Maledictio Draconis [CodAsuWin]

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    • Tava war sich ihrer selbst fast völlig überzeugt. Sie hatte den Lacerta da, wo sie ihn hinlenken wollte: In Demut vor ihr. Denn sie hatte die Spuren gefunden, sie und kein anderer von ihnen! Devon wollte seinen Drachen haben und den würde er auch bekommen - von Tava! Weil Tava gut war und weil sie dafür gewertschätzt werden sollte!
      Diese Überzeugung blieb auch dann, als Devon sich mit ihrer Forderung ihr zuwandte und sich langsam - wirklich langsam - in Bewegung setzte. Sie blieb selbst dann, als er zu seiner unwirklich gewaltigen Größe anwuchs und den Raum vor ihr nach und nach allein durch seine riesige Präsenz vereinnahmte. Sie wurde ein ganz bisschen kleiner, als er zu sprechen begann, leise und warnend mit einem Zischen, das sie sehr an die Bedrohung einer Schlange erinnerte. Die Überzeugung fing sogar an, an ihrem Lächeln zu nagen, als er sie einen Feuerteufel nannte. Als er offenbarte zu wissen, was sie mit dem Händlerhaus angestellt hatte.
      Tava hatte sich in den letzten Jahren wirklich Mühe gegeben, die Brandstiftung soweit herunterzufahren, dass es kaum noch auffallen musste. Sie hatte auch deutliche Erfolge erzielt im Vergleich zu den Vorjahren. Es hatte mal eine Zeit gegeben, wo sie einen solchen Markt wie den in Celestia gar nicht hätte aufsuchen können, weil sie einfach nicht widerstehen konnte, diese freien, losen Stoffballen anzuzünden. Aber es war doch schon besser geworden! Nur noch immer nicht genug? Längst nicht genug?
      Die Überzeugung begann zu bröckeln, als Devon schließlich direkt vor ihr zum Stehen kam, groß und wirklich furchteinflößend. Sie musste den Kopf etwas zurücklegen, wenn sie ihm in die Augen sehen musste, gleichzeitig wollte sie aber sicher, ganz bestimmt nicht ihre Hörner vor ihm wegnehmen, gerade nicht vor ihm, gleichzeitig wollte sie ihm ihre Hörner aber auch nicht wieder präsentieren, ihn nicht wieder zum Zugreifen einladen. Es war ein verzwickter Teufelskreislauf, der sie ganz schnell in sein tiefstes Inneres hinabzog. Sie legte den Kopf nach hinten, wollte Devon ansehen, bekam Angst um ihren ungeschützten Hals, neigte ihn wieder nach vorne, wurde unsicher wegen ihrer Hörner, schob ihn wieder nach hinten. Ihre Überzeugung verflog wie Asche im Wind. Es gab keinen Ausweg bei dem viel zu großen Lacerta vor ihr und aus Widerwillen wurde schnell Angst. Tava hatte Angst. Sie versuchte, sich kleinzumachen in einem Verzweiflungsakt, was nur dafür sorgte, dass sie noch mehr das absolute Verlangen hatte, dieser Lage zu entgehen. Schließlich musste sie doch einen Schritt zurück weichen. Zu ihrem absoluten Grauen tauchte da plötzlich eine Wand in ihrem Rücken auf.
      Die Zunge war das einzige, was sie von dem großen Lacerta vor sich noch trennte, das glibberige Ding, das sie jetzt so krampfhaft gepackt hielt, als könne es sie retten. Der Lacerta stand schon so nahe, dass sie in keine Richtung ausweichen konnte, da beugte er sich auch noch zu ihr hinab und hob eine klauenartige Hand empor. Sie wanderte zu ihrer Brust, ihrem Hals, ihren Hörnern. Tava drückte sich so stark davon weg gegen die Wand, dass es selbst in ihren Muskeln schmerzte. Die Zunge hielt sie dabei wie eine Schärpe um sich, aber das interessierte Devon wenig. Mit einem Schlag knallte er die Faust gegen die Wand, Zentimeter von Tavas Gesicht entfernt. Es war nicht laut, aber so ruckartig, dass sie ganzkörperlich zusammenzuckte. Gleißendes Adrenalin schoss ihr durch den Körper, ließ ihr übel werden. In ihrem Rücken konnte sie die Wand vibrieren spüren und wenn sie nicht schon so eingeschüchtert wäre, hätte sie sich vermutlich dafür interessieren können, wie stark der Lacerta war. Aber Tava interessierte im Moment wenig. Mit brennenden Augen versuchte sie das beizubehalten, was sich vor einer allzu weit entfernten Zeit mal ihr Stolz genannt hatte. Jetzt verkümmert und eingeäschert. Am Boden zerbröckelt.
      Recht sachlich wies er sie darauf hin, dass sie den Respekt nicht verdient hatte, den er mit seinem Knien ihr entgegen gebracht hätte. Tava konnte noch nicht einmal nicken. Sie verharrte nur, in grenzenloser Furcht erstarrt, die Zunge ihre einzige Stütze.
      Malleus' Stimme aus dem Nichts rief die beiden auseinander. Die große, übermenschliche Präsenz des Lacerta verließ sie und Tava konnte wieder atmen, dringends, denn es brannte schon in ihrer Lunge. Aber sie verharrte noch immer regungslos an der Wand, bewegte sich kein Stück.
      Sie würde nicht weinen. Sie würde nicht weinen. Komm schon, Mädchen, reiß dich zusammen! Sie würde nicht weinen, es war doch nichts passiert! Wieso fühlte es sich dann aber so an?
      Malleus sprach erneut, diesmal zu ihr direkt, und es war seine Stimme, gepaart mit seinen Worten, die ihr tatsächlich den Boden unter den Füßen zurück gaben. Ihr Name, der ungewohnt samtig und weich über seine Lippen kam, ausnahmsweise mal nicht entsetzt, zweifelnd, unsicher, empört, verärgert. Es gab ihr genug zurück, dass sie unsicher zurückfauchen konnte:
      Ich bin ruhig.
      Aber es kam zu stockend herüber und sie spürte gleich ihre Augen heißer werden. Da senkte sie ihre Hörner und machte mit großen Schritten den Weg zur Tür klar.
      Nur die Rede von Adrastus ließ sie innehalten. Nach diesem Erlebnis war für Tava klar, dass sie niemanden, nicht Devon und auch nicht Malleus, mit zu ihrer Spur nehmen würde. Sie würde alleine hingehen und sie würde den Drachen finden und sich was einfallen lassen, so wie sie es schließlich immer tat. Sie brauchte niemanden dafür, sie kam bisher auch ganz gut alleine zurecht.
      Aber Adrastus war eine andere Sache. Eine sehr, sehr andere Sache. Und wenn ihr die Wahl zwischen einer möglich falschen Spur und Adrastus blieb, musste sie wohl nicht weiter über eine Alternative nachdenken.
      Aber der Gedanke, Devon dabei zu haben, war kein guter Gedanke. Und der Gedanke, auch noch von ihm abhängig zu sein, erst recht nicht. Aber was würde sie tun, wenn sie Adrastus gegenüberstand? Ihn höflich bitten, seinen Mund aufzumachen, damit sie sich ein Stück herausschneiden könnte?
      Tava stand wie angewurzelt in der Nähe der Tür, die Zunge auf ihrer Schulter, ihre halbe Körperseite schon feucht von dem schleimigen Speichel, der davon immernoch hinabtropfte. Sie starrte ihre Trophäe an, dann riss sie den Kopf zurück und wirbelte zu Malleus herum, in ihrer Miene eine Lüge von Überheblichkeit.
      Ich brauche keine Hilfe. Habe ich noch nie gebraucht. Aber wenn wir eh schon alle das gleiche Ziel haben, kann es doch auch nicht schaden, gemeinsam zu gehen, oder?
      Ihr Blick huschte dabei auch kurz zu Devon, aber wenn sie ehrlich war, wäre sie gesprungen und gerannt, wenn er auch nur eine Bewegung gemacht hätte. Zu ihrem Glück tat er es nicht. Ein bisschen Kraft konnte sie daraus ziehen.
      Zumindest mit Abstand. Jeder schlägt sein eigenes Lager auf. Ich teile mein Essen nicht. Und niemand fasst irgendjemandes Hörner an.
      Sie sparte sich den Blick auf Devon. Stattdessen befand sie es damit für einen guten Moment, die Versammlung aufzulösen. Damit war beschlossen, dass sie zusammen reisten; nun, es könnte schlimmeres geben. Wenn es Tava garantieren sollte, dass sie eine neue Zunge und vielleicht diesmal auch eine Feuer produzierende Munddrüse bekam, wäre das doch ganz nett. Kein Ausgleich für die Katastrophe, die sich in diesem Raum abgespielt hatte, aber doch zumindest etwas.
      Sie kehrte den Männern den Rücken zu und stakste erhobenen Kopfes nach draußen.

      Auf den Straßen hatte das Militär begonnen, Ordnung in das Chaos bringen zu wollen und bereits die ersten Viertel abzusperren. Bewohner sollten sich alle an einem zentralen Punkt einfinden, wo ein Notquartier eingerichtet würde, und ansonsten sollte man die Straßen meiden, um von noch einstürzenden Häusern nicht erfasst zu werden. Leichenbergung stand längst an oberster Stelle. Es war nicht wirklich damit zu rechnen, dass jemand unter dem Einsturz eines Hauses überlebt hatte. Die Stimmung war gedrückt.
      Allerdings nicht gedrückt genug, um eine fauchende Cervidia nicht davon abzuhalten, zurück zum Marktplatz zu kommen, wo sie ihr Gepäck zurückgelassen hatte. Dafür hatten die Männer sogar zu viel Energie übrig, wie Tava fand, die es kaum glauben mochte, dass sie an einer Reihe Soldaten scheiterte. Ihre Geduld war sowieso schon vor nicht allzu langer Zeit aus dem Fenster gesprungen.
      Wenn ihr mich nicht vorbeilasst, schwöre ich euch, dass ich Adrastus höchstpersönlich heraufbeschwören und eure Hintern versengen werde - und eure Schwänze gleich mit dazu! Jetzt lasst mich vorbei!!
    • Malleus ließ den Blick über das zerstörte Stadtzentrum von Celestia schweifen. Der Felsendrache hatte in seiner Raserei komplette Straßen einfach platt gewalzt. Wo zuvor prächtige Häuser aus weißem Kalkstein die Wege gesäumt hatten, war lediglich eine beeindruckende Ansammlung von Schutt und Geröll übrig. Er legte den Kopf ein wenig zurück und entdeckte das dunkle Loch im massiven Gestein, aus dem das Ungetüm gekrochen war. Es klaffte im Berg wie ein finsterer Schlund, der nur darauf wartete weitere Kreaturen auszuspucken. Wenn Malleus sich aufmerksam umsah, war er nicht der Einzige, der die Öffnung im Berg musterte. Angstvolle Blicke richtete sich auf den Berg, der ihnen bis vor wenigen Stunden ein Gefühl von Sicherheit vermittelt hatte. Wenn schon ein Berg diesen monströsen Naturgewalten nicht standhielt, wie sollten es dann die armseligen Mauern, die der Drache spielend leicht niedergemäht hatte. Nur spiegelte sich in den dunklen Augen von Malleus keinerlei Furcht sondern eine beinahe unheimliche Faszination. Das Leid der Menschen, die in den Trümmern nach vermissten Familienangehörigen suchten, schien ihn nicht zu berühren. Mit einem letztem Blick auf die aufgebrochene Felswand, richtete sich seine Aufmerksamkeit wieder auf die zwei Personen, die unmittelbar vor ihm durch das Chaos gingen.
      Tava führte ihre eigenartige, kleine Gemeinschaft an und stampfte zielstrebig in Richtung des Marktplatzes. Mit etwas Abstand, der von der Cervidia wohl aus ausreichend empfunden wurde, da sie sich kaum umdrehte, folgte ihr Devon mit langen und zügigen Schritten. Malleus bildete das Schlusslicht und bewegte sich fließend durch die aufgescheuchten Bürger, wobei er rempelnden Schultern und eiligen Füßen geschickt auswich. Nachdenklich beobachtete er Tava, die sich widerwillig aber überraschend schnell darauf eingelassen hatte, die Männer in ihrem Schatten zu dulden. Devon hatte seine kleine Ansprache mit einem Brummen und beiläufigen Schulterzucken hingenommen. Malleus wusste, dass sein gemeinsamer Weg mit dem Lacerta und der Cervidia allein durch eine zerbrechliche Toleranz hielt. Sie alle hatten die Vorzüge eines gemeinsamen Reise erfasst, was nicht bedeutete, dass alle drei Parteien in Begeisterungsstürme ausgebrochen waren. Die Gemüter hatten sich beruhigt,...zumindest für den Moment.
      Malleus hatte unter seinen Anhängern die Kunde verbreiten lassen, dass er sich auf eine Pilgerreise ins Landesinnere begab um den versprengten Mitgliedern der Signa Ignius mit seiner Anwesenheit zu beehren. Das Geflüster würde sich unter den ortsansässigen Kultisten zügig verbreiten. Sie mussten sich keine Gedanken um die Details machen, denn ihre ehrenwerte Aufgabe bestand darin, das Hauptquartier zu sichern und, sofern die Götter ihnen wohlgesandt waren, neue Schäfchen für die Herde zu finden. Die endgültige Entscheidung hatte dennoch Malleus, der auf den zuverlässigen Nachrichtenaustausch zwischen seinen Anhängern im ganzen Land baute. Je nachdem wohin es die ungleichen Gefährten verschlug, konnte er ihnen ein Dach über dem Kopf sowie Proviant und Materialien sichern. Sofern sie sich nicht vorher gegenseitig an die Gurgel sprangen.
      Das erste Hindernis ließ nicht lange auf sich warten.
      Eine Handvoll überforderter Soldaten stellten sich der Cervidia in den Weg. Genervt und abgehetzt kreuzten die Männer die lächerlich langen Speere, die ihnen im Angesicht des Drachen nichts genützt hatten. Die eisernen Speerspitzen hätten auf des felsigen, harten Panzerung nicht einmal einen Kratzer verursacht. Malleus Mundwinkel zuckten ein wenig belustigt, als Tava den Männern Gift und Galle entgegen spuckte. Einen Augenblick gönnte er sich den Luxus zu beobachten, wie Tavas eh bereits überstrapazierte Geduld völlig dahinschwand. Die Frau hatte ein beneidenswertes Temperament. Sie hatte...Feuer. Etwas, das in heiklen Zeiten und gegenüber Soldaten, denen die Lage bereits über den Kopf gewachsen war, als der Drache seine klobige Schnauze durch den Fels gequetscht hatte, wenig erfolgversprechend war.
      Malleus ging an Devon vorbei, dem er einen undefinierbaren Seitenblick zuwarf, und gesellte sich an Tavas Seite.
      "Meine Herren", begrüßte er die Soldaten mit den verdreckten Gesichtern, deren Rüstungen von einer dicken Staubschicht nicht länger majestätisch glänzten. "Uns ist bewusst, dass die Straßen gefährlich sind und wir schätzen es wirklich sehr, dass Ihr eure Pflicht erfüllt und für die Sicherheit der gepeinigten Bürgerschaft sorgt. Die Verantwortung auf Euren Schultern wird wahrlich zu wenig gewürdigt. Meine... Begleiterin hat in dem Chaos bedauerlicherweise ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Sie ist deshalb etwas aufgebracht. Es war nicht ihre Absicht unhöflich zu sein. Nicht wahr, Tava?"
      Die versteinerten Mienen der Soldaten zuckten ein wenig. Malleus sah zwischen den Parteien hin und her, wobei er ein Seufzen unterdrückte. Mit scharfen Augen glitt sein Blick über die Soldaten, bis er ein vertrautes Gesicht entdeckte.
      "Rafael! Unter der Staubschicht habe ich dein Gesicht kaum erkannt! Geht es deiner Frau gut? Den Kindern ist doch hoffentlich nichts geschehen?"
      Auf Malleus Lippen erschien ein offensichtlich erleichtertes Lächeln während er einen Arm zur Seite ausstreckte und der angesprochene Soldat mit den stechend, grünen Augen und der buckeligen Nase trat ihm ein Stückchen zur Seite. Das Lächeln wackelte selbst dann nicht, als die Männer sich zur Begrüßung höflich die Hand gaben. Nur wer wusste, wonach er suchen musste, erkannte das marginale Zucken auf Höhe von Malleus Ellbogen, als er die Hand ausstreckte und seine behandschuhten Finger um die Hand des anderen Mannes schloss. Die Muskeln in seinem Nacken spannten sich leicht an. Die Stimme des Soldaten war gedämpft und nur anhand der Lippenbewegungen ließ sich der Name 'Malleus' darauf erahnen.
      "Unser Viertel ist zum Glück von der größten Zerstörung verschont geblieben, aber mein Schwager ist unter den Felsen begraben gewesen. Die Beine hat es ihm zerquetscht. Seine Frau ist ganz verzweifelt, denn wie soll sie ohne seine Arbeitskraft die drei Kinder in Zukunft ernähren?"
      Malleus Augen blitzten auf.
      Rafael gehörte nicht zu den Signa Ignius, aber neigte dazu ein Auge zuzudrücken. Für den richtigen Preis war jeder käuflich. Malleus schmeckte bittere Galle auf der Zunge, da er sich der hässlichen Korruption bedienen musste. Er hatte früh gemerkt, dass derlei Praktiken manchmal unumgänglich waren. Es war ein kleines, aber bedeutendes Zahnrad in der großen Maschinerie.
      "Das ist fürchterlich, Rafael. Ich werde deine Familie in meine Gebete mit einschließen. Schon gut, ich weiß, dass du meine...Ansichten nicht teilst, aber ich würde mich dennoch besser fühlen, wenn du und deine Familie meine Hilfe annehmen würdet. Niemand von uns möchte, dass deine Nichten und Neffen unter der kommenden Hungersnot leiden. Unter uns, wir wissen, dass es unter diesen Umständen bald zu Engpässen kommt. Die Menschen werden sich wieder, wie in alter Zeit über das letzte schimmelige Brot die Köpfe einschlagen."
      Der Soldat wurde unter seinem eingebeulten Helm ganz blass, als sich das Bild des Grauens in seinen Gedanken ausbreitete.
      "Das ist sehr großzügig."
      "Nicht doch. Es ist das mindeste, das ich tun kann, Rafael."
      "Wenn etwas passiert, liegt es nicht in meiner Verantwortung..."
      "Das ist mir bewusst."
      "Du hältst dein Wort?"
      Malleus Gesicht verdunkelte sich und der Soldat zuckte augenblicklich zusammen.
      "Beleidige mich nicht, mein Freund."
      Binnen eines Sekundenbruchteils kehrte das Lächeln zurück.
      "Bestell deiner Frau und auch dem Rest deiner Familie meine Grüße."
      Ohne den Blick von Malleus abzuwenden, hob der Soldat einen gepanzerten Handschuh.
      "Lasst sie durch. Auf eigene Gefahr."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Devon hielt sich wieder vollkommen bedeckt, als sie die Behausung des Fanatikers verlassen hatten. Er hatte seinen Schlauchschal wieder über den größten Teil seines Kopfes gezogen, seinen Rucksack geschultert und war den anderen beiden hinterher getrottet. Es eilte ihn nicht, er hatte keinen Zeitdruck. Auch scherte es ihn nicht sonderlich, wie die Menschen die Zerstörung zu beseitigen suchten. Sie alle hatten Glück gehabt und die Schäden hielten sich in Grenzen. Es hätte alles viel schlimmer werden können als mit so einem Felsendrachen.
      Zwischenzeitlich hatten sie angehalten, weil Tava ihre Sachen wiederholen wollte und Malleus seine Kontakte dazu spielen lassen konnte. Währenddessen hatte der Jäger seinen Blick wieder hoch zu dem klaffenden Loch gerichtet, an dem bereits winzig kleine Menschchen kraxelten und scheinbar den Fels sicherten, um Gerölllawinen zu verhindern. Dafür hatten sie ziemlich gut ausgearbeitetes Equipment zur Verfügung. Wie tief gingen eigentlich die Hallen in den Berg hinein?
      Einen weiteren Gedanken darüber konnte Devon nicht verlieren, denn man winkte sie alsbald hindurch und Tava konnte sich endlich wieder mit ihrer Ausrüstung vereinen. Wesentlich zufriedener gestimmt führte sie die unwirkliche Gruppe aus Celestia heraus in die offene und karge Landschaft, die typisch für diesen Breitengrad war. Hier draußen begegneten sie kaum noch anderen Reisenden, wenn sie die richtigen Routen einschlugen, und so konnte Devon den Schal wenigstens von seinem Gesicht abnehmen, der noch immer einen nicht besonders berauschenden Geruch entwickelt hatte. Sie wanderten Größtenteils stumm einer Linie entlang, die einzig und allein Tava bestimmte, aber damit kam der Jäger wunderbar aus. Die Richtung war immer noch der Osten, und da wollten sie alle so oder so hin.
      Es waren Tagesmarsche, die sie von den Spuren trennte. Als es dämmerte waren sie an einem Felsmassiv vorbei gewandert und gemeinschaftlich wurde beschlossen, hier eine Rast einzulegen. Devon wollte den Fels im Rücken als Schutz wissen, Malleus zeigte sich froh darüber, dass sie nicht auf offener Straße campierten und Tava war offensichtlich angesäuert, dass es nichts anderes als ein bisschen Steppengras und sonst nur Stein um sie herum gab.
      Wie von der Cervidia gewünscht hielten sie alle einen angemessenen Abstand zum jeweils anderen, doch in der Mitte ihres Platzes hatte Tava in einer atemberaubenden Geschwindigkeit ein Feuer zum Brennen gebracht. Devon hatte immer wieder, solange sie es noch konnten, Äste abgebrochen und eingesammelt, die er als Brennzeug in seinen Rucksack gesteckt hatte und nun der Allgemeinheit diente. Er achtete auch gar nicht darauf, dass er sich näher als es eigentlich schön war an das prasselnde Feuer setzte und sich mit seiner lädierten Rüstung beschäftigte. Er mochte Kühle nicht sonderlich und bewegte sich, wenn er nicht darauf achtete, wie von selbst zu Wärmequellen wie eben das Feuer. Aus seiner Tasche zog er stabile Fäden sowie eine Ledernähnadel und machte sich daran, die Risse in seinem Harnisch zu flicken. Etwas zu Essen hatte er noch nicht dabei – er aß erst dann, wenn es unbedingt sein musste. Das sparte in den meisten Fällen Geld, von dem er eh nie viel mit sich führte.
    • Bevor Tava ihre Drohung noch wahr werden lassen konnte - und das würde sie, daran könnte sie sicher niemand abhalten - gesellte sich schon Malleus unverhofft zu ihr. Die beiden Männer waren hinter ihr geblieben, weit genug, dass sie schon fast ihre Schritte hatte ausblenden können. Jetzt ging das nicht mehr, als der Kultist doch wirklich sein Geschwafel auf die Soldaten losließ.
      "Ich zeig dir gleich, was unhöflich heißt, dann werden wir ja sehen, ob ich wirklich -"
      Ihr aufbrausender Wutanfall stieß bei Malleus auf eine abweisende Wand, als der sie sogleich unterbrach, weil er wohl einen aus der Reihe erkannte, einen Mann mit Gesicht, das Tava bei der nächsten Kreuzung schon wieder vergessen hätte. Sie verstummte wieder und starrte, während die beiden Männer sich gegenüber traten und sich die Hand gaben. Malleus schien erfreut Rafael zu sehen, der andere war eher auf Jammern aus. Ein Lappen, dem Tava jetzt sogar absichtlich den Hintern versengt hätte, alleine schon dafür. Aber wie durch ein Wunder geschah es, dass durch sinnloses, leeres Gelaber der Soldat doch wirklich nach hinten trat und seinen Kollegen ein Zeichen gab. Herausfordernd sah Tava die Uniformträger an, aber davon gab es jetzt keinen mehr, der ihr den Weg versperrt hätte. Dabei hätte sie sich fast schon darauf gefreut zu sehen, wie feuerfest diese Dinger waren.
      Mit großen Schritten durchquerte sie die Absperrung und suchte den Marktplatz nach ihrem Rucksack ab. Sie fand ihn auch, verschüttet unter den Überresten von Ständen und nachdem sie etwa zehn Minuten auf verschiedenste Art herumgeflucht hatte. Sie ergriff ihn, zog sich das Gepäck, das fast größer war als sie selbst, auf den Rücken und marschierte dann zurück auf die öffentliche Straße. Devon, der stumm auf sie beide wartete, war sowieso kein Blick wert, aber Malleus bekam einen Blick und dazu noch ein genuscheltes "Danke". Sie setzte aber gleich zügig den Weg fort, damit keiner von ihnen noch auf die Idee käme, dass sie damit nun ihren Führungsposten in dieser eigenartigen Konstellation abgegeben hätte.
      Hinter den Toren von Celestia wandte sie sich gleich dem Pfad zu, der sie hierher geführt hatte. Tava hielt wenig von Straßen, denn auf Straßen konnte nichts wachsen und außerdem konnte man dort auch nicht sehen, wenn irgendwo mal ein Drache vorüber marschiert wäre, daher ging sie gleich davon ab und wanderte in die Steppe hinaus. Sie orientierte sich an allen Beobachtungen, die sie gedanklich verzeichnete, sollte sie ihren Vorrat aufstocken müssen: Knorrige Bäume mit Weinblättern, gelb gesprenkelte Sloti zwischen dem Unkraut, hin und wieder Henga-Beeren an kleinen Sträuchern. Da sie erst heute in Celestia angekommen war, musste sie auch nicht befürchten, dass die Landschaft sich großartig verändert hätte. Sie marschierte auf ihrem eigenen, gedanklichen Pfad und konnte dabei fast die unregelmäßigen Schritte hinter sich ausblenden. Aber eben nur fast.
      Ihren Rastplatz wählten sie am Abend dafür umso schlechter, aber sogar Tava begann langsam zu schwächeln und war zum Schluss glücklicher darüber, ihr Gepäck ablegen zu können, als sich einen Ort zu suchen, wo wenigstens etwas mehr Unkraut wuchs. Devon war wortlos losgezogen und nur wenige Minuten später mit genug Brennholz zurückgekehrt, das sie ihm schnell aus den Armen riss, bevor der Lacerta noch auf die Idee käme, selbst ein Lagerfeuer zu entzünden. Selbst! Er hatte ja vermutlich noch nicht einmal die Muße, die Äste richtig anzuordnen. Also setzte Tava sich hin, grummelnd darüber, dass sie hier die einzige Fähige war, und begann die Äste zu sortieren. Sie baute ein kleines, rundliches Grundgerüst, bevor sie anfing, sie ineinander zu stecken und in einer spitzen Form nach oben zu bauen. Zwanzig Minuten brauchte sie dafür, während derer die Sonne schon beinahe unterging, bis sie zufrieden genug mit ihrem Werk war, um aufzustehen und einen Schritt zurückzutreten. Sie öffnete ihren Rucksack, wühlte einen Moment herum und drehte sich dann wieder zu ihren kunstvollen Ästen um, ehe sie einen Klumpen Schwarzpulver in ihrer rohen Hand mit ihrem Ring entzündete und den entflammenden Feuerball auf ihr Gerüst warf. Natürlich war das vollkommen überzogen und eine Verschwendung von Ressourcen, aber Tava hatte schlechte Laune und da half es ihr zu sehen, wie das Feuer jetzt plötzlich in die Luft stob, mit einem fast doppelten Radius in alle Richtungen züngelte und sich dann erst, nach und nach, auf das kleinere Astgebilde beschränkte. Allerdings behielt es auch nach einigen Sekunden noch immer eine stattliche Größe bei und wurde nicht kleiner. Tava wusste eben, wie sie gute Lagerfeuer entzündete.
      Die Cervidia setzte sich einen Moment später selbst hin, weit genug von Devon entfernt, der das Feuer gleich für sich zu beanspruchen schien - unhöflicher Idiot - und zog sich zuallererst die Drachenzunge her. Sie war über die Stunden hinweg ein wenig ergraut und der Speichel hatte aufgehört zu tropfen, aber sie war noch feucht und vor allem roch sie noch genauso stark wie auch vorhin. Tava befand sie als ausreichend, bevor sie sich ihr Jagdmesser nahm, es in das graue Fleisch rammte und die Zunge dann der Länge nach aufschnitt. Mit fast meditativer Ruhe begann sie, das Fleisch in möglichst gleich große Brocken zu verteilen und dann in ihrem Gepäck zu kramen. Ein eigener Beutel mit gefüllten Phiolen kam zum Vorschein, ebenso wie ein abgetragenes, zerfilztes Buch und mehrere Instrumente. Etwas fröhlicher breitete sie alles bei sich aus, um mit ihren Experimenten zu beginnen.
    • Malleus ließ sein Gepäck in den Staub fallen. Zwar handelte sich um leichtes Gepäck mit dem Allernötigsten für eine Reise durch die karge Ödnis des Gebirges, aber nach stundenlanger Wanderschaft spürte er Gewicht deutlich auf seinen Schultern. Vor allem dort, wo der enge Verband die verletzte Schulter unnachgiebig stabilisierte. Eigentlich hatte Malleus auf Pferde bestehen wollen. Rückblickend war das unwegsame Gelände, über das Tava sie zielstrebig führte, für die scheuen Tiere aber völlig ungeeignet.
      Er unterdrückte ein Ächzen, als er die versteifte Schulter probeweise vor und zurück rotierte. Mit einem prüfenden Blick unter den Kragen seines schweren Mantels und das Hemd stellte er beruhigt fest, dass der Verband sauber und ohne neue Blutflecken war. An die Schmerzen, die ihn unweigerlich am nächsten Morgen erwartete, verschwendete Malleus jetzt noch keinen Gedanken. Letztendlich nützte es sowieso nichts und mit Schmerzen kam er für gewöhnlich gut zurecht. Es gab Schlimmeres, als eine geprellte Schulter.
      In seinem Rücken knirschten die winzigen Kieselsteinchen unter den schweren Schritten von Devon, der nach kurzer Zeit mit dem benötigten Brennholz zurückkehrte. Malleus warf einen flüchtigen Blick über die Schulter und beobachtete interessiert, wie Tava dem Lacerta die Äste geradezu aus den Händen riss. Damit wäre geklärt, wer sich um das Lagerfeuer für die Nacht kümmerte. Andererseits, hatte er auch nichts anderes erwartet. Die Cervidia konnte ihr Talent zum Zündeln in diesem Augenblick für etwas Nützliches einsetzen anstatt das Haus eines Händlers in Brand zu stecken.
      Malleus ging in die Hocke um etwas aus dem Rucksack zu holen.
      Neben Arzneien und Verbandsmaterial für den Notfall hatte er seine wichtigsten Habseligkeiten in den begrenzten Platz gestopft. Nichts davon hätte ohne wachsames Auge in Celestia gelassen. Er glaubte zwar kaum daran, dass es einer seiner Getreuen wagte in seiner Abwesenheit sein Zimmer zu durchfühlen, aber gierige Hände gab es jeder gut organisierten Gemeinschaft. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand versuchte, Kleinigkeiten seines Eigentums als Reliquie zu verscherbeln. Ein Stück vom Wiedergeborenen. Ein Kleinod, dass die Feuergeißel persönlich mit den Händen berührt hatte. Die Menschen, die bereit waren für diesen wertlosen Plunder ein Vermögen auszugeben, gehörten zu den besonders hartnäckigen Fanatikern. Die, die einst seinen Vorgängern blind gefolgt waren. Die, die einem unschuldigen Kind mit dem Segen von Adrastus, Freiheit und Willen wegnahmen.
      Malleus drängte die Erinnerung zurück, schüttelte den Vorhang aus den vielen, geflochtenen Zöpfen aus seinem Gesicht und fischte endlich das gesuchte Buch aus seinem Rucksack. Der dunkelbraune Ledereinband war abgegriffen und bereits rissig. Eine schlichte, rote Kordel hielt den Buchdeckel zusammen und war um einen stumpfen Knopf aus Messing gewickelt. Er wandte sich gerade der noch kalten Feuerstelle zu, da zündete Tava mit ihrem Ring einen Feuerball in der Hand.
      Das Feuer schlug in die Höhe und selbst auf sichere Entfernung spürte Malleus die brennende Hitze im Gesicht. Eine unnötig dramatische Art ein Lagerfeuer anzuzünden, aber mindestens genauso beeindruckend. Und Tava genoss es, denn er bemerkte ein tiefst zufriedenes Funkeln in ihren Augen. Etwas, das sie kontrollieren konnte im Gegensatz dem Lacerta, der sich gleich der Wärmequelle näherte. Das Feuer erschien ihm heißer zu sein, als alles, was er aus seinem heimeligen Wohnsitz in Celestia kannte. Es war heiß genug, um ihm das Bild eines brennenden Bauernhauses in Erinnerung zu rufen, obwohl die Hitze es kaum mit einem echten Drachenfeuer aufnehmen konnte. Als die Flammen auf Normalgröße schrumpften, gesellte sich auch Malleus zu den eigentümlichen Weggefährten.
      Für eine Weile herrschte erbittertes Schweigen.
      Devon flickte seinen durchlöcherten Harnisch. Tava sezierte die erbeutete Drachenzunge mit großer Begeisterung. Mit den verstreichenden Minuten stellte sich ein seltsam friedliches Beisammensein ein. Jeder ging schweigend seiner Beschäftigung nach, so auch Malleus. Der Mann hatte das Buch aufgeschlagen, das sich als Skizzenbuch entpuppte, denn er zog ein dünnes Graphit hinter seinem Ohr hervor. Das Kratzen auf Papier wurde gelegentlich von dem Knirschen von Leder oder dem ekelhaften, schmatzenden Geräusch unterbrochen, dass die Drachenzunge beim Schneiden von sich gab. Regelmäßig hob Malleus den Blick während er ein wenig gekrümmt über seinem Skizzenbuch hing. Er verharrte kurz, schien gedanklich etwas abzuwägen.
      Kurzerhand wechselte er den Graphitstift von der rechten in die linke Hand und zog sich den rechten Handschuh mit den Zähnen aus. Es war ein Risiko, aber würde eventuelle Neugierde stillen. Erfahrungsgemäß achtete niemand mehr auf seiner Hände, sobald sie wussten, dass unter dem Leder keine Klauen oder anderen Missbildungen vorhanden waren. Plötzlich war das Tagen der Handschuhe nur eine uninteressante Marotte.
      Malleus hob die Hand, befeuchtete die Fingerkuppe seines Daumens mit der Zungenspitze und wandte sich wieder wieder der Zeichnung in seinem Schoß zu. Behutsam wischte er über die gräulich, schwarzen Linien auf dem Papier. Im sanften Schein des Feuers ließen sich die dunklen Gebilde auf seinem Handrücken erahnen. Glyphen und Buchstaben einer alten, verlorenen Sprache, die sie kreisförmig über den gesamten Handrücken erstrecken. Die Tinte unter seiner Haut wickelte sich ebenfalls um seiner Finger, wie der peitschenähnliche Schweif eines Drachen.
      "Was ist deine Geschichte, Tava?", fragte er durch das Knistern des Feuer, das gierig das trockene Holz verzehrte.
      Er sah auf und blickte in ein fragendes und unschlüssiges Augenpaar.
      Um seine Mundwinkel zuckte ein schmales Lächeln, ehe er wieder zurück auf die Zeichnung sah.
      "Nun schau mich nicht so entgeistert an, Tava. Jeder hat eine Geschichte. Also, was ist deine?", fragte Malleus ein zweites Mal, lächelnd. "Ich bin nie einer Alchimistin begegnet, die ein derart begnadetes Talent für Feuer besaß und ich bin vielen Menschen in meinem Leben begegnet. Nicht das Element, das deine Zunft sich normalerweise aussucht. Ich kenne auch kein Mitglied deiner Zunft, das ganz allein den Drachen hinterher reißt und für eine Drachenzunge das eigene Leben riskiert."
      Unentwegt kratzte das Graphit über die Seiten.
      "Ist es Forschergeist oder etwas andere? Ich könnte mutmaßen. Faszination, vielleicht? Du suchst nach etwas, richtig?", sprach Malleus und klang fast ein bisschen heiter, als säße er bei einem gemütlichen Teekränzchen. Die einschüchternde Aura, die ihn im überfüllten Celestia umgeben hatte, verschwand hinter unergründlich, dunklen Augen und einem beinahe einladenden Lächeln.
      "Bei dir bin ich mir allerdings nicht sicher, was deine Geschichte sein könnte, Devon."
      Aus dem Augenwinkel sah er zu dem Lacerta, der unverkennbar die Wärme des Feuers suchte um der nächtlichen Kühle des Gebirges zu entkommen. Ganz ähnlich wie es kaltblütige Reptilien taten, die sich dem Licht der Sonne entgegen reckten.
      "Du reist als Jäger durchs Land, aber tötest nicht zwingend für die Belohnung oder eine Trophäe. Ich bezweifle, dass es aus dem Grund der Nächstenliebe für die armen Bürger geschieht."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Devon war in seiner eigenen Welt angekommen. Die Wärme des Feuers, das Knistern und die monotone Arbeit waren genug, damit er sich völlig in dem vergaß, was er da eigentlich tat. Hier brauchte er nicht auf seinen Schal achten, den er neben sich auf einem Stein nahe dem Feuer gelegt hatte. Hier starrte ihn niemand besonders argwöhnisch an, außer den beiden offensichtlichen Augenpaaren vielleicht. Niemand fragte, wieso sein Harnisch so lädiert war oder warum das Hemd an seinem Kreuz schon eingerissen war. Keine dummen Fragen – so lobte er sich seinen Abend.
      Wäre da nicht dieses lästige Schmatzen von Fleisch, wenn man es auseinandertrennte. Zungen waren reiner Muskel und demnach sehr zäh, insbesondere, nachdem man sie über Stunden in der Sonne einfach hatte trocknen lassen. Zu seinem Glück hatte sich Tava weiter vom Feuer entfernt als er und er konnte das nervtötende Geräusch beinahe ausblenden. Er fragte nicht, was genau sie anhand einer Zunge herauszufinden gedachte. Das Ding war einfach nur ein Fleischhaufen ohne nennenswerte Fähigkeiten. Das wusste Devon, der Zungen schon öfter und viel näher vor sich gesehen hatte, als ihm lieb war. Die des Felsendrachen war nicht einmal feuerfest – und scheinbar wusste die kleine Ziege das nicht.
      Was jedoch mit Abstand am schwierigsten zu ignorieren war, war Malleus. Der hatte leider nicht die Güte und suchte den größtmöglichen Abstand zu dem Jäger, sondern kam viel zu nah an das Feuer heran für dessen Geschmack. Ein einziges Mal, und zwar als er ein kratzendes Geräusch vernahm, sah er zu dem Menschen herüber, dessen Gesicht er durch die Haarzotteln nicht ganz ausmachen konnte. Er malte. Irgendetwas malte er, aber solange er selbst nicht Modell stand, kümmerte ihn das nicht weiter. Bis zu dem Augenblick, wo seine Stimme die Stille durchbrach, war die Welt für Devon in Ordnung. Erst dann begann sie rapide zu wanken. Ganz kurz verharrte er in seiner Bewegung bis er realisierte, dass die Frage nicht ihm gegolten hatte, und fuhr dann mit seiner Näherei fort.
      Devon hörte das Lächeln in der samtenen Stimme des Menschen und sofort wurden seine Bewegungen weniger geschmeidig. Mit jedem Wort, dass der Kerl verlor, rief sich Devon wieder vor Augen, dass der Typ vielleicht die Ziege einlullen konnte, ihn aber mit Sicherheit nicht. Er würde keine Worte auf die Waagschale setzen, sich nicht von Emotionen manipulieren lassen, die nur gestellt waren. Fast wäre ihm ein abfälliges Schnauben entkommen, als er Malleus von einem ‚begnadeten Talent‘ sprechen hörte. Faszination. Ja, das war definitiv ein Punkt, der Wesen motivieren konnte. Etwas anderem folgte der Mensch schließlich auch nicht.
      Also flickte Devon weiter seinen Harnisch. Ganz in Ruhe, weil ihm sowieso niemand etwas konnte.
      „Bei dir bin ich mir allerdings nicht sicher, was deine Geschichte sein könnte, Devon.“
      Der Jäger gab sich nicht die Blöße und stellte seine Tätigkeit ein. Routiniert fuhr er fort und hob nicht einmal einen Blick. Das war nur ein lauter Gedanke des Menschen. Sofern er den nicht weiter ausführte, erwartete man auch gar keine Antwort von ihm. Devon könnte es einfach ausschweigen und –
      Malleus fuhr fort. Devon zischte leise, was allerdings nur ein Seufzen war.
      Jetzt sah sich Devon doch dazu gezwungen, Nadel und Faden beiseite zu legen. Er richtete sich aus seiner gekrümmten Haltung auf und richtete seine Aufmerksamkeit auf Malleus, der ihm gerade mal einen Blick aus den Augenwinkeln schenkte. Arrogantes Stück Mensch.
      „Ich jage übermächtigen Kreaturen nach um zu beweisen, wie stark und unantastbar ich bin“, sagte er so trocken, dass es nahezu unmöglich war zu sagen, ob das der Wahrheit entsprach oder eine glatte Lüge war. Die roten Augen hatten sich abwärts über die Gestalt des Malers bewegt, wo sie zwangsläufig an der Hand hängen blieb, die den Graphitstift über das Papier der Seite bewegte. Eine winzig kleine Regung ging durch die geschlitzten Augen des Lacerta als er bemerkte, dass da kein schwarzes Leder mehr die Hand bedeckte, sondern echte, dunkle, ungeschützte Haut den Stift führte. Nur ganz vage erkannte er Stellen, die dunkler waren als der Rest, aber ohne weiter nähergehend darauf abzuzielen würde er sie nicht zuordnen können.
      Also wandte Devon den Blick wieder ab und griff erneut nach Nadel und Faden.
    • Tava begann damit, systematisch ihre Zunge zu sezieren. Erst sammelte sie den letzten Rest Speichel, den sie irgendwie noch auffangen konnte, in leeren Phiolen auf und füllte andere Phiolen mit dem Blut, das sie den abgeschnittenen Teilen der Zunge entpresste wie einer Orange. Dabei trocknete sie das Stück vorerst mit einem Stück Tuch und dem Feuer, damit das Blut sich nicht mit dem Speichel vermischte.
      Danach kam das Bindegewebe, das sie in anstrengender Fummelarbeit vom Muskel zu trennen versuchte und die Fetzen wiederum in eine kleine Schale warf. Nach dem Bindegewebe kam natürlich der Muskel, lange Stränge, die sie behutsam aus dem Fleisch zog und in eine andere Schale verfrachtete. Die Schleimhaut hob sie sich bis zum Schluss auf, denn die war ihr am interessantesten, nachdem sie sich davon erhoffte, dass sie feuerfest sein würde. Sie häutete die Zunge in gewissermaßen, verfrachtete die Haut in einen Behälter und verschloss ihn luftdicht.
      Das ganze bedurfte einer solchen Aufmerksamkeit, dass sie die anderen beiden Begleiter völlig ausblenden konnte. Leise Geräusche, etwa unzufriedene, wenn sie mit zu zittriger Hand feinstes Muskelgewebe zerriss, oder entzückte, wenn sie ein besonders makelloses Stück abtrennen konnte, drangen hinter ihren geschlossenen Lippen hervor. Meistens hob sie ein Stück davon in die Luft, um es im Schein des Feuers bestaunen zu können.
      Erst als einer von ihnen das Wort erhob, wurde Tava aus der schönen Idylle ihrer Arbeit gerissen und daran erinnert, dass sie nicht mehr alleine war. Ihr Blick sprang auf zu dem knisternden Feuer und dann weiter zu Malleus, der sich in angemessenem Abstand dazu niedergelassen hatte.
      In seinem Schoß lag ein Buch, das schon reichlich abgegriffen und befleckt wirkte. Von ihrem Sitzplatz aus konnte sie kaum erahnen, was auch nur ansatzweise drinnen stehen mochte, aber von dem Graphitstift zu schließen, den er in der linken Hand hielt, waren es keine sonderlich genauen Niederschriften, nicht so wie Tava, die möglichst viel auf möglichst kleinsten Raum zu quetschen versuchte. Es wirkte viel eher wie eine Zeichnung, was irgendwie zu dem Mann passen mochte. Schließlich versuchte er schon, seine Umwelt mit Worten zu verzaubern, da würde es auch passen, dass er es auch mit wahrhaftigen Bildern versuchte.
      Ihr Blick fiel auf die Schriftzeichen seiner jetzt entblößten Hand hinab und sie versuchte, sie für einen Moment zu entschlüsseln, bevor sie erst begriff, dass er zu ihr gesprochen hatte.
      Meine was?
      Ihre Geschichte. Schlagartig fielen ihre Mundwinkel herab und sie zog die Stirn in Falten.
      Ich habe doch schon gesagt, dass ich mein Siegel verloren habe”, begann sie, aber Malleus redete schon weiter. Das Siegel interessiert ihn gar nicht, dafür interessierte Tava nicht das nebensächliche Kompliment, das er ihr wohl gab. Sie hatte ein Talent für Feuer, sehr richtig. Das sollte doch wohl jedem klar sein.
      Unmerklich richtete sie sich bei dem Kompliment trotzdem ein Stück auf.
      Vielleicht bist du einfach nicht den richtigen Alchemisten begegnet. Feuer ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Arbeit, es schadet nicht, sich mehr damit auseinanderzusetzen”, verkündete sie fast überheblich. “Und ich weiß, dass Drachen - vielleicht nicht alle, aber sicher ein paar - Feuer spucken. Das ist doch interessant, findest du das nicht? Wo kommt es her, wo wird es produziert? Wo kommt es heraus? Haben sie eigene Drüsen dafür? Wieso verbrennen sie sich nicht daran? Halten die Schuppen es auf? Wieso können es nur ein paar Drachen? Wo nehmen sie den Brennstoff her? Wenn ich herausfinde, dass irgendein”, sie machte eine vage Handgeste, “Magen Schwarzpulver produziert und das ausstößt, oder sowas, werde ich einen Besen fressen. Und danach einen Drachen ausweiden.
      Ihre Augen glitzerten von der Intensität unausgesprochener Worte, die sie noch über dieses Thema hätte verteilen können. Sie betrachtete Malleus und sie tat es mit einem Wahn im Blick, der von nichts anderem rührte, als von einer lebenslangen Leidenschaft.
      Und wenn ich es herausgefunden habe”, sprach sie weiter und ein feines Lächeln spielte sich auf ihr Gesicht. Sie betrachtete Malleus für eine Sekunde, dann zuckte sie abwertend mit den Schultern.
      Weiß ich es.
      Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Alle Wünsche, alle Träume, alle Visionen, die Tava sich mit ihrer Arbeit zu erfüllen hoffte, behielt sie für sich. Das war auch besser so, wie sie gelernt hatte. Besonders gegenüber jemandem wie Malleus, der seine Stimme, sein Gesicht, seinen ganzen Körper dazu nutzte, sein Gegenüber zum Kooperieren zu verleiten, war es besser, ihm nicht alles zu sagen. Besser für ihn und für ihre Umwelt.
      Dafür musste sie ehrlich das Interesse teilen, dass Malleus im Anschluss gleich Devon entgegen brachte. Der Lacerta hatte während ihres Marsches irgendwann seinen Schal abgenommen und entblößte jetzt ein überraschend - oder auch enttäuschend - menschliches Gesicht mit gestochen scharfen, reptilienartigen Augen und angespitzten Ohren. Hätte er sich so schon in Celestia entblößt, hätte man ihn wohl von vorne für eine etwas missratene Gestalt halten können, aber je länger Tava ihn begutachtete, desto weniger fielen ihr wirkliche Auffälligkeiten auf. Er hatte ein paar Narben im Gesicht und schien eine dicke Haut zu haben. Das war alles.
      … Ob sie mal einen Abstrich von seiner Wange nehmen dürfte? Wenn er gute Laune hätte, würde sie einmal versuchen, ihn danach zu fragen.
      Ansonsten saß er recht unbewegt vornüber gebeugt und nähte an seinem Harnisch herum, den er sich beim Drachen eingerissen hatte. Seine Bewegungen waren geübt und flink, also nicht das erste Kleidungsstück, das er wieder flicken musste. Das bestätigte Malleus’ Beobachtung darüber, dass Devon seine Drachen nicht für Belohnungen oder Trophäen tötete, andernfalls hätte er sich wohl schon eines neuen Harnischs bedient.
      Die Antwort darauf kam aber so unerwartet und trotzdem so passend, dass Tava kurz auflachte.
      Hah! Ja, tut er wirklich.
      Es handelte ihr einen Blick ein, der für sich alleinstehend vielleicht harmlos sein mochte, ihr in diesem Zusammenhang aber einen unangenehmen Schauer über den Rücken jagte. Instinktiv wandte sie ihm gleich die Hörner zu, erinnerte sich an seine Unverfrorenheit, wandte sie wieder ab, mochte es nicht, sich ihm so zu präsentieren. Ihr Gesicht fiel ein, als sie wieder in den Kreislauf zu fallen drohte, der sie in Celestia schon ergriffen hatte. Stattdessen versuchte sie ganz schnell wieder abzulenken und sah zurück zu Malleus.
      Willst du das etwa wissen, damit du uns wieder darüber belehren kannst, dass die Drachen alle Lebewesen von ihren Sünden befreien werden? Sowas glaubst du doch selbst nicht, oder? Sei ehrlich. Du hast da übrigens deine Hand mit dem Stift erwischt, nicht das Papier.
      Sie nahm sich ein relativ heiles Stück ihrer Zunge, spießte es mit einem Stock auf und hielt es dann über das Feuer.
    • Mit ungeteilter Aufmerksamkeit lauschte Malleus den Ausführungen von Tava. Ein winziges, zufriedenes Lächeln kräuselte sich auf seinen Lippen als die Cervidia sich unter seinem Kompliment ein kleines Stückchen aufrechter hinsetzte. Er beobachtete das kaum merkliche Zucken in ihren Schultern, die sich etwas strafften, und wie Tava das Kinn ein wenig mehr anhob. Die Körpersprache verriet ihm genug, um zu wissen, dass er das richtige Thema angeschlagen hatte. Die zusammengekauerte Haltung veränderte sich mit jeder Silbe, die regelrecht aus der Frau heraussprudelten. Fragen über Fragen, deren Antworten Malleus weder reizten noch wirklich interessierten, aber er empfand eine seltsame Genugtuung dabei, wie diese Faszination die eingeschüchterte Cervidia zurück aus ihrer Schale lockte. Über diese ungewöhnliche Leidenschaft zu sprechen, baute das angeknackste Selbstbewusstsein langsam wieder auf. Tava brannte für diese unorthodoxe Faszination für die Naturgewalten, die ihre Welt plagten. Die Beweggründe mochten grundlegend verschieden sein, aber im Kern verstand Malleus die Faszination, die Außenstehende abfällig mit wahnhafter Besessenheit betitelten. Er wusste, wie es sich anfühlte, für verrückt gehalten zu werden. Etwas über ihre eigentliche Geschichte erfuhr Malleus trotzdem nicht. Tava blieb ganz beim Thema der gefürchteten Drachen und offensichtlich lag ihr eigentliches Interesse bei den feuerspeienden Exemplaren.
      Um seine Mundwinkel zuckte das Lächeln, das durch die tanzenden Schatten auf seinem Gesicht beinahe gänzlich verloren ging.
      Malleus sah von seinem skizzierten Kunstwerk auf und ein dunkles, raues Lachen erklang. Es war nicht mehr als ein tiefes Brummen tief in seinem Brustkorb.
      "Dann ist heute mein Glückstag, Tava, dass Du die Dinge richtig stellst. Ich hätte mich sonst bei meiner nächsten Begegnung mit einem Alchemisten wohl gehörig zum Narren gemacht."
      Die beinahe schwarzen Augen, schimmernd wie polierter Obsidian, spiegelten das Licht des Feuers. Im Flammenschein erzeugte die glänzende Schwärze die überzeugende Illusion, dass seine Augen von innen heraus glühten. Nachdenklich klopfte der Mann mit dem Graphitstift einen nur ihm bekannten Takt auf das grobe Zeichenpapier.
      „Deine Leidenschaft ist also das Drachenfeuer? Ein gefährliches Forschungsgebiet, Tava. Ich verstehe deine Faszination, aber Drachenfeuer ist kein Element, das in die falschen Hände gehört. Es ist zu heiß, zu eigenwillig. Eigentlich gehört es in keine sterblichen Hände.“
      Da war mehr, das Tava umgab. Eine Geschichte, das wusste Malleus, die sie nicht bereit war leichtfertig einem Fremden preiszugeben.
      Kluges Mädchen, dachte er.
      Devons knappe Antwort entlockte dem Anführer der Signa Ignius einen eigenartigen Laut zwischen einem verschluckten Lachen und einem ungläubichen Schnauben. Selbst die Cervidia lachte und schenkte den Worten wohl genauso wenig Glauben.
      "Natürlich, Devon. Wie komme ich nur auf die Idee, dass es etwas gänzlich anderes sein könnte?"
      Es könnte an den Schuppen liegen, die nicht existierten, und deren Textur sich Malleus unter seinen Fingerspitzen vorstellte, obwohl er wusste, dass eine Berührung eine Unmöglichkeit war. Es könnte an den seltsamen Auswüchsen seiner Schulterblätter liegen, die es ebenfalls nicht gab. Jedenfalls hatte Devon ihnen diesen Schwur abgenommen.
      Während Tava sich zumindest auf ein halbwegs vernünftiges Gespräch einließ, blockte Devon mit der ersten Antwort bereits ab. Malleus spielte mit dem Gedanken nachzubohren, beließ es dann aber dabei. Er hatte nicht den Eindruck, dass eine aufdringliche Fragerei ihn bei Devon auch noch einen Hauch weiterbrachte.
      Beiläufig und mit Geschick ließ er den Graphitstift über die Fingerknöchel tanzen ehe er ihn in einer kleinen Lasche am Buchrücken verstaute. Jetzt kippte er das Skizzenbuch ebenfalls ein wenig und offebarte eine bemerksenwert detailierte Zeichnung des schwerfälligen Felsendrachen.
      Als Tava erneut das Wort ergriff, sah er sie ernst an.
      "Die Frage stelle ich aus persönlichem Interesse", antwortete er. "Ist es verboten, wissen zu wollen, mit wem ich an ein unbekanntes Ziel reise?"
      Mittlerweile glaubte er, dass sowohl Tava als auch Devon noch nie etwas von der Gemeinschaft gehört hatten. Das war gut so. Es bedeutete, dass Malleus und seine Anhänger ihre Aufgaben gewissenhaft ausübten. Das schmale Lächeln blieb trotz der Ernsthaftigkeit seiner Worte.
      "Meine Überzeugung ist kein Witz, Tava. Die Signa Ignius sind kein Witz. Ich bin davon überzeugt, dass mächtige Wesen wie Adrastus die Welt reinigen. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass sie nicht den Einzelnen von seinen Sünden befreien, sondern die Welt von den Sündern. Das ist ein Unterschied."
      Malleus hob die entblößte Hand und drehte seinen Handrücken in den Lichtschein des Feuers.
      "Aus Feuer geboren, kehren wir zum Feuer zurück. Wir, die Gezeichneten in einer Welt der kalten Asche, werden uns erheben, wenn die Welt brennt."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 5 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Devon rümpfte die Nase, als er den Geruch von gegrilltem Fleisch wahrnahm. Er sah kurz von seinem Werk auf, entdeckte das Stück Zunge, das zischend über dem Feuer briet, und dann wieder zurück seine Nadel. Wie konnte diese Ziege ihr eigenes Forschungsobjekt auch noch essen? Hatte sie überhaupt eine Ahnung, dass die meisten Drachen nach dem Tod so viel Säure in den Zellen freisetzten, dass sie schlichtweg nicht essbar waren? Falls nicht würde sie gleich eine einmalige Erfahrung machen.
      Mehr als die Stille von vorhin gab es nicht, was sich Devon zurzeit wirklich wünschte. Es gefiel ihm nicht, dass dieser Fanatiker versuchte, ihre Personas besser zu begreifen. Je mehr Informationen man preisgab, umso stärker vergrößerte man die persönliche Angriffsfläche. Das war einer der Gründe, warum er sich lieber bedeckter hielt. Zu viele Erfahrungen aus seinen jüngsten Tagen hatten ihm bewiesen, dass man gerade den machthungrigen Menschen niemals trauen konnte.
      Genau wie den Drachen. Auch denen durfte man kein größeres Vertrauen entgegenbringen. Egal wie klein und unscheinbar sie anfingen, am Ende waren sie alle Katastrophen, die weder Freund noch Feind kannten. Jene mit Feuer waren zerstörerisch, ohne Frage, aber sie waren dabei nicht die einzigen. Devon hatte mehrere Arten gesehen, von denen selbst er sich zu den jeweiligen Zeitpunkten zurückziehen musste, weil er sie nicht hätte zur Strecke bringen können. Deshalb war ihm auch klar, wie fatal das Feuer sein konnte. Was es binnen Sekunden anrichten konnte. Er hatte es schließlich am eigenen Leibe erfahren.
      Also tat Devon seinen vorerst letzten Stich und hatte damit sein Wams so gut es ging wieder beisammen. Trotzdem würde er nicht darum herumkommen, sich einen neuen kaufen zu müssen. Solche in seiner Größe zu finden war immer eine Pein. Er würde also bezahlte Aufträge erledigen müssen, bis er sich einen Neuen leisten konnte. Resigniert legte er das Wams über seinen Rucksack, drehte sich seitlich zum Feuer, damit er auch da etwas Hitze abbekam, und streckte die langen Beine aus. Fast beifällig fiel sein Blick auf das leicht gekippte Skizzenbuch, wie sich herausstellte, und eine detaillierte Zeichnung des Felsendrachen offenbarte. Der Mann hatte eine erstaunliche Auffassungsgabe. Binnen kürzester Zeit hatte er aus dem reinen Gedächtnis das Abbild von nur Minuten gezeichnet. Erstaunlich, wie Devon befand. Erstaunlich und zeitgleich beunruhigend. Wie exakt würde er wohl die Schuppen auf seinem Rücken skizzieren können?
      Devon wusste nicht, dass er Malleus einen niederträchtigen Blick zuwarf, als sich seine Gedanken dorthin bewegten. Scheinbar fiel es auch nicht unbedingt auf, weil Tava Malleus ablenkte und dieser am Ende seine bloße Hand in den Feuerschein reckte. Als der Jäger die schwarzen Linien als eben solche erkannte, verengten sich seine Pupillen kaum merklich weiter.
      „Also wäre es dir recht gewesen, wenn Adrastus zurückgekommen und die gesamte Stadt niedergebrannt hätte? Sie ziehen unwillkürliche Spuren der Verwüstung hinter sich her, egal, ob kultiviert oder Brachland. Selbst in Celestia gibt es nicht ausschließlich Sünder, so wie du sie nennst.“ Vermutlich hatte Devon noch nie in der Anwesenheit seiner ungewollten Gefährten so viel an einem Stück gesprochen, aber nun war er in Fahrt gekommen. „Was ist denn mit den anderen Drachen? Hat sich deine Sekte nur den Feuerdrachen verschrieben und ignoriert all die anderen? Was ist mit den Eisdrachen, die Kilometer weit alles in Permafrost versetzen und Leichen unterhalb der Sonne konservieren? Ganze Naturabschnitte einfach stilllegen?“
      Ganz kurz warf er einen flüchtigen Blick über seine Schulter zu Tava. „Würde ich an deiner Stelle nicht essen, außer du stehst auf verdammt saures Essen.“
      Dann war er wieder bei Malleus. „Welchen Zweck haben die Tätowierungen bei dir? Ein Aufstiegsritus oder welche banale Erklärung hat man dir eingetrichtert?“, fragte er mit einem hörbaren Level an Aggressivität in der Stimme. Er selbst trug solche Linien am Leibe, wenn auch aus einem anderen Ursprung. Zumindest war sich Devon dessen sicher, aber er musste potenzielle Schwachstellen herausfinden, die nicht einzig und allein in der Körperkraft lagen. Früher oder später würden ihm seine kräftigen Glieder nichts bringen und er in einer Situation sich befinden, wo er andere Druckmittel ausnutzen müsste.
      Tava hatte er zu gewissen Teilen schon unter Kontrolle. Den Menschen dort jedoch noch nicht.
    • Sich mit Malleus zu unterhalten war durchaus eine entspannte Angelegenheit, denn der Mann schien, trotz seiner fanatischen Überzeugung, eine recht offene Weltansicht zu haben. So störte er sich überhaupt nicht an ihrer temporären Überheblichkeit, sondern war sogar noch dankbar, und begegnete ihrem Wahn nicht mit Unglauben oder Ablehnung, sondern schlichtem Unwissen. Für Unwissen konnte Tava dann auch niemanden verurteilen. Nicht jeder konnte so intensive Nachforschungen betreiben, wie sie es tat.
      Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite.
      Alles Feuer kann gezähmt werden, selbst Drachenfeuer.
      Und bei dieser endgültigen Aussage beließ sie es auch. Das musste Malleus ihr nicht glauben, wenn er nicht wollte.
      Ihr Blick fiel hinab auf den bis eben noch reglosen Stift in Malleus’ Hand, der wie von selbst ein Eigenleben entwickelte, über seinen Handrücken schwang und dann am Buchband verschwand. Sein Abgang krönte ein Blick auf das, was er auf dem Papier produziert hatte:
      Ein auffällig echter, realer Drache im Kleinformat duckte sich dort auf der Seite, die viel zu dicken, gepanzerten Beine in einer lauernden Haltung gespreizt, der Kopf in einer Bewegung, bei der man meinte, er würde gleich aus dem Buch hervorsehen und mit seinen unergründlichen, wilden Augen die kleine Gemeinschaft erspähen. Detailgetreue Schuppen zierten seinen Körper, allesamt so groß wie Felsbrocken. Tava waren die Schuppen überaus vertraut, schließlich hatte sie sich an ihnen festzuhalten versucht.
      Der Drache sah täuschend echt aus. Wie hatte Malleus das auf die Reihe gebracht? Mit einem einfachen Stift und das auch noch in der kurzen Zeit?
      Tavas Augen wurden schmal, dann wurden sie gleich größer. Ob er auch andere Dinge zeichnen konnte - Pflanzen? Blüten? Detailgetreue Gesteinsfaserungen?
      Sie starrte den Drachen noch ein wenig an, dann hob sie den Blick.
      "Nein. Nein, ist nicht verboten."
      Natürlich war es das nicht - solange er nicht wieder auf ihr nicht vorhandenes Siegel zu sprechen käme.
      Er hob seine Hände kurz darauf gegen das Licht des Feuers, um die Linien zu zeigen, die darauf zu sehen waren, und aus denen Tava sich nicht sonderlich viel machen konnte. Es war Gekritzel, nicht sehr viel mehr als das - das konnte auch die ominöse Prophezeiung nicht ändern, wenngleich der Feuerteil interessant war. Glaubten sie etwa daran, die Welt würde in Flammen aufgehen? Kein unbedingt schlechter Gedanke, wie Tava empfand.
      Da mischte sich aber auch schon Devon ein, der bisher in sturer Schweigsamkeit an seinem Wams genäht hatte, jetzt aber Malleus mit einem intensiven Katzen-Blick bedachte. Beinahe hätte man meinen können, dass der Lacerta doch tatsächlich versucht war, Konversation zu betreiben, wenn auch auf seine eigene Weise. Und dabei war es auch noch ein Einwand, den Tava zum Teil selbst nachvollziehen konnte.
      Zumindest bis zu dem Teil, als er ihr doch wirklich vorschreiben wollte, ihre eigene Trophäe nicht zu essen. Da hatte er sie wieder verloren.
      "Gib du mir keine Ratschläge, ich komme sehr gut alleine zurecht."
      Sie drehte ihr Stück Fleisch etwas über der Flamme, stellte sicher, dass es auch von allen Seiten gut gebraten wurde. Wann war denn eine Drachenzunge gar? Ganz egal, das würde sie wohl eh bald herausfinden.
      "Hast du noch mehr davon?", fragte sie ergänzend zu Devons Rede von den Schriftzeichen, sah jetzt aber auf ihr Fleisch hinab. Das war doch schon genug. Sie holte es am Stock zu sich heran, begutachtete es prüfend und pustete darauf, bevor sie einen experimentellen Bissen nahm. Es war noch heiß, verbrannte ihr ganz gezielt die Zunge und den Gaumen, war außerdem ziemlich zäh, sehnig und...
      Tava verzog das ganze Gesicht, drehte sich gleich vom Feuer weg und spuckte den Bissen im hohen Bogen aus. Der Geschmack verschwand sofort, nicht aber die grauenhafte, widerliche Säure, die plötzlich ihre ganze Zunge und ihren ganzen Mund benetzte. Es war absolut ekelhaft, als hätte sie sich dazu entschieden, ein Glas Spülwasser als Geschmacksverstärker zu verwenden. Sie spuckte mehrere Male aus.
      "BAH! WÄH! WAH!"
      Erst, als ihr Mund keine Spucke mehr übrig hatte und sie glaubte, das schlimmste überstanden zu haben, drehte sie sich wieder um - und nahm den Stock erneut zur Hand. Ärgerlich untersuchte sie das Fleisch, das nichts weiter als das war: Einfach nur Fleisch. Aber Devon musste irgendeine Ahnung davon haben, die Tavas um einen Schritt überstieg und das passte ihr so gar nicht. Er sollte sich nicht in ihre Experimente einmischen.
      Nochmal.
      Im Namen der Wissenschaft nahm sie also noch einen Bissen, diesmal von der anderen Seite, und unterlag dem selben Geschmack, der ihre Zunge zum Weinen brachte. Wieder spuckte sie aus, dann nahm sie das Stück und schleuderte es zornig ins Lagerfeuer. So viel zu ihrem Abendessen.
      "Scheißding!"
      Dann eben langweiliges Brot. Sie hatte auch noch ein bisschen Käse, glaubte sie. Aber bevor sie danach kramen konnte, machte sie gleich eine nächste, überaus interessante Beobachtung, die sie innehalten ließ: Das Fleisch verbrannte nicht. Es wurde nicht schwarz, es verschrumpelte nicht, es dampfte auch nicht im Feuer. Es lag einfach dort drinnen zwischen den Flammen, als würde es unbefleckt auf der Erde liegen.
      Da sah sie es doch wieder fasziniert an, nahm sich ihr Buch und schrieb die Beobachtungen eifrig auf.
    • Der Lacerta zeigte sich ungewöhnlich gesprächig. Entweder hatte Devon genug davon schweigend dem Geplänkel seiner Mitreisenden zu zuhören oder Malleus hatte etwas gesagt, dass sein Interesse weckte. Wobei Interesse wohl nicht das richtige Wort dafür war. Den Ausdruck seiner ungewöhnlichen Augen mit den geschlitzten Pupillen konnte Malleus in erster Linie als argwöhnisch bezeichnen. Er folgte der Blickrichtung und bemerkte, dass seine Sitznachbarn um das Feuer auf die Zeichnung starrten, Tava mit milder Begeisterung und Devon mit einer Mischung aus Argwohn und…Besorgnis? Malleus warf dem Lacerta aus dem Augenwinkel einen interessierten Blick zu. Was an einer Zeichnung konnte den selbsternannten Drachenjäger, der Leib und Leben im Kampf gegen heimtückische Bestien riskierte dermaßen beunruhigen? Es klickte in Malleus Verstand und mit dem Daumen verwischte er wissend die äußeren Konturen der gewaltigen, versteinerten Schuppenplatten am Rücken der skizzierten Miniaturversion des Felsendrachen.
      Devon befürchtete, dass Malleus sein kleines Geheimnis bei nächster Gelegenheit ausplauderte. Er mochte ein redseliger Zeitgenosse sein, aber er hatte nicht die Angewohnheit mit wertvollen Informationen wahllos um sich zu werfen. Was der Lacerta auf seinem Rücken verbarg, war zu kostbar, um in falsche Hände zu geraten. Malleus bezweifelte, dass es genügend Menschen gab, die das seltene Phänomen zu würdigen wussten. Er sah zu Tava herüber, die in Celestia ihre Entzückung über die grünen Schuppen kaum hatte verbergen können.
      Als Devon das Kreuzverhör eröffnete, erschien ein belustigtes Grinsen auf Malleus‘ Lippen.
      „Die Gemeinschaft der Gezeichneten ist alt, Devon. Adrastus hat den Landstrich um Celestia und die dazugehörige Bauernprovinz in der Vergangenheit mehrfach heimgesucht und verwüstet. Es gibt nicht viel, das die Menschen in dieser Gegend mehr fürchten als das Drachenfeuer. Die Generationen wuchsen mit der Zerstörung durch die große Feuergeißel auf und gaben die Geschichten an ihre Kinder und Enkelkinder weiter. Wir verschließen die Augen nicht vor den anderen göttlichen Kreaturen, aber nichts hat mehr Bedeutung für die Signa Ignius und Celestia als das Drachenfeuer. Ein Flammenmeer mag alles auf seinem Weg zerstören und verzehren, aber aus der fruchtbaren Asche geht neues Leben hervor. So ist es bereits geschehen, als die vorangegangenen Ältesten ein Kind aus der Asche eines Bauerndorfes zogen. Unversehrt. Es war ein Wunder und die Gemeinschaft nahm das Kind auf."
      Malleus klappte das Skizzenbuch zu.
      "Wie dem auch sei..."
      Zu keinem Zeitpunkt unterbrach er den Blickkontakt zu Devon. Das zugängliche Lächeln in seinem Gesicht war das Ergebnis langer Übung. Der geduldige Unterton seiner Stimme ließ seiner Worte nicht wie die Belehrungen eines starrsinnigen Gelehrten klingen. Malleus lächelte, als erzählte er die Geschichte aus einem Märchenbuch, in dem Grausamkeiten eine Lehre für das Volk darstellten.
      „Eis hingegen…“, fuhr er fort und griff dabei das Bespiel des Lacerta auf. „…lässt die Welt stillstehen. Das Leben, eingefroren in einem Augenblick der Geschichte. Es konserviert was einst war, aber unter der harten Eisschicht gibt es keine Chance auf neues Leben.“
      Tava widmete sich ganz und gar der Drachenzunge, die sie trotz der Warnung genüsslich über dem Feuer röstete. Zumindest schien sie das zu versuchen. Sie hatte sich genug von der einschüchternden Präsenz des Lacerta erholt um im Widerworte entgegen zu schleudern. Vielleicht hatten Malleus freundliche Worte ein wenig Wirkung gezeigt.
      Etwas blitzte in den dunklen Augen von Malleus auf, als Devon die Tätowierungen auf seinen Händen unmittelbar mit derselben Abfälligkeit ansprach. Eine Stimmelage, die binnen Sekunden in Feindseligkeit umschlug. Malleus ließ sich nichts anmerken, aber offenbar machte er den Lacerta dermaßen nervös, dass sich dieser mit Aggressivität behelfen musste. Tava schloss sich mit einer weiteren Frage an.
      „Kein Aufstiegsritus. Kein Zugehörigkeitsymbol", sagte Malleus und schüttelte leicht den Kopf. "Sie sollen mich an etwas Wichtiges erinnern, nachdem die Gemeinschaft mich zu ihrem neuen Fürsprecher ernannte. Und nein, ich habe nicht noch mehr davon."
      Nie wieder, dachte Malleus und ein undefinierbarer Ausdruck huschte über sein Gesicht. Sorgfältig zog er den Lederhanschuh wieder über die entblößten Finger bis die verschlungenen Linien wieder gänzlich vor neugierigen Augen geschützt waren. Die Blicke der Männer verkeilten sich in einander während die Anspannung zusammen mit den Flammen wuchs.
      "BAH! WÄH! WAH!"
      Malleus blinzelte und zuckte sogar vor Schreck ein kleines Bisschen.
      Die erhitzte Stimmung zwischen Malleus und Devon bekam eine kurze Verschnaufpause, während Tava sichtlich angeekelt versuchte den Geschmack der Drachenzunge loszuwerden. Ein leises, amüsiertes Schnauen erklang aus Richtung des Kultisten, der absichtlich nie das Wort Kult oder Kultist in den Mund nahm. Die Begriffe hatten einen zu negativen Klang. Gemeinschaft war ein so viel schöneres Wort.
      Er folgte Tavas Blick zum Feuer, als diese plötzlich erstarrte.
      Das schleimige Fleisch der Drachenzunge verbrannte nicht, sondern lag unberührt in der Glut.
      Malleus beschloss den Versuch zu unternehmen, die Wogen ein wenig zu glätten.
      "Vielleicht sollten wir zwischendurch doch auf dich hören, Devon, bevor wie uns selbst vergiften."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Mit Müh und Not unterband Devon ein Schnauben. Seine Gemeinschaft solle alt sein? Der Clan der Lacerta war alt. Bei den Ureinwohnern, Devon war ja sogar etliche Jahre älter als dieser Mensch vor ihm. Wahrscheinlich war er sogar älter als Mensch und Cervidia zusammengenommen, nur wussten sie das nicht. Und dann sprach er von Altersangaben?
      „Ah“, machte Devon nur knapp, so als erkläre dies allein sämtliche Fragen, die sich mittlerweile im Raume sammelten. Man hatte also ein Kind aus der Asche gezogen, das vermutlich unter etlichen Schichten von Stein, Holz und Schutt vor den Flammen geschützt gewesen war. Das reichte schon aus, um einem glücklichen Zufall eine himmlische Bedeutung zu zuschreiben. Und wenn den Jäger nicht alles täuschte, dann…
      Er blinzelte. Wie konnte Malleus, der so belesen und wissbegierig schien, denn nicht wissen, dass er einem Fehler oblag? Der Permafrost tötete alle großen Lebewesen, aber überall dort, wo sich das Eis niedergeschlagen hatte, kam nach der Tauzeit eine völlig neue Flora zum Vorschein. Pflanzen, die sich sonst nie durchgesetzt hätten, nutzten den neugewonnenen Raum und entfalteten sich schneller als alt etablierte Varianten. Das hatte er eigenständig in einem Teil seines Waldes erlebt, das noch vor seiner Geburt eingefroren und viel später wieder aufgetaut war. Die Bäume und Farne, die dort nun wuchsen, grenzten ein völlig neues Biom zum restlichen Wald ab.
      Doch das behielt Devon für sich, schloss die Augen und wandte sein Gesicht dem heißen Feuerschein zu, um die Wärme weiter aufzusaugen. Nur für einen Moment, ehe er sich doch wieder dazu geneigt fühlte, Malleus niederzustarren. Jedenfalls, bis eine gewisse Ziege plötzlich angewidert aufschrie und Devon zum zweiten Mal ein Schnauben runterschlucken musste. Wieso hörte denn niemand von dem jungen Volk auf ihn?
      Natürlich. Weil er ein Echsenmensch war. Was denn sonst.
      „Felsendrachen sind feuerresistent. Sie speien selbst keines, sind aber aufgrund ihrer Natur enormen Temperaturen widerständig“, erklärte Devon, wobei er das Stück Fleisch in den Flammen beobachtete, das noch nicht einmal Rauch erzeugte. „Man sollte generell keine Drachen essen. Niemand weiß, wie es sich auf den Organismus auswirkt.“
      Nicht ganz. Devon besaß Teilwissen, und mit Sicherheit gab es auf der Erde noch ähnliche Kundige wie ihn, die sich ganz eigenen Dingen verschrieben. Er hatte einst selbst das Fleisch eines erlegten Drachen probiert, ehe er herausfand, worauf er wirklich aus war. Seitdem hatte er sich tunlichst davon distanziert, etwas anderes als das zu verspeisen.
      „Man sagt allerdings den Augen eines Drachen hinterher, dass sie mittels ihres Blickes Lügen erkennen und das Böse strafen sollen“, erzählte er träge weiter. In Celestia hatte er keine Händler mit dem außergewöhnlichen Schmuck gesehen, aber er wusste, dass es sie gab. „Manche Händler verkaufen sie an Lederriemen, damit man sie um den Hals tragen kann. Wundert mich eigentlich, dass keiner von euch eines besitzt.“
      Eigentlich war ihre Gruppe mehr oder weniger zum Untergang verdammt. Sollten sie wirklich auf einen Drachen treffen, würde man Tava maximal als Ablenkung und Opfer einsetzen können. Malleus würde das Weite suchen, sofern es kein Feuerdrache war und Devon würde sich todesmutig in den Kampf mit der Bestie stürzen. Er konnte es immer noch nicht ganz fassen, wie er binnen Stunden plötzlich zwei Kletten an die Füße gekettet bekommen hatte, von denen er höchstens eine aufgrund einer Silberzunge vielleicht nutzen können würde. Die Andere würde er schnell loswerden müssen, bevor sie noch auf andere, wesentlich dümmere Gedanken kam.
      Apropos Gedanken.
      „Ist dir eigentlich nicht aufgefallen, dass der Felsendrache keine gespaltene Zunge hatte?“, fragte er Tava, nachdem sie ihre Einträge vervollständigt hatte.
    • Man hätte es überhören können - Tava, die von ihrer Drachenzunge erheblich an Aufmerksamkeit einbußen musste, hätte es beinahe überhört. Aber wenn jemand schon so offen von einem Flammenmeer sprach, war sie auch gleich hellhörig.
      Das schien wohl das Geheimnis nicht nur hinter dem ganzen Kult zu sein, der hinter Malleus spielte, sondern auch noch von Malleus selbst: Ein Kind, das man damals aus den Trümmern eines verbrannten Dorfes gezogen hatte, aber das unversehrt gewesen war. An dieser Stelle hätte Tava ja schon fast mit ihm sympathisieren können, aber das Gefühl war gleich wieder verschwunden. Ein unversehrtes Kind? Pah. Dann hatte er wohl nicht die eigentliche Großartigkeit des Drachenfeuers entdeckt. Das war ja schon fast eine Verschwendung.
      Ihr Blick schoss zugleich zu Devon, der sich höchst selektiv an dieser Unterhaltung beteiligte und dann wohl auch nur, um mit seinen Weisheiten zu prahlen. Aber zugegeben, mit der Feuerresistenz hatte er wohl recht, wenn man an das gewaltige Wesen dachte, das sich mit Felsen schützte. Nur…
      Das ist eine Zunge.
      Tava sagte das, als würde es schon alle ihre Gedanken offenbaren. Dass sie es trotzdem weiter ausführte kam ausschließlich daher, dass sie Devon zeigen wollte, dass er sicher nicht alles wissen konnte.
      Zungen haben anderes Gewebe und eine andere Oberfläche. Es muss ja nicht alles am Drachen feuerresistent sein.
      Damit hatte sie es ihm wohl gezeigt. Zwar wirkte der Lacerta höchst unbeeindruckt, aber das tat er ja die ganze Zeit schon.
      Malleus hingegen war nahbarer. Zumindest beantwortete der ihre Fragen und hatte auch mehr als zwei Mimiken drauf; dazu auch noch einen Ausdruck, der für den Bruchteil einer Sekunde über sein Gesicht huschte und dann wieder verschwand, als hätte er sich beinahe dabei erwischt, zu viel preiszugeben. Dabei konnte Tava sich kaum vorstellen, was es denn als Anführer eines Kultes, der als Wunderkind gepriesen wurde und dabei auch noch seine Haut entsprechend kennzeichnete, wohl für Geheimnisse geben konnte. Etwa, dass er seine Wäsche nicht selbst waschen musste?
      Zum zweiten Mal sah sie zurück zu Devon, um ihn finster zu betrachten. Er kam jetzt mit dem Drachenaugen-Märchen daher, wirklich?
      Wenn Drachenaugen das wirklich können, brauchen sie ja wohl ein Gehirn dahinter, um mit den Lügen auch etwas anzufangen, oder nicht? Was soll man dann mit einem Auge ohne Hirn anfangen?
      Sie klappte bestimmt ihr Buch zu. Das wichtigste hatte sie nun sowieso notiert.
      Natürlich ist mir das aufgefallen, aber was soll mir das sagen? Es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, weshalb die einen Drachen eine gespaltene Zunge haben und die anderen nicht. Gewöhnliche Reptilien benutzen sie zum Riechen oder Essen, aber das kann ein Drache sich durch seine schiere Größe schon sparen. Welchen evolutionären Vorteil soll es also bringen, etwa das Knochenmark aus den Knochen zu lecken, wenn sie auch alles gleich verschlingen können? Oder Feuer zu leiten, wenn es doch sowieso schon irgendwo aus ihrem Schlund entsteigt?
      Sie blitzte Devon herausfordernd an, bevor sie anfing, ihre Sachen wieder sicher zu verstauen und dann auch schon wegzupacken. Die Zunge als Abendessen hatte sich als Reinfall herausgestellt, jetzt würde sie zusehen müssen, dass sie die nächsten Tage noch genug davon verarbeitete. Vielleicht konnte sie auf die Schnelle vielleicht herausfinden, wie sich eine Drachenzunge konservieren ließ. Mit viel Salz? Das würde sie einmal probieren.
      Wenn du schon Fragen stellst, stell lieber eine solche. Das ist wesentlich interessanter.
      Tava richtete für die Nacht ihr Gepäck so her, dass alles schon verstaut war und sie ihren Körper um den Rucksack ringeln konnte, bis sie ihn von allen Seiten mit sich selbst schützen konnte. Immerhin war dort ihr Lebenswerk enthalten, Tava würde mit ihren Forschungen leben und sterben. Außerdem richtete sie ihre Hörner zum Lagerfeuer hin aus, schließlich ging von dort die aktuellste Gefahr aus mit den unfreiwilligen Begleitern, die sie jetzt hatte. Zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen waren da nicht verkehrt.
      Ich schlafe jetzt. Das Feuer brennt sicher noch für fünf Stunden und 40 Minuten. Wenn ihr weiter reden wollt, dann macht es woanders.
      Damit zog sie sich den Zipfel einer Decke aus der obersten Tasche, legte sie lose über sich und machte es sich gemütlich.
    • "Ah." Das war die spärliche Reaktion des Lacerta, der vermutlich bereits nach der Hälfte seiner Erzählung aufgehört hatte, ihm überhaupt zuzuhören. Missmutig zuckte Malleus' Augenwinkel, der sich seiner Meinung nach, genug Mühe mit seiner Ausführung gegeben hatte. Unhöflich, eine Frage zu stellen und dann die Antwort mit keinerlei Beachtung zu würdigen. Er war es gewöhnt, dass Worte ihm Tür und Tor öffneten, aber Devon ließ sich mit nichts aus der Reserve locken noch schien die Geschichte um das mystische Kind irgendeinen Hauch von Neugierde zu wecken. Ein wenig ärgerlich, aber kein Grund für Malleus gleich das Handtuch zu werfen.
      Tava zeigte sich ähnlich unbeeindruckt, obwohl für den Bruchteil einer Sekunde ein Funken von Verständnis in ihren Augen schimmerte. Die Besessenheit zum feurigen Element stammte demnach nicht von ungefähr. Die Geschichte sprach sie zweifellos auf einer persönlichen Ebene an. Etwas, mit dem er durchaus arbeiten konnte. Er musste nur vorsichtig genug sein, nicht zu viel von sich selbst dabei preiszugeben. Sollten sie ruhig die Verbindung zwischen dem namenlosen Kind und ihm ziehen. Das Wissen darum war kein streng gehütetes Geheimnis, denn jeder, der sich ein wenig eingehender mit den Signa Ignius befasste, würde früher oder später darauf stoßen.
      Malleus setzte ein freundliches Lächeln auf während sich das Gespräch zwischen ihnen wieder verlagerte und die fragwürdige Drachenzunge sich erneut in den Mittelpunkt schob. Verloren gegen eine bald verwesendes Organ... Der Punkt ging an die Drachenzunge, die unbeeindruckt in den glühenden Kohlen lag.
      "Ich verlasse mich lieber auf meine eigenen Augen", widersprach Malleus und erntete dafür verwunderte Blicke. "Ich bin ein gläubiger Mann, aber kein abergläubischer Narr. Es gibt keinen Beweis, dass Artefakte aus den Körpern erlegter Drachen tatsächlich ungewöhnliche Kräfte besitzen. Außerdem ist ein abscheulicher Frevel, die Überreste zu benutzen, um sich die Taschen mit Gold zu fühlen. Die Gier macht in diesen Zeit vor nichts Halt."
      Ein stilles Schmunzeln lag auf seinen Lippen, als amüsierte er sich darüber, dass seine Begleiter vermutlich mit der Vorstellung spielten, er würde in abstrakten Gewändern zu seltsamer Trommelmusik heidnische Ritualtänze vollführte. Er führte eine gut vernetzte Gemeinschaft mit Einfluss, keinen zweitklassigen Voodoo-Zirkel. Ganz ehrlich war Malleus in diesem Moment allerdings nicht. Er war kein Freund dieser schändlichen Ausbeutung, aber schwache Geister ließen sich dadurch leicht beeindrucken. Ein Umstand, der zeitweilig sehr nützlich war, um zu bekommen, was er wollte.
      Damit begnügte sich Malleus fürs Erste damit, dem hitzigen Wortwechsel zu lauschen. Wobei...eigentlich zeigte nur Tava wirklichen Enthusiasmus bis sie befand, dass sie den Lacerta genug in seine Schranken verwiesen hatte. Ein amüsiertes Funkeln blitzte in Malleus dunklen Augen auf. Devon wirkte beinahe gleichgültig und die Tirade fegte einfach über ihn hinweg. Während Tava ihr Nachtlager vorbereitet, heftete sich sein Blick ein weiteres Mal auf den Lacerta. Er machte sich nicht die Mühe, den Blick zu verbergen. Devons Sinne waren hervorragend so viel hatte er bereits demonstriert. Sein Blick glitt über den gekrümmten Rücken als der Echsenmensch sich näher zum Feuer beugte um mehr von der Wärme zu spüren.
      "Tava hat Recht. Wir sollten uns ausruhen", bekräftigte Malleus, wobei sein Lächeln keine Sekunde wackelte. "Uns stehts ein langer Fußweg bevor, wobei mir immer noch nicht ganz klar ist, wohin wir überhaupt unterwegs sind."
      Ein Seitenhieb, der sich unmittelbar wenn auch dezent gegen Tava richtete, die offenbar keine Information zu viel mit ihren Weggefährten teilen wollte. Beiläufig streifte Malleus seinen Ledermantel ab, den er als notdürftiges Kissen verwenden würde, denn am Feuer war es warm genug. Sorgfältig, fast penibel, faltete er das Kleidungsstück zusammen bis er mit der Dicke zufrieden war. Mit einem Ächzen rollte Malleus seiner verletzte Schulter ein wenig nach hinten, um die steifen Muskeln unter dem Verband zu dehnen.
      "Deine Selbstdisziplin ist wirklich beneidenswert, Devon. Jeder andere mit solchen Wunden, wie deinen, hätte nicht einmal den Weg bis zum Stadttor von Celestia bewältigt. Mein Schulter bringt mich fast um."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Devon begegnete Tavas finsterem Blick lediglich mit einem Seitenblick. Offensichtlich war sie in ihrem Forscherdrang nur auf ganz spezifische Aspekte fokussiert, eben jene, die das Feuer betrafen. Alles andere, was sich um die Drachen als Ganzes rankten, schien sie nicht zu interessieren. Mit ihrer Bemerkung hatte sie natürlich kein Unrecht, nur bezog sie sich lediglich auf das fundierte Wissen, das sich über alle anderen Tierarten etabliert hatte. Doch Drachen waren keine Tiere, Drachen waren etwas gänzlich anderes. Sie hatten sich nicht aus etwas entwickelt, sondern erschienen plötzlich wie der Ausbruch einer Seuche, was ihnen auch den Namen einbrachte. Sie waren viel zu wenig erforscht, um sicher sagen zu können, woher sie kamen und was ihr volles Potenzial war. Devon konnte ja nur den Kopf über die Tatsache schütteln, dass nicht einer der Beiden auch nur einmal infrage gestellt hatte, warum sich ausgerechnet der Felsendrache wieder in Stein verwandelt hatte. Alle anderen Drachen, die man erlegte, blieben für geraume Zeit als Kadaver zurück.
      Sowohl Tava als auch Malleus stellten viel zu wenig Fragen für das, was sie eigentlich verfolgten. Folglich erzählte Devon ihnen auch nicht, dass die Augen toter Drachen tatsächlich eine Reaktion zeigten. Selbst nach ihrer Entnahme veränderte sich die schlitzartige Pupille in den Augen, völlig unabhängig vom Lichtfall. Diese Tatsache hatte den Mythos gesponnen.
      „Die gespaltene Zunge hat was damit zu tun, wie sie ihr Feuer erzeugen“, sagte Devon knapp und hätte fast ein süffisantes Lächeln auf den Lippen gehabt, unterdrückte es aber noch in der letzten Sekunde und tarnte es, in dem er sich an seiner Wange kratzte. „Aber das wirst du ja noch herausfinden, ᏦᏝᏋᎥᏁᏋ ፈᏋᏒᏉᎥᎴᎥᏗ.“
      Damit ließ er seine Aufmerksamkeit für Tava fallen, die ihr Nachtlager bereits herrichtete. Freundlicherweise gab sie ihnen noch den Hinweis, leise zu sein, aber den ignorierte Devon geflissentlich. Dafür war er jetzt der ungefilterten Aufmerksamkeit des Menschen ausgesetzt. Ein Umstand, der Devon wesentlich mehr missfiel als er zugeben mochte. Natürlich konnte er Malleus einfach ignorieren, aber irgendwo hatte diese Taktik seine Grenzen. Wenn er den Mann als Schlüssel benutzen wollte, dann musste er sich auf den Drahtseilakt einlassen und ihn wenigstens mit geheuchelter Aufmerksamkeit beglücken. Denn wenn der Kultist davon ausging, dass der Jäger nicht bemerkt hätte, dass seine einsilbige Reaktion auf dessen Erzählung ihn ein wenig getroffen hatte, dann hatte er sich gewaltig getäuscht.
      „Ich nehme an, die Zie-, das Mädel, orientiert sich an Ortspunkten, wo sie diese ominösen Spuren zuletzt gesehen hatte. Wenn sie sie nicht findet, ziehen wir weiter in den Osten am Dorf Lacuna vorbei.“ Das hatte Devon jedenfalls auf der Karte gesehen, als er sich selbst orientieren musste. „Dort stocken wir Vorräte auf und ziehen weiter.“
      Nun schickte sich auch Malleus an, ein Lager aufzubauen. Er schlüpfte aus dem schwerwirkenden Mantel und brachte ein Leinenhemd zum Vorschein. Es war so dicht gewebt, dass man die dunkle Haut und etwaige Verbände darunter nicht sehen konnte. Mindestens so unverhohlen wie Malleus zuvor beobachtete der Jäger den Menschen dabei, wie er seine Schulter rollen ließ. Und dann wieder bewies, dass ihm andere Kleinigkeiten auffielen.
      „Ich bin immer noch ein Jäger. Ich bin häufiger verletzt worden, als ich zählen kann und wehleidigen Söldnern zahlt man keine Münzen“, erklärte Devon, der das Schwert in seiner Scheide an seine Brust anlehnte und damit gleich auch schlafen würde. Schutzlos legte er sich nicht nieder, das hatte der erste nächtliche Überfall einer Banditentruppe ihn gelehrt. „Lacerta sind widerstandsfähiger als Menschen. Vermutlich tragen wir die gleiche Menge an Blut in unseren Adern, aber unsere Schmerztoleranz ist größer.“
      Das war nur teilweise gelogen. Die Kindheit und Jugend des Echsenvolkes bestanden aus Blut und Schmerz, wenn sie lernten, sich im Dschungel und der Wildnis behaupten zu müssen. Wie man sich gegen seinesgleichen zur Wehr setzte und seinen Stand klarmachte. Ihre Herkunft unterschied sich von dem, wie Menschen ihre Kinder aufzogen. Dass Devon eine deutlich gesteigerte Regeneration besaß und seine Wunden auf seinem Rücken nicht mehr so tief waren wie zuvor, musste er dem Kultisten nicht auf die Nase binden. Es genügte dem Jäger das Wissen, woher diese Fähigkeit stammte, obzwar er den Grund dafür nicht nachvollziehen konnte. Vermutlich war es ratsam gewesen, das zu verzehren nachdem sich Tava und Malleus um die Wunden gekümmert hatten.
      „Wenn deine Schulter nur gezerrt ist, solltest du ruhig halten und nicht weiter als nötig bewegen“, schloss Devon für seinen Teil seine Worte und benutzte ebenfalls seine Tasche als Kissen, als er sich nah des Feuers lang auf die Seite ausstreckte. Das Schwert an seiner Brust war jederzeit griffbereit. Wenigstens ging Malleus nicht weiter auf das Thema ein. Dass es für ihn noch nicht ganz abgeschlossen war, stellte der Jäger allerdings nicht infrage.

      Am nächsten Morgen erwachte Devon erst mit den ersten Sonnenstrahlen. Das Feuer war längst verglommen und die Kälte der Nacht hatte seinen Körper in Besitz genommen. Er zog die Augenbrauen zusammen, als er die Beine unglaublich träge an den Körper zog. Normalerweise stand er nicht früh auf und wartete, bis die Sonne ihre Arbeit tat und ihn aus seiner Steifheit holte. Aber hier unten mit der Felswand im Rücken konnte er nicht darauf hoffen, von den Sonnenstrahlen geküsst zu werden. Ergo kämpfte er sich unglaublich schwerfällig auf, bis er wenigstens aufrecht saß und sein Schwert von seiner Brust beiseitelegen konnte. Rechts von ihm lag Malleus noch immer auf seinem perfekt gefalteten Mantel, doch von Tava war keine Spur zu sehen. Der Platz, wo sie genächtigt hatte, war leer und verlassen, ihre komplette Ausrüstung mitsamt der Cervidia verschwunden.
      Hatte sie sie doch versetzt?
      Devon schnaubte. Fast in Zeitlupe tastete er seinen Körper ab und untersuchte dann den Inhalt seines Rucksackes, um eventuell fehlende Dinge festzustellen. Doch alles war noch da und unberührt. So wie der Stand jetzt war, konnte sich Devon sowieso noch nicht für die weitere Reise erheben und Malleus war scheinbar auch noch nicht wach. Ergo würde er wohl warten müssen, bis mehr Zeit verstrich und er entweder auf Betriebstemperatur kam oder sich andere Fügungen ergaben. Zu schade, dass das meiste Brennwerk nur noch ein schwarzer Haufen war. Sonst hätte er sich wenigstens am Feuer erfreuen können.
    • Tava erwachte zu dem Geruch von Asche und verkohltem Holz in der Nase. Der Steinboden unter ihr war mit Staub und Ruß übersät, über ihr ragten die eingestürzten Holzpfeiler eines Hauses empor, hatten sie vor dem einstürzenden Dach bewahrt, bildeten jetzt ihren Käfig, in dem sie lag. Die Trümmerteile lagen überall um sie herum, große, geschliffene Steine, die vor nicht allzu langer Zeit mal eine Hauswand gewesen waren, eine grüne Farbe im Inneren, draußen abgeschliffen von der Natur und den Bewohnern. Zwischen den Trümmern ragten noch Überreste von Möbelstücken heraus, ein zersplittertes Bett, ein zermalmter Tisch, der Stoff eines Vorhangs, früher mal braun, jetzt schwarz. Es roch nach Feuer und nach Zerstörung, nach altem Leben, das ausgelöscht war, nach verbrannter Erde, nach verbranntem Fleisch. Man konnte die Nacht nicht riechen, die sich über sie gesenkt hatte, und man konnte auch nicht den Regen riechen, der sich über und unter Tava ansammelte. Von der abgebrochenen Spitze des einen Holzpfeilers tropfte es stetig herab, genau auf ihren Nacken, Tropf, Tropf, Tropf. Wenn sie ihren Oberkörper zur Seite bog, soweit, wie es ihr gefangener Unterkörper erlaubte, lag sie in Glasscherben. Wenn sie liegen blieb, tropfte es in ihren Nacken. Wasser oder Glasscherben? Wahnsinn oder Schmerz?
      Oder Feuer? Warmes, helles Feuer?
      Als sie die Augen ganz öffnete, war die Ruine verschwunden und durch einen unbedeckten Nachthimmel ersetzt. Das heruntergebrannte Feuer des Lagers hatte sie aufgeweckt, zuverlässig wie immer.
      Tava rollte sich unter ihrer Decke hervor, streckte sich wie eine Katze, schmatzte ein paar Mal und richtete sich dann auf. Ihre Augen mussten sich erst eine Weile fokussieren, bevor sie die beiden anderen Gestalten um das verloschene Feuer ausmachen konnte.
      Malleus hatte sein Lager mit der peniblen Sorgfältigkeit eines verwöhnten Stadtmenschen errichtet, indem er es so gut wie möglich ein Bett nachahmte. Schon verwunderlich, dass er sich überhaupt dazu herabließ, auf dem kahlen Boden zu schlafen. Devon hingegen schlief wie eine Statue, die man umgeworfen hatte. Das Schwert an seiner Brust schien jederzeit einsatzfähig und der Tasche konnte man sowieso nichts entnehmen unter dem dicken Kopf.
      Tava starrte beide Männer an, während sie darauf wartete, dass sie sich rühren würden. Aber während das erlischene Feuer sie selbst aus ihrem Schlaf geholt hatte, schienen die beiden anderen sich nicht im geringsten darüber zu stören, dass die Wärme und das Licht verschwunden waren. Es hätte fast schon gefehlt, dass einer von ihnen schnarchte.
      Tava saß noch ein paar weitere Minuten da, dann fasste sie einen Entschluss: Wer nicht rechtzeitig wach war, konnte eben selbst sehen, wie er weiterkam. Sie schulterte ihren Rucksack, wobei es einmal gedämpft darin klapperte und die undeutliche Gestalt von Malleus zuckte und sich dann herumrollte. Wie angewurzelt blieb sie stehen, unbewegt, darauf wartend, dass er aufwachen würde. Aber Malleus legte sich nur anders hin und rührte sich schon nicht mehr. Da war sie doch etwas vorsichtiger mit ihrem Gepäck, hievte es auf ihren Rücken und schlich dann möglichst leise vom Lagerfeuer davon.
      200 Meter weiter war sie dann auch endlich beruhigt genug, um mit gewöhnlicher Lautstärke weiter zu marschieren und dabei schadenfroh vor sich hin zu grinsen. Da hatten sie eben Pech gehabt mit ihrem Drachen. Es war ja nicht so, dass Tava sich freiwillig auf diese Konstellation eingelassen hätte!
      Idioten.
      Vergnügt ging sie weiter. Einen Drachen zu verfolgen war doch eine deutlich beflügelnde Angelegenheit.
      Fünf Minuten weiter in die Richtung fand sie einen Gesteinsbrocken, an dem sie sich gut hinsetzen konnte, um in ihrem Rucksack zu wühlen. Sie zog eine mittelgroße Phiole mit rötlichem Inhalt hervor, entkorkte sie, nahm einen Schluck, schüttelte sich vor Grauen über den Geschmack und steckte sie wieder weg. Dann kramte sie ein Stück Brot hervor und aß genüsslich.
      Die Sonne ging erst langsam auf. Tava war weit genug vom Lager entfernt, dass sie sie nicht mehr sehen würden. Ob die beiden bis zum Mittag schliefen? Schon möglich, die Eidechse würde sich sicher in der Sonne sonnen und der Kultist brauchte bestimmt ein ordentliches Frühstück. Vor dem Mittag zogen sie sicher nicht weiter.
      Sie verharrte vor ihrem nächsten Bissen. … Und was, wenn doch? Wenn sie gleich aufwachten und loszogen, könnten sie Tava einholen. Und wenn sie sie nicht einholen konnten… der Lacerta war ein Jäger. Drachen mochten auffälligere Spuren hinterlassen, aber das Grundprinzip war dasselbe und Tava konnte nicht von sich behaupten, dass sie sehr vorsichtig durch die Natur marschierte. Erst dort vorne hatte sie einen schlammigen Abdruck in der Erde hinterlassen, um den sie sich nicht geschehrt hatte. Und das war nun eine wirklich offensichtliche Spur; was würde Devon als Fachmann da noch finden?
      Und was noch viel wichtiger war: Was tat sie bei der nächsten Siedlung, bei der sie Halt machen musste? Mit ein bisschen Glück waren die Leute dort nicht so abergläubisch wie in Celestia, aber mit ein bisschen Pech begegneten sie Malleus mit Handkuss. Und dann herauszufinden, ob in letzter Zeit eine einsame Cervidia vorbeigekommen war, das würde wohl nicht allzu schwierig sein. Konnte sie sich überhaupt darauf verlassen, dass sie frei marschieren konnte, wenn Malleus erstmal seine Leute auf sie hetzte? Wo würde sie noch auf solche Verrückten stoßen, die ihn anhimmelten, als sei er ein Gott in Person? Wie viele Feinde würde sie sich damit machen, nicht auf seiner Seite zu sein?
      Tava starrte für viele Sekunden die Natur um sie herum an, dann stieß sie ein lautes, gequältes Stöhnen aus.
      Das gibt's ja nicht.
      Grob stopfte sie sich den Rest ihres Brotes in den Mund, rutschte vom Stein und marschierte dann in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war.
      Verbrannte Scheiße.

      Die beiden Herren waren zumindest wach, als sie zurückkam, aber sie hatten noch keine Anstalten gemacht, sich in irgendeiner Weise fertig zu machen. Tava trat mit einem finsteren Gesicht aus den Büschen hervor.
      Wird's jetzt bald? Die Sonne ist schon längst aufgegangen, wenn ihr noch weiter herum trödelt, wird sie gleich auch wieder untergehen.
      Sie wartete nicht auf die Antwort, drehte sich stattdessen um und stolzierte zurück ins Dickicht hinein. Das war ja wohl genug, um sie zum Kommen zu bewegen. Sie sollte damit recht behalten.
      Was am vorherigen Tag schon nicht sehr zur Geltung gekommen war, nachdem sie recht spät erst losgezogen waren, zeigte sich am heutigen Tag umso stärker: Tava mochte vielleicht einen Pfad haben, dem sie strikt folgte, aber sie ließ sich unheimlich leicht ablenken. Im einen Moment konnte sie zielgerichtet marschieren, im nächsten Moment plötzlich die Richtung ändern, weil sie in der Ferne eine Ansammlung von Blüten entdeckt hatte und sie sich unbedingt ansehen wollte. Nachfragen, ob sie auch wisse, wohin sie ging, tat sie von Grund auf ab. Wenn die anderen die Spuren haben wollten, würden sie ihr wohl folgen müssen.
      Die Nächte liefen ähnlich zur ersten Nacht ab. Sie schlugen ihr Lager auf, was bedeutete, dass Tava ihr Feuer entfachte und sie dann ihren jeweiligen Beschäftigungen nachgingen, meistens, ohne dabei große Unterhaltungen zu führen. Tava schlief stets als erste, war aber auch die erste, die wach und putzmunter war und dazu drängte, endlich weiterzuziehen.
      Es war bis zum dritten Tag ihres Aufbruchs, als sie am Rand eines kleinen Grabens stehenblieb, in dem ein leichter Bach dahinfloss. Sie verharrte dort einige Augenblicke und betrachtete die Gegend.
      Hier waren… Veilchen. Ganz sicher.
      Sie runzelte die Stirn, trat dann auf den Rand des Grabens und schlitterte die Erde bis zum Bach hinab. Es ging maximal zwei Meter nach unten, ehe sie schon bei dem kleinen Bach angekommen war.
      Ganz, ganz sicher.
      Sie sah sich um, folgte dem Wasser dann bis zu seinem Ursprung, wo es in der Erde verschwand, und ging in die Knie. Ohne Rücksicht auf Verluste begann sie, mit den bloßen Händen im Schlamm zu wühlen.
      Es dauerte zwanzig Minuten, die Tava damit verbrachte, eifrig ihre Hände und ihre Klamotten mit Schlamm zu besudeln, in denen ihre beiden Begleiter schon die Hoffnung dafür aufgegeben hatten, dass das zum Zwecke der Spurensuche war und stattdessen nur eine von Tavas Forschungsdrängen war, als sie ihren Triumph herausrief und ein Veilchen ans Tageslicht brachte. Es war mit Schlamm überzogen, aber die Farbe war noch deutlich sichtbar. Als sie weiter buddelte, zog sie aber bald auch noch etwas anderes hervor.
      Hier war’s!
      Und präsentierte:
      Einen Stein.
      Sie grinste, legte den Stein auf den Boden und grub dann weiter.
      Das Wasser muss die Erde aufgeweicht haben. Vor einer Woche war es noch nicht da, jetzt muss es im Schlamm versunken sein. Vielleicht ist hier auch mehr vom Hang eingebrochen. Es muss aber noch… ah… hier… jetzt.
      Sie brachte noch einen Stein zum Vorschein und dann auch noch einen Knochen, einen Knochen mit weißer Flaumschicht obendrauf. Zufrieden richtete sie sich auf und deutete mit dem Finger in eine Richtung.
      Dort vorne muss noch mehr davon sein.
    • Der Anblick der verwaisten Schlafstätte überraschte Malleus weniger, als es vielleicht sollte. Die Cervidia hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie am liebsten allein weiterzog. Gönnerhaft hatte sie den Männern erlaubt, sie auf der Suche zu begleiten. Für Malleus war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Tava ihre Meinung änderte. Allerdings hatte die Frau sich etwas schneller im Schutz der Nacht davongemacht, als er gedachte hatte. Er war ein leichter Schläfer, aber die Cervidia war geschickt auf ihren Füßen und hatte es geschafft sich lautlos davonzustehlen. Sehr zu seinem Ärger, da er ohne Tava die Führung verloren und somit die Behaglichkeit seines Hauses umsonst hinter sich gelassen hatte. Devon würde ihn zweifellos bei der nächsten Gelegenheit ebenfalls stehen lassen.
      Malleus blinzelte gegen die ersten, fahlen Sonnenstrahlen, die über den Felsenkamm krochen. Eine träge Bewegung im Augenwinkel vertrieb die Schlaftrunkenheit aus seinem Verstand. Das Bild vor seinen Augen legte den Nebel ab, die Sinne gewannen an Schärfe zurück. Devon bewegte sich langsam und steif, als wären seine Gliedmaßen über Nacht erstarrt. Ein ähnlichen Verhalten legten seine schuppigen Verwandten an den Tag, Wüsten- und Felsenechsen, die auf erwärmten Felsen im Sonnenlicht badeten. Möglicherweise wurde Malleus gerade unfreiwillig Zeuge eines Momentes, in denen selbst ein gefährlicher Jäger wie Devon durchaus angreifbar war. Nicht, dass Malleus mit dem Gedanken spielte, sich körperlich mit dem Lacerta zu messen, der einen Drachen im Alleingang niederstreckte. Aber es war eine Entdeckung, die er sorgfältig verwahrte.
      Für einen durchaus als friedlich zu bezeichnenden Augenblick wiederholte Malleus gedanklich, dass Gespräch des gestrigen Abends. Devon und Tava hielten sich bedeckt und vor allem voneinander fern. Malleus glaubte nicht, dass das Kriegsbeil schon begraben war. Während Tava sich zumindest über ihr Handwerk begeistern konnte, blieb Devon wie erwartet relativ wortkarg. Der Lacerta hatte sich damit begnügt seine Mitreisenden zu beobachten. Hin und wieder hatte er sich tatsächlich dazu herabgelassen, die ein oder andere Frage mit einer Antwort zu würdigen. Wissen, das Malleus sich selbst zusammenreimen konnte. Devon glaubte nicht an die Fügung der Götter. Etwas, das auch auf Tava zutraf. Der Lacerta zeigte sich trotz seiner Verletzungen außerordentlich widerstandsfähig und war trotz seiner wortkargen Art sehr geschickt darin eine direkte Antwort zu umgehen. Oder er schwieg einfach. Oder ignorierte Malleus Bemühungen. Der Anführer der Signa Ignius wusste, dass Devon mehr verbarg, als er jemals zugeben würde. Dasselbe galt für Tava. Malleus selbst hatte kaum etwas zu verheimlichen. Wer sich ein wenig mit den Signa Ignius beschäftigt hatte, deren Geschichte und Wirken, wusste bereits genügend über den Mann, der sich nun genüsslich am frühen Morgen streckte. Die hässlichen Details allerdings, kannte nur Malleus selbst.
      „Sieht so aus, als hätte Tava uns sitzen gelassen“, brummte er zur Begrüßung und setzte sich auf. Mit erstaunlich wachen Augen sah er zu Devon herüber. Vom harten Untergrund schmerzte seine Schulter und der Rat des Lacerta eröffnete ihm die Möglichkeit eines Rettungsseiles. Gemächlich griff Malleus in den Kragen seines Leinenhemdes und zog einhändig die Verbände enger um seine Schulter und nahm sich damit weiteren Raum um das strapazierte Gelenk zu belasten. Beiläufig glitt sein Blick über Devon ungelenke Haltung.
      „Wir warten bis die Sonne höher steht, dann sollten wir ihre Spuren leichter finden können. Falls wir ihr folgen wollen.“
      Die Entscheidung nahm ihnen Tava ab, die gerade in diesem Augenblick zurück in ihre Nachtlager polterte und die Männer auf ihre vertraute, charmante Art aufforderte, ihr zu folgen.

      Die nächsten Tage entwickelten sich zu einer Geduldsprobe für Malleus. Mit der Aufmerksamkeitsspanne eines jungen Hundewelpen führte Tava die Männer kreuz und quer durch die Landschaft rund um Celestia. Es war unmöglich eine klare Linie in ihrem Pfad zuerkennen, was gerade bei Malleus eine bisher ungeahnte Anspannung auslöste. Die schiere Willkür der Cervidia und das unerkennbare Muster behagten dem Mann nicht, der gerne für gewöhnlich ein gewisses Maß an Kontrolle über seine Umgebung besaß. Dazu gesellte sich der lästige Umstand, dass Malleus es nicht länger gewöhnt war, lange Zeit durch die unegzähmte Wildnis zu streifen. Bereits am ersten Abend gab er den schmerzenden Füßen nach und entledigte sich zum Schlafen seiner Lederstiefel, um zumindest die ersten Stunden am nächsten Morgen ohne brennende Fußsohlen laufen zu können. Der Staub und Dreck, der sich unweigerlich an Kleidung, Haut und Haaren absetzte, juckte auf der Haut und scheuerte unter der Kleidung. Der freundliche, beinahe zugängliche Gesichtsausdruck bröckelte mit jedem Schritt, mit jeder Stunde. Am Morgen des dritten Tages hatten sich tiefe Furchen zwischen seine Augenbrauen gegraben und als Tava ohne Vorwanung manisch flüsternd in einen matschigen Bachlauf hüpfte, konnte ein leises Knurren vernommen werden. Beim Anblick der von Schlamm besudelten Frau sehnte sich Malleus in sein Bad in Celestia.
      Für eine gefühlte Ewigkeit saß Malleus mit verschränkten Armen und zuckenden Augenwinkeln auf einem morschen Baumstumpf und lauschte dem schmatzenden Geräusch aus dem Graben und den Schritten von Devon, der wohl ebenfalls darüber nachdachte, ob Tava nun endgültig den Verstand verloren hatte. Er fragte sich zum tausendsten Mal in den vergangen drei Tage, was bei den allmächtigen Göttern und ihren Plagen ihn dazu bewegt hatte, seine sorgfältig aufgebaute Position in Celestia zu verlassen. An Tagen wie diesen wurde auch der unerschütterlichste Glaube auf eine harte Probe gestellt. Malleus atmete tief durch und brachte seine Gesichtzüge endlich wieder unter Kontrolle.
      Hier war’s!
      Wie Devon näherte sich auch Malleus dem Graben und erblickte: Einen Stein.
      Sofort zuckte es wieder an seinem Augenwinkel.
      "… ah… hier… jetzt.
      Noch ein Stein.
      Malleus' Selbstbeherrschung, die ein beeindruckenes Maß an Beleastbarkeit besaß, bröckelte.
      Dem zweiten Stein folgte aber endlich der eigentliche Fund: Ein mit Flaum bedeckter Knochen.
      "Das ist deine Spur?"
      Er hatte Fußspuren oder eine schneise der Verwüstung erwartet, aber keinen schimmeligen Knochen. Widerwillig setzte sich Malleus in Bewegung um der Richtungsanweisung zu folgen. Tatsächlich entdeckte er eine leicht zu übersehende Spur aus Knochen, alle mit demselben eigenartigen Flaum. Es erinnerte an einen Schimmelbefall und dann auch wieder nicht. Im ersten Moment schien der Belag nicht gefährlich sein, Tava hatte ihn mit bloßen Händen berührt. Prüfend und froh darüber Handschuhe zu tragen, hob er einen Knochen auf, augenscheinlich eine Rippe, und sah sich den Fund genauer an. Sein Blick richtete sich nach vorn, ehe er zielstrebig durch das Unterholz ging und das erstaunlich leise für einen Mann mit schmerzenden Füßen, der dazu noch das Stadtleben gewöhnt war. Bald schon beschränkte sich der Befall nicht nur auf Knochen, sondern erstreckte sich an feuchten Stellen über bemooste Felsen und morsche, umgestürzte Bäume.
      Er sah sich zu Devon um, während Tava sich vermutlich noch aus der Schlammgrube kämpfte.
      "Hast du soetwas schonmal gesehen?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Devon bemerkte Malleus‘ Bewegungen, noch bevor er auch nur ein Wort gesprochen hatte. Seinen Kopf hatte er in den Nacken gelegt und verfolgte den Fall der Sonnenstrahlen, die hier unten wahrlich ihr Problem haben würden, ihn überhaupt zu treffen. Allerdings machte er diese Mal kein Geräusch, um seinem Unmut Luft zu verschaffen.
      „War nur eine Frage der Zeit mit dem wankelmütigen Weibsbild. Aber das ist egal. Wir ziehen auch ohne sie einfach weiter nach Osten“, beschloss Devon, dessen Stimme das Einzige war, was sich nicht einer gewissen Steifheit geschlagen geben musste.
      Allerdings rümpfte er die Nase, als dieser vermaledeite Mensch wieder zu schnell die richtigen Rückschlüsse mittels eines Blickes zog. Ihm gefiel nicht, dass Malleus nun einen potenziellen Umstand kannte, um sich mit ihm anlegen zu können. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass er während der kühlen Stunden und dunklen Orte noch mehr Acht auf den Menschen geben musste als ohnehin schon.
      Schon ganz auf einen Trip unter zwei Männern eingestellt, rechnete Devon gar nicht mehr damit, dass Tava zurückkam. Als sie sich aber mit polternden Schritten näherte, konnte er nicht ganz verhindern, sie zweimal überrascht anzublinzeln. Das war mehr, als er ihr jemals hätte zugestehen wollen. Also machte sich der Lacerta daran, sich aufzurichten, wenn auch mit der Geschwindigkeit eines Rentners. Er musste sich ja nur ein bisschen warmlaufen, dann wäre die Sache gegessen.

      Nach nur einer Stunde des Wanderns war Devon eins klar geworden: Tava war eine Ziege durch und durch. Sie wusste, wohin sie zum tränken gehen musste, aber sobald sie ein leckeres Stückchen Klee erspähte, war ihr Pfad sofort gebrochen. Die Cervidia ließ sich dermaßen schnell ablenken, dass Devon ernsthaft in Frage stellte, ob sie geistig irgendwie zurückgeblieben war. Wer sich so erpicht für Dinge interessierte und dann eine Aufmerksamkeitsspanne einer Stabheuschrecke besaß, konnte ja wohl nicht ganz gesund auf die Welt gekommen sein. Das, gepaart mit der Vermutung, dass sie zündelte, ergaben eine durchaus pikante Mischung der Unberechenbarkeit.
      Irgendwann hatte Devon ausloten können, welcher Himmelsrichtung Tava folgte. Jedes Mal, wenn sie ihren Pfad unterbrach, brach Devon eiskalt weiter durch Gestrüpp und Wildwuchs hindurch, nur um immer wieder von ihr eingeholt und wüst beschimpft zu werden. Den Jäger kümmerte es nicht sonderlich. Solange sie dorthin gelangten, wo ihr Ziel lag, waren ihm die meisten Worte egal.
      Spuren fand er vor allem an Malleus; der Mensch zeigte bereits nach dem ersten Tag des Marsches deutliche Anzeichen von Ermüdungserscheinungen. Es nötigte ihn sogar dazu, des Abends seine Stiefel auszuziehen und sie erst am Morgen wieder anzukleiden. Der Staub, der Dreck und Blattwerk sammelten sich an seiner weiten Robe stärker als an Devons Lederteile, zumal er selbst eher weniger Probleme mit Dreck hatte. Malleus hingegen war dem Ganzen offensichtlich nicht sonderlich gut gegenüber eingestellt und je länger sie reisten, je öfter Tava ihren Ticks nachging, desto härter wurde das dunkle Gesicht des Kultisten. So sehr, dass Devon irgendwann damit rechnete, dass der Mensch explodieren und wieder zurück nach Celestia marschieren würde. Oder halt, nein. Er würde irgendwo einen Kutscher bekehren, der ihn natürlich völlig kostenfrei zurückfuhr.
      Plötzlich verschwand Tava aus Devons Blickfeld. Er folgte der verschwindenden Gestalt zu einem Graben, der von einem kleinen Bach gespeist wurde und dem die Cervidia nun zu dessen Quell folgte. Der Jäger schaute kurz dabei zu, wie sie ihn fand und im Schlamm zu graben begann, ehe er in genau die andere Richtung, dem Bachlauf folgend, blickte. Auch in der Ferne sah er nichts Lebendiges - dank seiner scharfen Augen sah er mehr als jeder Mensch – und war dem Umstand durchaus dankbar. Dennoch war da dieses Kitzeln auf seiner Haut, das er nur in ganz bestimmten Augenblicken verspürte. Anzeichen, so subtil, dass er oftmals hinterfragte, ob nur er sie spüren konnte.
      „Hier war’s!“
      Devons Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Cervidia im Schlamm, zu der er noch immer oben am Rand des Abgrundes befindlich herüberschlenderte. Was er dann in den triumphal erhobenen Händen ausmachen konnte, war ein Stein. Ein einfacher, langweiliger, rundgeschliffener Stein ohne nennenswerte Besonderheiten.
      Die schmalen Augenbrauen des Jägers wanderten in die Höhe. Jedenfalls eine davon. Ein Stein. Und noch einer. DAS war ihre Spur?! An seiner Seite stand nun auch Malleus, der, ähnlich wie Devon, wohl kurz davor stand, jegliche Beherrschung zu verlieren. Jetzt war sogar Devon geneigt, seinem Unmut Wort zu verleihen, da beförderte Tava einen Knochen ans Tageslicht. Und während Malleus seiner ersten Eingabe folgte und die Sinnhaftigkeit dieses Fundes infrage stellte, weiteten sich Devons Augen umgehend.
      Er stapfte ein weiteres Stück zu Tava herüber, damit er den Knochen gut sehen konnte. Tatsächlich war er nicht ausgeblichen, sondern weißgräulich durch einen flaumigen Besatz gefärbt. Das wirklich brisante war allerdings eine andere Tatsache, weshalb sich der Jäger auch tunlichst davor hütete, den Knochen zu berühren.
      „Der Flaum haftet dem Knochen an, obwohl du ihn aus dem Schlamm gezogen hast“, murmelte Devon leise. Wenn das normaler Schimmel sein sollte, dann hätte er sich im Schlamm gar nicht erst bilden können. Nicht, wenn der Knochen so tief vergraben gewesen war. „Leg ihn weg und wasch dir die Hände.“
      Er wandte sich um und machte Malleus in etwaiger Entfernung aus, der der besagten Richtungsangabe gefolgt war. Sofort setzte sich auch Devon in Bewegung und folgte dem Mann, der im nächsten Unterholz verschwunden war. Je weiter er sich durch das Dickicht schlug und schließlich wieder lichtere Stellen erreichte, wo Bäume den Bachlauf säumten, umso weiter breitete sich der Belag aus. Er befiel nun auch das nächste Ufer, schlug sich auf Bäumen und Gräsern nieder und verwandelte die eigentlich grüne Umgebung nach und nach in einer verschneit anmutenden Landschaft.
      Das Kribbeln auf seiner Haut war mittlerweile unmissverständlich.
      „Nein, das ist neu. Aber ich bin mir verdammt sicher, dass das wirklich ein Drache sein könnte“, stellte Devon fest und kniff die Augen zusammen in dem Versuch, noch mehr in der Weite zu erkennen. Wenn er sich nicht täuschte lag das Dorf Lacuna vielleicht eine Stunde Fußmarsch von hier entfernt an einem größeren See, der ihm seinen Namen gab. Eine Oase inmitten der sonst so kargen Landschaft, gesäumt von morastliebenden Bäumen mit ausladenden Wurzeln.
      „Wieso kam denn keine Kunde darüber, dass hier ein Drache aufgetaucht ist?“, fragte er sich laut und ging gedanklich die Gründe durch, was die typischen Gründe für genau diesen Umstand waren. Keiner davon war wirklich gut für das Dorf. „Je nachdem, was es ist, ist von dem Dorf womöglich nicht mehr viel übrig. Denke nicht, dass es eine Art ist, die euch beide sonderlich interessiert.“
      Für den Jäger jedoch war Drache gleich Drache.
    • "Natürlich ist das meine Spur", gab Tava ernst gemeint zurück, eine mittlerweile mit Schlamm und Gras besudelte Cervidia, deren neue Tarnverkleidung ganz hervorragend das Kastanienbraun ihrer Haare unterstrich. Wenn überhaupt sah sie jetzt so aus, als hätte sie ihr Element gefunden, so strahlend wie ihre Augen unter einer Dreckkruste auf ihrem Gesicht hervorstachen.
      "Habt ihr nicht gesehen? Das ist Sandstein, wenn auch heller. Den gibt's hier in der Gegend nicht, der ist mir gleich aufgefallen."
      Zufrieden mit ihrer Entdeckung und ihrem natürlichen Spürsinn, begann Tava die kleine Mulde wieder nach oben zu kraxeln und schüttelte sich ein bisschen von dem Schlamm aus den Ärmeln.
      Die beiden Männer sahen nicht gänzlich so sehr angetan aus von ihrem Fund wie sie es war. Malleus wirkte ein bisschen kränklich im Gesicht mit herabhängenden Gesichtszügen und einem Zucken an seinem Auge. Sein Blick auf ihr war kalt und steif, ein bisschen so, als plante er in Gedanken gerade, wie er ihr am effektivsten den Hals umdrehen könnte. Devon sah dafür so aus wie immer und da lag wohl das Problem, denn er konnte ja ganz anscheinend irgendeine Art von Gesichtsregung von sich geben, so wie die erhöhte Augenbraue es vermuten ließ. Aber anstatt Begeisterung und Anerkennung zu zeigen, entschied er sich wohl für Skepsis. Nun, das war wohl ihr Verlust, wenn sie die Spuren der Natur nicht wertschätzen konnten. Hier gab es weit und breit keine Straßen und keine Zivilisation; wenn Tava sie nicht geführt hätte, wären sie von vornherein niemals darauf gestoßen.
      Devon zeigte zunächst mehr Interesse an dem befallenen Knochen, aber nur soviel, um Tava Anweisungen geben zu wollen. Die schnaubte nur, musste seine Beobachtung aber einsehen, legte den Knochen ab und stieg zurück zu dem Bach hinunter, um die Hände darin einzutunken. Es hätte sowieso nicht viel gebracht, da sie mit einer soliden Schicht Schlamm überzogen waren. Später würde sie ihn sich noch aus den Fingernägeln hervorpulen müssen.
      Malleus war dafür mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit schon weitergegangen und hatte sich ungehört der größer werdenden Spur genähert. Als Tava auch angeeilt kam, weil sie schließlich nichts verpassen wollte, fragte er Devon gerade, ob er schonmal etwas derartiges gesehen hätte. Der Jäger verneinte, sehr zu Tavas Genugtuung. Sie hätte es ja wohl selbst gewusst, wenn diese Ablagerung überall etwas naturbehaftetes gewesen wäre. Wer war denn hier schließlich die Alchemistin? Sicher nicht die zu groß geratene Echse.
      Während die beiden Männer sich bei dem meisten Zeug besprachen, blieb die Cervidia noch ein Stück zurück, um an einem Baum stehen zu bleiben. Die Blätter waren hier mit einer sehr dünnen Schicht befallen, dafür aber rundum damit umgeben. Sie wiederholte den Versuch, den sie vor einer Woche schon unternommen hatte, und hielt ihren Ring darunter. Die kleine Flamme klackte auf, leckte ein bisschen an der schimmelartigen Schicht, verursachte einen unangenehm schalen, stickigen Geruch, aber verbrannte das Zeug nicht richtig. Wenn irgendwas davon verbrannte, dann so wenig, dass Tava es kaum verfolgen konnte. Höchstgradig enttäuscht wandte sie sich wieder davon ab und holte zu den beiden anderen auf.
      "Was wartet ihr noch? Da geht's doch lang."
      Damit stakste sie wieder voran und zielstrebig der Spur nach.


      Lacuna war ab einem gewissen Punkt gar nicht mehr zu verfehlen, denn die Schimmel-Spur führte sie wie eine breiter werdende Straße. Wenn sie vorher noch gedacht hatten, dass der Befall auf Büschen und Bäumen schlimm gewesen wäre, so waren sie nicht darauf vorbereitet, wie sehr sich die gräuliche, flaumige Schicht verdichtete und bald sämtliches Gestrüpp unter sich begrub. Hier musste nicht einmal Devon eine Warnung aussprechen; keiner von ihnen hatte sonderliche Lust darauf, durch diese Flaumschicht zu waten. Sie mussten versetzt zu der Spur gehen, aber Lacuna sollten sie trotzdem noch in kürzester Zeit erreichen.
      Oder zumindest das, was davon übrig war.
      Das Gestrüpp lichtete sich bald zu einer leicht abfallenden Wiese, die erst in Lacuna endete und dahinter in den See überging. Die Tatsache, dass man diesen Übergang sehen konnte, den winzigen Hafen, bestehend aus kleinen Stegen, an denen genauso kleine Fischerbote lagen, war dem geschuldet, dass es keine Häuser mehr gab, die diese Sicht blockiert hätten.
      Dort, wo Lacuna einst gestanden hatte, ein idyllisches, kleines Dörfchen, lag jetzt eine zackige, abgehackte Ruine, die - wie auf einem besonders malerischen Gemälde - wie von einer Schneeschicht bedeckt war. Der Flaum hatte sich hier auf dem Boden niedergelassen, auf den Trümmerteilen eingebrochener Dächer, auf zersplittertem Holz und gebrochenem Stein, in Gärten und auf der Straße und auf den Türschwellen. Ironischerweise stand das kleine Schildchen noch, das den Namen des Dorfes trug, ein kleiner Holzpfeiler, das das von Hand geschnitzte Schild trug: Lacuna, Einwohner: 800. Es schien der einzige Gegenstand zu sein, der hier unangekratzt geblieben war.

      Die drei blieben in einiger Entfernung zu der Tragödie stehen, als fürchteten sie, dass der Drache sich unter dem Schimmel hervor nach oben graben und seine wahllose Verwüstung an ihnen fortführen könnte. Zwar kam er nicht, stattdessen musste ihnen in diesem Moment aber bewusst werden, dass sie hier gänzlich alleine waren: Kein Geräusch drang an ihre Ohren, kein Lärm von der Ruine, nicht einmal das Gezwitscher der Vögel oder der Insekten, die sie durch die Natur hinweg bisher begleitet hatten. Nicht einmal der Wind ging hier, von sämtlichen Bewegungen war keinerlei Spur zu sehen. Der Schimmel schien sich der Umgebung aufgedrängt und jegliches Leben verscheucht zu haben.
      Tava starrte fast teilnahmslos auf das Überbleibsel von Lacuna. Die Ruhe machte sie nervös, die mögliche Anwesenheit eines Drachen noch viel nervöser. Sie konnte nicht viel Mitleid für die einstig 800 Bewohner von Lacuna erübrigen, dafür hatte sie keinerlei Verbindung zu dem Ort. Wenn Devon nicht gewesen wäre, hätte sie vermutlich niemals von seiner Existenz erfahren.
      Aber in Angesicht seines Untergangs spürte sie einen gewissen Argwohn. Immerhin konnte die Stille trügen; vielleicht verbarg der Schimmel etwas, worauf man sich besser einstellen sollte. Vielleicht war er wie eine fleischfressende Pflanze, ruhig und unauffällig, bis die Beute sich genau in seine Mitte begeben hatte. Vielleicht war die Verwüstung eine Warnung, bloß nicht näher zu kommen.
      Tava regte sich nicht, bis nicht einer der Männer den ersten Schritt machte. Dann zog sie ihm schweigend nach.

      Je näher sie dem Schicksal von Lacuna kamen, desto mehr schien es sie in sich aufzusaugen. Die Totenstille vereinnahmte sie, die Abwesenheit eines Windes machte die Luft um sie herum dick und heiß, geprägt von einem Geruch, den man zwar weder als gut, noch als schlecht bezeichnen konnte, der aber doch ganz eindeutig unangenehm einzuatmen war. Wenn man still stand und versuchte, sich nicht auf den Schimmel selbst zu konzentrieren, konnte man sich sogar einbilden, dass er sogar durch die Luft schwebte, winzige, fast verschwindende Teilchen, die im einen Moment durch die Sonne erhellt aufblitzten und im nächsten schon wieder verschwunden waren. Tava zog die Nase kraus und entschied sich dazu, eine Hand vor die Nase zu halten.
      Von den ehemals 800 Einwohnern mussten mindestens 200 versucht haben zu fliehen, denn die Straße, als auch die Umgebung war mit befallenen, fast vergrabenen Leichen gesäumt. Es war nicht ganz zu erkennen, ob es eine direkte Richtung gab, von der sie sich die Freiheit versprochen hätten. Sie lagen kreuz und quer, mal mitten auf der Straße, mal am Rand, ganz außerhalb auf der offenen Wiese und unter Trümmerteilen verborgen. Teilweise konnte man sie von den Ruinen gar nicht unterscheiden; der Belag war an diesen Stellen so dicht, dass die Formen darunter verloren gingen. Es schien in sämtlichen Facetten wie eine regelrechte Geisterstadt.
      Tava hatte den Blick auf die eingestürzten Häuser gerichtet, auf die teilweise noch empor ragenden Stützpfeiler, auf die morschen Holzwände, die nur noch zu Bruchstücken standen, als es beim nächsten Schritt unter ihrem Stiefel schleimig knackte und ihr Fuß nach hinten wegrutschte. Sie riss ihren behörnten Kopf nach vorne und zog ihren Körper damit gleich nach, noch bevor einer ihrer Begleiter sie am Arm gepackt hatte - sie wusste nicht, welcher von beidem. Den Kopf schwenkend fing sie ihr Gleichgewicht wieder ein, bevor sie in den flaumigen Bodenbelag gestürzt wäre. So sehr ihr Forschertrieb sich auch für diese eigenartige Ablagerung interessierte, hatte sie doch kein Interesse daran, mit dem Kopf voran direkt hinein zu stürzen. Sie konnte ja fast schon fühlen, wie ihr das wattige Zeug durch die Nase direkt ins Gehirn kroch.
      "... Danke."
      Ein Blick nach hinten zeigte ihr, auf was sie ausgerutscht war: Eine tote, bis eben noch unversehrte Krähe, die Tava mit ihrem Stiefel jetzt zermatscht hatte. Der Schimmel hatte sich dabei ein wenig aufgewirbelt, setzte sich aber auch gleich schon wieder auf dem Blut, den winzigen Inneren und Knochen ab. Eigentlich müsste das gestorbene Tier den Geruch des Todes versprühen, aber die Luft war von dem anderen Geruch bereits so sehr geschwängert, dass davon nichts durchdrang.
      Tava fragte sich unweigerlich, was es hier sonst alles gab, was sie nicht riechen konnten.
      "Das ist ja widerlich."
    • Malleus wusste beim besten Willen nicht, ob es ihn beunruhigen sollte, dass Devon ein derartiges Phänomen noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Der große Drachenjäger wusste scheinbar auch nicht alles. Der Anflug von kindlicher Genugtuung erstickte Malleus bereits im Keim. Selbst ein erfahrener Jäger wie Devon konnte unmöglich alle der mannigfaltigen Variationen kennen, die von göttlicher Hand hervor gebracht wurden. Trotzdem verspürte Malleus einen Hauch von Zufriedenheit, den wortkargen Lacerta einmal annährend ratlos zu erleben. Die Warnung, sich von dem eigenartigen, schimmelähnlichen Flaum fernzuhalten, musste er nicht zweimal hören. Folglich achtete er bereits beim nächsten Schritt haargenau sich von befallen Baumen, Sträuchern und anderer Vegetation fernzuhalten. Aber das hartnäckige Zeug machte es sich nicht nur auf Flora gemütlich. Selbst vor totem Fels machte es nicht Halt.
      Mit einem beinahe besorgten Gesichtsausdruck folgte er dem Blick des Lacerta in die Richtung, in der er das Dorf Lacuna vermutete. Welches Wesen sich auch aus der Umgebung geschält hatte, bedeutete nichts Gutes für das Dorf und seine Bewohner. Malleus nickte zustimmend und warf Devon einen ernsten Seitenblick aus dem Augenwinkel zu.
      "Ohne Überlebende gibt es keine Kunde an benachbarte Siedlungen oder Städte", murmelte er nüchtern.
      Der Tod schockierte Malleus weniger, als es vielleicht bei anderen Menschen der Fall war. Die Götter bestimmten, wessen Zeit gekommen war und offenbar hatten sie in ihrer Weisheit und Allmacht beschlossen, dass die braven Bürger von Lacuna bereit war für die Ewigkeit. Ein klickendes Geräusch in seinem Rücken zog seine Aufmerksamkeit von Devon zu der Cervidia, die unter all dem Schlamm kaum zu erkennen war. Tava hatte eindeutig keine Hemmungen davor sich schmutzig zu machen und bis zu den Ellbogen in jedem matschigen Loch herumzuwühlen, dass sich ihr bot. Da offensichtlich wenig Wert auf Gesellschaft legte, gab es wohl auch keinen Grund dazu, den Matsch aus dem hübschen Gesicht fernzuhalten. Ein Schande, wie er befand. Malleus besaß kein gesteigertes Interesse an der Frau, aber er war nicht blind. Mit einem weniger verrückten Lächeln und deutlich weniger Dreck am Leib würde sie besser vorankommen, als mit angriffslustig gesenkten Hörnern und ihrem rüpelhaften Fauchen. So viel verschenktes Potenzial...
      Er sah bei den letzten Worten des Lacerta noch einmal zu dem Mann herüber.
      "Mag sein", antwortete er mit beinahe schon heiteren Lächeln, von dem er wusste vielleicht eher darauf spekulierte, das es Devon einen irritierten Gesichtsausdruck entlockte. Er war neugierig welche Regungen die stoische Mimik noch in petto hatte. "Aber im Moment, wie heißt es noch, sitzen wir alle im selben Boot, Drachenjäger."
      Malleus unterdrückte den Impuls die Augen zu verdrehen, als Tava elegant an ihnen vorbei stapfte, nachdem sie dem weißlichen Belag einer Feuerprobe unterzogen hatte. Das Zeug brannte nicht und zeigte sich auch sonst von der Hitze recht unbeeindruckt. Devon lag mit seiner Vermutung wohl richtig. Zumindest sah Tava davon ab, den unbekannten Flaum phiolenweise zu verpacken und neben den Überresten der schleimigen Zunge weitere fragwürdige Souvenirs mit sich herum zu schleppen. Malleus war nicht erpicht darauf irgendwann aus Versehen von der Cervidia vergiftet zu werden, wenn sie sich einmal bei ihren ganzen Fläschchen und Gläschen vergriff.
      Wie Devon verzichtete auch Malleus auf ein Kommentar und folgte Tava durch die wenig einladende Landschaft.

      Lacuna glich einem Friedhof.
      Die Überbleibsel eines lebendigen Dorfes ragten wie Mahnmale aus einer dicken, weißen Flaumschicht hervor. Der Anblick war für Malleus sowohl verstörend als auch von einer eigenartigen Schönheit. Lacuna sah friedlich aus, als hätte sich der erste Schnee des Winters über die Ruinen gelegt. Der seltsame Geruch zerstörte die vermeintliche Illusion einer Winterlandschaft. Überall hatte sich der Schimmel ausgebreitet und wenn Malleus die Augen zusammenkniff, sah er die winzigen Partikel durch die Luft trudeln. Fast gleichzeitig mit Tava bedeckte er Mund und Nase mit einem Tuch. Die Alternative, die winzigen Sporen einzuatmen, war wenig verlockend. Obwohl die Vorkehrungen ein wenig verspätet schienen, da sie bereits eine große Entfernung durch den Schimmelbefall zurückgelegt hatten. Allerdings schien sich das Ausmaß in Lacuna zu bündeln.
      Malleus riss den Kopf herum und löste den Blick von kleinen Fischerbooten, die sich unberührt im Wasser hin und her wogen, als Tava stürzte. Reflexartig streckte er die Hand aus, um nach dem Arm oder einer der schmalen Schultern zu greifen. Ein Bruchteil trennte seine Fingerspitzen noch von ihrer schlammverkrusteten Haut, da zuckte Malleus' Arm ruckartig zurück. Es war Glück, dass Devon demselben Impuls folgte und damit die Cervidia davor bewahrte sich zu der toten Krähe am Boden zu gesellen. Langsam ließ er die Hand sinken, als Tava wieder einen sicheren Stand hatte. Er vermied es in die Richtung des Lacerta zu sehen. Malleus spürte auch so den stechenden Blick der geschlitzten Pupillen, der sich seitlich in seinen Schädel bohrte. Es war alles so schnell gegangen, dass er keinen Gedanken daran verschwendet hatte und aus reinem Instinkt die Hand ausgestreckt hatte. Es gab einen Grund, warum er jede Berührung im Vorfeld kleinlich kalkulierte und der ihm nun die ätzende Galle die Kehle hinauf trieb. Malleus ballte die Faust, um das Beben seiner Finger zu kaschieren.
      Den Ärger unterdrückend konzentrierte sich Malleus wieder auf die Ruinen des Fischerdorfes. Egal wohin er sah, nirgends entdeckte Spuren der einstigen Bewohner und dem allgegenwärtigen Schimmelmantel. Kein Gestank süßlicher Verwesung. Keine Leichen. Lacuna wirkte wie verlassen.
      "Bedeckt Mund und Nase", murmelte er durch das Tuch, das seine mahlenden Kiefer verbarg. "Wir wissen nicht, was wir da einatmen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”