Lost Within [Kiimesca & Notizblock]

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    • Lost Within [Kiimesca & Notizblock]

      Lost within


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      @Kiimesca & @Notizblock
      Vorstellung&Co.

      GO!

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      Zwar hatte Roan sich drei Tage und Nächte Zeit genommen, um diese Entscheidung zu treffen, die ihn hier her in dieses Taxi führte, das schon seit einigen Stunden fuhr, doch waren es genug Tage und Nächte gewesen für so eine Entscheidung? Die Zahl am Ende des Monats unter dem Strich sagte eindeutig ja, doch sein Bauchgefühl und ausnahmsweise auch mal sein Kopf - die beiden harmonierten selten miteinander - konnten dem noch nicht mit Überzeugung beipflichten. Außerdem war Roan nicht mehr der Jüngste für einen so großen Cut in seinem Leben gewesen, war er der Meinung. Denn während seine Wohnung nicht unbedingt das Problem war, weil er sie ohnehin aufgeben musste und der neue Job ihm die Suche nach einer anderen Wohnung abnahm, ging es auf der anderen Seite um seine Arbeit im Krankenhaus, die er über wirklich ungemein liebte. Dort war er kein Anfänger mehr, hatte seine Patienten, die ihn kannten und schätzten und sich wohl bei ihm fühlten. Außerdem ein festes Einkommen und einen unbefristeten Vertrag. Nun aber - Roan versuchte beim Hinausstarren in die Landschaft aus dem kleinen Fenster des Taxis den Grund für seinen Entschluss noch einmal ins Gedächtnis zu rufen - hatte der 34-Jährige einen neuen Vertrag unterschrieben, einen befristeten und dann auch noch mit einer Probezeit. Es kam ihm jetzt so dumm vor, aber was nützte es genau jetzt? Gar nichts! Denn immerhin war er fast 4 Stunden mit dem Zug gefahren und nun schon seit gut einer Stunde mit dem Taxi unterwegs für diesen neuen Job. Der Weg des Kneifens würde also ein umständlich langer werden, da konnte er genauso gut die Sache jetzt auch durchziehen.
      "Bitte verzeihen Sie, wie weit ist es noch?", erfragte er und das war tatsächlich das erste Mal heute, dass er mehr Worte aneinander gereiht hatte und sich nicht nur durch Begrüßungen und Verabschiedungen verständigte.
      "Wir sind jeden Moment da, Sir."
      "Ah, okey, danke!", murmelte Roan und schluckte seinen Seufzer hinunter und ließ sich wieder nach hinten gegen die gepolsterte Rückenlehne fallen, um auch für den Rest noch durch das kleine Fenster zu starren. Doch schon bald veränderte sich der Ausblick und ein weites, sehr gepflegtes und wirklich herrschaftliches Anwesen erstreckte sich vor den bernsteinbraunen Augen des Dunkelhaarigen. Je näher sie dem kamen und je mehr er davon erblicken durfte, desto kleiner fühlte sich Roan. Und gerade als er sich wünschte, dass sie gerne noch ein paar Minütchen fahren konnten, spürte er wie das Taxi langsamer wurde und schließlich zum Stehe kam. Der Motor verstummte, das Schlüsselloch wurde seines Schlüssels beraubt und die Fahrertür öffnete sich. Roan, der eigentlich zu groß für dieses Taxi gewesen war und daher die ganze Zeit ein wenig geduckt gesessen hatte, verfolgte den Taxifahrer mit seinem Augenpaar, wie er zu seiner Tür ging und diese kurz daraufhin, wie es sich für englische Manieren nun einmal gehörte, für ihn öffnete. Schnell atmete er durch und stieg aus. Klare, frische Luft strömte in seine Lungen, während er dem Taxifahrer zum Kofferraum folgte und sein Gepäck entgegen nahm. Ein Koffer und eine Sporttasche, mehr hatte er nicht bei sich, weil ihm erklärt worden war, dass alles andere Nötige, das er zum Arbeiten bräuchte, sich vor Ort befinden würde. Der Ort, der Roan immer noch leicht sprachlos machte. Aber es war ja auch nicht so, als ob jemand es darauf anlegte mit ihm zu sprechen, ganz im Gegenteil. Der Taxifahrer war selbst sehr kurz angebunden und verabschiedete sich auch schon alsbald, nachdem das Gepäck überreicht wurde - bezahlen musste Roan ihn nicht, weil auch die Anreise vom Auftraggeber übernommen wurde.

      Schließlich schnappte er sein Gepäck und setzte ein Fuß vor den anderen, um einem langen Weg zu folgen, über dem sich eine prächtige Allee erstreckte. Wirklich prächtig, so als ob sie perfekt wuchs oder eben auch jeden Tag perfektionistisch nachgeschnitten. Dieser Weg war der schlimmste an der ganzen Reise gewesen, denn es war so friedvoll und ruhig gewesen, dass Roan um so lauter sein aufgeregtes Herz schlagen hören konnte. Doch glücklicherweise erstickte die Nervosität zum Teil im Keim, als das Gebäude endlich sichtbar und Roan klar wurde, dass es hier nun um seinen Job ging. Ein ziemlich gut bezahlter Job und damit der Gründe, warum Roan sich darauf einließ. Und sollte es sein letztes großes Abenteuer gewesen sein in seinen noch nicht ganz so alten Jahren, dann wäre es immerhin ein ziemlich eindrucksvolles Abenteuer gewesen.

      Ihm war zwar klar gewesen, dass diese Schönheit nicht von alleine hier gedeihte und dazu sicherlich das ein oder andere Personal gehörte, dennoch war Roan überrascht gewesen, wie schnell man ihn entdeckte, in das Innere geleitete, ihm sein Gepäck annahm und weiter führte, bis ihn schließlich die Hausherrin im Empfang nahm. Es passierte alles so schnell und einstudiert, dass Roan gar nicht genug Zeit hatte oder die Gelegenheit sich mal umzugucken und das beeindruckende Alles um ihn herum wahrzunehmen. Das Vorstellungsgespräch führte der zukünftige Angestellte dieser Familie mit gemischten Gefühlen im Bauch; wenn auch mit einem unglaublich köstlichen Stück Kuchen vor ihm und einem original englisch zubereiteten Tee. Die Hausherrin, Mrs de Vere, war eine sehr elegante Frau. Ihre Frisur saß perfekt und sah ziemlich aufwendig aus und strahlte dennoch eine gewisse Natürlichkeit und Leichtigkeit aus. Ihre Körperhaltung war sehr anmutig und stets aufrecht. Ihre Kleidung, eine leichte weiße Bluse mit hellen pastell-farbigen Blumen verziert und ein pastell-blauer Stiftrock, der wiederum ihre Augenfarbe aufgriff, standen ihr nicht nur ausgesprochen gut, sondern sie wiesen auch keinerlei Unebenheiten oder Falten auf. Roan hingegen trug eine Jean und einen braunen Pullover unter dem ein weißer Hemdkragen ordentlich hervor stand. Und obgleich er sie zwei Anziehsachen absichtlich neu gekauft hatte, fühlte er sich einfach komisch so gekleidet hier zu sitzen. Andererseits hatte ihn der kurze Gedanke in einem Anzug hier aufgekreuzt zu sein, fast lauthals zum Lachen gebracht, also hatte er ja doch ein wenig was richtig gemacht.

      Mrs de Vere hörte nach der Hälfte des Kuchens auf zu essen und verschränkte ihre Hände unter den Tisch auf ihrem Schoß. Woher hätte der erfahrene Pfleger wissen sollen, dass das das Zeichen dafür war, dass das Gespräch sich dem Ende geneigt hatte. Er hatte keine Ahnung gehabt, darum aß er sein Stück Kuchen auf und lobte sich dafür, dass er dem Drang widerstanden hatte nach einem zweiten zu fragen. Mrs de Vere geleitete ihn daraufhin durch das Haus, was einem Schloss glich in das Obergeschoss. Um nicht unhöflich zu wirklich bestaunte Roan nicht alles in dem Masse, in dem die Einrichtung und das eindrucksvolle Gebäue es jedoch verdient hätten, sondern folgte der Hausherrin, bis sie schließlich vor einem Zimmer ankamen und sie etwas sagte, dass für Roan alles veränderte und die ganze Spannung abfallen ließ.
      "Hier werden sie meinen Sohn betreuen-" Sohn. In den ganzen Gesprächen und Papieren, die Roan geführt und gelesen hatte, war immer nur die Rede von einem Komapatienten gewesen und männlich. Er war die ganze Zeit davon ausgegangen, dass es sich dabei um Mr. de Vere handelte und irgendwie tat es das auch, nur war Mr. de Vere in Roans Vorstellungen der Mann von Mrs de Vere gewesen. Sie betraten das Zimmer und Mrs de Vere ergänzte noch, dass Roans Unterkunft gegenüber des Zimmers liegen würde, damit er stets schnell zur Stelle sein konnte. Aber der Pfleger nahm ihre Worte nur im Hintergrund wahr. Sein Blick wurde angezogen von dem jungen Mr. de Vere. Jung war dabei das Stichwort. Sicherlich nicht das erste Mal für Roan, dass er einen jungen Menschen im Koma sah und ganz sicher auch nicht der Jüngste - traurigerweise. Und dennoch jung.

      Schließlich verließ die Hausherrin das Zimmer und gönnte Roan einen Moment, ehe die Angestellten ihn zu seiner Unterkunft bringen würden, damit er sich dort frisch machen und ein wenig ausruhen konnte. Das war das erste Mal gewesen, dass Roan ein Lächeln auf dem Anwesen säte.
      "Versteh mich nicht falsch, ich wünschte wirklich die Umstände wären für sich andere, aber Gott.. du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass du du bist und nicht jemand anderes, Gabriel!", flüsterte er dem schlafenden Gabriel wie ein Geheimnis ins Ohr und richtete seine Decke, in dem er sie ein wenig höher zog. "Ich habe es im Gefühl, wir beide werden gut miteinander auskommen!"

      Und so war es gewesen. Roan brauchte keine Eingewöhnungszeit um mit seinen Patienten klar zu kommen. Darum wurde er spaßeshalber auf der Arbeit als der Pflege-Flüsterer bezeichnet, was er persönlich richtig albern fand. Aber es stimmte, er hatte die Gabe schnell den Draht zu seinen Patienten zu finden, ob sie nun ansprechbar waren oder auch nicht. Jeden Tag um 5 Uhr morgens wachte Andrew auf, zog sich seine Pflegerkleidung an und ging zum Haus rüber. Seine Unterkunft - er wollte es nicht glauben, als er es zum ersten Mal hörte und sah - war ein eigenes kleines Gebäude gegenüber liegen vom Zimmer des de Vere Sohnes, wie die Hausherrin bereits erwähnte. Er bekam für seinen Aufenthalt hier also nicht nur ein Zimmer gestellt, sondern quasi eine eigene kleine Wohnung, wobei sein klein noch mal wesentlich kleiner war, als dieses klein hier. Er ging also immer als erstes rüber. Über einen Hintereingang für die Bediensteten gelangte er zu einer Treppen, die der schnellste Weg zu Gabriels Zimmer war. Jeden Morgen öffnete er seine Fenster zum Lüften, nachdem er die Vorhänge beiseite geschoben hatte, entledigte daraufhin Gabriel von seiner Decke, damit sein Körper atmen konnte, leerte seinen Urinbeutel, checkte seine Werte, die er stets in die Akte eintrug und machte sich dann dran Gabriels Frühstück vorzubereiten. Natürlich wurde er über einen Schlauch ernährt, dennoch machte Roan es ihm jeden Tag so schmackhaft es ging, in dem er sich ein leckeres Gericht zu den Geschmacksrichtungen ausdachte. Danach holte er warmes Wasser und wischte den nächtlichen Schweiß von der strafen Haut des schlafenden jungen Mannes mit einem weichen Lappen ab. Dann wurde sein Pyjama gewechselt und erst dann, wenn Gabriel frisch in den Tag starten konnte, ging Roan zurück zu seiner Unterkunft und duschte und aß eine Kleinigkeit. Dieser Ablauf war jeden Morgen gleich doch den Tagesablauf, dafür ließ sich der Pfleger stets etwas einfallen, damit keine Monotonie eintreten konnte. Er hätte auch gerne Sitzungen zusammen mit seiner Familie gemacht, doch die einzige, die Interesse daran zeigte und den Willen dazu hatte war Madelin gewesen. Roan lernte sie nach einem Monat kennen. Sie stellte sich ihm vor und erzählte dann, dass Gabriels Unfall sie in ein tiefes Loch gerissen hatte. Roan war ein Pfleger, kein Therapeut, doch in seiner Ausbildung hat es durchaus Schnittstellen gegeben. Darum waren die Gespräche mit der jungen Frau, die sich auch noch als Gabriels Ehefrau herausstellte; seine schwangere Ehefrau, nicht nur für ihn und seinen Patienten aufschlussreich, sondern auch für sie selbst. Madeline und Roan wurden sogar so Freunden, hätte er ohne jegliches schlechte Gewissen behaupten können.


      "Naja jedenfalls ist es wirklich unglaublich was für eine Kraft die Kleine in ihrem Griff hat. Ich muss mich wirklich mal darum kümmern, dass meine Haare geschnitten werden, obwohl... mhmm.. findest du nicht auch, dass mir das kleine Zöpfchen steht?" Roan hatte den Vormittag mit Madelin und ihrer Kleinen verbracht. Sie hatte darauf bestanden, weil ihr aufgefallen war, dass Roan kaum jemals zu Mittag aß. Also lud sie ihn zu einem Brunch ein, doch da Roan nicht während seiner Arbeitszeit das Haus verlassen wollte, holte sie sich die Erlaubnis ihrer Schwiegermutter ein und veranstaltete dieses im Garten. Zu dieser Jahreszeit blühte er wunderschön und entsandte viele herrliche Aromen.
      Roan hielt den deutlich magereren Körper, als noch vor einem Jahr mit seinem Arm an sein Körper gepresst und bezog die Matratze neu, damit Gab es über Nacht frisch und angenehm hatte. Sobald die zweite Hand das Bettlaken zu Ende gezupft hatte und wieder frei verfügbar war, legte er sie vorsichtig in den Nacken des Blonden und ließ seinen Körper anschließend mit ebenso viel Sanftmut in das frische Bettzeug sinken.
      "Also ich meinerseits denke, dass es mich ein wenig geheimnisvoll erscheinen lä-" Große Augen starrten in große Augen - das Orangerot der Sonne traf auf das widergespiegelte Himmelsblau im Wasser. Natürlich war es das Ziel eines jeden Pflegers, dass sein Patient irgendwann seine Augen wieder öffnete, doch dass es tatsächlich nach so einer langen Zeit geschah, hatte Roan im ersten Augenblick unterwartet getroffen. Doch das änderte sich rasch, als die Instinkte in ihm übernahmen, beim Erfassen des röchelnden Geräusches, das Gab anfing von sich zu geben. Die Werte auf dem Monitor, die für Roan fast zur Normalität geworden waren mit ihrem gleichmäßigen Piepen, schossen kurz in die Höhe und spätestens jetzt wusste er was zu tun war.
      "Okey, okey alles gut, ganz ruhig", redete er mit sanfter Stimme auf seinen bislang stumm gewesenen Freund ein und legte seine Finger an Gabs Mundwinkel an, zwischen denen zwei Schläuche heraus ragten. Einer war dafür zuständig ihm Essen zuzuführen und der andere ihn zu beatmen. Zweiteres war soeben offenbar nicht mehr nötig, denn Gabriels Lunge versuchte bereits von alleine nach Luft zu schnappen. "Das wird sich ein wenig unangenehm anfühlen, aber ich verspreche dir, dass ich schnell und vorsichtig bin. Wir machen es auf drei alles klar? Und wenn ich es sagte, dann holst du so tief es geht Luft, okey Gabe? Also, eins - zwei - drei!" Die Finger des großen Dunkelhaarigen drückten die Schläuche gekonnt zusammen und zogen sie langsam aus Gabriels Mund. Für ihn musste es sich qualvoll langsam anfühlen, doch Roan musste es auf diese Art und Weise machen, um nicht die Speiße- oder Luftröhre zu verletzen. "Nur noch ein paar Zentimeter und wir haben es gleich.... - geschafft!" Der Pfleger hatte sich schon vor langer Zeit verboten der Länge der Schläuche unnötige Aufmerksamkeit zu schenken, weil er seine Patienten nicht bemitleiden wollte, sondern sie möglichst normal behandeln. Darum tat er es auch diesmal nicht und legte sie stattdessen auf einem Beistelltisch ab und blickte stattdessen in Gabe aufgerissene Augen, aus denen er Angst und Verwirrung und ein wenig Verzweiflung heraus lesen konnte.
      "Ich weiß, es fühlt sich an, als ob du ertrinkst, aber das wird gleich vergehen. Versuch es weiter Gabe, hol tief Luft!" Zur Unterstützung ergriff Roan Gabriels Hand und drückte sie mit spürbarbarem Druck, während seine Lippen sich zeitgleich spitzten und er mit Gabe zusammen die Atmung ausführte, die er selbst machen sollte. Und dann war es endlich da, das ersehnte Schnappen nach Luft und gleichzeitig das Zeichen dafür, dass die Lunge von alleine funktionierte! Roans Mundlinie weitete sich bis die Lippen sich voneinander trennten und seine Zähne aufblitzen ließen, für ein Lächeln das von Herzen kam.
      "Na, wer sagts denn! Willkommen zurück, Gabriel!"
    • Die Familie de Vere..
      Ganz offensichtlich sind die de Vere's keine gewöhnliche Familie, denn ihr Stammbaum lässt sich bis zum Herzog von Cumberland zurückführen, womit sie auch heute noch zum Adelsgeschlecht gehören. Im Grunde also eine ziemlich wohlhabende Familie mit vielen Hektar an Ländereien, auf dem das 1912 erbaute Anwesen steht, in dem Gabriel und seine noch lebenden Verwandten wohnen.

      Als Angehöriger einer reichen Familie hat man bestimmt keine Sorgen. Man hat es leicht. Man hat es gut.
      Das sind häufige Reaktionen von Gabriel's ehemaligen Freunden oder viel mehr Bekannten. Nicht einer davon hatte ihn in dem Jahr, in dem er im Koma lag besucht. Hatten sie wirklich kein Interesse oder ließ es seine Familie nicht zu?
      Hatte er überhaupt Freunde?

      Die Wahrheit ist...

      ..nun.. daran kann Gabriel sich nicht erinnern...


      Seine Familie wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass Gabriel eines Tages doch noch erwachen würde.
      Und so war es.
      Es war kein angenehmes Gefühl. Er blickte in ihm völlig fremde Augen, sah Kabel und Schläuche, während das Piepen sich mit seinem Herzschlag beschleunigte. Wo war er? Wer war das? Was war passiert? Was war er? Im Moment konnte er nicht mehr als sehen und hören, unfähig auch nur einen Muskel zu rühren.
      Luft... Atmen.. Gabriel hatte in diesem Moment keine Ahnung, was eine normale Atmung sein sollte. Er war völlig Desorientiert und hatte lediglich diesen fremden Mann vor sich, der auf ihn einredete. Die Stimme war ihm vertraut und doch völlig unbekannt. Aber sie war wohlklingend und ruhig.
      Wie der Fremde sagte, war es kein angenehmes Gefühl, doch bisher fühlte sich für Gabriel noch nichts angenehm an. Zu Beginn war er nicht mehr als ein Paar Augen und ein Paar Ohren. Allmählich spürte er seine Lunge, atmete wie der Pfleger es ihm vormachte. Sein Zustand normalisierte sich, doch in seinem Kopf ergab alles noch keinen Sinn. Es herrschte pures Chaos. Nichts. Als wäre er gerade eben geboren worden. Nur mit dem Unterschied, dass er die Worte des Mannes zwar verstand, aber nicht fähig war etwas darauf zu erwidern.

      Nachdem seine Verfassung es erlaubte, kam seine Mutter zu ihm ins Zimmer. Für Gabriel war sie eine ziemlich hübsche Frau. Gabriel.. War das sein Name? Der Mann hatte ihn so genannt und nun auch diese Frau. Gabriel also.. Und diese Frau war seine Mutter? Ihr Gesicht war ihm nicht bekannt, aber irgendwie auch nicht fremd. Das war eigenartig. Diese Leute schienen ihn zu kennen, doch er kannte sie nicht. Er kannte ja nicht einmal sich selbst.
      Madeleine.. Noch ein Name. Wer war Madeleine? Seine Frau? Er hatte eine Frau? Und ein Kind? Die Frau, die seine Mutter sein sollte, erzählte ihm von Madeleine, doch er konnte sich wirklich nicht erinnern. Er konnte sich an nichts und niemanden erinnern. Irgendwie überkam ihm deshalb ein schlechtes Gewissen. Seine Frau musste sicher leiden. Ein Jahr.. Ein Jahr soll er im Koma gewesen sein? Wie furchtbar. Er hatte die Geburt seiner Tochter verpasst und.. einfach alles. Vielleicht würden seine Erinnerungen zurückkommen. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als den Menschen zu glauben, die seine Familie waren. Ein tragischer Autounfall mit seinem besten Freund, der gestorben war. Auch wenn Gabriel sich nicht an einen Freund erinnern konnte, spürte er eine tiefe Traurigkeit in sich. Er war also noch hier und sein bester Freund nicht.
      Immer wieder fiel sein Blick auf den Pfleger. Dieser Mann hatte sich also die ganze Zeit um ihn gekümmert? Und er würde sich weiter um ihn kümmern. Roan war sein Name.. Aber wenn er ein Pfleger war, dann war er wirklich ein Fremder in Gabriel's Leben.
      Das Gesicht seiner Frau war ihm ebenfalls fremd, aber sein Unterbewusstsein schien sich an sie zu erinnern, denn er empfand Freude bei ihrem Anblick. Ihr Lächeln war bezaubernd und ihre Augen wunderschön. Der Klang ihrer Stimme wundervoll. Bestimmt hatten sie eine schöne Zeit miteinander, denn sie wirkte so froh, dass er aufgewacht war.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco
    • Es gab einen strengen Ablauf bei Komapatienten, die wieder zu sich gekommen waren. Doch von alle über einen Kamm scheren, war Roan noch nie ein großer Freund gewesen. Denn kein Patient war wie der Andere. Jeder hatte sein individuelles Fortschrittspektrum und dieses musste lediglich kurz ergründet werden; gemeinsam. Was jedoch unanfechtbar war, war dass es zwingend notwendig war einen Informationsüberschuss zu vermeiden. Deshalb legte Roan seine Hand kurz auf die Schulter des Blauäugigen und nickte ihm ermutigend zu, als er sagte: "Wir schaffen das gemeinsam, vertrau mir, ich verspreche dir das!"

      Erst daraufhin ließ griff er auf dem Flur ein Dienstmädchen auf und ließ sie die Hausherrin holen. Während sie auf ihr Erscheinen warteten, verstaute Roan die nun nicht mehr gebrauchten Schläuche - das wäre nun wirklich das letzte gewesen, was so eine Wiedervereinigung gebrauchen hätte können - kümmerte sich darum, dass die Speichelfäden um Gabriels Mund herum verschwanden und zupfte noch einmal seine Decke korrekt. Es blieb nur noch der Anruf und den tätigte Roan kurz und sachlich an einem der riesigen Fenster in Roan Zimmer. Er berichtete dem Arzt, dass Gabriel selbstständig atmete, dass seine Augen eine normale Reaktionszeit hatten und seine Werte unverändert stabil waren. Besser hätten die Neuigkeiten nicht sein können, aber es brauchte trotzdem einen Arztbesuch, der all die Informationen erst bestätigen würde. Heute käme er nicht mehr, zu weit sei die Anreise, um es mit seinen Terminen vereinbaren zu können, doch gleich als erstes morgen Früh. Damit war alles gesagt, Roan packte sein Handy weg und hörte auf dem Flur auch schon Schritte.

      Während die Hausherrin ihren Sohn unter Tränen und voller Glück willkommen hieß, hielt sich der Pfleger höflich im Hintergrund auf. Mit verschränkten Händen vor seinem Körper stand er etwas abseits und nahm als stiller Beobachter an diesem schönen Moment teil. Am meisten freute er sich aber für Madeline, als diese dazu stieß - leider ohne die Kleine - aber vermutlich weil Roan zu ihr einen größeren Bezug hat, als zu der Hausherrin. Irgendwann traf jedoch Gabriels Blick ihn, woraufhin der Pfleger wieder ein paar Schritte vor trat und sich leise räuspernd zu Wort meldete.
      "Verzeihen Sie mir Mrs de Vere, wenn ich kurz einwerfen muss, dass nun alsbald mit der gesamten Familie eine Sitzung benötigt wird. Denn Gabriels nächsten Schritte werden für ihn persönlich anstrengend genug werden und darum möchte ich der Familie eine Aufklärung bieten, wie sie ihm am besten damit behilflich sein können und in welchem Maß." Die Hausherrin blickte von ihrem Sohn zu Roan und dann wieder lächelnd auf ihren Sohn, während ihr Kopf ein sanftes Nicken andeutete.
      "Natürlich. Ja. Ich rede mit meinem Mann. Er ist momentan nicht im Haus und auf geschäftlicher Reise."
      "Es wäre wirklich wichtig, wenn möglichst alle anwesend wären, ja."
      "Kann die Familie Gabriel besuchen kommen oder ist es zu früh?"
      "Solange der Arzt nicht hier gewesen ist, hätte eigentlich keiner zu ihm gedurft. Ihnen, als Gabriels Mutter, konnte ich es einfach nicht verwehren und auch Ihnen nicht", lächelte er zu Madeline rüber die ihr Glück immer noch kaum fassen konnte. Der Pfleger teilte den Damen noch mit, dass der Arzt erst morgen eintreffen würde und ein paar Minuten später bat er sie auch schon höflichst darum, Gabriel seine wohlverdiente Ruhe zu gönnen. Der Dunkelhaarige ging ans einer Liege vorbei, holte sich einen Stift und einen Block und trat wieder an den blauäugigen Patienten heran. Roan selbst hatte bereits erfahren, wer alles zu den de Verdes gehörte, doch zusammen hatte er sie noch nie gesehen. Nun, das war ja auch nicht sein Job gewesen, sondern die Pflege von Gabriel. Dennoch war ihm unterbewusst klar, dass so eine große Familie für jemanden, der zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Erinnerungen an sie hatte, eine Herausforderung werden würde. Um so wichtiger war es nun die Beziehung zwischen ihm und Gabriel auszubauen, damit einen sicheren Hafen hatte, wohin er immer fliehen konnte.

      "Gut, das waren bestimmt jetzt schon überwältigend für dich, nicht wahr? Das ist okey und auch völlig normal, ich möchte, dass du das weißt. Hier, ich werde dir erklären was unsere nächsten Schritte sein werden." Es war wissenschaftlich erwiesen, dass es Patienten dessen Gehirn gelitten hatten, ob durch einen Schlaganfall, Koma oder einen physischen Schaden, leichter fiel sich an Zahlen zu erinnern, als an Buchstaben, Worte und Sätze. Darum hielt Roan den DIN A3 Block nach oben, so dass Gabriel gut drauf gucken konnte und schrieb mit dem schwarzen Marker eine 1 in die Mitte.
      "Die 1 bist du. Was heißt das?" Links der 1 malte Roan einen Smiley hin mit nur einer Nase, Augen und Ohren, aber ohne eine Mundlinie. "In dieser Phase geht es nur um dich und um keinen anderen. Hierbei arbeiten hauptsächlich deine Augen, deine Ohren und deine Nase. Letzteres wird gerne vergessen, aber das Erfassen von vertrauten Gerüchen, aber auch von Gestank ist sehr fördernd für das Gedächtnis. Diese linke Phase konzentriert sich also ganz auf deine eigenen Wahrnehmungen. Und mit der rechten Phase-", Roan malte so gut es seine Künste es zuließen, eine Lunge, ein Herz, ein Gehirn und ein Bein auf, "-fördern wir deine Wahrnehmungen, sodass beides zu langsamen Erinnerungen führt." Dann zog Roan wortwörtlich einen Schlussstrich unter die eins und betonte:
      "Mit dieser Phase lassen wir uns so viel Zeit, wie wir brauchen und machen dann weiter, wenn es soweit ist. Ich werde nun damit beginnen, dich in das einzuweihen, was dir passiert ist und was das mit deinem Körper gemacht hat, okey?" Und dann begann der große Dunkelhaarigen zu erklären, was mit dem Körper nach einem Unfall, der einen ins Koma legte, innerhalb eines Haares geschah. Er fing oben an und zeigte auf seinen Kopf, damit war das Gehirn gemeint. Dann ging er weiter zum Adamsapfel - die Verbildlichung demonstrierte er an seinem Körper mit den Fingern - womit die Stimmbänder gemeint waren, anschließend ging es ein Stück tiefer zur Speiße- und Luftröhre, dann zur Lund und schließlich zur den Gliedmaßen, bis die Beine das Schlusslicht bildeten. Dem Pfleger war bewusst, dass das viele, sehr viele, Informationen auf einmal waren, doch er war der festen Überzeugung, dass Gabriels junges Alter das vertragen konnte.
    • Nachdem die beiden Frauen sich von ihm verabschiedet hatten, blieb der fremde Mann allein in seinem Zimmer zurück. Er brachte ein wenig Ordnung in das Chaos in seinem Kopf, auch wenn er es nur schwer nachvollziehen konnte.
      So aufmerksam, wie es ihm möglich war, folgte Gabriel Roan's Ausführungen, was in Zukunft auf ihn zu käme. Auch wenn es viel auf einmal war, fügten sich alles nach und nach zu etwas sinnvollem zusammen. Er hatte nicht alles vergessen. Die 1 war ihm bekannt. Ebenso die ganzen anderen kleinen Bildchen, die Roan für ihn zeichnete. Gabriel wusste auch, was ein Baum ist. Oder ein Bett. Ein Haus. Alles befand sich irgendwo in seinem Kopf und musste nur ein wenig entstaubt werden.

      Während Gabriel versuchte dem Pfleger zu folgen, kümmerte sich seine Mutter darum, dass sämtliche Familienmitglieder zusammenkämen. Ihre Schwiegereltern waren im Haus, ebenso Gabriel's jüngste Schwester Deborah. Samantha befand sich gerade im Urlaub und musste absagen. Sie könnte dem Treffen jedoch per Videoanruf beiwohnen, wenn ihre Anwesenheit wirklich so wichtig war. Aber eigentlich hatte sie nie viel Kontakt zu Gabriel, nachdem sie geheiratet hatte. Sein Bruder Alexander war natürlich der ganze Stolz der Familie, der in die Fußstapfen seines Vaters trat. So befand er sich auch in diesem Moment mit ihm auf Geschäftsreise, die er nur widerwillig für Gabriel abbrechen würde. Sein Vater bestand jedoch darauf, also würden sie morgen gegen Mittag im Anwesen erscheinen.
      Sein Großonkel Geoffrey und seine Frau Eliza ließen ebenfalls alles stehen und liegen, um bei der Familie zu sein. Sie brächten auch ihre Enkeltochter mit, die vor 6 Jahren ihre Eltern verloren hatte. Auch Charlette, die Ehefrau seines Onkels, der vor 3 Jahren verstarb, würde mit ihren beiden Söhnen auftauchen.
      Somit wären alle noch lebenden de Vere's außer Samantha entsprechend vor Ort. Das gab es sonst nur zu besonderen Anlässen, wobei Gabriel vor seinem Unfall nicht erwartet hätte, dass ER ein solch besonderer Anlass sein würde.

      Sie alle hörten sich die Worte des Pflegers, sowie des Arztes an, wie das mit Gabriel weitergehen würde.
      Isabella und ihre Großeltern reisten nach 4 Tagen wieder ab.
      Charlette und ihre Söhne blieben ganze 7 Tage.
      Alexander und sein Vater reisten bereits nach 2 Tagen wieder ab, um die Geschäftsreise fortzusetzen.
      Somit waren nur noch Gabriel's Mutter, seine Großeltern und seine Schwester Deborah im Haus. Aber auch Deborah verließ das Haus 2 Wochen nach Gabriel's Erwachen.

      Inzwischen hatte Gabriel auch ein paar Worte gesprochen, auch wenn er noch nicht sehr viel sprechen konnte und auch nur sehr langsam. Aber Roan war sehr geduldig mit ihm, immerhin war das ja auch sein Job.

      An diesem Nachmittag, 18 Tage nach seinem Erwachen, saß er mit seiner Frau und seiner Mutter im Garten. Er war zwar bisher nur in einem Rollstuhl unterwegs, doch demnächst könnte er sich den ersten Gehversuchen stellen. Mittlerweile konnte er einen Becher in zwei Händen halten, ohne ihn fallen zu lassen und das Essen verließ auch immer seltener seinen Körper über den Weg, den es gekommen war.
      Das Wetter war traumhaft, Madeleine schien glücklich und das Mädchen auf Gabriel's Schoß hatte blondes Haar und blaue Augen, wie der Großteil seiner Familie. Auch wenn er sich nicht an die Zeit vor seinem Unfall erinnerte, so war da doch eine starke Verbundenheit zu seiner Frau. Die Kleine war ebenfalls ein richtiger Sonnenschein und strahlte den jungen Vater an. Dennoch musste er aufpassen, dass er sie nicht fallen ließ, weshalb er sie nicht von seinem Schoß hob und ihre Mutter sie an sich nahm, sobald sie unruhiger wurde. So wie jetzt, da sie wohl gerade Hunger bekam, was Gabriel ein wenig überforderte.
      "Ich wünschte... ich wäre bei dir.. gewesen.." Sie musste die Schwangerschaft und die Geburt ohne ihn durchstehen, was ihn sehr betrübte.
      "Ach Gabriel.. du bist jetzt da und das ist alles was zählt, nicht Liebes?", erwiderte seine Mutter darauf an Madeleine gewandt und strich Gabriel sanft über den Kopf. Es fühlte sich gleichzeitig gut und eigenartig an, dass diese Frau, seine Mutter, ihn so fürsorglich behandelte. Diese - und auch der Großteil der Familie - waren insgeheim auch sehr erleichtert, dass Gabriel sich an nichts erinnerte. Andernfalls hätte er diese falsche Zuneigung schnell durchschaut, aber so konnten sie von vorne anfangen und Gabriel zu dem machen, was er sein sollte. Einem vorbildlichen de Vere.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco

      Dieser Beitrag wurde bereits 4 mal editiert, zuletzt von Kiimesca ()

    • Madeline hätte nicht gedacht, dass es ihr schlussendlich so leicht fallen würde die Lüge zu leben, um die sie inständig gebeten worden war. Und sie fühlte sich deswegen auch egoistisch, denn im Grunde genommen, lebte sie ja jetzt genau das Leben, was sie sich mit Gabriel insgeheim gewünscht hatte. Die ersten Gewissensbisse kamen erst wieder hoch, nachdem die Familie um Gabriels Zustand aufgeklärt worden war. Der Arzt und auch Roan betonten zwar immer wieder, dass er keinem unnötigem Stress ausgesetzt werden solle, aber nicht, dass man ihm schmerzhafte Details seiner Vergangenheit verheimlichen musste. Im Gegenteil. Es war wichtig ihn nicht nur mit Liebe und Positivität zu überschütten, das waren zumindest Roans Worte gewesen. Der Arzt hatte es mehr fachlich ausgedrückt.

      Die junge Mutter war wirklich froh, dass dieser Mann als Gabriels Pfleger in ihr Leben getreten war. Sein Wesen war so gütig und warmherzig, dass man gar nicht anders konnte, als sich bei ihm wohl zu fühlen. Und wenn Madelin sich die Erfolge anguckte, die Gabriel in nur 18 Tagen erzielte, dann war sie sich sicher, hätte es keinen besseren dafür geben können, als Roan. Er war es auch, der mit Gabriels schlechteren Tagen am besten zurecht kam und es immer wieder schaffte ihn nicht nur zu beruhigen, sondern auch im richtigen Maß aufzuheitern und zu motivieren. Madeline hingegen hatte noch ihre Schwierigkeiten, denn immer wenn sie Gabriel mit sich hadern sah oder an sich zweifeln, tat es ihr im Herzen weh. Am meisten traten solche Situationen auf, wenn jemand ganz offensichtlich in einer Erzählung ausgelassen wurde; in dem Fall sein Freund. Gabriel fragte oft, wie sein bester Freund gewesen war und warum es keine Bilder von ihnen gab und und und. Ihn dahingehend anzulügen, war eins der schwersten Dinge, die Madeline in ihrem Leben tun musste. Sie nahm sich aber jeden Tag ein bisschen strenger vor, Roan irgendwann um Rat zu fragen.

      "Du warst immer bei mir, bei uns, Gabriel. Vor..", Madeline war eben ein zutiefst ehrlicher und unschuldiger Mensch, sie konnte einfach nicht verstecken, wenn ihr etwas zusetzte, doch sie bemerkte Roans Kopf, wie er zusprechend nickte und fing sich wieder, um fortzufahren: "Vor deinem Unfall, hast du dich so sehr auf Hope gefreut! Ich habe diese ganze Liebe an sie weiter gegeben und ihr immer wieder gesagt, wie sehr ihr Vater sich freuen wird, sie bald endlich sehen zu dürfen. Und deine Mutter hat völlig Recht, was zählt, ist, dass du jetzt die Möglichkeit hast bei uns zu sein und wir bei dir."

      Roan war schon nach ein paar Tagen seines Aufenthalts hier aufgefallen, dass Madeline - immerhin seine schwangere Ehefrau und schwanger wurde man schließlich nicht nur so - Gabriel nie einen Kuss auf die Lippen gab. Das hatte sich auch nach seinem Erwachen nicht verändert. Ihr Blick strahlte pure Liebe aus, das auf jeden Fall. Aber bis auf ein paar Küsschen auf die Wange und liebevolle Nähe hatte Roan bislang keine intimeren Berührungen beobachten können. Er hatte sich aber auch nicht wirklich getraut Madeline darauf anzusprechen, denn immer wenn er die Konversation in seinem Kopf startete, hörte sie sich viel zu anmaßend an und privat. Dabei wollte er nur wissen, ob sie nicht vielleicht einfach Angst hatte etwas zu überstürzen und er hätte ihr einen Rat dabei geben können. Doch dieses Gespräch musste wohl noch warten.
      "Mr. Hall möchten Sie gar nichts Essen? Bitte! Es ist genug da, gesellen sie sich zu uns!" Roan, der der Hausherrin nie etwas abschlagen konnte, weil sie eine Mutterfigur war und selbst wenn nicht seine eigene, gebührte er ihr den größten Respekt, seufzte in ein sanftes Lächeln und trat an die Familie heran, der er lediglich ihre Privatsphäre gönnen wollte.
      "Sie sind viel zu gut zu mir, Mrs. de Vere! Aber verwöhnen Sie mich nicht zu viel, sonst laufe ich der Gefahr aus, mich daran zu gewöhnen!" Die Hausherrin lachte hell auf, aber so richtig herzlich hatte er sie noch nie lachen gehört. Eigentlich kaum einen in diesem Hause und das obwohl die Familie so riesig war. Wenn Roan sich an seine eigene Vergangenheit erinnerte, als seine Eltern noch unter ihnen weilten und sie mit den Großeltern und seiner Zwillingsschwester absurd lustige Abende und Wochenenden verbrachten, dann war das hier wirklich sehr ungewohnt für ihn. Doch es handelte sich dabei eben um zwei völlig verschiedene Welten.
      "Wenn ich fragen darf, ist es möglich davon ein wenig was einzupacken? Gabriel und ich werden heute eine Spazierfahrt über das Anwesen machen und ich fürchte, dass der Rollstuhl und die wunderschönen natürlichen Wege hier sich nicht sonderlich vertragen werden, darum würde ich für mich doch gerne eine kleine Verstärkung mitnehmen. Ich schlage auch vor, dass wir langsam aufbrechen, ehe die Sonne am höchsten steht. Bist du soweit Gabriel?" Seit seinem Erwachen hatte Gabriel schon riesige Fortschritte gemacht und darum sein Zimmer auch schneller verlassen, als Roan es zu Anfang geglaubt hatte, aber so richtig aus dem Haus war er noch nie gewesen. Heute sollte der Tag sein und das Wetter schien den beiden Männern perfekt in die Karten zu spielen.
    • Auch wenn er sich in keine der Geschichten wieder erkannte, blieb ihm ja nichts anderes übrig als sie zu glauben. Am schlimmsten für ihn war, dass er seinem besten Freund nicht einmal richtig nachtrauern konnte, denn für ihn war es im Moment nur ein Fremder. Dafür fühlte er sich schuldig.
      Roan und den anderen gelang es zumindest, diese Schuldgefühlte ein wenig zu lindern. Vor allem die kleine Hope, machte Gabriel sehr glücklich. Für sie wollte er schnell wieder gesund werden. Und für seine Frau natürlich auch. Sie war so zurückhaltend, trotzdem fühlte er sich sehr wohl bei ihr. Ihre Worte taten ihm gut, denn er freute sich auch jetzt über Hope. Scheinbar hatte er sich schon immer Kinder gewünscht und eine Familie. So eine große Familie.. Und mit Hope war sie weiter gewachsen.

      Kleinere Dinge wie Besteck fielen ihm noch wesentlich schwerer zu halten, weshalb er nicht gerade der schnellste am Tisch war. Seine Mutter und seine Großeltern schienen jedoch sehr froh zu sein, dass er überhaupt mit am Tisch sitzen konnte. Im Haus gab es viele Bilder von lebenden, wie verstorbenen Familienmitgliedern. Auch Gabriel war auf einigen zu sehen, wobei ihm sein eigenes Gesicht ebenso fremd war, wie das der anderen.
      Aufmerksam lauschte er dem Gespräch zwischen seiner Mutter und Roan, der schließlich auf ihn zukam. Roan war.. ein sehr liebevoller Mensch, dessen Lächeln Gabriel's Tage erhellten. Bei ihm fühlte er sich ebenso wohl wie bei seiner Frau. Deshalb freute er sich auch auf den Ausflug, um endlich mal ein wenig mehr zu sehen.
      "Ja", antwortete er mit einem Lächeln und nickte. Seine blauen Augen funkelten ein wenig und in seinem Bauch machte sich ein flaues Gefühl breit. Aber ein angenehmes.

      Draußen fühlte er sich wesentlich wohler, als im Anwesen. Je weiter sie sich davon entfernten, desto entspannter wurde er. Er hatte sich fest vorgenommen, Roan etwas zu fragen oder viel mehr zu bitten, wenn niemand in der Nähe war und was eignete sich dafür besser, als dieser Ausflug?
      Einen Moment lang genoss der junge Mann die Aussicht, ehe er zu seinem Pfleger aufsah. "Roan..", begann er und hob seine Hand, damit er näher kommen würde und er nicht so laut sprechen müsste. "nächste Woche ist Maddy's Geburtstag.. Ich sollte ihr etwas schenken, oder?", fragte er und sah etwas hilfesuchend in seine Augen. Vor seinem Unfall sollte er doch oft solche romantischen Gesten gemacht haben. Da durfte er das an diesem Tag doch nicht vernachlässigen, nur weil er nicht selbst etwas vorbereiten konnte. "Und denkst du.. Denkst du ich kann.." Irgendwie kam er sich etwas albern vor an so etwas zu denken, aber.. sie waren schließlich ein Paar und eindeutig hatten sie ja schon mindestens einmal Sex gehabt. Er fragte sich, ob Maddy das wohl vermisste, auch wenn sie für ihn immer noch mehr eine Fremde war. Vielleicht würde es ihnen ja helfen, wenn er ihr zeigte, dass es in Ordnung war etwas Intimität zuzulassen. Aber ein Kuss reicht ja vielleicht auch schon.. "Ach.. egal.. vergiss es.. Aber nicht die Überraschung!" Nur seine blöde Frage, die er nicht einmal ausgesprochen hatte. Immerhin war Gabriel nicht gelähmt, auch wenn er nicht wirklich aktiv - Egal.
      "Ich möchte etwas schickes anziehen und ihr Blumen schenken. Keine Rosen.. Ich mag keine Rosen.. Vielleicht.. Magnolien.. und Tulpen.. oder müssen es Rosen sein?" Immer wenn Gabriel eine Rose im Garten pflücken wollte, hatte er sich gestochen. Ganze dreimal. Außerdem war das irgendwie langweilig.. Ja, Rosen standen für Liebe, aber er liebte diese Teufelsblume überhaupt nicht.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco

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    • Wäre hätte denn gedacht, dass irgendwie das selbe Thema die beiden beschäftigte. Roan zumindest war mehr von diesem Umstand, als von der angedeuteten Frage selbst überrascht. Vielleicht hatte er sogar zu lange perplex auf den blonden Blauäugigen gestarrt, denn dieser bat ihn das Thema zu vergessen.
      "Es ist nicht egal, Gabe! Und dafür, auch für solche Fragen, bin ich doch erst überhaupt hier. Wir sind außerdem beide Kerle, also komm schon, sei nicht so schüchtern! Es hört keiner außer uns beiden zu. Aber zuerst einmal zum Geschenk." Kurz setzte der große bärtige, dessen Bart im Gegensatz zu seiner Mähne deutlich mehr Pflege und Beachtung vom Pfleger bekam, seine Finger nachdenklich unter den Kinn und blickte über eine wunderschöne, blühende, weite Wiese. Hier wären die beiden Männer sicherlich fündig geworden, Blumen technisch.
      "Es ist echt schwierig für dieses Mädchen eine Blume herauszusuchen. Keine scheint gut genug für sie zu sein... hmmm" Roan erinnerte sich an die Lieblingsfarbe von Madeline, gelb. Aber ihm wollte keine passende Blume dazu kommen, zumindest keine, die sich im Strauß gut machte. Dann aber kam ihm ein Gedanke und er war sich fast sicher, dass Madeline sich ebenfalls darüber freuen würde, weil es so unkonventionell war. Heimtückisch grinsend wandte sich der Pfleger Gabriel zu und lief im nächsten Moment auch schon um seinen Rollstuhl herum, um ihn kräftig anzuschieben. Mit Vollgas rasten sie daraufhin in die Blumenwiese rein und über sie hinweg. "Frag nicht und lass dich überraschen, aber halt dich gut fest!", rief er dem blonden Schopf vor sich zu und wurde erst langsamer, als er den Weg hinter sich kaum mehr erkennen konnte. Das hatte ihn aber auch ganz schön viel Puste gekostet, weshalb Roan sich erschöpft stöhnen neben Gabriel ins Gras fallen ließ und schwer atmend auf dem Rücken liegen blieb. Er musste seiner Lunge ein wenig Zeit geben, um sich wieder mit ausreichend Sauerstoff zu füllen, ehe er die Augen öffnete und vom klaren, blauen Himmel in das selbe Blau in Gabriels Augen blickte.
      "Vergiss den Anzug, das wirkt zu aufgesetzt, finde ich. Und zu den Blumen-", Roan stützte sich auf seine Unterarme ab und lächelte verschmitzt, "Sie dich doch um. Wieso dich für eine Blume entscheiden, wenn du ihr eine ganze Blumenwiese schenken kannst? Verbinde es mit dem anderen Gedanken, der dich hat rot werden lassen und schon hast du eine perfekte kleine Geburtstagsüberraschung, mh?" Schließlich setzte Roan sich auf und löste die Sicherung, die Gabriels Beine im Rollstuhl behalten sollte, woraufhin er ihm die Hand vor hielt. "Versuch es, ja wirklich, komm runter und spür die Wiese, riech die Blumen, genieße die Sonne und den Windhauch auf deiner Haut. Hier habt ihr auf jeden Fall mehr Privatsphäre als im Haus, denkst du nicht auch?" Er half dem jungen Gabriel neben sich auf die Wiese und drehte sich auf die Seite, um seinen Kopf in der Hand abzustützen und ihn mit der üblichen Sanftmut in seinem Blick aber auch einer gewissen Ernsthaftigkeit anzuschauen.
      "Verspürst du in letzter Zeit das Bedürfnis danach? Oder ist es nur Kopfsache?" Das war eine wichtige Frage, die Gabe sich vor allem selbst stellen musste, als sie Roan zu beantworten. "Seit dem ich dich pflege, kann ich mich an keinen Moment erinnern, in dem du irgendwie falsch funktioniert hättest. Beim Waschen oder Rasieren hast du immer sehr viel junge Energie ausgestrahlt", erzählte der Ältere völlig schamfrei, sich absolut nichts dabei denkend. "Ich weiß also gar nicht, woher deine Sorge kommt."
    • Gabriel wusste nicht, ob er erleichtert und beschämt sein sollte, als Roan sich auf seine unausgesprochene Frage bezog. Doch als er über das Geschenk sprach, war ihm das ganz recht. Aber wenn Roan nicht einmal wusste, welche Blume seiner Frau gefallen könnte, wie sollte er da die passende finden?
      Etwas verwundert sah Gabriel kurz zu ihm auf, ehe er von ihm über die Wiese geschoben wurde. Viel zu schnell. Er hielt sich zwar fest, aber fragte sich, was in ihn gefahren sei. Deshalb sah Gabriel umso verwirrter, aber auch neugierig in die Augen des anderen herunter, der auf dem Boden lag.
      Auf seine Aufforderung hin sah sich der junge Mann um und betrachtete das Farbenmeer. Er sollte ihr eine ganze Blumenwiese schenken? Es mit dem anderen Gedanken verbinden?! Einen Moment lang sah er den anderen an und ließ sich dann aus dem Rollstuhl helfen, um sich ebenfalls auf die Wiese zu legen. Das sie hier mehr Privatsphäre hätten als im Haus, war auf jeden Fall wahr. Irgendwie fühlte er sich nicht so wirklich wohl da und seine Mutter schien immer präsent zu sein. "Ja...", antwortete er deshalb auf diese Frage.
      Doch die nächste Frage war eine schwierigere. Während Gabriel darüber nachdachte, brachte Roan Argumente vor, die ihn jedenfalls nicht davon abhalten sollten, diese Überraschung wirklich durchzuführen. Es war ihm gar nicht mal so unangenehm und wäre zumindest eine Sorge weniger, aber um auf seine vorherige Frage zurückzukommen: "Ich habe kein Bedürfnis danach.. Ich dachte nur, dass sie vielleicht.." Seufzend wandte er seinen Blick von Roan ab und blickte in den Himmel. Er wusste es doch selbst nicht. "Lass... mich kurz nachdenken.. okay?", bat er ihn um etwas Zeit und drehte sich sogar auf die Seite, um dem anderen seinen Rücken zuzuwenden.
      Eine ganze Weile verbrachte er so, ohne ein Wort zu sagen. Er wäre sogar beinahe eingeschlafen, schreckte jedoch wieder auf und drehte sich dann auf den Rücken. "Irgendetwas fühlt sich falsch an.. Ist das komisch? Ich bin nicht gern zuhause.. Die Blicke meiner Mutter fühlen sich.. Ich weiß auch nicht.. Ich fühle mich beobachtet.. Aber sie macht sich ja auch Sorgen um mich, oder?" Dann war das ganz normal, dass sie immer ein Auge auf ihn hatte.
      "Was, wenn ich nie wieder der werde, der ich früher war? Wenn ich Maddy nie wieder so lieben kann, wie ich es getan habe. Ich mag sie, aber.. mehr nicht. Aber selbst, wenn wir es nicht wieder hinbekommen.. Ich liebe Hope und werde sie nicht im Stich lassen." Er sprach schon so, als würde er davon ausgehen, dass ihre Ehe keinen Sinn mehr hätte. War er zu voreilig?
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    • Und da war also das Problem, so wie Roan es sich schon gedacht hatte. Irgendwo konnte er ihn verstehen, denn wäre Roan im Koma gelegen und seine Frau hätte tatsächlich ein ganzes Jahr auf ihn gewartet und nie einen Gedanken daran gehegt ihn aufzugeben, dann wäre das auch einer der erste Gedanken gewesen, wie er ihr beweisen konnte, dass sich an ihrer Liebe nichts geändert hatte. Tief in seinen Hintergedanken bei einem Thema in der seine Zwillingsschwester eigentlich absolut nichts zu suchen hatte, hörte er sie "Typisch Männer!" sagen. Der kurze Gedanke an sie ließ den älteren Zwilling warmherzig gen Himmel lächeln. Roan hatte schon lange nicht mehr ihre Stimme gehört, vielleicht sollte er nachher mal einen Anruf tätigen. Ja, das würde er machen.
      "Wirkt Madeline auf dich wie jemand, der von einem etwas Unausgesprochenes erwartet? Also auf mich wirkt sie alleine schon in deiner Nähe mehr als glücklich. Und dir ergeht es doch offenbar auch so. Dann schlage ich vor solltest du es dabei belassen und abwarten wohin euch beide das führt." Was Gabriel jedoch über seine Mutter sagte, Roan konnte ihn verstehen. Vermutlich spielte sein Alter eine große Rolle, denn immerhin war er kein Kind mehr, sondern durchaus ein Erwachsener - wenn auch nochmal deutlich jünger als Roan selbst - und seine Mutter sich selbst dann so bevormunde zu sehen, war bestimmt eigenartig für einen. Andererseits war er nun mal ihr Kind, das sie beinahe verloren hätte. Beide Seiten waren also durchaus zu verstehen. Der Dunkelhaarige drehte seinen Kopf, um den Blick auf Gabriels nachdenkliches Gesicht ruhen zu lassen und sagte eine Weile nichts. Es war schön hier und wäre es nach dem Pfleger gegangen, hätte er hier für den Rest des Tages liegen bleiben können. Zu schade, dass der junge Blonde dieses Stückchen Frieden nicht genauso genießen konnte; verständlich war es aber alle Mal.
      "Ich mache dir einen Vorschlag, aber nur insofern du dir dein hübsches Köpfchen aufhörst zu zerbrechen. Dir scheint zu Hause die Decke auf den Kopf zu fallen, deswegen fühlst du dich irgendwie seltsam dort. Was hältst du davon, wenn ich uns einen Wagen organisiere und wir dann das Anwesen ganz verlassen? Um in die nächste Stadt zu fahren. Vielleicht finden wir ja dort dann auch ein passendes Geschenk für Madeline, das weder etwas mit Blumen noch mit Sex zu tun hat?" Gespannt sah Roan Gabriel an, denn noch während er den Vorschlag von sich gegeben hatte, war ihm bewusst geworden, dass die Ansprache eines Autos vielleicht noch zu früh sein konnte.
    • Ob er sich wohl schon immer so viele Gedanken gemacht hatte? Es war schwierig, wenn man nicht einmal wusste, wer man selbst eigentlich war. Allem Anschein nach aber zumindest ein netter Typ aus gutem Hause, mit einer wunderschönen Frau, der beinahe der Vater ihres Kindes geraubt wurde. Er wusste nicht einmal, wie es zu dem Unfall überhaupt kam, nur das, was andere eben von außen gesehen hatten. Hoffentlich hatte er keinen Streit mit seinem besten Freund. Betrunken war er immerhin nicht, als er gefahren ist. Das war schon mal eine Erleichterung.
      Erst als Roan ihm seinen Vorschlag machte, drehte er seinen Kopf wieder zu ihm, um seinen Blick zu erwidern. "Wirklich?" Gabriel's Laune verbesserte sich schlagartig und erzeugte ein breites Lächeln in seinem Gesicht. Einfach mal ein wenig abschalten und nicht immer nur das gleiche zu sehen klang nach einer großartigen Idee. Aber war er Roan auch wirklich keine Last? Wenn er nun anfangen würde, sich das zu fragen, würde er sich wieder nur in seinen Gedanken verlieren. Er war sein Pfleger und er war bisher immer so geduldig und warmherzig, warum sollte er diesen Vorschlag machen, wenn es nicht umsetzbar für ihn wäre?
      "Das klingt toll.. Wir könnten Matthew fragen.." Immerhin verwaltete er doch die Wagen der Familie. Irgendwo stand ja auch noch Gabriel's Wagen, da der Unfall sich wohl mit dem Wagen seines Kumpels ereignet hatte.
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    • Roan sah Gabriel zum ersten Mal aufrichtig lächeln und das brachte ihn für einen Augenblick zum Staunen. Der wolkenfreie Himmel ließ die Sonne ein so pures Licht herunter, dass Gabriels blondes Haar zu leuchten schien, dort wo die Strahlen auftrafen. Doch dieses konnte nicht an das Strahlen seiner Augen heran kommen. Wieso hatte der Gedanke das Anwesen zu verlassen bei ihm so eine große Freude ausgelöst? Das war zwar eine Frage, die Roan vordergründig durch den Kopf ging, doch das was ihn für den Bruchteil einer Sekunde so eingenommen hatte, war etwas ganz anderes gewesen, von dem er froh war, es schnell wieder abzuschütteln und auf Gabriels Worte hin kräftig zu nicken.
      "Ja, wirklich. Ich habe auch schon an Matthew gedacht und rate mal was? Er hat eine Wette verloren und schuldet mir tatsächlich etwas, thehe!" Ja hin und wieder hatten sich die Angestellten zum Pokern getroffen oder einfach nur zum Fußballgucken auf ein Bier. Nicht selten waren dabei Wetten im Spiel gewesen. Drei ganze Gefallen hatte Roan sich dadurch erspielen können. Einen von Matthew, einen von Elsa, einem der Dienstmädchen und einen - und darauf war Roan am meisten stolz - vom Butler Butsch. Er hatte keinen davon bisher eingelöst.

      Nachdem die beiden Männer wieder im Hause angekommen waren, brachte Roan Gabriel zurück auf sein Zimmer und half ihm auf sein Bett. Die Liege, auf der er ein Jahr lang bewusstlos verbracht hatte, wurde mittlerweile aus dem Zimmer entfernt, sodass es wieder nach einem richtigen Schlafzimmer aussah und nicht nach Krankenhaus - so richtig hätte hier nie etwas nach Krankenhaus aussehen können, nicht einmal wenn man es gewollt hätte, weil die Pracht dieses Anwesens einfach zu wuchtig war. Roan gefiel Gabriels Zimmer, auch wenn er insgeheim fand, dass das irgendwie nicht sein Stil war und nur bedingt zu ihm passte. Aber wer war er schon, er kannte Gabriel so richtig erst seit, nein noch nicht einmal ganz drei Wochen.

      Bevor es Mittagessen gab, stand für den Pfleger und seinen blonden Patienten noch Physiotherapie an. Gabriel war schon ganz gut in der Lage sich selbst umzuziehen, sodass Roan ihm nur half, wenn er auch danach gefragt wurde. Doch ihr Ausflug nach draußen hatte ein wenig mehr Zeit eingenommen, als Roan eingeplant hatte, weshalb er nach der Physio nicht mehr schaffen würde zu sich rüber zu flitzen, um sich frisch zu machen, was aber dringend notwendig war, nachdem er Gabriel über unebene Erde, Gestein und Kies mit dem Rollstuhl geschoben hatte. Er wollte am Tisch schließlich niemanden mit seinem Gestank verschrecken oder gar verekeln. Und wenn dazu eingeladen war mit den de Veres zu Mittag zu essen, dann durfte er auch auf keinen Fall zu spät erscheinen. Darum vereinbarten die Männer, dass Roan ausnahmsweise Mal Gabriels Bad benutzen durfte. Der Dunkelhaarige versuchte seine Haare nicht nass zu machen, doch die überdimensional groß Regendusche ließ keine trockene Stelle auf dem Kopf zu. Also wurde aus der kurzen Körperhygiene doch eine anständige Dusche, die er nach ca. 10 Minuten wieder verließ und sich ein wirklich flauschiges Handtuch um die Hüften wickelte, während ein anderes sein nasses Haar rubbelte. Er trat aus dem Bad raus und blickte zu Gabe zum Bett.
      "Bin ich froh, dass drüben bei mir eine richtige Dusche ist, so wie ich sie kenne. Hätte ich so eine wie du, würde ich sie vermutlich nie wieder verlassen können. Das ist ja herrlich erfrischend!"
    • Matthew hatte eine Wette gegen Roan verloren? Dann stünde ihrem Vorhaben ja tatsächlich nichts im Wege. Außer seiner Mutter, die das ganze wohl nur ungern gestatten würde. Immerhin konnten sie sich ja auch nicht einfach davonschleichen, ohne sie einzuweihen. Das anstehende Essen wäre dafür wohl am besten geeignet.
      Während Roan von Gabriel's Bad Gebrauch machte, sah sich der Blonde ein weiteres Mal in seinem Zimmer um. Sein Blick blieb zum wiederholten Mal an einem kleinen Bild hängen, dass ihn mit seiner Frau zeigte. Das Bild muss bestimmt um die 5 Jahre alt sein und zeigte die beiden in Disneyland. Er küsste ihre Wange und sie strahlte überglücklich. Auch in Gabriel's Gesicht war ein Lächeln zu erkennen, aber.. Warum gab es keine Hochzeitsfotos? Eine Familie wie die de Vere's würde doch den besten Hochzeitsfotografen Englands, wenn nicht der Welt, einladen, um diesen Augenblick festzuhalten. Es war eigenartig, weshalb Gabriel schon wieder in seinen Gedanken versank, aus denen ihn der Pfleger riss.
      Sein Blick fiel zuerst auf seinen Oberkörper und verharrte dort für einen Moment, ehe Gabriel zu seinem Gesicht aufsah. Allerdings sagte er nichts, denn er kannte keine Dusche außer dieser und wusste nicht, was eine 'richtige' Dusche sein sollte. Er wandte jedoch seinen Blick ab und blickte auf den Boden. "Wenn du etwas frisches zum Anziehen brauchst, kannst du dich in meinem Schrank umsehen." Roan war nur ein paar Zentimeter größer, weshalb ihm seine Sachen eigentlich passen müssten.
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    • Der Kopf schüttelte sich prompt und die nassen Haarsträhnchen warfen von ihren Spitzen kleine glitzernde Wassertröpfchen ab.
      "Nein, nein, nein! Das kann ich doch nicht annehmen!" Zu viel Angst hatte Roan davor, dass er etwas heraus picken könnte, dass womöglich eine Menge Geld kostete und er es am Ende des Tages besudelte oder gar kaputt machte. Und selbst, wenn er es schaffen würde die Flecken und gefährlichen Gegenstände davon fernzuhalten, würde der Pfleger vermutlich Angst haben sich zu bewegen, ja vielleicht sogar zu atmen. Deshalb lehnte Roan dankend ab. Er zog das Handtuch von seinem Haar und legte es sich über die Schulter, während sein Blick doch zum Schrank rüber wanderte. Aber nur, weil er sich die Frage stellte, ob Gabriels Sachen ihm überhaupt gepasst hätten. Sie waren gleich groß und von den Anfängen und von Fotos wusste Roan, dass Gabriel ursprünglich ein athletischer junger Mann war. Aber der Pfleger war nun einmal um ein paar Jährchen älter und wenn man es nicht an den kleinen langsam erkenntlichen Unebenheiten im Gesicht erkennen konnte, dann auf jeden Fall an der Breite der Schultern. Der Dunkelhaarige nahm seinen Blick wieder von dem Schrank, drehte Gabriel den Rücken zu und verschwand wieder für einen Moment im Bad, um sich anzuziehen. Glücklicherweise stank die Kleidung nicht, aber Roan wollte trotzdem schnell vor dem Essen noch schnell zu sich flitzen, um zumindest das Oberteil zu wechseln - die Pflegerkleidung sah ohnehin gleich aus, eine blaue Gummizughose und ein blaues kurzärmliges Oberteil passend zum Unterteil.

      Dazu musste er lediglich den Personaleingang nehmen und die Treppe, den üblichen Weg, den er jeden Morgen seit einem Jahr nahm. Das einzige Problem daran war, dass die Treppe schmal und daher nicht geeignet für Gabriels Rollstuhl war, der er aber wiederum nach unten bringen musste. Bevor Gabriels fragender Blick Roan erreichen konnte, als die beiden Männer am Kopfe der Treppe standen, faltete der Pfleger seine Hände zusammen und schenkte Gabriel einen bettelnden Blick zu.
      "Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn ich dich trage, aber nur dieses eine Mal, mh? Ich husche danach schnell zu mir rüber, zieh mir was frisches an und bin in weniger als einer Minute wieder bei dir." Sie würden es beide pünktlich zum Mittagessen schaffen und Roan müsste keine weiteren Gedanken daran verlieren, ob er nun stinken könnte oder nicht.
    • Für Gabriel wäre es kein Problem gewesen, aber wenn Roan sein Angebot nicht annehmen wollte, würde er ihn nicht dazu drängen. Er wusste nicht einmal, ob ihm die Kleidung im Schrank überhaupt gefiel. Vieles davon war sehr vornehm, so wie die Kleidung seines Großvaters, Vaters und Bruders. Irgendwie versnobt, wie Gabriel fand, aber hatte er vor dem Unfall auch so gedacht? Am wohlsten fühlte er sich zumindest in bequemer Kleidung, gegen die seine Mutter zum Glück keine Einwände hatte.
      Also wartete er geduldig darauf, dass der Pfleger sich angezogen hatte, um sich mit ihm zum Speisesaal zu begeben. Doch an der Treppe angekommen, blickte er in die Augen des anderen, der ihn darum bat, ihn tragen zu dürfen. Der Rollstuhl war eine Sache, wo Gabriel sich nicht mehr ganz so erbärmlich fühlte, da er ihn inzwischen auch selbst um ein paar Meter bewegen konnte, aber tragen? Das war irgendwie anders. Anfangs fühlte er sich ziemlich kümmerlich, aber inzwischen hatte er sich daran gewöhnt Hilfe anzunehmen.
      "Ist okay", gestattete er und wie versprochen, war er schnell zurück und sie waren pünktlich am Esstisch.

      Gabriel betrachtete einen Moment lang seine Großeltern, die so elegant und vornehm wirkten. Irgendwie aber auch ein wenig unheimlich. Wie Adlige, die man lieber nicht zum Feind haben wollte. Seine Mutter war eine bildschöne Frau mit einer Vorliebe für Perfektion. Hatte sie in ihrem Leben je einen einzigen Bad-Hair-Day? Wohl eher nicht. Und dann war da noch seine Ehefrau, die direkt neben ihm saß. Er schenkte ihr ein sanftes Lächeln, ehe er sich dem Essen widmete. Inzwischen schlug er sich doch ganz gut, oder? Große Mengen schaffte er allerdings noch nicht.
      Er fand, dass es eine Aufgabe wäre, den Ausflug anzusprechen und wischte sich daher mit der Serviette über den Mund und blickte zu seiner Mutter ihm gegenüber. "Ich würde gerne mit Roan für ein paar Tage in die Stadt gehen." Sollte er seinen Wunsch begründen? Vielleicht würde es sie verletzen. Ihr Blick ging kurz zu dem Pfleger und ruhte anschließend wieder auf Gabriel. "Ich weiß nicht, ob das in deinem Zustand eine gute Idee ist." "Ich kann zwar noch nicht selbstständig gehen, aber ich bin nicht aus Porzellan, Mutter", antwortete er und erwiderte ihren Blick standhaft. Früher gab es solche Blicke zwischen den beiden öfter, woran sich allerdings nur seine Mutter erinnerte. Jedes ihrer Kinder hatte mehr oder weniger seinen eigenen Kopf, aber seine Geschwister lehnten sich nie so gegen sie auf, wie Gabriel es vor seinem Unfall getan hatte. "Tja.. du warst schon immer ein Sturkopf..", meinte sie schließlich und tauschte einen Blick mit Madeline aus. Auch Gabriel wandte sich nun seiner Frau zu. "Ist das für dich in Ordnung?"
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    • Dieser Blickaustausch, mochte er noch so unauffällig und getarnt gewesen sein, kam nicht unbemerkt an Roan vorbei. Aber vielleicht kam ihm das nun auch nur so vor, weil Gabriel ihm Flausen in den Kopf gesetzt hatte. Ja, so musste es sein. Er beobachtete dennoch weiter, wie Madeline Gabriel auf seine Frage hin anguckte, ihre Augenbrauen leicht hoch zog, als wäre sie überrascht gewesen und als nächstes sofort zur Hausherrin blickte. Was ihn wiederum überraschte war, dass ihr Blick nicht wieder zu Gabriel zurück sprang, sondern auf Roan selbst. Entschlossen und auch ein wenig mutig schien der Blick, der ihn anstarrte und auf eine seltsame Art und Weise bekräftigten ihre Worte Roans Empfinden.
      "Ich finde das sogar eine sehr gute Idee! Denn ich selbst habe mit dem Gedanken gespielt für ein paar Tage zu meinen Eltern zu fahren. Sie haben Hope schon lange nicht mehr gesehen und würden sich sicherlich unglaublich darüber freuen. Außerdem weiß ich, dass du bei Roan in den besten Händen bist, sodass ich mir keine Sorgen machen muss." Das hatte den jungen Gabriel sicher ungemein gefreut, doch der Pfleger verpasste diesen Moment, als er lieber einen neugierigen Blick in die andere Richtung der Runde warf. So wirklich konnte man nie ihre Gedanken vom Gesicht ablesen, doch in diesem Moment war zumindest bei den Frauen leichte Unzufriedenheit angedeutet.
      "Mr. Hall besitzen sie einen Führerschein?", überraschte der Großvater den Pfleger, nachdem er seinen Bissen heruntergekaut hatte und das Besteck kurz ablegte, während er sprach.
      "Tatsächlich tue ich das, Sir."
      "Sind Sie denn auch ein guter Fahrer?" Das wäre ein Moment gewesen, wo die Frau oder vielleicht die Tochter des Großvaters ein peinlich berührtes 'Liebling' oder 'Vater' murmelte, doch davon geschah nichts. Aber den Pfleger traf diese Frage auch nicht, er nahm sie locker und antwortete mit einem seiner üblichen Lächeln auf den Lippen.
      "Ich bin ein sehr gewissenhafter Fahrer und ein leidenschaftlicher", antwortete er. Eine Lüge, die keine wirkliche Lüge war. Denn so stellte Roan sich als einen Autofahrer vor. Irgendwann wenn er ein eigenes Auto besaß.
      "Gut, dann kann ich also erwarten, dass Sie mir meinen Morris Minor wieder unbeschadet und in einem Stück wiederbringen werden. Es ist ein wirklich herrliches Auto und hervorragend für Ausflüge geeignet, weil er neben viel Platz im Innenraum auch einen großzügigen Kofferraum bietet. Dort können sie sogar zwei Rollstühle transportieren, neben dem Gepäck." Nun war es der Pfleger der den Drang danach verspürte hilfesuchend zu Gabriel zu linsen, doch er wollte unter dem Blick des älteren Mr. de Vere standhaft bleiben, weil er noch nicht genau ergründet hatte, was diese überaus großzügige Geste zu bedeuten hatte.

      Am nächsten Tag, so gegen frühen Nachmittag, sollte er es jedoch herausfinden. Der Wagen, über den Roan vor dem Schlafen gehen natürlich noch etwas gelesen hatte, um sich Informationen einzuholen, hatte in der Tat viel Stauraum und Platz. Allerdings fuhr er auch kaum schneller als 80km/h, wenn der Pfleger sich denn überhaupt trauen würde so schnell damit zu fahren, weil an dem Wagen einfach absolut keine einzige Gebrauchsspur zu sehen war. Dennoch war er dankbar. Madeline, mit Hope auf den Armen und die Hausherrin verabschiedeten die beiden Männer. Doch Roan erspähte eine weitere Person die aus dem Haus im Schatten der Vorhänge heraus blickte, der Großvater. Das bescherte ihm ein Schmunzeln auf den Lippen, weil diese Geste die erste im Hause de Vere war, die irgendwie etwas normal-menschliches hatte, für Roan zumindest.
    • Das Madeline die Idee für eine gute hielt, freute und überraschte Gabriel zugleich. Wobei das überraschende daran war, dass sie ihre Eltern besuchen wollte. Er hätte sie dabei auch begleitet. Obwohl es vermutlich etwas schwierig geworden wäre in seinem Zustand. Nicht nur, weil er noch nicht gehen konnte, sondern auch, weil er ihre Eltern nur von Fotos kannte. Daher war es so vielleicht besser.
      Am meisten zählte jedoch die Erlaubnis des Hausherren, wobei dieser sich vermutlich stark von seiner Frau und Schwiegertochter beeinflussen ließ. Damit war die Sache also geregelt.

      "Grüß deine Eltern von mir, ja? Und melde dich, wenn du angekommen bist..", bat er seine Frau zum Abschied. Wie schnell man dazu nicht mehr in der Lage war, hatte er ja selbst erfahren, auch wenn er sein Ziel von damals nicht kannte. Dennoch wollte er sich keine Sorgen machen müssen. Er selbst würde sich natürlich auch regelmäßig melden.

      "Glaubst du, dass meine Erinnerungen irgendwann zurückkehren?", fragte Gabriel auf der Fahrt nachdenklich, während er aus dem Fenster sah. Diese Gegend sollte ihm vertraut sein, doch selbst sein Zuhause war ein fremder Ort für ihn. Hauptsächlich hoffte er, sich an Madeline und David zu erinnern. Vor allem an Madeline. An ihre Beziehung, die Hochzeit, der Entschluss eine Familie zu gründen. Für sie war es bestimmt nicht leicht ihn so zu sehen.
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      - Eugene Ionesco
    • Es hätte so ein schöner Ausflug werden können. Roan trug zum ersten Mal seit, ja eigentlich seitdem er das Vorstellungsgespräch mit der Hausherrin geführt hatte, wieder seine eigene Kleidung. Nicht, dass er sich in seiner Pflegeruniform nicht auch wohl fühlte, aber seine Privatkleidung machte ihn nun einmal ein Stückchen weit aus und bescherte ihm deshalb pures Wohlbefinden. Neben den Klamotten, die er trug, bestehend aus einer Jeans, einem weißen T-Shirt, bequemen Schuhen und einer braunen Lederjacke, hatte er in einer kleinen Sporttasche nur noch ein anderes Paar Jeans mitgenommen, außerdem einen grünen Pullover, einen Schlafanzug, Unterwäsche und weil er nicht wusste - es handelte sich schließlich um den Sohn der de Veres - ob Gabriel und er irgendwo bestimmtes unterkommen würden, hatte er vorsichtshalber auch ein Hemd eingepackt. Retrospektiv betrachtet machte dieses gar keinen Sinn, weil es nicht gebügelt werden konnte, aber der Gedanke zählte.

      Was den Start in den Ausflug so schwierig machte, war der Wagen gewesen. Roan hatte dem Herrn Gott die dankbarsten Grüße ausgesandt, als er das Auto beim ersten Mal gestartet bekam und flüssig davon gefahren war, ohne jegliche Peinlichkeiten. Doch damit war es mit der Erleichterung vorbei gewesen, was der Pfleger erst merkte, als Gabriels vertraute Stimme ihn aufschrecken ließ und er die Anspannung tief in seinen Muskeln spürte. Selbst seine Finger hatten sich so sehr am Lenkrad verkrampft, dass die Gelenke einen kleinen Moment brauchten, um sich wieder zu entspannen, als die den Befehl dafür bekamen.
      "Das werden sie. Du musst dem nur genügend Zeit geben, so schwer das Warten auch sein mag." Mit der Antwort kam auch eine etwas natürlichere Haltung auf dem rechten Fahrersitz, was Roans Muskeln und Gelenke ihm mit Entspannung dankten. "Am ehesten förderst du den Erinnerungsfluss indem du neue Erinnerungen zulässt. Stell es dir so vor: du suchst gerade in deinen Dokumenten - einem Haufen an Dokumenten - nach einem bestimmten. Dabei hast du aber noch vor einem Moment auf eben dieses Dokument, dessen Rückseite, etwas neues Wichtiges notiert. Und diese neue Notiz liegt gerade vor deiner Nase, aber du suchst die alte, die du logischerweise in dem alten Dokumentenhaufen vermutest." Er warf Gabriel einen flüchtigen Blick und ein warmes Lächeln zu und löste nach einem kurzen Zögern seine linke Hand vom Lenkrad, um aufmunternd seine Schulter zu drücken. Viel mehr sprachen die Männer nicht miteinander und auch sonst war die Autofahrt relativ ruhig verlaufen, mit dem angenehmen Rauschen des alten Radios im Hintergrund.

      Die nächste Stadt war Roan nicht unbekannt, denn bis hier hin hatte er noch mit einem Bus fahren können, nachdem es mit dem Zug nicht mehr weiter ging. Sie waren dort nach ca. 2 Stunden angekommen und Roans großer Körper hatte als erstes das dringende Bedürfnis sich zu strecken, nachdem er ausgestiegen war. Geparkt hatten sie vor einem kleinen B&B, das ihrer ersten Übernachtung dienen sollte und aber vor allem Rollstuhl gerecht war und deswegen ausgesucht wurde.
      "Wie geht es dir? Willst du dich zuerst im Zimmer ein wenig ausruhen?", fragte er Gabriel, als er ihm den Rollstuhl vor seiner offenen Beifahrertür aufbaute.
    • Roan's Erklärungen waren immer ziemlich kreativ, aber auch sehr einfach erklärt. Machte er sich einfach nur zu viel Druck? Aber wie viel Zeit würde es kosten? Vielleicht sollte er sich nicht so viele Gedanken darüber machen. Als der dunkelhaarige ihm seine Hand auf die Schulter legte und wieder sein überaus hübsches Lächeln zeigte, beschloss Gabriel bis zur Rückkehr ins Anwesen nicht mehr daran zu denken. Roan bedrängt ihn nicht und so könnte Gabriel einfach so tun, als wäre er ein neugeborener Mensch.

      Gabriel war es - leider - gewohnt lange zu sitzen, weshalb ihm auch die lange Fahrt nichts ausmachte. "Es geht mir gut", beruhigte er seinen immer so fürsorglichen Pfleger und stieg mit seiner Hilfe in den Rollstuhl. "Ich würde gern mal Fastfood probieren." Zuhause gab es immer so akkurat angerichtetes und frisch zubereitetes Essen, aber er wollte mal was neues probieren. Bestimmt hatte er sich in seinem früheren Leben auch mal so etwas gegönnt.
      Manchmal war es etwas unangenehm, dass Roan ihm keinen Wunsch abschlagen konnte, aber manchmal freute sich Gabriel sehr darüber. So wie in diesem Fall. Niemand war da, um sich in irgendetwas einzumischen.

      Dieses nicht sehr spektakuläre Essen, das Gabriel allerdings sehr mundete, war somit die erste neue Erinnerung, die er heute hinzufügte. Nein. Der Anblick der Stadt war es bereits. Gabriel könnte hier viele erste Male erleben, auch wenn er es früher schon mal erlebt hatte. Es war so entspannt und niemand hetzte sie, weshalb der Blonde gerne noch einen Moment länger blieb. Er betrachtete sein Gegenüber, der heute mal nicht vollständig in Blau gekleidet war. "Das steht dir. Du siehst gut aus." Besonders, wenn er lächelte. "Warum hast du eigentlich keine Frau?", fragte er den Pfleger zum ersten Mal. Er hatte nie von einer Frau in seinem Leben erzählt und so lange wie er schon bei ihm war, hätte er sie ja vermissen müssen. Wenn es nach Gabriel ging, hätte sie auch in einem der zahlreichen Gästezimmer oder natürlich auch direkt bei Roan übernachten können.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco

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    • Fast Food konnte für Roan gefährlich werden, denn auch wenn man es dem gut gebauten Körper nicht ansehen mochte, der Pfleger war ein Vielfraß und dann noch ein leidenschaftlicher dazu. Dennoch konnte er nicht nein auf Gabriels Bitte hin sagen. Genaugenommen wusste er noch nicht einmal, wie man zu Fast Food überhaupt nein sagen konnte. Das konnte man auch ziemlich gut Roan Bestellung ablesen: neben den Chips mit Mayo lagen auf dem Esstablett noch zwei Hamburger und ein knusprig frittierter Fisch. Zum Schluss blieb davon nichts übrig, nur das Getränk blieb halb voll, da Roan keine süßen Getränke mochte, stattdessen gerne Bier als Durstlöscher wählte, worauf er aber seit Gabriel so gut wie verzichtete. Vollgefuttert lehnte er sich zurück und legte die Hände auf seinen Bauch, der sich so anfühlte, als würde da ein keines Wesen heranwachsen. Darum brachte Gabriels Kompliment ihn auch zum Lachen.
      "Danke, wenigstens einer erkennt meinen Kleidungsstil an!" Er wartete bis seine Brust aufhörte zu beben und sein Lachen in ein Lächeln überging, um Gabriel davon zu erzählen, dass seine Schwester ihn ständig wegen seiner Klamotten aufgezogen hatte. Doch dazu kam er nicht. Das bernsteinbraune Augenpaar starrte in Gabriels blaues Paar, während es dahinter fleißig ratterte und arbeitete. Er wollte den jungen Blonden nicht anlügen, dafür hatte er ihn zu gerne und das Gefühl, dass Gabriel langsam auch eine gewisse Vertrauensbasis zu Roan entwickelt hatte. Doch die Wahrheit zu sagen, das kam nicht in Frage. Nicht, wenn seine Arbeitgeber die de Veres waren. Und nicht einmal, wenn gerade nur Gabriel und er anwesend waren. Drum tat Roan etwas, indem er schon viel Übung hatte, weshalb es völlig natürlich über seine Lippen kam - er antwortete mit einer Halbwahrheit.
      "Puh! Ich fürchte, das weiß ich selber nicht so genau. Ich schätze einfach, ich habe noch keinen Menschen gefunden, der zu mir passt?" Geschlechtslos und gefolgt von vielen Worten, die die Konzentration umlenken sollten. "Zugegebenermaßen kann ich nicht leugnen, dass meine Arbeit mich sehr einnimmt. Normalerweise arbeite ich in einer Klinik und geregelte Arbeitszeiten gibt es dort nur in der Theorie. Aber ich beschwere mich nicht, ich liebe meine Arbeit! Sollte es mal hart auf hart kommen, könnte ich dort auch einfach einziehen, haha, wenn man es so will, dann lebe ich eh schon halb dort." Das stimmte allerdings wirklich und Roans Schwester rügte ihn jedes mal dafür. Roan fuhr sich mir einer Hand durchs Haar und zuckte einmal mit den Schultern. Die Bedienung hatte fälschlicherweise angenommen, dass das ein Zeichen dafür gewesen war, dass die beiden Herren bezahlen wollte. Zwar ein Missverständnis an sich, aber sie waren fertig und also sprach nichts dagegen. Roan bezahlte aus seiner eigenen Tasche, er bestand darauf. Und nachdem die Bedienung ihren Tisch abgeräumt hatte und wieder verschwand, legte der Dunkelhaarige seine Hände verschränkt auf den Tisch und blickte hinaus auf die Straße. "Du und Madeline hingegen scheint wohl sofort gefunden zu haben. Ihr passt auch wirklich gut zueinander, wie ich finde." Sie beide waren noch so jung und dennoch hatten sie sich bereits für ein gemeinsames Leben entschieden. Roan fand das bewundernswert. "Weißt du, worin ihr euch am meisten ähnelt?", sagte der Bärtige und blickte wieder zum Blonden, "Dass ihr beide ein wenig aus der Reihe tanzt. Also versteh mich nicht falsch, ich habe sehr viel Respekt vor deiner Familie, wirklich. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie viel Fleiß und Schweiß es gekostet haben musste das aufzubauen, was ihr heute besitzt. Aber Madeline und du, es kann natürlich an eurer Generation liegen, aber ihr bringt einen angenehmen frischen Wind in die perfekten Wesen de Veres."
    • Er hatte noch niemanden gefunden, der zu ihm passte? Da er das Anwesen genau so wenig verließ wie Gabriel, war das wohl kein Wunder. Er sah also jeden Tag dieselben Gesichter wie er und das schon seit einem Jahr. Samantha war bereits vergeben und Deborah war vermutlich einfach zu jung. Wobei sie sich sowieso recht spontan dazu entschlossen hatte mit ihrer Freundin eine kleine Auslandsreise zu machen, was sich in ihrem Studium positiv auswirken würde. Auch wenn sie eine wohlhabende Familie waren, war jeder irgendwie sehr geschäftstüchtig und ambitioniert. Gabriel hatte scheinbar sogar Jura studiert, wobei er das Studium nicht abschließen konnte. Da er sich daran allerdings nicht wirklich erinnerte, müsste er von neuem anfangen, wenn er es wieder aufgreifen wollte. Aber wollte er das? Er hatte absolut keine Vorstellung wie seine Zukunft aussehen sollte.

      Als die Bedienung an den Tisch kam und Roan sich der Rechnung annahm, konnte Gabriel es ihm wohl nicht ausreden. Er wollte es auch nicht. Er selbst würde sich auch nicht umstimmen lassen und beim nächsten Mal würde er ihm einfach zuvorkommen. Wobei Roan bestimmt nicht schlecht verdiente und sämtliche Kosten auf seine Familie gingen. Auch dieser Ausflug natürlich.

      Dann sprach Roan allerdings seine Beziehung mit Madeline an. Gabriel konnte nicht beurteilen, ob sie wirklich zueinander passten, aber er könnte auch nicht das Gegenteil behaupten. Und immerhin hatten sie eine gemeinsame Tochter, was bedeutete, dass sie ihre Zukunft hoffentlich gut geplant hatten. Zumindest war das eine gewollte Schwangerschaft.
      Ein Schmunzeln legte sich auf seine Lippen, als Roan ihm ihre Gemeinsamkeiten aufzeigte. Aus der Reihe tanzen? "Meinst du, weil wir nicht so konservativ sind, wie die anderen?" Sein Schmunzeln wurde kurz zu einem frechen Grinsen, ehe er abwinkte. "Sag es ruhig. Die haben alle einen Stock im Arsch." Er fühlte sich auch nicht besonders wohl dabei, immer so ernst sein zu müssen.
      "Solange wir hier sind, kannst du dir ruhig etwas Freizeit erlauben. Ich brauch nicht rund um die Uhr einen Babysitter. Gib mir ein Buch und geh aus. Geh trinken, tanzen, was immer dir Spaß macht. Schlepp jemanden ab, von mir aus. Was dein Herz begehrt." So eine Gelegenheit bot sich den beiden vermutlich nicht so oft, dann sollte auch Roan etwas davon haben. Gabriel würde ohne ihn schon nicht tot umfallen.
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