
      Als letztes präsentierte sie den Stoff.
      "Das hier ist kein bisschen kalt oder verändert. Es würde mich gar nicht wundern, wenn schon nur eine Schicht Stoff das Zeug daran hindern könnte, an unsere Haut zu gelangen. Wie ein luftdichter Verschluss. Diese These kann ich aber nicht beweisen, weil mir, äh, der Flaum ausgegangen ist."
    • Devon hatte dem ungleichen Paar von Cervidia und Mensch nur einen Augenblick lang nachgesehen, dann war er weiter mit seiner augenscheinlichen Tour durch die Straßen beschäftigt. Dafür, dass in der direkten Nachbarschaft ein Drache aufgetaucht war, schien hier absolut niemand in Panik zu verfallen. Entweder, weil man es einfach nicht wusste oder weil man davon ausging, dass sich das Monster nicht bewegen würde. Devon schloss auf Ersteres, denn so töricht waren die Menschen nicht mehr. Angst regierte das Blut in ihren Adern, sofern sie nicht wehrhaft genug waren, um ihren Tod zu verzögern. Also bedeutete dies, dass der Drache nicht lange im See in Lacuna eingekehrt war. Er hatte also in kürzester Zeit sein Werk vollrichtet und, wenn er dieser Annahme einfach folgte, das innerhalb von nur drei Tage. 72 Stunden, die ihm reichten, um Menschen wie Mumien aussehen zu lassen.
      Das Bild bestätigte sich, egal an welchem Stand Devon nachfragte. Doch viel seltsamer war der Fakt, dass scheinbar niemand auch nur in die Nähe des Ortes gegangen war innerhalb der letzten drei Tage. Es herrschte doch Handel zwischen Arbora und Lacuna, wieso hat dann niemand etwas gemeldet?
      Devon stand mittlerweile bei einem Schneider und suchte sich passende Hemden in seiner Größe, als es ihm wie Schuppen von den Augen fiel. Es mochte durchaus sein, dass die Personen, die Lacuna ansteuerten, nur wenige waren. Aber jemand musste den Jägertrupp beauftragt haben. Jemand musste davon Wind bekommen haben, dass dort ein Drache war und dementsprechend die Jäger beauftragt. Die einzige sinnvolle Erklärung dafür war, dass der Auftraggeber selbst Profit aus dem Leichnam des Drachen schlagen wollte. Immerhin brachten die Überreste auch Unsummen ein, insbesondere je einzigartiger das Monster war. Jemand in dieser Stadt besaß genug Einfluss, genug Mittel und das nötige schnelle Netzwerk, um entsprechend zu reagieren und derjenige hatte höchstwahrscheinlich ein Reiseverbot für Lacuna ausgesprochen.
      Nachdenklich kramte Devon ein paar der wenigen Münzen aus seinem Lederbeutel hervor und bezahlte die Hemden. Er würde fast sein ganzes Geld für einen neuen Wams ausgeben müssen, sofern er hier überhaupt einen fähigen Lederarbeiter fand. Das bedeutete ein sehr abgespecktes Abendessen für den großgewachsenen Jäger.

      In der nicht besonders großen Stadt lief Devon schlussendlich Tava und Malleus wieder über den Weg. Die Cervidia trug einen Blumenkübel mit sich, weshalb er dem Kultisten einen fragenden Blick zuwarf. Doch der schien nur resigniert darüber zu sein, was in diesem Querulantenkopf so vor sich ging und gab sich ihrer Anweisung geschlagen, die nächste Taverne und dort den hintersten Tisch aufzusuchen.
      „Seht euch das an, ich weiß, was der Flaum anrichtet. Zumindest grob.“
      Devon ließ sich zurückfallen und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann sahen Malleus und er schweigsam dabei zu, wie Tava ihre Erklärung startete. Was auch immer Tava in den zerschnippelten Überresten sah; Devon sah es nicht. Gut, er lehnte sich nun auch nicht über den Tisch, um es genauer zu inspizieren, allerdings lauschte er dafür Tavas Ausführungen mit sichtbarem Interesse. Bei jeder weiteren Ausführung, die sie hinzufügte, wurden Devons Augen größer. Mehr sah man jedoch auch nicht, da er noch immer den Schal vor sein Gesicht gezogen hatte. All die Teile waren von innen heraus vergangen? Was für eine Fähigkeit hatte das Monster, um Organismen von INNEN heraus zu töten? Pflanzen und Bäumen konnten die Sporen nicht einatmen, also war der Faktor nicht zwangsläufig die Luft. Aber das war ein Beweis dafür, dass es ausreichte, wenn sich der Flaum auf dem Opfer im direkten Kontakt absetzte, um eine Wirkung zu entfalten.
      Sie mussten sich einfach nur bis zur Unkenntlichkeit verdecken und die Atemluft sauber halten.
      „Vielleicht ist sein Grundelement gar nicht das Wasser, sondern die Luft?“, mutmaßte Devon schließlich, als er doch seine Haltung aufgab und die Ellbogen auf dem kleinen Tisch aufsetzte und sich näher an die Exponate wagte. „Warte, was heißt, dir ist der Flaum ausgegangen? Du hattest diverse Proben.“
      Mit sichtlicher Scham erklärte Tava, dass ihr tatsächlich sämtliche Proben einfach abhandengekommen waren. In Luft aufgelöst, wie man so schön sagte. Ein Schnauben entwich Devon, doch anklagende Worte blieben aus.
      „Wir wissen also immer noch nicht, was der Flaum ist. Aber hierdurch“, er deutete auf die Probe mit den Stofffasern, „wissen wir, wie wir uns schützen und wie es wirkt. Solange der Flaum sich nicht auf der Haut absetzt oder wir ihn einatmen, kann er uns nichts anhaben. Das ist definitiv wertvolles Wissen.“
      Damit hatten sie eine Verteidigungsstrategie gegen den Flaum. Dann bestand nun noch die Frage, wie sie den Drachen aus dem See bekamen. Und natürlich, gegen was sie dann gestellt waren. Es wäre ein blindes Unterfangen, solange sie den Drachen nicht einmal wirklich gesehen hatten. Devon schätzte ihn nicht ein, dass er ihnen nachstellen würde. Also wäre eine Flucht immer noch denkbar. Und wenn sie recht hatten, dass er kaum gepanzert und wehrhaft war, dann hätte Devon womöglich die Oberhand. Dreh- und Angelpunkt war folglich der See.
      „Trockenlegen des Sees wird vermutlich nicht funktionieren, also müssen wir das Habitat anders unbewohnbar machen. Ich schätze nicht, dass der Drache uns verfolgt, also dürfte eine Flucht im schlimmsten Falle nicht ausgeschlossen sein. Und solange er nicht auch nicht Gift spuckt oder sowas komme ich schon an den ran“, sagte Devon und ließ seinen Blick über seine beiden Gefährten schweifen.
    • Malleus beäugte die welke Ringelblume, die traurig ihre Köpfe hängen ließ, und konnte immer noch nicht begreifen, dass er die letzte Stunde damit verbracht hatte kreuz und quer durch Arbora zu laufen, um diese deprimierende Topfpflanze zu finden. Tava war in ihrer sehr penibel in der Auswahl der Blume gewesen bis Malleus beinahe die Geduld verloren hätte. Die Cervidia besaß das herausragende Talent seine Nerven auf eine Art zu strapazieren, die er nicht für möglich gehalten hätte. Um die Wogen weiterhin zu glätten, fügte sich der Mann, der es gewöhnt war, dass die Leute das taten, was er ihnen auftrug. Tava ließ ihn wie einen Laufburschen eine Blume nach der anderen anschleppen, bis sie endlich zufrieden gewesen war. Da die Neugierde allerdings größer als das Missfallen war, durchstreifte er ohne Widerworte an Tavas Seite die Straßen von Arbora. Die Ringelblume hatten er flink von einer Fensterbank stibitzt. Malleus bezweifelte, dass der Eigentümer sehr traurig über den Verlust des kümmerlichen Pflänzchen sein würde. Er hätte sicherlich einer der netten Blumenhändlerin eine Blume aus den Restbeständen abschwatzen können, aber für heute reichte es selbst dem redseligen Malleus, sich weiteren, geistlosen Gesprächen zu widmen. Falk hatte seine dürftige Gutmütigkeit bereits vollständig für sich beansprucht.
      Von den wippenden Blütenköpfen der Ringelblume huschte sein Blick zu Tava, deren Miene sich mit jedem Schritt ein wenig mehr aufhellte. Offensichtlich konnte sie es kaum erwarten, den Männern endlich ihre Ergebnisse zu präsentieren. Als Devon zu ihnen Aufschloss, erwiderte er den fragenden Blick mit einem Achselzucken und Augenrollen. Er hatte keine konkrete Vorstellung, was Tava mit der Ringelblume vorhatte.
      In der Taverne ließ es sich Malleus nicht nehmen ein paar Kleinigkeiten für seine Reisegefährten und sich zu bestellen. Sauberes Wasser aus zuverlässiger Quelle, ein wenig verdünnten Wein - Malleus schätzte den Geschmack, verabscheute aber die vernebelnde Wirkung von zu starkem Alkohol nicht -, etwas Brot, das in gewürztes Öl getunkt wurde, wanderte an ihren Tisch bis sie sich entschieden hatten, ob sie auch für den Rest des Abends hier verweilen und speisen würden.
      Malleus nahm sich den Krug mit Wasser und füllte wie selbstverständlich alle ihre Becher damit. Er selbst nahm noch etwas von dem verdünnten Wein dazu, kräftig nicht zu süß, und nahm einen bedächtigen Schluck. Während Tavas Ausführungen stellte er den Becher ab und lehnte sich ein wenig nach vorn, um einen besseren Blick auf ihre Proben zu erhaschen. Im Labor hatte er keinen Blick mehr darauf werfen können. Er fragte sich was vorgefallen war, dass Tava kein Siegel bekommen hatte. An Intelligenz und Forscherdrang mangelte es der jungen Frau nicht. Ob ihre Obsession mit Feuer und ihr Talent für Explosionen dabei eine Rolle spielte, lag für Malleus eigentlich nahe. Selbst ein Mann ohne alchemistisches Wissen oder einer fundierten Ausbildung konnte ihren Erläuterungen folgen.
      Interessiert schoss eine seiner Augenbrauen in die Höhe, als sie den Stofffetzen präsentierte. Die Erkenntnis war keine Kleinigkeit, da pflichtete er Devon bei. Dennoch blieb ein Problem, das der Lacerta ohne Umschweife ansprach.
      Langsam lehnte sich Malleus zurück und ließ eine Hand in der Innentasche seiner Jacke verschwinden, die er selbst im angenehm warmen Gastraum nicht ablegte. Zum Vorschein kam eine kleine, hölzerne Schatulle, die er mit einem sanften Klicken auf dem Tisch ablegte.
      "Devon hat in mehreren Punkten durchaus Recht. Den See auszutrocknen, kostet sehr viel Zeit."
      Scheinbar nachdenklich drehte er die Schatulle immer wieder um die eigene Achse.
      "Wir müssen den Drachen dazu bringen, seine Zuflucht freiwillig zu verlassen...und Gift ist ein hervorragendes Stichwort."
      Malleus ignorierte, dass er wieder völlig von allein ins gemeinschaftliche Wir abgedriftet war und sich damit Devon und Tava anpasste. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten, sahen sie sich erstaunlicherweise immer noch als feste Gruppe an. Zugehörigkeit war ein befremdliches Wort für Malleus, weshalb er es weit fort verbannte. Er agierte aus der Distanz, den der Respekt, den die Menschen ihm entgegen brachten, möglich machte.
      Vorsichtig öffnete er den Deckel der Schatulle und präsentierte Devon und Tava den Inhalt. Die Cervidia hatte die schlanke Phiole bereits im Labor gesehen. Das Alcidorum blubberte recht unscheinbar hinter Glas vor sich hin. Malleus war nicht lebensmüde genug um die ätzende Substanz ohne zusätzlichen Schutz direkt am Körper zu tragen. Nun sah er Devon an und senkte seine Stimme. Nicht jedes neugierige Ohr musste ihrer Unterhaltung lauschen.
      "Das Alcidorum. Ein sehr zuverlässiges, alkalisches Gift. Eigentlich ähnelt es in seinen Eigenschaften mehr einer Säure, deren Wirkung zeitverzögert einsetzt. Es ist sehr selten und sehr schwierig herzustellen. Richtig, Tava?"
      Sein Blick huschte kurz zu der Frau zu seiner Linken.
      "Wir benötigen eine Substanz in ausreichender Menge, die potent genug wäre um das Wasser eines ganzen Sees zu verunreinigen. Wenn ihr euch einmal einem stinkenden, stehenden Tümpel genähert habt, in dem Fischkadaver an der Wasseroberfläche schwimmen, wisst ihr wovon ich spreche. Wenn das Gleichgewicht im See kippt, verliert er die Grundlage, die ihn schützt. Tava, könntest du eine solche Substanz herstellen, die ähnlich alkalisch ist, wie das Alcidorum? Vielleicht findet sich in Arbora auch eine Alternative. Unrat, Abfälle, alte Tierkadaver...Alles eignet sich dazu ein Gewässer vollständig unbewohnbar zu machen. Mit der notwenigen Zeit..."
      Nachdenklich tippte sich Malleus ans Kinn.
      "Obwohl wir selbst in dem Fall um Unterstützung kaum herumkommen. Wir müssten die Zuflüsse zum See blockieren, um die Bewegung im Wasser zu unterbinden und eine Verseuchung der umliegenden Bäche und Flüsse zu vermeiden. Das kostet Ressourcen... vor allem Arbeitskraft. Ich bezweifle, dass die braven Bürger von Arbora sich einfach dazu überreden lassen, ihre heimeligen Häuschen zu verlassen und sich freiwillig in verseuchtes Gebiet zu begeben. Das würde einiges an Vorbereitung benötigen."
      Er ließ die Schatulle wieder zuschnappen und schob sie Tava zu.
      "Für vielleicht notwendige Nachforschungen und mit dem Versprechen, dass du es nicht in unsere Wasserschläuche kippst, sobald wir unsere Manieren wieder vergessen."
      Malleus' Mundwinkel zuckten kurz nach oben als er das kostbare, gefährliche Gut der Frau bereitwillig überließ. Er hatte bemerkt, mit welchem Blick sie die Phiole im Labor angesehen hatte. Ein Zeichen der Anerkennung, zugegeben nicht ganz uneigennützig, erschien ihm angebracht und was eignete sich da besser, als eine tödliche, rare Substanz für ihre Sammlung?
      Danach stützte Malleus die Ellbogen auf dem Tisch ab und legte das Kinn auf die gefalteten Hände. Abwartend ob seine Theorie bei seinen Mitreisenden einen Anklang fand.
      Er sah zu Devon herrüber.
      "Hat deine Suche noch brauchbare Informationen zu Tage gefördert?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Tatsächlich erweckte es bei Devon keinen Argwohn, als Malleus für sie alle Becher und Wasser organisierte und sie damit ausstattete. Ehrlich gesagt hätte es ihn sichtlich mehr irritiert, wenn der Kultist nichts dergleichen unternommen hätte. Im Gegensatz zu Devons schmalem Geldbeutel hatte Malleus mit Sicherheit mehr als nur ein paar Ressourcen zur Hand.
      Was sich sogleich bestätigte, als Malleus eine Schatulle auf den Tisch beförderte und der Jäger nun doch nicht anders konnte, als das kleine, unscheinbare Ding argwöhnisch zu mustern. Was hatte der Kerl innerhalb der wenigen Stunden jetzt schon aufgetrieben? Schließlich öffnete Malleus die Schatulle und gab den Blick auf eine Phiole mit einer üblen, blubbernden Flüssigkeit frei. Eine Substanz, die Devon nur anhand der vorangegangenen Worte des Kultisten einzuordnen wusste, andernfalls aber niemals gewusst hätte, dass es sich um ein Gift handelte. Er selbst blieb dabei eher entspannt, aber er kam nicht umhin die Faszination zu bemerken, die eine gewisse kleine Cervidia einnahm, kaum war der Deckel gelüftet worden. Natürlich. Warum auch sonst.
      Devon hatte die Bezeichnung des Giftes noch nicht einmal in seinem Leben zuvor gehört. Doch die Info, dass es selten, schwierig herzustellen und dann auch noch höchst potent sein sollte, warf den Jäger in einen Zwiespalt. Auf der einen Seite war er höchst alarmiert, dass der Mensch so schnell an so ein Mittelchen kam, das selbst ihm als Lacerta sehr schnell gefährlich werden konnte, auf der anderen Seite war er positiv überrascht, dass er ihnen so leichtfertig das Mittel präsentierte.
      „Es ist eine Frage der Zeit, ja. Verunreinige den See und je nach Art und Weise dauert es länger oder kürzer, bis sich der Drache zeigt“, schob Devon gedehnt hinterher und rückte wieder vom Tisch ab. Er wollte nicht näher an dem schwarzen Gift hocken als unbedingt nötig. „Wenn wir an so starkes Gift kommen oder was auch immer, kann man das einfach in einen Zulauf kippen, der es in den See transportiert und dann warten wir.“ Er deutete auf Tava mit einem Fingerzeig. „Müsste unsere Alchemistin nicht ein Antidot für ein selbsthergestelltes Mittel mischen können? Für die Zeit danach?“
      Sofern wir den Drachen dann auch schlachten, fügte Devon noch gedanklich hinzu, aber soweit waren sie ja noch gar nicht.
      Irgendwie hatte Devon auch damit gerechnet, dass die Schachtel wieder schön in den Untiefen von Malleus Kleidung verschwand. Doch zu seinem Entsetzen schob Malleus das Gift zu Tava herüber. War er lebensmüde? Er hatte doch garantiert die Explosion letzte Nacht mitbekommen, die mit erschreckender Sicherheit von ihr gerührt hatte und deren Grund zwei Männer gewesen waren. Wenn sie plötzlich wieder die Beherrschung verlor, wer garantierte ihnen dann, dass sie das Gift nicht gegen sie einsetzte? Gift war schließlich nicht umsonst die Waffe der Frauen. Sein Blick sprang zwischen Tava und Malleus hin und her, zwischen glitzernden Augen und einem kaum merklichen Lächeln, das so kalt und berechnend war wie Devons Malachitklinge. Doch Devon schwieg und ließ den Kultisten machen. Immerhin war er der Meister der Worte und vielleicht war er es auch, der den wankelmütigen Feuerteufel unter Kontrolle bekam.
      „Es sind nur Hintergrundinformationen“, begann Devon, zog seinen Schal kurz hinab, um einen Schluck zu trinken. „Arbora hat viel mit Fisch aus Lacuna gehandelt. Hier war damals die Straße voll davon. Seit zwei Jahren bekommen sie nur noch mindermäßige Ware und seit drei Tagen kam nicht mal mehr ein Wagen aus Lacuna an.“ Er ließ kurz eine Pause entstehen, in der er sich noch einen Schluck genehmigte. „Es ist möglich, dass der Drache erst seit drei Tagen Lacuna bewohnt und davor irgendwas anderes gewesen war. Drei Tage, in denen er solch eine Fläche eingenommen und Schaden angerichtet hat. Was ich nicht verstehe ist der Fakt, warum sich hier scheinbar niemand Gedanken darüber macht. Irgendjemand hat es gewusst, den Jägertrupp organisiert und dafür gesorgt, dass niemand Fragen stellt oder Lacuna besucht. Jemand mit Einfluss, aber ich tippe hierbei auf Profitgier. Sind also nur Probleme von Arbora selbst und nicht Lacuna, aber wenn das mit den drei Tagen stimmt, dann spricht es definitiv für eine A-Kategorie.“
    • Zum Ausgleich mal in der Runde zu sitzen und die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden Männer zu haben, die gar nicht anders konnten als Tava gebannten Blickes zuzuhören, war äußerst befriedigend. Der Ärger des vorangegangenen Tages verflog in Anbetracht der Tatsache, dass sie hier wirklich auf Tava und ihren Rat angewiesen waren. Wie hätten sie auch sonst herausfinden können, wie der Flaum funktionierte und wie sie sich am besten davor schützten? Alles nur durch Tava. Immerhin war sie auch eine verdammte Wissenschaftlerin!
      Mit einem zufriedenen Glitzern in den Augen nahm sie sich ein Stück des Brotes, das Malleus so großzügig - oder verschwenderisch - für sie alle bestellt hatte und stopfte es sich in den Mund. Die einzige Dämpfung ihrer Stimmung kam daher, dass Devon natürlich die verschwundenen Proben ansprechen musste. Er hielt sich aber mit seinem Spott zurück und daher wollte Tava ihm das verzeihen.
      "Es ist nicht ausgeschlossen, dass es sich bei dem Wasserdrachen eigentlich um einen Luftdrachen handeln könnte. Dieses Zeug ist nicht dazu ausgerichtet, sich im Wasser fortzubewegen, da würde es nämlich einfach von der Strömung weggespült werden. Er ist also schon auf das Land angewiesen, das ist nicht typisch für reine Wassertiere. Außer vielleicht um ihre Eier an Land zu legen."
      Aber um das wieder beweisen zu können, bräuchte sie mehr Proben, die sie nicht zur Verfügung hatte. Nur wurde Tava mit einem Erfolg in ihren Forschungen gleich ein wenig übermütig in ihren weiteren Thesen.
      Als sie mit ihren Erklärungen geendet hatte, lehnte Malleus sich nachdenklich zurück und brachte dann eine Schatulle zum Vorschein, in der er wohl das Alcidorum transportierte. Tava hatte es für eine reine Geste guten Willens gehalten, aber so wie es den Anschein nahm, hatte das Geschenk einen Gedanken in dem Kultisten angeregt. Die Idee sprang sogleich auf Tava über und pflanzte sich dort in ihren Gedankengängen an.
      "Eine alkalische Lösung um den See zu vergiften... stark genug, um einem Drachen zuzusetzen. Aber nicht stark genug, um die Erde ringsherum zu verätzen. Außerdem langanhaltend, zumindest für ein paar Stunden..."
      In ihren Augen funkelte der Forschungsdrang. Es waren rare Zeiten wie diese, in denen Tava ihr Gelüste nach brennender Zerstörung vollständig beiseite schieben konnte.
      Sie schnappte sich ihren Rucksack, kramte ihr handbeschriebenes Buch hervor und begann, durch ihre Notizen zu blättern. Sie hatte mal einen Abklatsch von einem Alcidorum hergestellt, ein rein alkalisches Gift, dem die Säure darin fehlte. Das Endresultat sah so aus, dass das Gift nicht hochpotent war und das Gemisch sich zu schnell auflöste, ohne genug Schaden anzurichten. Deswegen war das Alcidorum auch so einzigartig, weil es in seiner Mischung sämtliche Nachteile seiner eigenen Substanz ausglich. Wenn sie jetzt aber die Versuchsreihe von damals unter anderem Licht neu aufgreifen würde...
      "... Ah! Hier, das brauchen wir. Ich habe es damals Cidra genannt, weil ich dachte, ich könnte beim Alcidorum anstelle der Säure ein anderes Surrogat hernehmen, damit der Froschlaich nicht zersetzt wird. Aber die Lösung war im Resultat hochauflösend; wenn ich die Mischung beibehalte, aber nur das Gift binden könnte, würde es sich erst verteilen und dann absetzen. Wie eine verzögerte Reaktion, quasi. Dann wirkt das Gift aber nicht mehr so hochpotent... ich müsste es stabilisieren. Und ich brauche mehr davon, sehr viel mehr. Wie groß wird der Drache sein, Devon? Sag mir eine Schätzung, irgendeine Zahl. Entsprechend hoch muss die Konzentration sein, um ihm wirklich zuzusetzen."
      Sie notierte sich, was Devon ihr sagte und blickte dann mit strahlenden Augen in die Runde.
      "Es ist nicht unmöglich, auch ein Gegenmittel. Aber ich brauche Zeit dafür, und das Labor. Ich schätze so... fünf Tage."
      Sie sah beide Männer abwechselnd an.
      "... Was? Ihr denkt doch nicht, dass ich einfach ein Gift mit mir herumschleppe, das einen Drachen aus einem See locken kann. Fünf Tage, dann hab ich es - vielleicht auch sechs. Bis dahin sorgt ihr für Schutzkleidung."
      Es schien für die beiden Männer in Ordnung zu sein. Mehr noch als das: Malleus ließ wahrhaftig die Schatulle zuschnappen und schob sie Tava über den Tisch zu, das kostbare Alcidorum, das dieser Falk einfach so verschenkt hatte. Und jetzt beging Malleus dieselbe Tat, verhökerte es für seinen Wert nicht etwa auf dem Markt, sondern überließ es Tava. Fast schon als Bezahlung für ihre Dienste.
      Mit großen Augen starrte sie den Kultisten an, dann grinste sie in einer Weise, die fast schon kindliche Freude wiederspiegelte.
      "Solche Versprechen mache ich nicht. Aber ich kann versprechen, es nicht zu verschwenden."
      Malleus hatte dafür in ihren Augen gerade erheblichen Respekt verdient. Alleine dafür wollte sie sich schon anstrengen.
      Für das restliche Gespräch hielt sie sich zurück, um Devons eigenen Nachforschungen zu lauschen. Ganz anscheinend verhielten sich die Menschen in dieser Umgebung sonderbar dafür, dass im Nachbarsort ein Drache gesichtet wurde. Und auch Tava hatte es schon bemerkt, sie waren kaum zwei Tagesmärsche entfernt und doch schien es hier niemanden zu stören, dass von Lacuna kein Lebenszeichen mehr herüberkam. Für Tava sah das nach nichts besonderem aus.
      "Was sollen sie schon machen, dem Drachen den Krieg erklären?"
      Sie zuckte mit den Schultern.
      "Biete ihnen doch deine Hilfe ein und wir sacken die Belohnung für die Beseitigung der Gefahr ein. Immerhin sollte das doch mit ein bisschen Gift nicht mehr allzu schwierig werden, oder?"

      Sie quartierten sich für die Nächte im Gasthaus ein, jeder ein eigenes Zimmer. Tava breitete gleich den Inhalt ihres Rucksacks aus, allen voran ihr Notizbuch, mit dem sie sich an dem winzigen Tisch einnistete. Sie war höchst motiviert den nächsten Erfolg abzuliefern. Eine saubere Grundlage war für ihre Forschung gelegt, jetzt musste sie nur noch darauf aufbauen. Das war fast besser, als ihre Umgebung in Brand zu stecken.
      Aber eben nur fast.

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