Lost Within [Kiimesca & Notizblock]

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    • Schwere Regentropfen, die eilig die Fensterscheiben von außen herunter rutschten und ein dicker, grauer Schleier am Himmel wären wohl passender zu dem Gespräch gewesen, dass in den geschlossenen vier Wänden stattfand. Doch stattdessen beobachtete Roan einen strahlend blauen Himmel, der die Sonne küsste. Die Straßen waren immer noch sehr gut besucht, auch wenn man genau erkennen konnte, dass Menge ein gemeinsames Ziel ansteuerte und Roan packte die Neugier, wo dieses wohl sein mochte. Er hatte immerhin nicht so viel vom Fest gesehen, wie er insgeheim gewollt hätte, mochte solche Veranstaltungen aber durchaus gerne. Er war eben ein geselliger Mensch.

      "-wie konnte ich es ihr also abschlagen, wenn es doch deiner Genesung helfen sollte?" Der bernsteinfarbige Blick schwenkte rüber zu Madeline und überquerte damit die Distanz, die Roan selbst für angemessen gehalten hatte, damit die beiden Jüngeren sich unterhalten konnten. Sie saßen auf der Couch, während Roan es sich im Sessel am Fenster gemütlich gemacht hatte. Natürlich war er irgendwie involviert, aber definitiv nicht auf die gleiche Art und Weise, wie Madeline und Gabriel. "Ich habe mich nie richtig wohl in dieser Rolle, auch wenn die Vorstellung eine schöne war. Ich an deiner Seite als deine Ehefrau und Hope unser kleines Mädchen. Insgeheim hatte ich gehofft mich irgendwann daran zu gewöhnen, aber dabei ist es dann auch geblieben." Madelines Nasenspitze war noch errötet von den Tränen, die sie vergossen hatte. Diese waren aber zum Glück versiegelt, was wohl nicht unwesentlich daran lag, dass Gabriel ihre Hände in seinen hielt und sie sich ganz nahe waren. Er hatte also eine Beziehung mit einem Mann gehabt. Vor allem für den Pfleger durfte es keine schockierende Vorstellung gewesen sein, dass zwei Männer eine Beziehung führten, aber da es sich bei einem von den beiden um Gabriel handelte, fühlte es sich doch seltsam an. Ein unterschwelliges Gefühl in der Magengegend, das Roan nicht einordnen konnte. Er versuchte es aber auch nicht großartig, sondern versank völlig in seinen Gedanken. Wie konnte einem seine eigene Familie so etwas antun? Ja, Roans eigene Eltern hatten nie erfahren können, dass ihr Sohn schwul war und auch seine Großeltern wollte er nicht damit belasten - zu groß war die Schere zwischen den Generationen - aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass einer von ihnen mit solch einer Ablehnung reagiert hätte.
      "Gabe, es tut mir so fürchterlich leid..! Ich wünschte, ich hätte schon früher die Wahrheit gesagt, ich wusste nur nicht wann und wie... Deine Familie ist sehr erdrückend, wir hatten ja praktisch kaum Zweisamkeit in den letzten Wochen." Roan blickte wieder nach draußen. Irgendwas in ihm hatte seine Stimmung beeinträchtigt. Deutlich. Das Leder des Sessels quietschte leise auf, als der schwere Mann sich aus diesem erhob und an Gabriel und Madelin vorbei in Richtung Tür ging.
      "Ich gehe ein bisschen frische Luft schnappen, nehmt euch ruhig so viel Zeit, wie nötig", teilte er im Vorbeigehen nur kurz mit, ohne ihnen einen Blick zuzuwerfen und verschwand.

      Er konnte es sich nicht erklären, aber zum ersten Mal seit einer ziemlich langen Zeit, verspürte er das Bedürfnis nach Distanz. Vielleicht waren es auch diese zahlreichenden, schockierenden Informationen gewesen, die ihn kurzzeitig abgeschreckt hatten und er wollte dem für einen Augenblick entfliehen. Ja. Vielleicht. Roan schlenderte den Menschenmenge hinterher. Hier und da schnupperte er in einen Laden herein, doch ohne sich etwas zu kaufen. Seine Mission war es herauszufinden, was das Ziel aller war. Und die Antwort kündigte sich schon aus weiter Entfernung an. Eine kleine Bühne war auf einem großen Platz aufgebaut. Hier sammelte sich eindeutig die Menschentraube und wippte zu der angenehmen Live-Musik hin und her. Der Dunkelhaarige blickte über die fremden Schöpfe hinweg und erkannte zu seiner Überraschung, dass es sich um die talentierte Band handelte, die er bereits einen Abend zuvor in einem Pub hatte spielen hören dürfen. Ein glücklicher Zufall, denn dem Pfleger gefiel ihre Musik. So schlängelte sich der von der Größe her herausstechende Mann durch die Leute etwas weiter nach vorne, bis er empfand, dass es nah genug war, um eine gute Sicht zu haben und genießen zu können. Hier mitten in der Menge tankte sein Gemüt ein wenig Energie - aber auch nur weil er kurz alles um sich herum vergaß. So auch die Zeit.
    • Gabriel schwieg fortan und gab ihr ausreichend Zeit, um ihm alles zu erzählen. Ja, sie hatte mit Sicherheit etwas falsches getan, aber irgendwie befand auch sie sich hier in der Opferrolle. Das musste er jedoch erst einmal verdauen. Warum war seine Familie denn so.. so eben. Also, um alles noch mal durchzugehen. Gabriel war mit einem Mann zusammen und Madeline wollte den beiden ihren Kinderwunsch erfüllen? Dann hatten sie jedoch den Unfall und er landete im Koma. Und seine Mutter spielte die ganz normale, sorgende Mutter? Erbärmlich. Das Wort kam Gabriel als erstes in den Sinn. Abartig. Ihm fielen noch eine ganze Menge anderer Wörter ein und keines davon war annähernd gut. Er konnte das nicht nachvollziehen.

      Als Roan sich aus dem Abseits erhob und ging, sah Gabriel ihm einen Moment hinterher. Was wohl in seinem Kopf gerade vorging? "Ist schon gut, Maddy.. Ich bin dir nicht böse...", sagte er mit einem sanften Lächeln auf den Lippen und strich dabei über ihren Kopf. Mit einer Sache hatte seine Mutter allerdings Recht: Gabriel war stur. In ihren Augen offenbar das bockige Kind, das sich nicht fügen wollte.
      Aber was jetzt? Er konnte sich immer noch an nichts erinnern und hörte nur Madeline's Geschichten, die er nicht anzweifeln wollte.
      "Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte..", hauchte er und strich der Brünetten eine Strähne aus dem Gesicht. Im Gegensatz zu seiner Familie war Gabriel wirklich im Stande echte Emotionen zu haben. Auch wenn er sich nicht an die Frau neben ihm erinnerte, mochte er sie. Erneut umarmte er sie, so wie er es früher auch schon immer getan hatte. "Ich kann nicht mehr zurück.." Langsam löste er sich von ihr und blickte sie mit seinen sanftmütigen Augen an. "Und du auch nicht", stellte er klar.
      "Heute Nacht bleibst du erst mal hier und morgen lass ich mir was einfallen, ja?" Ein aufmunterndes Lächeln legte sich auf seine Lippen, ehe er Madeline die Kette um den Hals legte, die eigentlich für ihren Geburtstag bestimmt war. "Ich kümmere mich um alles. Mach dir keine Sorgen." Irgendwas würde er sich schon einfallen lassen. Zuerst brauchte sie aber ein Zimmer - es würde sich komisch anfühlen, wenn er Roan vor die Tür setzen würde, um sich mit ihr ein Zimmer zu teilen. Aber irgendwie war es jetzt auch komisch sich ein Zimmer mit Roan zu teilen. Mit Roan musste er auf jeden Fall auch noch reden. Was sollte aus ihm werden, wenn Gabriel jetzt einfach so verschwinden würde? Außerdem brauchte er seine Hilfe, bis er wieder selbstständig leben konnte.

      Nachdem seine Frau versorgt war und sie zuvor mehrere Stunden geredet haben, blieb Gabriel allein in seinem Zimmer zurück. Irgendwie musste er sich jetzt um beide kümmern. Er fühlte sich dafür verantwortlich, dass Madeline und auch Roan das alles durchmachen mussten. Oh Gott, Roan. Nachdenklich tippte er mit seinem Smartphone gegen seine Lippen und dachte über den Älteren nach. Ob er jetzt kündigen würde? Das könnte Gabriel sehr gut nachvollziehen. Nichtsdestotrotz musste er mit ihm reden, weshalb er ihm eine Nachricht schrieb. Ein Anruf wirkte ihm in diesem Moment etwas zu aufdringlich. Die Nachricht könnte er irgendwann lesen und dann irgendwann zurückkommen.. Und was sollte er schreiben? Ihn fragen, wie es ihm ging? Ihm anordnen hier zu erscheinen? Er wollte ihn zu nichts zwingen, dass er nicht wollte. Und jetzt nach seinem Befinden zu fragen, erschien ihm heuchlerisch. Wie sollte es ihm schon gehen? Beschissen vermutlich.
      Können wir reden?

      Seufzend betrachtete er den Bildschirm und legte das Handy dann auf den kleinen Tisch. Jetzt hieß es abwarten. Irgendwie hasste er dieses Gefühl immer auf irgendwas zu warten. Während er wartete, betrachtete er sich selbst in dem großen Spiegel, der neben der Garderobe hing. Sein eigenes Gesicht nicht zu erkennen ist auch ein eigenes Gefühl. Ebenso nichts über sich selbst zu wissen.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco
    • Alles hatte sich einfach so gefügt. Roan war in eine kleine Gruppe integriert worden, mit der er sich auf Anhieb verstand. Sie bestand aus zwei Frauen und zwei Männern und lustigerweise - ein kleines Zwinkern des Schicksals - waren zwei davon Zwillinge. Bruder und Schwester, Liam und Lisa.
      "Jedenfalls könnte ich mir ehrlich nicht vorstellen, so lange von der Nervensäge getrennt zu sein-"
      "Wer ist hier die Nervensäge?!" Das Grüppchen lachte und Roan konnte sich nur anschließen. Es war schön, er hatte irgendwie fast vergessen wie sich Realität anfühlte, seit er in diesem Traumschloss, dem Zuhause der de Veres, arbeitete. Deswegen war das eine wirklich willkommene Abwechslung.
      "Musst du morgen früh raus, Roan? Wir wollten nachher noch gemeinsam einen trinken gehen, schließ dich uns doch an!" Der Dunkelhaarige schüttelte lächelnd den Kopf und öffnete schon seine Lippen, um schweren Herzens abzulehnen - wobei noch ungewiss war, ob und wann Roan überhaupt zurück kehren konnte.
      "Ich muss passen! Trinkt gerne einen für mich mit!" Ein trauriges 'Aaaaw' ging durch die Runde, ehe sich die Frau, die kein Zwilling war, Merry, vor mich stellte und mir ihr Handy vor hielt.
      "Dann tauschen wir aber unbedingt Nummern aus!" Ja, es war wirklich eine sehr nette Gruppe gewesen, doch so wie auch die ersten sich langsam wieder auf den Heimweg machten, zogen auch sie weiter. Zwei Songs später verabschiedete sich die Band und der Abend-Akt kam stattdessen. Der Dunkelhaarige blickte kurz auf sein Smartphone, um die Uhrzeit abzulesen - die Sonne jedenfalls stand schon ziemlich tief - und erblickte da erst Gabriels Nachricht.
      "Oh Sh-..!" Diese war schon zwei Stunden her gewesen, aber bei der Musik hatte Roan keine Chance gehabt, sie irgendwie mitzubekommen. Es war wie ein Automatismus, als Roan das Handy eilig in die Hosentasche zurück steckte und mit großen Schritten den Platz überquerte. Als gäbe es einen Notfall. Ebenso schlagartig holte ihn aber auch die Realität wieder ein und nahm ihm einen Gang raus. Warum eilte er so? Es gab keinen Grund dafür. Sich aber andererseits absichtlich Zeit zu lassen, war auch kindisch gewesen. Roan entschied sich deshalb einfach für sein normales Tempo, vergrub die Hände in den Taschen seiner Lederjacke und schlenderte den Weg zurück zum Hotel. Um diese Uhrzeit fand die zweite Stoßzeit statt. Immerhin hatten spätestens jetzt am späten Nachmittag die meisten Feierabend und konnten das Fest genießen. Deshalb machten sogar erst jetzt viele Fressbuden auf. Die Gerüche waren wirklich unverschämt betörend, aber Roan hatte weder Lust sich in die langen Schlangen anzustellen, noch viel Geld für eine kleine Portion zu bezahlen. Da war es viel klüger in der Stadt selbst ein Lokal aufzusuchen, denn diese waren sicherlich vergleichsweise leer. Und so war es dann auch.

      Den ganzen Weg zurück hatte der Pfleger sich schon gefragt, was er gleich sagen oder wie er sich verhalten sollte. Aber nicht einmal, als er an der Zimmertür angekommen war und die Karte durch den Schlitz zog, war ihm auch nur ansatzweise eine Idee gekommen. Dennoch hatte der Ältere irgendwie vorgesorgt, denn nachdem er das Hotelzimmer betrat und ein paar Schritte ging und Gabriel erblickte, hielt er drei dicke Pizzakartons hoch und versuchte sich an einem schiefen Lächeln. Essen hatte schon mal sicherlich irgendwo auf der Welt Kriege beendet, also wieso auch nicht eine der absurdesten Situationen auflösen, die Roan jemand erlebt hatte.
      "Essen gefällig?" Sein Blick fuhr suchend den Raum ab, doch es war keine Madeline zu sehen. Er war jedoch davon ausgegangen, dass sie noch da war und deswegen genug Essen für drei mitgebracht. "Ich wusste nicht, was ihr mögt, darum habe ich einfach das genommen, was mir sonst auch schmeckt, damit ich mich für den Fall der Fälle opfern kann und alles selber auffuttern." Und bei dem knurrenden Magen war das nicht einmal ein Scherz gewesen. Die drei Pizzen hätte der große Dunkelhaarige im Nu, ganz alleine verdrückt!
    • Die Zeit des Wartens wurde zur Zeit des Grübelns. Doch jetzt schwirrten nicht nur die ganzen Informationen seiner Familie, Joel's und Madeline's durch seinen Kopf, sondern auch die Sorge um Roan. Anfangs sagte Gabriel sich, dass er es bestimmt noch nicht gelesen hätte, was in Ordnung war. Aber je mehr Zeit verstrich, desto mehr Sorgen machte er sich, dass ihn das Ganze so schlimm getroffen hätte, dass er gegangen war. Der Pfleger war ein mitfühlender und fürsorglicher Mensch, vielleicht ging ihm das zu nahe? Gabriel würde das zutiefst bedauern. Deshalb nahmen die Gedanken, die um Roan kreisten, in seinem Kopf die Macht an sich und verdrängten das ganze Chaos. Das war allerdings nicht unbedingt weniger verwirrend.

      Als er dann endlich die Tür aufgehen hörte, sah er zu dem Dunkelhaarigen und blieb an den Pizzakartons hängen. Sein überraschter Blick wandelte sich schnell in ein Lächeln um. "Schön, dass du zurück bist.. Maddy ist zwei Zimmer weiter." Falls sie sich nicht schon selbst etwas zu Essen geholt hatte. "Geh zu ihr. Ich glaube, sie braucht dich vielleicht mehr als ich. Ich kann warten.." Immerhin waren die beiden ja Freunde, oder? Zumindest verstanden sie sich sehr gut. Und einen Freund könnte Madeline jetzt bestimmt gut gebrauchen. Er käme schon zurecht.
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      - Eugene Ionesco
    • Die warme Pappe war dick genug, um kein Fett von der Pizza irgendwo zu verteilen, doch Roan setzte dennoch vorsichtshalber etwas drunter, damit der Pizzakarton nicht direkt auf dem wunderschönen Holz des Tisches landete. Zwei der Kartons nahm er jedoch wieder an sich und hielt sie vor seinem Körper, der sich erneut Gabriel zugewandt hatte und nun auch der Kopf des Pflegers auf seine Worte reagiert; mit einem Nicken - wenn auch er selbst lieber geblieben wäre, anstatt erneut zu gehen. Aber Roan nahm an, dass Gabriel Zeit brauchte und natürlich würde er sich dann nicht querstellen. Schließlich war er ja quasi ein Niemand für den jungen Blonden und darum wollte er sich auch nicht aufdrängen.
      "Aber bitte iss was, ja? Ich habe versprochen, dass wir das Laufen in Angriff nehmen und das werden wir auch tun." Eigentlich hatte er für Gabriel als kleine Überraschung den heutigen Abend eingeplant und darum extra das Schwimmbad nur für sie zwei reserviert. Im Wasser würden Gabriel die ersten Gehversuche eindeutig leichter fallen und Erfolgserlebnisse wiederum würden zu Fortschritten an Land beitragen. "Und das wird dich eine Menge Kraft kosten", beendete der Pfleger seinen Gedanken, nickte Gabriel dann nur noch einmal zu und schlenderte aus dem Zimmer.

      Gabriel hatte Recht behalten. Madeline war total aufgelöst gewesen, als Roan an ihrem Zimmer anklopfte. Sie war ihm regelrecht in die Arme gefallen, als er ihr eine Umarmung anbot. Und nachdem die Schultern endlich aufgehört hatten zu beben und die Tränchen nachließen, kam die Phase zwei: Frustfuttern. Die bernsteinfarbigen Augen des Dunkelhaarigen staunten nicht schlecht, als die zierliche junge Frau ihre Pizza in Windeseile in sich stopfte und sich anfing an Roans eigener zu bedienen. Aber er ließ sie machen, sah ihr mit dem üblichen sachten Lächeln auf seinen Lippen zu und gab sich eben mit dem zufrieden, was für ihn übrig blieb.

      "Er hasst mich bestimmt jetzt... also ich würde es tun."
      "Wie kann man dich denn hassen? Ich glaube auch nicht, dass Gabriel das tut, wirklich nicht. Im Gegenteil. Ich denke, dass wenn er verdaut hat, dass du für ihn der wichtigste Mensch in seinem neuen Leben sein wirst, aus vielerlei Gründen, aber vor allen Dingen weil er nun weiß, dass du tatsächlich einen sehr wichtigen Teil seines Lebens ausgemacht hast. Eure Freundschaft muss so außergewöhnlich tief gewesen sein, wenn er dich um Hilfe bei Hope gebeten hat." Madeline nickte und ihre Augen strahlten eine seltsame Mischung aus Melancholie und Glückseligkeit aus. Roan hoffte wirklich, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen und dass ihre und Gabriels Freundschaft an dieser tragischen Geschichte nicht zerbrechen, sondern wachsen würde. Denn die beiden schienen sich wirklich sehr viel zu bedeuten. Durch Hope nun noch mehr.
      "Ich hingegen weiß jetzt nicht so recht, wie ich mich verhalten soll", kam es plötzlich aus seinem Munde heraus, ohne das er mitbekam, dass sich dieser Gedanke auf den Weg nach Außen gemacht hatte. Madelines Augen hatten ihn aber auch direkt anvisiert und er verpasste die Gelegenheit - wenn es eine gegeben hatte - sich zu korrigieren.
      "Wieso?"

      Und so outete er sich nun auch vor ihr. Doch zu seiner eigenen Überraschung fiel ihre Reaktion bei weitem nicht so fassungslos aus, wie er es sich vorgestellt hatte. Als hätte sie bereits etwas geahnt, was sich der Pfleger bei bestem Willen nicht vorstellen konnte. Die Hauptsache war aber doch, dass sie sich freute, dass er es ihr gesagt hatte und er sich, weil er nun jemanden hatte, mit dem er darüber reden konnte. Abgesehen von Gabriel.. Nein, Roan schüttelte augenblicklich bei dem Gedanken seinen Kopf, er konnte sich zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen dieses Thema weiterhin mit Gabriel zu diskutieren. Und leider hinterließ das ein schweres Gefühl in der Magengegend, denn ihm hatten die kleinen Sticheleien zwischen den beiden Männern gerade angefangen zu gefallen. Ja.. er hätte sich ehrlich daran gewöhnen könnten, doch nun wäre es einfach nur komisch.
    • Roan's Bitte etwas zu essen, zauberte ein Lächeln - wenngleich nur ein kleines - auf seine Lippen. Warum dachte er, dass sich alles verändern würde? Der Pfleger war immer noch der gleiche. Das einzige, was sich ändern könnte, wäre seine Motivation weiter mit ihm zu arbeiten, aber auch das schien nicht der Fall zu sein. Er wollte noch immer mit ihm das Laufen üben, was Gabriel sehr erleichterte und zugleich auch unheimlich freute, denn das bedeutete, dass Roan wohl bei ihm bleiben würde. Irgendwie war das gerade seine größte Sorge gewesen. Abgesehen davon, dass er hoffte, Roan könnte Madeline Trost spenden.
      Gabriel gab ihr keine Schuld. Obgleich ihm eine unvorstellbare Geschichte zu Ohren gekommen war, war ihm eine große Last von den Schultern gefallen. Der verzweifelte Versuch Liebe für Madeline zu empfinden. Das würde nicht funktionieren, aber er konnte nun ruhigen Gewissens sagen, dass er sie als gute Freundin und Mutter seiner Tochter liebte. Gleichzeitig fragte er sich jedoch, was er ihr da bloß angetan hatte, indem er sie schwängerte. Das klang doch nach einer an den Haaren herbeigezogenen Story. Sollten sie Hope jemals davon erzählen, würde sie es ihnen doch niemals glauben.

      Gabriel aß etwas mehr als die Hälfte und somit halbwegs normal, wo er noch vor wenigen Tagen kaum etwas festes herunter bekam. Er überlegte lang, was er jetzt tun sollte. Warten? Er wartete doch schon seit seinem Erwachen darauf, dass irgendetwas passierte. Vielleicht sollte er endlich mal etwas tun! Also nahm er die restliche Pizza auf seinen Schoß - vielleicht hatte einer von beiden ja noch Hunger - und rollte zum Zimmer seiner Ehefrau rüber. Ehefrau. Er hatte dafür nie seine Einwilligung gegeben, was kannte seine Mutter denn für Leute, die einfach so eine Eheurkunde fälschten. Wenn er wollte, könnte er sie dafür anklagen, aber das war ihm im Moment zu anstrengend. Außerdem hielt er es nicht für notwendig, die Ehe mit Madeline zu annullieren.
      Er klopfte entschlossen an ihre Tür und wartete darauf, dass ihm jemand öffnete. Roan hatte gestern eine ganze Menge verdrückt.. Bestimmt würde er sich über die restliche Pizza freuen und außerdem wollte er sehen, ob es Maddy gut ging und ob Roan etwas bei ihr erreichen konnte.
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      - Eugene Ionesco
    • Um die Wahrheit zu sagen, hatte sich der Ältere gar keinen Ausgang dieses Tages vorstellen können. Hier und da tauchte ein Gedanke auf. Einfach bei Madeline zu übernachten; aber damit täte er seinen Job vernachlässigen. Einfach zu gehen und vorzeitig nach Hause zu fahren, ja auch dieser Gedanke war aufgetaucht, aber ebenso schnell wieder verschwunden. Und dann gab es noch die Möglichkeit wieder zurück zu gehen auf sein eigenes Zimmer und sich einem mehr als seltsamen Gespräch mit Gabriel zu stellen.. dass Roan diese Variante gekonnt vor sich her schob, bewies die Uhr, die fröhlich vor sich tickte und die Zeit verstreichen ließ. Aber was wäre das Schicksal gewesen, wenn es nicht immer einen Ass im Ärmel gehabt hätte?

      So kamen die drei wieder zusammen und fanden sich diesmal gemeinsam auf der Couch wieder, die nun jedoch in Madelines Zimmer stand. Irgendwie hatte nichts von dem, was der jeweils andere angefangen hatte zu Sprechen Sinn ergeben, weshalb Madeline irgendwann einfach spontan heraus vorschlug, dass sie sich gemeinsam einen Film anschauten. Es wurde einer ausgewählt, die drei saßen wie die Hühner auf der Stange auf der Couch und Roan konnte sich auch an einen Pizzakarton erinnern. Ja genau, Gabriel war damit angekommen - etwas, das Roan gleichermaßen überrascht hatte, wie auch erfreut. Die Pizza hielt blieb nicht lange im Karton, denn sobald die drei sich in dieser skurrilen Situation auf dem Sofa beim Film gucken befanden, griff Roan sich einfach ein Stück nach dem anderen und lehnte sich dann erst mit gefüllten Magen zurück. Er bekam vom Film jedoch vermutlich genauso wenig, wie Madelin, deren Kopf ca. eine Stunde später plötzlich auf seine Schulter fiel. Der Pfleger wiederum wachte aus seinem scheinbar tranceartigen Zustand erst dann wieder auf, als der Abspann des Films begann.

      Vorsichtig lugte der Dunkelhaarige über Madelins Kopf zu Gabriel rüber. Er war wach und seine Augen verfolgten mehr oder weniger aufmerksam die Buchstaben, die von unten nach oben den Bildschirm erklommen. Roan fragte sich, was im Kopf des Blonden vor sich ging. Was waren seine nächsten - Schritte.
      "Hey, Gabe!", flüsterte der Ältere und fing seinen Blick auf. "Bist du bereit deine ersten Schritte zu versuchen?" Die bernsteinfarbigen Augen wanderten zu einer Uhr an der Wand und dann wieder zurück in das vertraute Blau. "Ich habe uns den Pool für heute gemietet. Die Umstände haben uns zwar schon zwei von insgesamt drei Stunden geraubt, aber eine Stunde bleibt noch übrig. Was sagst du?" Irgendetwas musste schließlich unternommen werden, denn so sollte es wirklich nicht weitergehen. Und Roan durfte dabei nicht vergessen, dass er außerdem nicht zum Spaß hier war. Er arbeitete und seine Arbeitgeber waren die de Veres.. Darum konnte er sich nicht so hängen lassen - was auch immer die Gründe dafür waren. Auf der anderen Seite war das noch Gabriel. Zwar auf ein de Veres, aber einer, er scheinbar aus der Parallelwelt der de Veres kam. Der Pfleger machte sich nicht nur um den Zustand seines Patienten Sorgen, nachdem er so etwas erfahren musste, sondern auch um das befinden des jungen Mannes hinter der Fassade des Patienten. Roan konnte Gabriel ziemlich gut leiden und deswegen, füllte er sich einfach dazu verpflichtet ihm beizustehen. Er beschloss daher es einfach zu tun und es erst sein zu lassen, wenn es Gabriels Worte aus seinem eigenen Munde waren, die ihn darum baten, es sein zu lassen und nicht etwa Roans eigene unsinnigen Gedanken. Wenigstens dieses Maß an Reife musste der Pfleger aufgrund seines Alters besitzen.

      Er wartete noch auf Gabriels Antwort, aber in der Zwischenzeit legte er seinen Arm um Madelines zierlichen Körper und den anderen unter ihre Kniekehlen, um sie hoch zu hieven und zum Bett zu tragen. Sie hatte erzählt, dass sie Hope bei ihren Eltern gelassen hatte und soweit Roan das beurteilen konnte, war es das erste Mal, dass er sie ohne das Kind erlebte. Darum sollte sie ihren wohlverdienten Schlaf genießen. Er zog der Brünette die Schuhe aus und deckte sie gründlich zu, ehe er zum Sofa zurück kehrte. Auf dem Fernsehermonitor lief immer noch der Abspann vom Film und Roan packte plötzlich die Neugier um welchen Film es sich denn nun gehandelt hatte. Er würde morgen mal unauffällig nachfragen, nahm er sich vor, doch heute spielte es keine so große Rolle mehr. Der neu frisierte Schopf des Älteren drehe sich wieder zu Gabriel und seine Augen ruhten geduldig auf dem seinen Blick.
    • Gabriel wusste selbst nicht, was er sagen sollte. Er hätte Madeline auch allein gelassen, wenn sie dies gewollt hätte. Doch sie schlug vor einen Film zu schauen, dem alle zustimmten. Im Gegensatz zu den anderen, war Gabriel etwas aufmerksamer. Es lenkte ihn ab und ein Vorteil hatte seine Amnesie ja: Er kannte nicht mehr einen einzigen Film und könnte alle deshalb nochmal ganz neu erleben. Dieser Gedanke war aber nur ein minimaler Trost. Wenn er nicht sein Gedächtnis verloren hätte, würden sie sich gar nicht erst in dieser Situation befinden.
      Irgendwann war zumindest einer der beiden erwacht. Als Roan ihn ansprach, wandte er seinen Blick zu ihm und lauschte seiner Frage. "Ja. Klingt gut", antwortete er. Zuerst kümmerte sich Roan aber um Madeline, wobei seine fürsorgliche Art zu pflegen wieder zum Vorschein kam. Anschließend trafen sich ihre Blicke wieder. "Wenn du kein Problem damit hast, mich nackt zu sehen", schmunzelte er, fast so neckend wie noch am heutigen Morgen. "Oder ich dich." Er gab sein bestes, um sich normal zu verhalten, wobei er nicht wusste, wie sein normales Ich war. Er sagte immer, was ihm gerade in den Sinn kam, außer in Anwesenheit seiner Familie. Bei Roan musste er sich da keine Gedanken machen. Hoffentlich war das nach dieser eigenartigen Enthüllung noch so geblieben.

      Wenig später - da sie immerhin schon genug Zeit von der Reservierung verloren hatten - waren die beiden im Schwimmbad angekommen. Nur kurz fragte sich Gabriel, ob er wohl ein guter Schwimmer gewesen ist. So wie er sich immer fragte, wenn er etwas momentan für ihn neues versuchte. Als Roan ihm nahe genug war, sah Gabriel zu ihm auf. Wäre nichts dazwischen gekommen, hätte er es längst gesagt, aber nun fragte er sich, ob es unangebracht wäre. Wie der Pfleger darauf reagieren würde, nach all dem. Etwas in Gabriel drängte ihn jedoch dazu, es auszusprechen. Offenbar war Gabriel in seinem vorherigen Leben alles andere als schüchtern. Roan's Aussage, dass er sich schließlich nur für ihn schick machen ließe, stand noch unkommentiert im Raum. Der Blonde war entspannt, lehnte sich zurück und betrachtete den anderen, ohne dabei zu aufdringlich zu sein. "Gefällt mir. Deine Haare mein ich." Ohne dieses ganze Chaos wäre sein Spruch bestimmt weitaus lustiger rübergekommen. Hoffentlich fand Roan dieses nicht ganz so gelungenen Versuch seines Neckens nicht als unangebracht. Gabriel hatte diese Atmosphäre zwischen den beiden sehr gefallen. Ob sie allerdings jemals wieder dorthin zurück gelangen würden, blieb abzuwarten.
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      - Eugene Ionesco
    • Nun, wirklich nackt waren die beiden Männer nicht. Trotzdem war alles ein wenig seltsam für den Pfleger, zumindest bis er mit seinem Schützling komplett im Wasser war, das sich wie ein Sichtschutz um den halbnackten Körper legte. Natürlich gab es den ein oder anderen Moment in Roans Berufslaufbahn, der ebenfalls weniger angenehm gewesen war, aber diese Art und Weise auf die er angespannt war, die hatte er bislang noch nie gefühlt. Daher konnte er nur hoffen, dass man sie ihm wenigstens nicht ansehen konnte.

      Um so perplexer starrte das Bernsteinbraun unter dichten blinzelnden Wimpern den Blonden an, noch ehe der komplette Satz zu ihm durchgedrungen war. 'Gefällt mir' .. es hallte in Roans Ohren und seinem Kopf immer wieder, wie ein schrecklicher Albtraum. Dabei wusste der Pfleger es eindeutig besser, wie unsinnig diese plötzliche Angst war, dass nur weil zwei Männer schwul waren, die etwas voneinander wollten. Und dennoch spielte ihm sein Körper einen Streich und schickte einen sanften Schauer seine Wirbelsäule hinunter, der ihm daraufhin eine feine Gänsehaut bescherte. Plötzlich jedoch hellte sich Roans Mimik auf und ein Auflachen prustete aus ihm heraus. Vielleicht war es die Anspannung der letzten Stunden, vielleicht die Erleichterung darüber, dass es glücklicherweise scheinbar doch nicht kompliziert werden müsste oder überhaupt erst irgendwie anders. Auf jeden Fall jedoch bedeutete das Lachen, dass Roan glücklich darüber war, dass Gabriels Umgang mit ihm der Selbe blieb - scheinbar zumindest.

      "Schön, dass wenigstens einer von uns beiden den Mut hat, den Elefanten im Raum zu vertreiben!" Roan stellte das Lachen wieder ein und beließ es bei einem Lächeln auf den Lippen. Ein wohliges Lächeln, eines das von Herzen kam. "Gelungen ist es dir auf jeden Fall damit!" Die geschulten Hände des Pflegers hielten Gabriel so, dass dessen Füße auf dem Beckenboden aufsetzten, er sich jedoch mit leichten paddelnden Armbewegungen so ziemlich selbstständig an der Oberfläche halten konnte. "Ich hatte schon ehrlich die Sorge, dass du nun vielleicht einen neuen Pfleger haben wollen würdest." Roan ließ etwas mehr Platz zwischen einander und nickte Gabriel zu. "Hier versuche den Boden zu spüren, dein Gewicht darauf, die Struktur. Aktiviere zunächst einmal einfach deine Nervenzellen in den Füßen und wenn du das Gefühl hast soweit zu sein, dann versuche einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich halte dich die ganze Zeit über, also keine Sorge." Nun wo die Anweisungen gesprochen waren, kehrte Roan zurück zu seinen vorherigen Worten: "Dass du dich jetzt vielleicht unwohl in meiner Gegenwart fühlen könntest."
    • Das Lachen erleichterte den Blonden und vertrieb diese unangenehm düsteren Wolken über ihnen, die er seit Stunden spürte. Ihm war es gelungen, sich nicht davon einnehmen zu lassen. Entweder war er vor dem Unfall jemand, der alles auf die leichte Schulter nahm oder jemand, der alles mit Humor nahm und sich von nichts und niemandem unterkriegen ließ. In beiden Fällen wäre er jedenfalls glücklich gewesen, anstatt sich von seiner Familie das Leben verderben zu lassen.
      Roan offenbarte ihm, dass er die gleiche Sorge hatte wie Gabriel, nur das er davon ausgegangen war, dass sich der Pfleger einen neuen Patienten suchen würde. Diese Annahme ließ ihn zumindest daran glauben, dass es noch weiterhin mit den beiden funktionieren könnte. Der junge Mann war allerdings damit beschäftigt, Roan's Anweisungen zu folgen und sich auf seinen Körper zu konzentrieren, denn sie waren schließlich nicht zum Plaudern hier, sondern um Fortschritte bei seiner Genesung zu machen. Mit den Zehen zu wackeln, hatte er schon sehr früh versucht und zu seinem Glück, fehlte ihm auch nicht das Gefühl dafür. Lediglich seine Muskeln waren nicht stark genug, um ihm vollständig zu gehorchen. Sein Bein über das Bett zu schieben, funktionierte gerade so. Es jedoch anzuheben, erforderte immer die Hilfe seiner Hände.
      Jetzt so im Wasser zu stehen, ohne sein Gewicht vollständig auf den Pfleger zu stützen, ließ ihn zuversichtlich lächeln. Bevor Gabriel zu seinem ersten Schritt kam, blickte er in die bernsteinfarbenen Augen des Älteren und lachte leise. "Du hast dich zuerst geoutet. Warum sollte ich jetzt wegrennen, nur weil ich erfahren habe, dass ich deine Vorlieben teile?", fragte er lächelnd und hob langsam einen Fuß, um ihn nach vorn zu setzen. Wenn das nur außerhalb des Wasser so einfach wäre. Doch er sollte sich vermutlich darüber freuen, dass er es überhaupt irgendwie geschafft hatte. Er hätte auch gelähmt sein können und müsste für immer mit dem Rollstuhl legen. Mit Geduld und Roan's Kompetenz würde er sich eines Tages davon verabschieden können.
      "Deinen Worten entnehme ich, dass meine Sorge, du würdest jetzt vor mir fliehen wollen, unbegründet war", gab er zu und machte währenddessen noch zwei Schritte.
      "Wir sind zwei erwachsene Männer. Wir werden wohl damit umgehen können, meinst du nicht? Ich habe keine Angst davor, dass du über einen wehrlosen Mann herfallen könntest", schmunzelte er etwas frecher und richtete seinen Blick wieder auf seine Augen. "Wobei ich jetzt schon irgendwie neugierig bin. Wer kann schon ein zweites erstes Mal erleben und dann noch mit so einem gutaussehendem Mann wie dir?" Gabriel trug sein Herz eben auf der Zunge und sprach ganz intuitiv aus, was ihm in den Sinn kam. Schüchtern war er wohl nie, aber er fragte sich nun umso mehr, wie er früher mal war und wie es war in David verliebt gewesen zu sein.
      "Du sagtest doch, ich soll neue Erinnerungen schaffen, um die alten herauszulocken. Vielleicht erinnere ich mich ja an etwas, wenn wir.." Nun bremste der Blonde sich allerdings aus. Das ging vielleicht zu weit. Nur weil Gabriel ein so offener Mensch war, bedeutete das nicht, dass Roan damit klar kommen würde. Am Ende würde er ihn vielleicht wirklich noch vertreiben.
      "Tut mir leid.. Ich sollte mir abgewöhnen zu sprechen, bevor ich nachgedacht habe..", entschuldigte er sich und klang etwas betrübter. "Ich wollte nicht rücksichtslos sein." Die Angst, den Braunhaarigen mit seiner Art doch noch zu vergraulen trat wieder zum Vorschein. Er wollte keinen neuen Pfleger. Er wollte Roan. Roan war ein toller Pfleger, bei dem sich Gabriel von Anfang an wohl gefühlt hatte. Ein Pfleger war immerhin niemand, der einfach nur die Steuern für einen erledigte. Wenn er sich vorstellte, jemand so verklemmten wie seinen Bruder als Pfleger zu haben, wurde ihm ganz anders. Die Reha würde zur Qual und so genoss er die Zeit mit Roan, der ihm im wahrsten Sinne des Wortes wieder auf die Beine half.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco
    • Die Arbeit mit Gabriel war von Anfang an etwas ganz Besonderes für Roan gewesen. Es waren eben völlig ungewöhnliche Umstände und an diesen schien sich auch nicht viel zu ändern, ganz im Gegenteil. Daher waren die sonst so routinierten und gewohnten Arbeitstage für den Pfleger zu einem kleinen Abenteuer geworden, immer wieder aufs Neue. Besonders abenteuerlich wurde es natürlich nach Gabriels Erwachen. Roan hatte es bereits im Gefühl gehabt, dass sie sich gut verstehen würden und nun bewahrheitete es sich, je mehr Gabriel zu sich selbst fand. Ganz besonders schätzte der Dunkelhaarige seine offene Art, denn diese vergraulte ihn keines falls. Sie wirkte erfrischend und so ehrlich, dass Roan gar nicht anders konnte als sie zu mögen - zumal diese ihn ständig zum Lachen brachte.

      Während Gabriel langsam dämmerte, was alles über seine Zunge gerollt kam und sein Blick sich deutlich in der Stimmung verändern senkte, presste Roan seine Lippen zusammen und bemühte sich sehr nicht drauf los zu lachen. Zehn, höchstens fünfzehn Sekunden gelang ihm das auch, bis schließlich doch noch ein Glucksen schließlich nach außen drang und das leichte Beben seiner Brust und der Schultern das Wasser um die beiden Männer herum sachte in kleine Wellen versetzte.
      "So, so? Ich sehe schon, ich bin wohl eher derjenige, der sich in Acht nehmen sollte, um nicht überfallen zu werden!" Natürlich waren die Worte an sich sehr überraschend gewesen, doch der Pfleger konnte dem Blonden wohl kaum übel nehmen, dass solche Gedanken langsam an den angeregten, aufgeweckten Verstand heran kamen. Und um ehrlich zu sein, schmeichelte es dem Ego des Älteren ganz schön, um nicht zu sagen trieb es seinen Kinn und Nasenspitze stolz in die Höhe.
      "Aber ich sagte ja schon, dass ich nicht so einfach zu haben bin und erst erobert werden will!", scherzte der Pfleger weiter, ebenso wie er Gabriels Hände in seine nahm und ihn stärker zu sich zog, damit Gabriels Schritte größer und damit stabiler wurden. Er achtete darauf Gabriel eine stabile Stütze zu sein, die ihm das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Und während er das tat stahl sich der ein oder andere Blick davon und fuhr Gabriels Erscheinung nach. Sein Ego strotzte nur so vor Stolz, dass ein so junger und gutaussehender Mann dem deutlich älteren Pfleger, bei dem sich schon das ein oder andere Fältchen abzeichnete, solche Komplimente machte. Ja, auch wenn Roan sich bislang keine Gedanken darüber gemacht hatte und diese nur durch Gabriel ins Rollen gekommen waren, hatte er schon guten Gewissens gestehen können, dass Gabriel durchaus attraktiv in seinen Augen war. Das alleine hätte für eine gewisse Anziehung gesorgt, aber bei den beiden ging es bereits übers Physische hinaus, denn sie kannten sich. Und Gabriels Persönlichkeit, die mehr und mehr von sich zeigte, war etwas, das Roan fast noch mehr gefiel, als die beeindruckenden blauen Augen - ja, fast.

      Es verging ein Moment der Stille, in der man nur das Wasser leise schwappen hörte, bis Roans Gesichtszüge wieder ernster wurden und das Wort ergriff: "Hast du dir schon überlegt wie es weitergehen wird? Wirst du deine Familie zur Rede stellen? Oder willst vorher auf eigene Faust herausfinden, was wirklich vorgefallen ist?"
    • Erneut beruhigte ihn Roan's Lachen und brachte ihn selbst zum Lächeln. Es wirkte zumindest nicht so, als würde er sich über den Blonden lustig machen. Generell war es bisher immer sehr angenehm zwischen den beiden gewesen. Die neuestens Erkenntnisse änderten jedoch irgendwie alles und nichts. Roan bliebe sein Pfleger und Gabriel war immer noch ein de Vere. Nicht, dass er sich darauf etwas einbildete, aber seine Familie schien wirklich furchtbar zu sein. Es war nicht mehr nur ein Stock im Arsch. Nein. Es war noch viel schlimmer. Fast schon teuflisch. Wie konnte man seinem Sohn so etwas antun?
      Gabriel überkam die Sorge, dass Roan zu Schaden kommen könnte, wenn er nicht aufpasste. Es ging hier auch nicht nur um ihn. Madeline war ebenfalls hineingeraten und er wollte vermeiden, dass sie und Hope darunter leiden würden. Zum ausgiebigen Nachdenken hatte der junge Mann jedoch keine Zeit, da er sich auf Roan und die Übungen konzentrierte. So schnell ließe sich auch keine Entscheidung treffen. Es gab zu vieles, dass Gabriel erstmal verarbeiten musste. Nicht nur die gefälschte Ehe mit Madeline und die Sache, dass David mehr als nur sein bester Freund war. Immer mehr rückte auch Roan in den Vordergrund. Die Zuneigung, die er für ihn empfand hatte er bisher immer damit erklären können, dass Roan einfach ein sehr liebenswerter Pfleger war, der seinen Job liebte. Seitdem er jedoch von Roan's Interessen wusste und darauf die kleinen Neckereien anfingen, war er immer sehr gespannt auf seine Reaktion.
      Entsprang die Freude über diesen Ausflug der Auszeit von seiner Familie oder doch der Zweisamkeit mit Roan? Letzteres wäre vor kurzem noch völlig absurd gewesen, aber nun stellte der Blonde jegliche Empfindungen, die den Pfleger betrafen, in Frage. Wie er sich jeden Morgen und jeden Abend darüber freute, von ihm begrüßt und verabschiedet zu werden. Das er am liebsten für immer mit ihm dort auf der Wiese liegen geblieben wäre, anstatt sich Gedanken über seine Familie und seine Ehe zu machen. Statt sich zu fragen, was mit ihm nicht stimmte. Wie er wieder der Alte werden könnte. Denn sein bisheriger Weg führte ihn nicht zu sich selbst zurück. Erst dieser Ausflug öffnete ihm nach und nach mehr Türen.

      "Gute Frage...", meinte er nachdenklich und blickte in Roan's ernstes Gesicht. "Wenn ich jetzt zu ihnen gehe, werde ich bestimmt nichts von ihnen erfahren. Wer weiß, wie sie reagieren. Was sie Maddy antun werden.. oder dir.." Körperliche Gewalt lag ihnen hoffentlich fern, aber diese psychischen Spielchen scheinen seiner Familie offenbar ja zu liegen. Wie viele seiner Angehörigen wussten eigentlich darüber Bescheid? Machten da wirklich alle mit oder waren einige von ihnen auch nur unwissende Bauern? "Ich will nicht zurück..", sagte er fast flüsternd und senkte dabei seinen Blick. Aber könnte er einfach davonlaufen? Diese freien Stunden mit Roan fühlten sich so gut an. Zuhause fühlte sich alles so beklemmend an. Und jetzt wusste er auch warum. Ob sein altes Ich das seiner Familie zugetraut hätte? Wie dachte er früher über sie? Es wäre ihm lieber, wenn seine Erinnerungen zurückkämen, bevor er sich dem stellt, aber niemand konnte sagen, wie lange das dauern würde. Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre?
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      - Eugene Ionesco
    • Kurz fuhr Roans Blick nach hinten zum Rand des Beckens, von dem die beiden noch gute zwei Meter entfernt waren. Und als er wieder gerade aus blickte, ließ eine Hand bereits die Gabriels los, während der große Dunkelhaarige hinter ihn trat.
      "Versuch den Rest bis zum Becken alleine. Ich werde hinter dir aufpassen", erklärte er und ließ schließlich auch von Gabriels zweiter Hand ab, damit er seine Hände unter Wasser tauchen und sich rechts und links an Gabriels Taille bereit halten konnte.

      Was Gabriel angetan wurde, war für Roan einfach unvorstellbar. Klar erfuhr er durch seine sexuelle Orientierung in der Vergangenheit die ein oder andere Missgunst, jedoch sicherlich nicht von seiner Familie. Roans Zwillingsschwester stand immer zu ihm, egal in welcher Lebenslage. Demnach hatte der Pfleger sich mit dem Gedanken, wie es nun mit der Familie de Veres weiter ging, noch nicht richtig befassen können. Er musste sich Gabriels Mutmaßungen jedoch anschließen. Wenn die de Veres so ein großes Geheimnis so lange fürs sich hatten behalten können, dann würden sie sicher nicht mit Antworten kommen, wenn man sie zur Rede stellte. Nein, auch der Pfleger konnte sich das beim besten Willen nicht vorstellen. Und dennoch, trotz Allem.. es wollte alles noch nicht so richtig zusammen passen in seinem Kopf, denn nach wie vor empfand er für die de Veres und ganz besonders für die Hausdame großen Respekt und Ehrfurcht. Das verursachte gemischte Gefühle in ihm, als Gabriels seinen letzten Gedanken preisgab.

      "So wie ich das verstanden habe, wurde uns keine Deadline gesetzt, bis wann wir wieder zurück sein sollten. Also schlage ich vor überstürzt zu lieber nichts. Wir sind hier in einer anderen Umgebung, einer, in der man - so kommt es mir jedenfalls vor - besser klare Gedanken fassen kann. Und wir sollten, also Madeline und du vor allem, uns genau das Wie und Was und Wann überlegen." Vielleicht lag es daran, dass Roan seine Eltern schon früh verloren hatte und ohne aufwachsen musste, aber er wollte nicht zu überstürzt dazu beitragen, dass Gabriel sich von seiner Familie abwandte. Es war klüger eine sachliche Herangehensweise zu wählen und nicht aus dem Bauch heraus zu entscheiden.

      Roan musste stolz lächeln beim Anblick von Gabriel, wie er scheinbar mühelos sich dem Rand immer weiter näherte. Es sah vielleicht nicht so aus, aber das war alles andere als leicht und das zeigten ihm seine Beine auch kurz bevor er den Rand zu fassen bekam, indem sie nachgaben.
      "Woah! Ich hab dich!" Beide Arme schlangen sich um den noch relativ mageren Oberkörper Gabriels und hielten ihn davon ab unter Wasser zu tauchen. "Ich schlage vor, für heute machen wir Schluss und nutzen lieber den Whirlpool auf unserem Zimmer, um dem Muskelkater morgen etwas entgegenzuwirken, mhm? Ich bin sehr stolz mit deiner Leistung heute!"
    • Gabriel fixierte den Beckenrand und war eigentlich sehr optimistisch, dass das klappen sollte. Was war schon dabei? Doch nach einigen Schritten merkte er, dass ihn seine Beine einfach nicht tragen wollte. Nicht nur Kraft war es, die ihnen fehlte. Gabriel musste sich, so wie es aussah, auch erneut wieder einen Gleichgewichtssinn aneignen. Wie ein kleines Kind bei seinen ersten Gehversuchen. So fühlte er sich gerade. Sein Ehrgeiz reichte nur leider nicht bis in seine Beine, sodass er schlussendlich doch versagte und wie versprochen von Roan aufgefangen wurde.
      Doch anstatt sich gerettet zu fühlen, hatte Gabriel kurz das Gefühl, dass Roan eher das Gegenteil versuchte und zwar ihn unter Wasser zu ziehen. Seine Hände griffen an Roan's Arme und ein eigenartiges Gefühl machte sich in ihm breit. Gabriel's Kopf gelangte nicht unter Wasser und doch hatte er das Gefühl, das dem so wäre. Das ihm das Wasser durch das plötzliche Untertauchen in die Nase drang. Aber auch, dass er keine Angst hatte, sondern trotz des unangenehmen Gefühl ein positives dabei verspürte. Ein ähnliches Gefühl wie in der Nacht, als er von einer Stimme geweckt worden war.
      "Was?", fragte er etwas verwirrt, da er die Worte des Pflegers nicht aufnehmen konnte. War das eine Erinnerung? Viel mehr ein Fetzen einer Erinnerung, der ihn kein Stück weiterhalf, um das Geheimnis seiner Familie und David zu lüften.
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    • Instinktiv hielten Roans Arme Gabriel fester, als dieser ein unsicheres Schwanken bei ihm bemerkte. Gabriels Frage bestätigte nur das Gefühl, dass etwas anderes in seinem Kopf vorging, doch Roan hatte nicht vor nachzuhaken.
      "Ich sagte ich bin stolz auf dich. Du hast heute riesige Fortschritte genacht!", griff er daher lieber den letzten Teil auf und geleitete Gabriel weiter zum Beckenrand, von wo aus er diesen schließlich wieder in seinen Rollstuhl verhalf. Beide Männer schlüpften in die kuscheligen Hotelmäntel, ehe sie sich zurück zu ihrer Suit begaben, denn Duschen hatten sie sich in aller Ruhe dort können. Roans Blick blieb im Vorbeigehen flüchtig an der Tür zu Madelines Suit hängen und er fragte sich, ob sie wohl immer noch tief und fest schlief. Er wünschte es ihr auf jeden Fall, denn das hatte sie sich nach dem heutigen Tag verdient. Genauso wie sie alle.

      "Wenn du was brauchst, ich bin direkt nebenan, ja? Gute Nacht, Gabriel!" Roan deckte seinen Schützling wie jedes Mal gründlich zu, achtete darauf, dass möglichst keine Stelle kalte Luft unter die Decke ließ, dass das Kissen schön in Position unter Gabriels Kopf lag und diesen schonend stützte, dass keine lästige Falte unter ihm den Schlaf in der Nacht störte und dass die Füße kuschelig eingedeckt waren und bloß nicht frieren mussten. Das Ritual blieb das Selbe, wie bei jedem anderen Patienten auch und dennoch fühlte es sich diesmal anders an - vielleicht hatte es sich bei Gabriel schon immer anders angefühlt, aber heute erkannte es Roan, wenn auch nur unterbewusst, ehe er das Licht in Gabriels Zimmer ausschaltete und sich in das Nebenzimmer auf seine Couch begab, die vermutlich bequemer war, als jedes Bett, das er bisher kannte. Auf das die Probleme des kommenden Tages nicht so überwältigen werden würden, wie die des heutigen.
    • Beim zweiten Mal konnte er Roan's Worte verarbeiten, nachdem er gedanklich in die Realität zurückgekehrt war. Stolz? Riesige Fortschritte? Für Gabriel fühlte es sich nicht so an, aber der Pfleger hatte damit mehr Erfahrung. Oder er versuchte ihn nur zu motivieren, so wie man ein Kind oder einen Hund übertrieben lobte, wenn er etwas gut gemacht hatte. Der Blonde fühlte sich allerdings nicht sehr motiviert. Ein seltsam unbehagliches Gefühl machte sich in ihm breit, woran vermutlich diese viel zu kurze Erinnerung Schuld war. Als hätte man jemanden mit etwas angefixt und ließ ihn dann zappeln. Wie ein Cliffhänger am Ende einer Serie. Furchtbar.
      Auf dem Weg ins Zimmer sprach Gabriel deshalb nicht fiel und zerbrach sich seinen noch immer so leeren Kopf. Dabei schenkte er Roan's Fürsorge, die sich auf den ersten Blick nicht verändert hatte, kaum Aufmerksamkeit. Erst als Roan ihm eine gute Nacht wünschte, lächelte der Jüngere. "Gute Nacht, Roan.." Er erhaschte noch einen kurzen Blick in die bernsteinfarbenen Augen, ehe der Pfleger fort war und Gabriel seine Augen schloss. Dabei bemerkte er den Übergang vom Wachsein zum Schlafen kaum.

      Ihm wurden verführerische Worte ins Ohr gesäuselt.
      Jemand presste ihn an den Rand eines Schwimmbeckens.
      Ein Pool. Es war ein Gartenpool.
      Er sah Gras.
      Eine Decke.
      Eine Bierflasche.
      Mehr unverständliche Worte, während er glaubte, einen starken Körper an seinem zu spüren.
      Viel mehr einen bestimmten Teil eines Körpers.
      Eines männlichen Körpers.
      Madeline's Gesicht flog flüchtig vorbei.
      Sie lag auf einer Liege und trug einen Bikini.
      Ein fremdes Gesicht tauchte vor ihm auf. Es war allerdings generell nicht zu erkennen, denn es war verschwommen. Blondes, langes Haar. Eindeutig weiblich, denn die Stimme hörte sich weiblich an.

      "Nehmt euch ein Zimmer, Turteltauben."
      Gabriel spürte ein Schmunzeln auf seinen Lippen und Hände, die über seinen Körper glitten. Eine davon verschwand in seiner Hose.
      "Du bist ja nur neidisch..", neckte die Stimme hinter ihm, die Frau vor ihm, die am Beckenrand lag und ihre Hand durchs Wasser gleiten ließ.
      "Und wie." Es klang sarkastisch, aber irgendwie auch ernst gemeint. Die Stimme erschien ihm irgendwie vertraut.

      Kurz drehte sich alles und sein Herz raste wie wild, als es nur eine Sekunde später wieder ruhiger wurde.

      Er befand sich vor Madeline. Besser gesagt über ihr.
      Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Irgendwie fühlte er sich aber auch glücklich.
      Zugleich aber auch unsagbar schuldig.
      Madeline war... Er schlief gerade mit ihr, um Hope zu zeugen!

      Ein fürchterliches Quietschen hallte durch die Dunkelheit.
      Ein Knall.

      Erneut war es still.
      Es war dunkel. Nein, er hatte nur die Augen geschlossen.

      "David..", entfleuchte es erschreckend erotisch aus seinem Mund, sodass er eine Gänsehaut bekam.
      Hände. Lippen. Zunge. Ein durcheinander aus Berührungen.
      Ein schelmisches Grinsen.

      "Hast du eine Ahnung, wie sehr ich dich liebe?"
      Eine Zunge schlängelte sich seinen Körper herunter.
      David's Zunge..
      Er lag auf dem Rücken, während David ihn verwöhnte.


      Plötzlich war da ein anderes Gesicht. Roan's Gesicht.

      Gabriel öffnete seine Augen, ohne zu realisieren, dass es bereits Morgen war und Roan ihn geweckt hatte. Mit ungläubigen Augen starrte er in die seines Gegenübers. Genauer gesagt, befand Roan sich mehr oder weniger über ihm. Der Blonde griff nach der Decke, um zu verhindern, dass der Pfleger ihm diese wegnahm. Gabriel's Herz raste und ihm war unglaublich warm. Allerdings verspürte er ein überaus unangenehmes Gefühl in seiner Körpermitte. Er war erregt und wollte nicht, dass Roan es sah. Dieser Traum.. Zum allerersten Mal seit seinem Erwachen spürte Gabriel Erregung. Einen unstillbaren Hunger auf einen männlichen Körper. War dieser Typ der Auslöser dafür? Wie hieß er noch gleich? Egal. Er war Schuld, dass Gabriel erfuhr, dass er nicht Madeline, sondern David geliebt hatte. Das er Männer liebte. Gutaussehende Männer, wie Roan..
      "Ich.." Er konnte Roan doch wohl kaum sagen, dass er gerade einen ziemlich schmerzhaften Ständer hatte. Gott war ihm das peinlich. Wenn Roan nicht schwul wäre oder nicht davon wüsste, dass Gabriel es war, könnte er einfach behaupten, dass er von Madeline geträumt hatte. Aber so?
      Bevor es auch für Roan peinlich werden könnte, musste er irgendwas unternehmen.
      "Kannst du.. Gib mir noch 5 Minuten.."
      Hoffentlich fragte Roan nicht nach. Hoffentlich machte er jetzt keinen seiner Scherze. Hoffentlich ließ er Gabriel einfach allein, damit er sich beruhigen konnte.
      Madeline, David. Was für ein chaotischer Traum.
      Zum Glück hatte er gestern Abend geduscht, dann müsste Roan ihn jetzt nicht wieder duschen. Er war sich unsicher, wie sein Körper darauf reagieren würde, denn.. Roan war verdammt attraktiv! Das war nicht gut.
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      - Eugene Ionesco
    • Ein Albtraum? Roan war sich im ersten Moment ziemlich sicher damit, als er Gabriels Zimmer am nächsten Morgen wieder betrat. Der regenerierende Körper, der mittlerweile recht gut erahnen ließ, welch eine männliche Statur Gabriel vor seinem Koma gehabt hatte, zuckte ab und zu, sowie auch ein leises Keuchen oder fast stummer Laut über seine Lippen kam. Der Pfleger ging jedoch zu nächst zu den Vorhängen, doch gerade, als seine Finger den sündhaft weichen Stoff umfassten und diese bereits einen Stück auseinander zogen, wandelte sich die Farbe der Laute. Oder? Roan blickte etwas zu hastig über seine Schulter zu Gabriel, sodass sein Nacken aus Rache knackte und hielt inne. Hatte er sich verhört? Das bildete er sich bestimmt ein und wenn nicht... und wenn nicht? Was dachte er da überhaupt? Er schüttelte den Kopf, doch diesmal vernahm er es noch deutlicher. Ein Stöhnen, war es auch leise. Roan fühlte sich im Unrecht, immerhin stand er gerade einfach nur da und starrte Gabriel an, der sich vor seinen Blicken, noch vor seiner Anwesenheit nicht schützen konnte. Und ganz offensichtlich war das hier gerade ein sehr private Situation.

      Aus welchem Grund nun auch immer, aber schließlich zwang Roan sich dazu Gabriel zu wecken und reagiert mindestens genauso überrascht, wie dieser, als es dann geschah. Während Gabriels Hände die Decke ergriffen, zuckten die des Pflegers sofort zurück und positionierten sich brav an seiner Seite. Da klingelte es an der Tür. Das erleichterte Seufzen musste sich der große Dunkelhaarige vorerst verkneifen, denn schon viel zu lange hatte er nichts gesagt und das sollte er schleunigst ändern.
      "Dein Glück! Das wird sicher der Zimmerservice sein, das Frühstück bestimmt. Also lass dir nicht zu viel Zeit. Wenn du mich brauchst, dann ruf einfach", sagte er deshalb endlich und nickte zufrieden über sein recht natürliches Auftreten. Nachdem er das Zimmer jedoch wieder verließ, fiel die Fassade ab, sein Kopf schoss in den Nacken und seine Hand landete mit einem leisen Klatschen auf der Stirn. Roan war sich nicht sicher, was mit ihm los war, aber so eigenartig hatte er sich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt. Er hoffte seine Gedanken würden schnell wieder ruhe geben, ganz schnell. Zum Glück hatte sich der Pfleger bereits wieder angekleidet, denn nur ungerne hätte er dem Zimmerservice im Bademantel oder noch schlimmer in Boxershorts die Tür aufmachen wollen. Aber als die Tür die Sicht frei gab, befand sich dort nicht der Zimmerservice, sondern Madeline. Sie blickte mit großen Augen in die von Roan und schien zu warten. Als würde er ihr verwehren einzutreten, wie lächerlich. Und das zeigte er ihr auch, indem er sich in seine Arme zog und sie zur Begrüßung kurz drückte, was sie mit einem willkommenem Seufzen annahm.
      "Dürfte ich dich bitten, dich um das Frühstück zu kümmern? Ich hab da wenig Erfahrung mit-"
      "Roan, hört auf. Klar mach ich das! Aufs Zimmer?" Der Pfleger nickte und lächeln schief. Die Couch war bereits wieder hergerichtet, die Decke und das Kissen mit denen er geschlafen hatte, ordentlich an einem Ende übereinander gestapelt und gefaltet und das Glas Wasser, das er sich in der Nacht aufgrund von halben Verdurstens holen musste, war ebenso wieder entsorgt. Er nahm auf dem Sofa Platz und musste nicht lange auf Madeline warten.
      "Erledigt. Wo ist Gabe?"
      "Oh er.. er wacht gerade auf. Wir haben gestern noch ein Stündchen trainiert, nachdem der Film zu Ende war, weißt du? Er hat seine ersten Gehversuche gemeistert! Und ich fürchte heute wird er den ein oder anderen Muskelkater haben."
      "Was wirklich? Das sind ja tolle Neuigkeiten! Ach ich wünsche, ich wäre dabei gewesen...", Madeline seufzte, doch ein liebevolles Lächeln fand sofort wieder auf den Lippen Platz. "Ich bin dir so dankbar Roan. Du bist nicht nur eine riesige Hilfe, sondern auch ein wirklich wirklich guter Freund!" Freund, hm? Ja, womöglich war es wirklich an der Zeit sich vom Dasein als Pfleger ein wenig zu distanzieren, denn spätestens nach gestern hatte Roan die Grenze definitiv überschritten. Doch ob er das ohne Weiteres einfach so konnte?
    • Das Klingeln war wohl die Rettung in letzter Sekunde, wenn man so sagen wollte. Wobei sich Gabriel dabei nicht wirklich besser fühlte.
      "Ja.."
      Wenn er ihn brauchte? Momentan konnte er ja gar nicht ohne ihn leben. Witzbold. Ein Teil von ihm hätte sich gewünscht, dass Roan nicht gehen würde, aber der Großteil war darüber doch irgendwie erleichtert. Die Stimmen und Gesichter schwirrten ihm noch zu sehr im Kopf.
      Gabriel starrte an die Decke und wischte sich mit den Händen durch sein Gesicht. Warum war ihm das so peinlich? Als wäre das so ungewöhnlich solche Träume zu haben. Mit Sicherheit hätte Roan das als Pfleger auch nicht zum ersten Mal gesehen. Sah er Roan's Gesicht eigentlich vor oder nachdem er aufgewacht war? Das konnte er nicht genau sagen. Das machte das ganze aber nicht besser. So oder so, war ihm beinahe das Herz stehen geblieben, als er es sah. Es hatte sich so echt angefühlt, wobei Gabriel so etwas seit seinem Erwachen bisher noch nicht gespürt hatte und gar nicht genau sagen konnte, ob es sich in Wirklichkeit auch so anfühlte.
      Noch mehr Chaos in seinem Kopf. Das konnte er jetzt nicht gebrauchen.
      Sollte er nicht hauptsächlich an David denken? Momentan war David allerdings mehr ein Fremder für ihn, als seine verstorbene Liebe. Und Roan? Als ob er urplötzlich in Roan verliebt wäre, nur weil sie zufällig dieselbe Neigung hatten. Würde Gabriel wirklich daran glauben und es Roan sagen, würde der ihn doch auslachen. Papperlapapp. Gabriel machte an diesem Morgen einfach nur das durch, was andere in ihrer Jugend durchmachten. Jetzt musste er jedoch an all die unangebrachten Dinge denken, die er zu Roan während ihres Ausflugs gesagt hatte.
      Seufzend zog er das Kissen hinter seinem Kopf heraus und legte es auf sein Gesicht. Er wollte nicht, dass es komisch zwischen ihnen werden würde, aber jetzt ist es doch alles irgendwie komisch geworden.

      Gabriel brauchte eine Weile, bis er sich gefangen hatte. Dennoch fiel es ihm schwer nach Roan zu rufen. Aber er konnte ja nicht ewig im Bett liegen und seine Blase drängelte auch schon.
      "Roan?", rief er mit einem dicken Fragezeichen. Er hatte schon die Decke beiseite gelegt und sich aufgesetzt, bevor der Pfleger zu ihm kam. Sein Herz schlug schneller. Warum war er so nervös? Was sollte schon passieren? Schlimmstenfalls ein paar Witzeleien, aber das war doch kein Drama. Ja, irgendwie würde es Gabriel erleichtern, wenn Roan die Stimmung mit einem Scherz lockern würde. Vorhin wirkte er so komisch und Stille würde ihn jetzt nur erdrücken. Oder sollte er das Wort ergreifen? Er hatte nicht das Gefühl, als wäre er zurückhaltend oder schüchtern. Obwohl David in seinem Traum mehr Initiative gezeigt hatte. Das musste ja nichts heißen. Warum musste er jetzt schon wieder daran denken!?
      "Ich glaube.. ich habe mich an ein paar Dinge erinnert.. Gestern im Wasser. Ich hatte kurz das Gefühl, als hätte mich jemand unter Wasser gedrückt. Aber zum Spaß.. Ich hatte zumindest keine Angst, sondern fühlte mich gut..", offenbarte er dem Älteren. "Das.. ist gut, oder?" Zurückkehrende Erinnerungen waren doch fantastisch! Er sollte sich viel mehr freuen, aber irgendwie tat er es nicht. Der Traum war chaotisch. Viele einzelne Sequenzen. Manchmal fühlte er sich auch seltsam. Aber so ein unangenehmes seltsam, nicht dieses erregte seltsam. Er hoffte, dass er nicht jede Nacht von seiner Vergangenheit träumen würde. Er hatte in der Gegenwart schon viel zu verarbeiten.
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    • Natürlich hatte der Ältere Madeline sofort sitzen gelassen, als er seinen Namen rufen hörte. Und auch wenn er sich ziemlich sicher sein konnte, dass sie ihm deshalb nicht böse war oder jemals sein könnte, so fühlte sich der Pfleger doch ein wenig schlecht deshalb. Doch das war nun einmal seine Arbeit. Gabriel stand auf der Prioritätenliste ganz oben, nicht nur weit oben, sondern ganz.
      "Wirklich? Ja aber dann ist es natürlich gut! Warum höre ich da eine gewisse Skepsis aus deiner Stimme heraus?", fragte Roan, während er darauf wartete, dass Gabriel sein Oberteil wechselte, um mich daraufhin die Hose zu reichen. Socken anziehen konnte er noch nicht alleine, was ihn insgeheim ärgerte, das war Roan von Anfang an nicht entfallen. Er selbst fand es irgendwie niedlich, dass Gabriel so eine Kleinigkeit so auf die Palme bringen konnte. Dennoch erledigte er dieses Thema immer zügig, damit sich sein Schützling nicht länger als nötig damit herumschlagen musste. Auch diesmal.
      "Es werden mit Sicherheit noch mehr Erinnerungen kommen, bis du sie früher oder später schließlich alle wiederhast. Es war nur eine Frage der Zeit." Roan half dem fertig gekleideten Gabe in den Rollstuhl und blickte ihn schließlich an, vor ihm stehend. "Wasser hat also eine Erinnerung ausgelöst. Hmm.. vielleicht gibt es noch mehr, dass dir beim Erinnern helfen könnte. Zum Beispiel dein...naja.. Ex?" Roan war sehr wohl bewusst, dass dieser beim ersten Treffen offenbar nicht diesen gewünschten Effekt gehabt hatte. Aber um ihn selbst ging es dabei auch weniger, sondern um das, was er Gabe angeboten hat. "Er sagte, er würde dir auf Wunsch mehr erzählen, also dann warum nicht?" Madeline erschien im Türrahmen und stimmte dem Pfleger zu.
      "Ich bin auch dafür, dass wir auf eigene Faust handeln. Aber vorher wird es wohl das beste sein, wenn wir deine Mutter weiter mit ihrer Lügengeschichte füttern. Du solltest sie anrufen, erzählen wir es läuft oder wir schicken ihr ein Foto von uns beiden. Denn ich fürchte, dass wenn sie zu lange nichts von dir hört, dass sie schnell Misstrauen entwickelt."
    • Warum er Skepsis aus seiner Stimme heraushörte? War das so?
      "Weiß nicht..", seufzte er und nahm von Roan das Oberteil entgegen, um es anzuziehen, "es fühlt sich nur so komisch an."
      Es fühlte sich so fremd an. Als wäre es nicht seine Erinnerung, aber irgendwie schon. Was sollte es sonst sein? Vielleicht würde es sich ja besser anfühlen, wenn er einfach mehr Puzzleteile beisammen hätte. Andererseits hatte er auch irgendwie Angst davor. Momentan empfand er nicht ganz so viel bei dem Gedanken, dass David tot war. Auch nicht, als er erfuhr, dass er David geliebt hatte. Aber was, wenn er sich mehr an David, an die Zeit mit ihm, erinnern würde? Sicher würde er darunter leiden. Aber er wollte natürlich auch nicht so tun, als wäre es ihm vollkommen egal. Denn irgendwie fühlte er sich schuldig dabei, dass er gerade so ein fast unbekümmertes Leben führte. Klar, er konnte noch nicht gehen und musste sich von anderen Leuten bei der Hose, den Socken und Schuhen helfen lassen, aber psychisch ging es ihm soweit gut. Zu gut. Er fühlte sich einfach nicht traurig genug. Er hasste dieses Chaos in seinem Kopf.
      Sein Ex? "Joel?" So hieß er doch, oder? Er hatte ihm ja auch seine Nummer gegeben. Ob er ihn wirklich fragen sollte? Es klang immerhin so, als hätte er die Beziehung beendet. Aber Joel meinte, er wäre nicht mehr böse. Eine gewisse Neugier war da ja schon, aber auch etwas Sorge, dass ihm nicht gefiel, was Joel zu sagen hätte.
      Als Madeline diese Idee dann auch noch unterstützte, konnte er es wohl nicht mehr ignorieren. Das sie allerdings vorschlug seiner Mutter weiter etwas vorzuspielen, überraschte ihn. Wobei. Im Grunde wusste er noch immer nicht viel über sie und sie hatte es ja auch geschafft, ihm was vorzuspielen. Nein, er durfte jetzt nicht wieder in diese Richtung denken. Seine Mutter hatte nur ihre Verzweiflung ausgenutzt.
      Sollte er sie wirklich anrufen? Unabhängig davon, was sein altes Ich getan hätte, würde sein neues Ich das ja vielleicht tun. Seine Mutter schien ja gern die Kontrolle zu haben. Wenn Gabriel jetzt also das brave Söhnchen spielte, würde es sie doch sicher freuen. Ihr Plan würde aufgehen.
      "Ich ruf sie nach dem Frühstück an.." Ein Foto würde zwar weniger Zeit in Anspruch nehmen, aber er war sich nicht sicher, ob er ein glaubhaftes Gesicht vor der Kamera hinkriegen würde. Ihr jedoch einfach nur ein paar Informationen über das Fest, Maddy's Geschenk und dem Training im Pool zu erzählen, sollte ihm nicht schwer fallen. Es waren im Grunde ja nur Fakten, die er aufzählte. Lügen müsste er vorerst also nicht.

      Als der Zimmerservice dieses Mal nun tatsächlich vor der Tür stand, saßen sie gemeinsam am Tisch, um zu frühstücken. Gabriel wollte eine Sache allerdings noch schnell erledigen und schrieb deshalb Joel eine Nachricht, um zu fragen, ob sie sich später treffen könnten. Er hatte bestimmt besseres zutun, als seinem Ex etwas über sich und seinem Neuen zu erzählen.. Aber er wirkte ganz nett und aufrichtig. Etwas unangenehm war es ihm trotzdem. Ob er allein gehen sollte? Ohne Roan? Und was war mit Madeline? Roan könnte ja bei ihr bleiben oder auch mitkommen? Schwierig.. Wäre das nicht total komisch, die beiden mitzuschleppen? Vielleicht käme Joel ja auch lieber allein, als seinem neuen Partner den Ex ohne Gedächtnis vorzustellen.. Nein, das sollte er lieber allein tun. Er konnte Roan doch nicht mit jedem seiner Problemchen belästigen. Er könnte sich ruhig einen schönen Tag mit Madeline machen.


      Ein paar Stunden später traf er sich also mit Joel im Park, wie er vorgeschlagen hatte. Er war allein. Sein Verlobter war eingeweiht und laut Joel ebenfalls ziemlich betroffen. Allerdings kannte dieser weder David noch Gabriel. Und er wollte sich wohl keine Geschichten über ihre vergangene Liebelei anhören. Verständlich. Es war auch für Gabriel seltsam.
      Joel war allerdings ziemlich locker und fragte direkt, was er denn wissen wollte. Da gab es so vieles, sodass er gar nicht wusste, wo er anfangen wollte.
      "Kannst du mir.. etwas über uns erzählen? Von dir und mir mein ich. Wie.. haben wir uns denn getrennt?"
      Joel und Gabriel lernten sich in der High School kennen. Sie gingen nicht in dieselbe Klasse, aber hatten scheinbar Freunde, die gemeinsame Freunde hatten und so trafen sie irgendwann aufeinander. Joel sagte, dass er sich sofort in Gabriel's blauen Augen verliebt hätte, was Gabriel ziemlich in Verlegenheit brachte. Es war wohl Joel, der die Initiative ergriffen hatte und Gabriel nach ein paar Treffen mit den anderen nach einem Date fragte. Sie hörten gern dieselbe Musik, mochten dieselben Gerichte und hatten sogar ein gemeinsames Hobby. Campen? War er wirklich so ein Naturfreund? Nun, offenbar haben sie da draußen die Zeit allein auch ziemlich gut genutzt, wobei Gabriel auf Einzelheiten lieber verzichtete. David soll davon wohl kein Fan gewesen sein, was Joel irgendwie ein wenig zu amüsieren schien. Jedenfalls waren Gabriel und David abzüglich des letzten Jahres 5 Jahre zusammen. Es wären jetzt also schon 6 Jahre gewesen. Die Beziehung zu Joel lief fast 3 Jahre. Soll wohl ziemlich grenzwertig gewesen sein, weil Gabriel noch 2 Monate vor seinem 21. Geburtstag stand, als ihm der 6 Jahre ältere den Kopf verdreht hatte. David hatte ihn vorher jedoch nicht angerührt und Gabriel hatte wohl ein ziemlich schlechtes Gewissen gegenüber Joel. Er bezeichnete es inzwischen allerdings als unbedeutende Jugendliebe. Also nicht wirklich unbedeutend, denn die 3 Jahre waren schön, aber sie waren scheinbar nicht füreinander bestimmt. Joel hatte jetzt seinen Peter und Gabriel hatte David. Dann war ihre Trennung also doch nicht ganz so dramatisch. Dennoch konnte Joel ihm ja nicht sagen, wie Gabriel sich bei der Trennung gefühlt hatte. Das müsste er wohl eines Tages selbst herausfinden.
      Allerdings konnte er ziemlich gut verstehen, was er an Joel gemocht hatte. Seine offene, ehrliche Art. Ab und zu war er ein wenig verlegen. Ihm wurde auch ziemlich viel abverlangt in dieser Situation. Was Gabriel aber neben seinen Beziehungen mit den beiden noch mehr interessierte war: Wie er denn früher gewesen war. Und noch wichtiger: Wie sah sein Familienverhältnis aus?
      "Also am Anfang hast du immer versucht ihnen alles Recht zu machen. Du bist studieren gegangen, wie sie es wollten, aber ich wusste, dass es nicht das war, was du wolltest. Aber du wolltest ja nie auf mich hören. Du bist einfach so ein treudoofer Hund. Ein Familienmensch. Blut ist dicker als Wasser und so'n Scheiß. Du warst ziemlich naiv, wenn du mich fragst. Immer so gutgläubig. Man konnte dich auch immer gut verarschen." Wie das später war, wusste er nicht, da sie seit der Trennung keinen Kontakt mehr hatten. Vielleicht könnte Madeline ihm da ja helfen? Allerdings wollte er sie nicht so schnell damit belästigen. Schließlich hätte sie ihm vermutlich auch fast alles erzählen können, was Joel ihm erzählt hatte.
      "Was ist mit Maddy? Was weißt du über sie?"
      "Ohh Maddy! Ihr wart immer wie Pech und Schwefel. Kaum auseinander zu bekommen. Aber das war okay, denn sie ist wirklich eine tolle Frau. Würde ich auf Frauen stehen, hätte ich sie angebaggert. Hübsch, klug, aber was noch viel wichtiger ist: Sie stand dir immer zur Seite. Würde mich nicht wundern, wenn du bei ihr verzweifelt um Rat gefragt hättest, was du tun sollst, als du Gefühle für David entwickelt hast, aber mich nicht verletzen wolltest. So warst du nämlich. Du dachtest immer mehr an andere, als an dich selbst. Sie aber auch. Hat mich manchmal wahnsinnig gemacht, wenn ihr einander Ratschläge gegeben habt, die ihr selbst mal einhalten müsstet! Seid ihr noch befreundet?"
      "Ja. Sie war sofort da, als ich aufgewacht bin.." Er konnte ihm doch nicht erzählen, dass sie jetzt verheiratet waren und ein Kind hatten. Denn offenbar stand Gabriel zu 100% auf Männer und kein bisschen auf Frauen. Abgesehen davon, wusste Joel ja, dass er mit David zusammen war.

      "Und du erinnerst dich echt an nichts?"
      "Nicht wirklich.. Ich kann einen Apfel von einer Birne unterscheiden, aber an Personen kann ich mich nicht so recht erinnern.. Ich hatte diese Nacht einen Traum.. Ich war mit Madeline an einem Pool. Ich glaube David war auch da. Und noch jemand.."
      "Pool? Ich bezweifle, dass David einen Pool hatte.. Könnte mein Pool gewesen sein."
      Dann war das nicht David in seinem Traum sondern Joel? Wie peinlich!
      Joel lachte allerdings nur und schien nicht gekränkt zu sein.
      "Das war bestimmt Sam. Sie hing dauernd mit uns ab."
      "Sam?"
      "Samantha. Deine Schwester."
      Seine Schwester? Das ergab irgendwie keinen Sinn.. Sie kam ja nicht einmal zu dieser merkwürdigen Familienversammlung. Vielleicht wüsste Madeline auch darüber mehr. Das sie bei dem Theater nicht mitmachen wollte und deshalb vermied, nach Hause zu kommen, konnte Gabriel ja nicht wissen.
      Alles, was Joel über David wusste, dass er älter war und ein ziemlicher Draufgänger. Cool, lässig. Nicht so zukunftsorientiert wie ein de Vere. Mehr so der Straßenmusikertyp, denn er spielte auch Gitarre. Er hatte nur eine kleine Wohnung und auch sonst nicht so viel. Aber soweit Joel es beurteilen konnte, trug David sein Herz auf der Zunge.


      Gabriel bedankte sich bei Joel, doch dieser lehnte seine Einladung zum Abendessen ab. Sein Verlobter vertraute ihm zwar, aber er wollte ihn dennoch nicht noch länger für seinen Ex warten lassen. Nun wusste Gabriel aber zumindest, dass er sich gar nicht so sehr von seinem jetzigen Ich unterschied. Frech, aber immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Und er machte sich manchmal viel zu viele Gedanken, was auch jetzt der Fall war. Und man konnte ihn immer mit den dümmsten Flachwitzen zum Lachen bringen. Sein Lachen war etwas, das Joel immer sehr gemocht hatte.

      Nun sollte er sich allerdings so langsam wieder bei seinem Pfleger und Maddy blicken lassen, weshalb er bei ihr anrief und fragte, ob die beiden mit ihm in ein Restaurant gehen wollten, um gemeinsam zu Abend zu essen. Es sei denn, Roan würde lieber Pizza oder Burger essen wollen.
      ~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
      - Eugene Ionesco

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