Clockwork Curse [Codren & Winterhauch]

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    • Tessa, die sich bereits damit abgefunden hatte, den angeregten Gesprächen im Stillen zu lauschen, sah erstaunt auf als eine junge Frau mit einem herzlichen Lächeln ihren Namen erwähnte. Kurz blinzelte Tessa überrascht, da erschien ein zurückhaltendes Lächeln auf ihren Lippen. Die Frau, Yasmin, hatte einen herzlichen und warmen Ausdruck in den Augen, der ein wenig von nervösen Anspannung fort wischte. Im Gegensatz zur ihrer Sitznachbarin, Malia, schien sie sich aufrichtig zu freuen, dass sich ein neues Gesicht zu ihnen gesellte. Nur die Frage verstand die Diebin nicht ganz. Bemüht, sich die Verwirrung darüber nicht anmerken zu lassen, nickte sie Frederic und Maria zu. Bevor sie überhaupt den Mund zu einer Antwort öffnen konnte, erklang von der Seite ein Räuspern. Liam, der dürre Mann und an diesem geselligen Abend ohne sein Klemmbrett bewaffnet, sah mit einem für Tessa rätselhaften Blick in zu Yasmin. Der Einwand schürte das Unverständnis der Diebin. Vielleicht hätte sie der Unterhaltung vorher doch besser zuhören sollen. Hatte sie etwas verpasst? Yasmin jedenfalls schien ganz genau zu verstehen und hatte dafür gleich die nächste Frage parat.
      "Also..."
      "Sag nichts falsches, auf so eine Frage gibt es nur eine richtige Antwort."
      Tessa legte den Kopf ein wenig zurück und entdeckte schräg im Augenwinkel Chester mit zwei dampfenden Bechern voller Punsch. Sie fragte sich, ob es genauso süß schmeckte wie es duftete. Die Noten verschiedenster Gewürze und Honig vermischte sich mit dem Geruch von brennenden Holz. Es hätte wirklich gemütlich sein können, wenn die fragenden Blicke Tessa nicht so furchtbar nervös gemacht hätten. Dennoch verwandelte sich das schüchterne Lächeln in die Andeutung eines Grinsens.
      "Bist du dir da sicher?", antwortete Tessa.
      Mit einem Seufzen, denn der warme Becher taute ihre Fingerspitzen ein wenig auf, schloss Tessa die Finger um das erhitzte Porzellan. Behutsam führte sie den Becher an ihre Lippen und pustete sachte hinein, um sich nicht beim ersten Schluck die Zunge zu verbrennen. Genauso vorsichtig nippte sie am Punsch und genoss den Geschmack von Zimt, Honig, Anis und der Süße von roten Beeren. Für die nächsten Minuten begnügte sich Tessa damit der heiteren Unterhaltung zu lauschen. Sie versteckte das Lächeln hinter dem Rand des Bechers und ließ sich von Punsch, Lagerfeuer und der Wärme, die Chester an ihrer Seite verströmte, einhüllen. Für einen kurzen Augenblick ließ sie die Vorstellung zu, wie es wäre, öfters die Gelegenheit für einen Abend wie diesen zu haben. Mit Freunden schwatzend und scherzend am Feuer zu sitzen, warm und trocken, mit gefüllten Bäuchen und ohne sich dabei zu fragen, was der nächste Tag bringen könnte. Würden sie genug essen finden? Würde ihnen das Holz für den alten Ofen ausgehen? Würden sie genug Decken für alle haben? Was für andere banal anmutete, war für Tessa ein täglicher Rhythmus gewesen. Abende, an denen sie sich zurücklehnen konnte, waren selten und viel zu kurz gewesen. Nachdenklich sah die Brünette in den Becher und spürte das Zwicken ihres Gewissens. Wer würde sich jetzt um die Jüngeren kümmern ohne Jacob? Ohne Rosie?
      Gelächter brach um Tessa herum aus und holte die Diebin ins Hier und Jetzt zurück.
      Sie schenkte Chester ein Lächeln, der sie mit einem fragenden Gesichtsausdruck ansah, und schüttelte den Kopf. Das war kein Thema für eine große Runde. Stattdessen sah sie zu Yasmin, die sich um Kopf und Kragen redete und mit Frederic herum alberte. Tessa kicherte leise und fand Halt in etwas gänzlich anderem. Es war die Art, wie nah Chester neben ihr saß. So nah, dass sie sich beim Trinken des Punsches nicht mit den Ellbogen versehentlich anstießen, aber nah genug, dass sich ihre Beine von den Oberschenkeln bis zu den Knien beinahe unscheinbar aneinander drückten. Der Punsch allein war schon lange nicht mehr für die Wärme in ihrer Magengrube verantwortlich.
      Tessa hörte zu. Sie beobachtete die Menschen, die kamen und gingen. Manche setzten sich zu ihnen, andere schienen den Platz um das Feuer zu meiden. Der Grund verstand Tessa nicht, aber sie wusste, dass in einer großen Familie, denn das schien dieser Zirkus zu sein, sich nicht immer alle vertrugen. Die muntere Runde um das Lagerfeuer nahm Tessa mit offenen Armen auf, zumindest die Mehrzahl. Liam schenkte ihr keine Beachtung, worüber sie auch nicht wirklich böse war. Malia wirkte auf sie selbst im Verlauf der Stunden genauso einschüchternd wie zuvor.
      Kurz sah sie zu Chester, der zum wiederholten Mal den Blick suchend durch das Zelt wandern ließ als wartete er auf jemanden.
      In diesem Moment bat Yasmin um ihre Geschichte und Tessa...zögerte.
      "Ja, ich...lebe in der Stadt", antwortete sie. Sie drehte den Becher zwischen ihren Fingern.
      Anscheinend ahnte doch nicht jeder, dass sie die Diebin war, die für Trubel gesorgt hatte. Sie kaute unsicher auf ihrer Unterlippe. Wie sollte sie darauf antworten?
      Hallo, meine Name ist Tessa und ich bin eine ziemlich talentierte, obdachlose Taschendiebin. Ach, übrigens, es tut mir furchtbar leid, dass ich vor ein paar Tagen ein ziemliches Chaos hier angerichtet und vermutlich das oder andere bei meiner Flucht kaputt gemacht habe. Und meine Eltern sind verurteilte Trickbetrüger und sitzen im Gefängnis.
      "Also, ich...", murmelte Tessa und kniff kurz die Augen zusammen.
      Augen zu und durch, dachte sie.
      "Da gibt es nicht viel zu erzählen. Meine Eltern habe ich nicht mehr gesehen seit ich 17 war. Sie sind...waren Straßenkünstler und Trickbetrüger oder wären es immer noch, wenn sie auf freiem Fuß wären. Ich schlag mich seit 7 Jahren alleine durch. Es ist nichts besonderes, ich versuche nur irgendwie zurecht zukommen. Ich hatte bisher ein großes Talent dafür der Miliz zu entwischen...und eurem Sicherheitspersonal...naja, bis sie mich dann doch erwischt haben mit den Taschen voller Geldbörsen."
      Tessa lachte verhalten.
      Sie sah zu dem Mann, der sie festgehalten hatte an jenem Abend.
      "Tut mir leid wegen des Schienbeins..."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Die Runde war allseitig fröhlich, selbst mit Tessa zwischendrin, die sich zwar noch nicht ganz an die Masse gewöhnt zu haben schien, aber doch zumindest mit offenem Gesicht lauschte. Zwar ertappte Chester sie dabei, wie sie wieder ein wenig in sich zusammensank und mit einem abwesenden Ausdruck ins Feuer starrte, aber als sich ihre Blicke begegneten, lächelte sie schon gleich wieder. Das stimmte ihn wieder zufrieden. Allem Anschein nach übte die Runde schon ihren ersten Einfluss auf die zurückgezogene Tessa aus.
      Es schien auch recht gut zu laufen, zumindest bis zu dem Augenblick, in dem die fast unausweichliche Frage nach Tessas Leben kam. Dabei nahm es Chester auf die eigene Kappe, dass er niemandem hier wesentlich mehr von ihr erzählt hatte, außer der Tatsache, dass sie die entflohene Diebin vor einer Woche war. Aber deshalb konnte Yasmin es auch gar nicht wissen, dass sie hier ein Thema anschlug, das man lieber hätte vermeiden sollen.
      Die Auswirkung war aber schon gleich sichtbar: Die etwas aus ihrer Schale hervor gekommene Tessa war schon drauf und dran, sich wieder dorthin zu verkriechen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum und versuchte sich kleinzumachen.
      “Also, ich…”, kam der unsichere Anfang und Chester konnte dem einfach nicht tatenlos zusehen. Er legte die Hand auf ihr Knie, auf sittliche Weise, und tätschelte sie beruhigend. Ob es half oder nicht konnte er nicht recht sagen, aber zumindest offenbarte sie dann etwas von dem, was sie auch ihm schon erzählt hatte. Dabei erntete sie mitfühlende Blicke; wie denn auch nicht. In dieser Runde saßen beinahe ausschließlich Leute, die Chester aus irgendeiner Lebenslage befreit hatte.
      “Das ist ja furchtbar”, sagte auch Yasmin ganz ergriffen, beugte sich nach vorne und tätschelte Tessas anderes Knie. Auf der anderen Seite des Feuers winkte der Wachmann ab, den sie angesprochen hatte.
      “Den Fleck hab’ ich immernoch, aber das passiert. Ich kann von Glück sagen, dass du nicht höher gezielt hast bei der Kraft.”
      Ein paar lachten und schon war es vergeben und vergessen. Yasmin behielt ihre Hand für weitere Augenblicke auf Tessas Knie.
      “Ich bin mir sicher du wirst… ich meine, es gibt sicher eine Perspektive für dich. Da bin ich sogar ganz, ganz davon überzeugt.”
      Sie lächelte und zog sich wieder zurück, nur Chester verharrte.
      Du bist noch jung genug, dass sich das weiter zum Besten wenden kann”, pflichtete er fröhlich bei. Natürlich war Tessa dabei die einzige, die die Bedeutung hinter den Worten nicht verstand.
      “Du musst aber auch noch eine Geschichte erzählen, Chester”, kam es von Yasmin, die wohl selbst gemerkt hatte, dass man lieber nicht weiter auf dem Thema herumreiten sollte.
      Ich kann ja wohl kaum erzählen, wo ich hergekommen bin.
      Wusste er immerhin nichtmal ansatzweise.
      “Nein, aber was anderes. Erzähl uns eine andere Geschichte.”
      Irgendeine andere Geschichte?
      Schließlich gab es da eine Unmenge an Geschichten aus seinem Leben und eine Unmenge an fiktiven Geschichten, die Chester zu erzählen hätte.
      “Irgendeine, nun zier dich nicht so.”
      Irgendeine Geschichte, nagut. Lasst mich überlegen.
      Er setzte sich ein wenig aufrechter hin und nahm schließlich auch wieder die Hand von Tessas Knie, um zu überlegen. Eine Geschichte, die er erzählen könnte. Eine Geschichte…
      Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er anfing zu erzählen.
      Also schön. Es war einmal, vor einer sehr, sehr, sehr…
      Frederic verdrehte schon die Augen, Yasmin kicherte.
      ... sehr langen Zeit ein Zirkus”, seine Stimme wurde dunkel und geheimnisvoll, während er sich ein wenig nach vorne beugte, “der als der Zirkus der Unsterblichen bekannt war.
      Allgemeines Gestöhne entbrandete. Malia fasste sich an die Stirn, der Wachmann, dem Tessa ins Schienbein getreten hatte, brummte ein “Wie originell” und Yasmin sah, noch immer kichernd, Tessa an. Chester ließ sich davon nicht aufhalten, immerhin konnte er ja nichts dafür, wenn alle anderen die Geschichte schon zu ahnen glaubten. Alle anderen außer Tessa natürlich.
      Ein Zirkus”, er hob die Stimme ein wenig über das Gemurmel, “der niemals seine Türen schloss.
      Verschwörerische Kunstpause.
      Der niemals seine Aufführung beendete und dessen Darsteller niemals alt wurden.
      Er grinste, weil er sich das einfach nicht verkneifen konnte. Manche waren an diesem Teil schon gelangweilt, aber das war auch keine Geschichte für die Allgemeinheit. Das hier konnte nur zu Tessas Vergnügen erzählt werden.
      So wie unser Zirkus als der einzigartige und grandiose Zirkus Magica bekannt ist, war auch dieser Zirkus in jedermanns Munde, der Zirkus Immorta, in dem noch nicht einmal die Freude alt wird. Denn in den Zirkus Immorta konnte man jeden Tag gehen und sich jeden Tag die Aufführung ansehen und es würde niemals alt werden, jedes Mal würde man etwas neues erleben, etwas neues sehen und all die Darsteller würden einen auf eine neue Art verzaubern. Denn sie waren schließlich unsterblich und damit kam auch Perfektion und höchstes Verständnis für die Künste einher.
      “Angeber”, raunte Malia zu Yasmin, die daraufhin ein wenig mehr kicherte. Womöglich hatte sie schon etwas zu viel Punsch gehabt.
      Groß und Klein konnten sie damit verzaubern und wenn die Kleinen irgendwann groß wurden, dann waren auch sie immernoch von der unsterblichen Show angetan, die niemals ihren Zauber verlieren würde. Denn alles war unsterblich, selbst der Zauber.
      Doch eines Tages, auf dem langen, endlosen, unsterblichen Weg des Zirkusses, begegneten die unsterblichen Darsteller einer sterblichen Frau, die gekommen war, um ihre Show anzusehen. Dabei war nichts besonderes an der Frau, denn sie lachte über die Späße, wie auch andere lachten, sie bestaunte die Wunder, wie auch andere staunten und sie war entzückt von den Überraschungen, wie auch andere entzückt waren. Aber etwas an dieser einen Frau, an diesem einen sterblichen Leben unter endlos anderen Leben, erhaschte die Aufmerksamkeit der Darsteller und sie fingen an, heftig miteinander zu diskutieren.
      Chester hob einen Finger in die Luft.
      Denn schließlich konnte das Leben in der Unsterblichkeit langweilig werden, wenn immer das gleiche und das gleiche und nur das gleiche geschah. Da war Abwechslung wichtig für jene, die mit der Monotonie des Lebens zu kämpfen hatten. Also versammelten sich die Darsteller, um darüber zu diskutieren, wer die Frau als sein nehmen konnte.
      Der Kraftakrobat war der erste, der sich meldete. Er trat auf mit seinem breiten Körper und seinen wuchtigen Armen und verschaffte sich den nötigen Platz, um seine Argumente zu bringen.
      Chester plusterte sich selbst auf und versuchte, einen muskelbepackten, hochgewachsenen Kerl darzustellen. Dabei war sein eigener Körper eher schlanker Natur und seine Muskeln weicher, dafür besser definiert. Es endete eher darin, dass er die Geschichte damit etwas ins Lächerliche zog. Yasmin war eine der paar, die herzlich kicherten.
      ‘Die Frau ist mein!’, sagte der Kraftakrobat und ließ seine auffälligen Muskeln spielen. ‘Sie wird in mir Sicherheit und Geborgenheit sehen, alles, was sie in ihrem Leben braucht.’ Aber natürlich war er nicht der einzige und schon kurz darauf kam der Flötist aus der Menge hervor, ein eher graziöser als starker Mann. Mit seiner Flöte bewaffnet stellte er sich auf.
      Chester wechselte die Pose von furchteinflößend und groß zu anmutig und grazil.
      ‘Die Frau ist mein’, sagte auch der Flötist und ließ seine wunderbaren Klänge ertönen. ‘Sie wird in mir Frohmut und Glück sehen, alles, was sie in ihrem Leben braucht.’ Da kam auch ein dritter hervor, ein Feuerspucker, der nicht nur wunderschön, sondern auch heiß war.
      Wieder Augenrollen von den Umsitzenden, manche lachten trotzdem. Chester wechselte wieder die Pose.
      ‘Die Frau ist mein’, sagte der Feuerspucker und präsentierte sein charmantes Äußeres. ‘Sie wird in mir Liebe und Verlangen sehen, alles, was sie in ihrem Leben braucht.’ Und wie es so vorhersehbar war, konnten sich die drei nicht einigen, denn wenn der eine sagte, dass er recht habe, behauptete der andere, ebenso recht zu haben. Also stritten sie sich und stritten, aufdass sie herausfinden mögen, wer denn nun das Recht hatte, die Frau als sein zu betrachten.
      Derweil hatte ein Tierpfleger das Geschehen beobachtet und sich dazu entschlossen, die Frau direkt aufzusuchen. Er schlich sich also an der Gruppe vorbei, darauf bedacht, auch bloß kein Geräusch zu machen”, Chester ahmte das Vorhaben in vorsichtigen Bewegungen nach, “und suchte die Frau auf. Ihre Hand ergriff er und ging vor ihr auf die Knie.
      ‘Holdes Weib, so hört mich an. Man will um Eure Hand anhalten, doch ich warne Euch: Was immer man Euch erzählen mag, Ihr werdet hier keine Sicherheit und keine Geborgenheit finden, kein Frohmut und kein Glück, keine Liebe und kein Verlangen. Was immer man Euch erzählen mag, es wird eine Lüge sein, dazu gestrickt, Euch zu verführen. Was immer Ihr sucht, Ihr werdet es nicht im Zirkus finden.’
      Jetzt lachte keiner mehr, nicht einmal Yasmin. Alle starrten Chester an, der beschwörerisch weiter erzählte.
      Die Frau war ganz perplex auf diese Warnung, denn sie sah all die Späße und Wunder und Überraschungen, die der Zirkus zu bieten hatte, und fragte sich, wo denn nur das Problem dahinter sein könnte. Sie verstand nicht, was er meinte, und so hörte sie nicht auf seine Warnung und blieb. Da kamen schon bald die drei Darsteller, stellten sich vor ihr auf, stellten sich selbst vor und verlangten von ihr, dass die Frau einen von ihnen wählen möge. Da sagte die Frau: ‘Man hat mir gesagt, ihr würdet mir Lügen erzählen, um mich zum Bleiben zu verführen. So sagt mir die Wahrheit, die reine Wahrheit, und ich werde meine Entscheidung treffen.’
      Die drei Darsteller dachten einen Moment darüber nach, dann gab der Muskelakrobat als erstes nach. ‘Ich biete keine Sicherheit und Geborgenheit. Aber ich suche sie, denn ich fühle mich einsam und verlassen in diesem Zirkus, der immer währt.’
      Und bald darauf knickte auch der Flötist ein. ‘Ich biete kein Frohmut und Glück. Aber ich suche es, denn bei unendlich vielen Lebensjahren habe ich vergessen, wie es sich anfühlt.’
      Und auch der Feuerspucker gab nach. ‘Ich biete keine Liebe und Verlangen. Aber ich suche es, denn in all den Jahren fühlt sich nichts mehr echt an.’
      Da ging die Frau zu den dreien hin und nahm nacheinander ihre Hände. ‘Ihr habt gelogen, aber ich will es euch verzeihen. Ihr habt mich zu verführen versucht, aber ich will es euch verzeihen. Was ich euch nicht verzeihen will, ist, dass ihr mich nicht danach gefragt habt, wonach ich überhaupt suche. Denn ich suche nicht nach Sicherheit oder Geborgenheit, nach Frohmut oder Glück, nach Liebe oder Verlangen. Ich suche nach dem Leben.’
      Da waren die drei Darsteller überrascht, denn von dem Leben, davon hatten sie sicherlich genug. ‘Nach dem Leben suchst du?’, fragten die drei und die Frau nickte. ‘Aber das Leben wirst du hier nicht finden können, denn wir alle drei leben für immer, aber du, du wirst eines Tages sterben.’
      ‘Wenn ihr mich lasst, so kann ich es bei euch finden. Denn das Leben ist nicht wo ich bin, sondern was ich daraus mache’, sagte die Frau. Und daraufhin blieb sie im Zirkus Immorta bis zu dem Tag, an dem sie verstarb.
      Chester verstummte und am Feuer herrschte totenstille. Allesamt starrten sie den Zirkusdirektor an und der wandte den Kopf, sah Tessa in die Augen und lächelte dann sein freundliches, genügsames Lächeln.
    • Tessa fühlte, dass die Stimmung am Feuer sich veränderte. Das Gefühl von etwas Ungesagtem, das zwischen den Worten schwebte, verfestigte sich im Verlauf des Abends. Die tröstlichen, aufmunternden Worte nahm Tess mit einem Lächeln entgegen obwohl Yasmin ihr eine verständnisvollen Blick schenkte, den sie nicht gänzlich zu deuten vermochte. Ein erwartungsvoller Ausdruck schimmerte in den Augen der Akrobatin, als wartete sie auf etwas. Herzliches Gelächter und Scherze lockte Tessas Aufmerksamkeit fort von den tanzenden Schatten, die von zuckenden Flammen an die Zeltwände geworfen wurden. Verzerrte Abbilder der Menschen, die gesellig um das Feuer saßen, und im Augenwinkel über der Szenerie thronten und sie belauerten. Tessa spürte einen kühlen Schauer, der über ihren Rücken kroch und schob das eigenartige Gefühl auf die Zugluft, als die Plane am Zelteingang in einer Windböe leicht flatterte. Erst das genervte Stöhnen aller am Feuer holte sie endgültig aus den Gedanken zurück und sie vergaß, was ihr zuvor Sorgen bereitet hatte. Eine Stimme im Hinterkopf erinnerte Tessa mit leisem Geflüster daran, dass Chester ein talentierter Zauberer war. Tessa stimmte in das belustigte Kichern von Yasmin mit ein, während Malia und Liam weniger amüsiert aussahen. Der Rest schien sich seinem Schicksal zu ergeben, denn offenbar hatten sie die Geschichte schon mehr als einmal gehört.
      Neugierig und mit funkelnden Augen lehnte Tessa sich leicht vor, stützte das Kinn die Handfläche und versuchte kein Wort der Geschichte zu verpassen. Das Flüstern in ihren Gedanken war beinahe vollständig verstummt.
      "Angeber...", hörte sie Malia über das Feuer hinweg und zog fragend die Augenbrauen zusammen, ehe die volltönige und lockende Stimme des Mannes neben Tessa sich weiter anhob.
      Chester war ein Zaubrer und ein hervorragender Zaubrer lenkte die Aufmerksamkeit seines willigen Publikum immer genau dorthin, wo er sie haben wollte. Weg von den wichtigen Dingen, die sich unbemerkt vom Zuschauer im Hintergrund abspielten und den Trick erst möglich machten. Ein Zaubrer täuschte, verführte und verzückte seine Publikum mit der spielerischen Leichtigkeit eines professionellen Lügners.
      Die befremdliche Warnung in ihrem Kopf verblasste.
      Tessa verlor sich in der bezaubernden Geschichte, die ebenso Märchenhaft klang wie die Liebesgeschichte seiner Mutter.
      Wer liebte nicht eine gute Geschichte über Liebe, Verrat und Vergebung? Obwohl die Diebin an Chesters Lippen hing, fühlte sie, wie sich die Atmosphäre ein weiteres Mal wandelte. Das Kichern und Gemurmel verstummte je mehr Chester sich dem Ende seiner Geschichte näherte.
      Niemand applaudierte am Ende.
      Niemand neckte Chester mit der Geschichte.
      Niemand sprach überhaupt ein Wort.
      Tessa senkte die Hand und ließ den Blick über die Runde schweifen. Die Stille zog sich, doch als sie zu Chester aufsah, entdeckte sie das vertraute Lächeln, dass niemals sein Gesicht verließ. Wenn sie recht darüber nachdachte, hatte sie ihn niemals wütend oder unbeherrschte gesehen. Er war immer freundlich und zuvorkommend, verständnisvoll und nachsichtig.
      "Niemand ist ohne Hintergedanken so freundlich..."
      Ein entferntes Echo von Jakes Stimme hallte durch ihre Gedanken.
      Tessa runzelte die Stirn und stellte dann völlig unvermittelt eine Frage, die die Stille brach.
      "Was ist mit dem Tierpfleger?", fragte sie. "Er war der Einzige, der genug Mitgefühl besaß um der armen Frau die Wahrheit zu sagen. Die anderen Drei wollten die Frau aus Egoismus um ihr eigenes Leid zu lindern. Das ist keine Liebe. Die Frau vergibt den Lügnern am Ende, das muss sie, in der Geschichte geht es schließlich um Vergebung. Aber was ist mit dem Tierpfleger? Er scheint mir der Einzige zu sein, dem sie genug bedeutet hat, dass er wissentlich das Risiko in Kauf nahm, dass sie geht. Zu ihm geht sie nicht."
      Tessa legte den Kopf schief.
      "Ziemlich unfair, oder nicht?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Die Geschichte war nicht gänzlich unbekannt; Chester bediente sich oft seines Alias als ganzer Zirkus aus Unsterblichen, in dem er, je nach Belieben, eine oder gar mehrere Figuren verkörperte. Das war nichts neues, auch nicht, dass er unverblümt seine eigene Gefühlslage mit einspielen ließ, da er sonst kaum die Gelegenheit hatte, die Realität der Unsterblichkeit darzustellen. Aber es kam selten vor, dass er damit ein Schicksal vorher bestimmte, das so noch gar nicht eingetroffen war. Sämtlichen Anwesenden am Feuer hatte er gerade vor Augen geführt, dass er Tessas Schicksal haargenau vor Augen hatte. Und sämtlichen Anwesenden wurde dadurch bewusst, dass es keinerlei Auswege dafür gab.
      Glaubte Chester an das Schicksal?
      Überraschenderweise war es die einzige in dieser Runde, die die wahre Bedeutung dieser Geschichte nicht verstehen konnte, welche als erste sprach. Chester war dabei ganz entzückt davon, wie schnell die raffinierte Tessa hinter die Kulissen dieser Geschichte schauen konnte. In Gedanken lobte er sie dafür, während er sich zurück auf seine Arme lehnte.
      Das ist eine wirklich gute Frage. Was ist mit dem Tierpfleger? Er ist der einzige, der nicht aus Eigennutzen handelt, nicht wahr?
      Zufrieden lächelte er sie an, warf dann aber auch noch einen Blick in den Rest der Runde.
      "Ihn zieht sie gar nicht in Betracht, oder? Aber er genauso wenig. Er hätte zu ihr sagen können 'Was immer Ihr sucht, Ihr werdet es nicht im Zirkus finden. Lasst uns gemeinsam von hier fortgehen und unser wahres Ziel woanders finden'. Oder er hätte sie auch zum Bleiben einladen, aber vorschlagen können, dass sie bei ihm bleibt, anstatt bei den Darstellern. Woran mag das liegen?"
      Er sah wieder zu Tessa zurück, die diese Frage gar nicht beantworten konnte mit dem Wissen, das ihr fehlte, aber dafür kam ihr auch Malia zuvor. Die Frau war die ganze Zeit schon still gewesen, einen permanenten, finsteren Ausdruck im Gesicht, aber jetzt sprach sie recht zuversichtlich in die Stille.
      "Es ist kein Mitgefühl, wegen dem er die Frau aufsucht. Er will einen Zyklus durchbrechen, denn ganz sicher gab es vor der Frau schon andere, die in diese Falle gelaufen sind. Das will er nicht mehr mit ansehen. Er will sie davor bewahren, was mit ihr geschieht, wenn sie bei den Darstellern bleibt."
      Chester sah zu Malia hinüber, die jetzt endlich, nach Tagen der Missmutigkeit, klargestellt hatte, weshalb sie so eine miese Laune hatte. Natürlich, es hatte alles angefangen, als sie gesehen hatte, wie er wieder seine Geschenke verteilte. Dabei war sie vor zwei Jahren nicht so mitgenommen davon gewesen, aber die Zeiten ändern sich. Menschen konnten sich in einem Zirkus, der immer weilte, auch noch ändern.
      Malia starrte ihn eindringlich an. In ihren Augen sah Chester eine Unterhaltung, die er auch nicht zum ersten Mal, wenngleich nicht mit ihr, geführt hatte.
      Durchbrich den Zyklus.
      Oh, Malia. Seine missverstandene Malia. Für sie alleine spielte er ein mitleidsvolles Lächeln auf, das er aber mit keinen Worten unterstrich. Stattdessen war das einzige Geräusch, das in dieser Pause entstand, das leise, beständige Ticken seiner Uhr.
      Kurz darauf sah er wieder zu Tessa zurück.
      "Malia hat vollkommen recht, es ist gar kein Mitgefühl. Deshalb möchte er die Frau auch nicht selbst in Anspruch nehmen. Aber die Frau könnte ihn doch trotzdem wählen, nicht wahr? Sie tut es nur nicht - weil sie unfair ist? Glaubst du das?"
      Er lehnte sich ein bisschen zu Tessa, ganz verschwörerisch.
      "Ich glaube ja - und das ist sehr weit herbeigeholt, ich weiß - dass die Frau letztendlich gar keine Wahl hatte. Ihr wird eine Wahl angeboten, ja, aber nicht, ob sie im Zirkus bleiben oder wieder gehen will, sondern welchen der drei Darsteller sie wählt. Dabei macht sie doch klar, dass sie nichts von dem sucht, was ihr vermeintlich angeboten wird, sondern etwas ganz anderes."
      Er ließ diesen Gedanken auf Tessa wirken, aber auch nur, damit er sehen konnte, wie es hinter ihrer Stirn ratterte. Kluge, scharfsinnige Tessa. Sie hätte mittlerweile schon alles begriffen, wenn ihr nicht die wesentlichen Puzzlesteine fehlen würden, um das Bild zusammenzusetzen.
      "Was denkst du von den drei Darstellern? Sind es böse Menschen, weil sie die Frau für ihre eigene Zwecke ausnutzen?"
    • Mit erschreckender Präzision zerlegte Chester in seiner Einzelteile. Tessa sah das Konstrukt bröckeln, denn hinter der Sentimentalität, die sie der Geschichte beigemessen hatte, verbarg sich eine gänzlich andere Wahrheit. Mit jeder Silbe schien Tessa sich ein wenig mehr aufzurichten. Die entspannte Haltung wich und auf ihrem Gesicht zeigte sich eine ungewohnte Konzentration, als versuchte sie hinter den Worten etwas zu finden. Die Zahnrädchen hinter ihrer Stirn ratterten unaufhörlich. Eine passende Antwort auf die Frage, blieb im Verborgenen. Tessa zog die Nase in einem liebenswerten Ausdruck milder Frustration kraus.
      Es war Malia, die hübsche Akrobatin mit der kühlen und erhabenen Ausstrahlung, die Tessa aus der Grübelei erlöste. Die Diebin wandte den Kopf herum und lauschte der Antwort. Nachdenklich presste sie die Lippen zusammen. Zwischen Chester und Malia fand ein Gespräch statt, das keiner Worte bedurfte. Oder, das nicht für fremde Ohren bestimmt war. Tessas Ohren. In einem Anflug von irrationaler Eifersucht, denn immerhin gehörte Chester ihr nicht, wandte sie den Blick ab und beäugte die Schatten an den Zeltwänden. Die schattenartigen Silhouetten schwiegen und lieferten keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, die sich in ihrem Kopf zusammenbraute.
      Chester erhob die Stimme erneut und Tessa drehte den Oberkörper träge in seine Richtung. Die Leichtigkeit eines eigentlich geselligen Abend verpuffte, daran ändern auch ein charmantes Lächeln nichts. Das Gefühl, die einzige am Feuer zu sein, die nicht den blassesten Schimmer hatte, verfestigte sich. Als Chester sich verschwörerisch zur ihr herüber lehnte, rührte sich Tessa keinen Zentimeter. Noch immer lag die Nasenwurzel zwischen ihren Augen in tiefen, grüblerischen Falten. Sie spürte die Blicke im Rücken und bildete sich ein, dass die Menschen im Zelt die Luft anhielten. Selbst die, die sich nicht ans Feuer gesellt hatten, aber trotzdem der Geschichte gelauscht hatte.
      "Du sagst also, sie haben die Frau hereingelegt, in dem sie ihr eine Wahl gelassen haben, die ganz allein zum Vorteil der drei Darsteller war. Egal, wie sie sich entschieden hätte, sie wäre am Ende geblieben. Es war ein Trick", murmelte Tessa.
      Sie tippte sich mit dem Zeigefinger gedankenverloren gegen die Unterlippe.
      Über seine letzte Frage dachte Tessa lange nach, während das Ticken der Taschenuhr einen monotonen Rhythmus zu ihren Gedanken lieferte. Ein sich stetig, wiederholendes Geräusch, das mit den verstreichenden Augenblicken immer lauter in ihren Ohren klang.
      "Böse? Vielleicht könnte ich den Darstellern Egoismus vorwerfen, aber das wäre eine zu einfache Lösung. Das Leben ist nicht einfach und, rein theoretisch, die Ewigkeit erst recht nicht. Eine Ewigkeit unter denselben Menschen, in einem sich immer wiederholenden..." - Wie hatte Malia es genannt? - "...Zyklus. Die Männer sind...leer. Sie sind hohl. Obwohl sie atmen, essen, schlafen, gehen, lachen..."
      Tessa faltete die Hände in ihrem Schoß.
      "...sind sie innerlich leer. Sie suchen nach jemandem, der diese Leere für sie füllt. Jemand, der sie erinnert. Irgendjemandem. Aber anstatt diesem Schicksal zu trotzen und den Kreis zu durchbrechen, suchen sie nach einem Funken. Sie können nicht loslassen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Wenn Chester seine neue Freundin besser gekannt hätte, hätte er sicher in Tessas Gesicht ablesen können, was in ihren Gedanken vorging. Die junge Frau hatte noch nicht gelernt eine Maske aufzuziehen, oder sie hielt es schlicht in seiner Gegenwart für nicht nötig, beides Gründe, die nur zum Vorteil waren. Würde sich das irgendwann ändern? Würde sie irgendwann nicht mehr die Nase so kraus ziehen, wenn sie in seiner Gegenwart angestrengt nachdachte, und würde sie nicht mehr so voller Vertrauen zu ihm aufsehen, wie sie es jetzt tat?
      Daran mochte Chester gar nicht denken. Der Tag würde kommen und deshalb wollte er nicht schon früher darunter leiden müssen.
      Um sie herum schwankte die Aufmerksamkeit zu Tessa hinüber, da es immerhin gerade mal alle zwei Jahre vorkam, jemand neues in dieser Runde einzuführen. Natürlich waren sie alle neugierig, wer die potentiell neue Angestellte sein mochte und wie groß ihr Zusammenbruch sein würde, wenn sie die Wahrheit erführe. In den letzten Jahren hatte Chester stets größere Katastrophen abwenden können, aber Toby war der lebende Beweis dafür, dass es trotzdem nicht immer gut gehen mochte.
      Jetzt gerade warteten sie alle mit höchster Anspannung ab, ob Tessa hinter den Vorhang blicken würde.
      "Es war ein Trick", bestätigte Chester geduldig. Seine Augen folgten dem Finger, der sich auf Tessas Unterlippe legte, ganz ohne ihr zutun. Nein, die liebe Tessa hatte wahrhaftig noch nicht gelernt, eine Maske aufzusetzen.
      Er war ehrlich interessiert an ihrer Antwort. Sie würde ihm einen Einblick darin liefern, wie Tessa nach seiner Enthüllung mit ihm umspringen würde. Dabei war es, wie sie selbst schon sagte, niemals einfach und schwierig zu bestimmen, selbst mit der kleinen Offenbarung, die er hier erhalten würde. Es gab so viele Antworten auf seine Frage und noch viel mehr, wenn man selbst in die Situation käme, aber es war ein Ansatzpunkt. Zu wissen, dass Tessa die Darsteller für abgrundtief böse, verlogen, hinterhältig, selbstsüchtig hielt oder aber für verloren, verwirrt, menschenfremd, war doch ein deutlich gegensätzliches Bild ihrer selbst.
      Er erfuhr aber von ihr, dass sie die Männer für innerlich leer hielt, dass sie zwar lebten, aber nichts dahinter steckte. Dass die Ewigkeit ihnen etwas genommen hatte, das sie nun durch die Frau zu füllen versuchten.
      Nun war Chester ein wahrer Meister in der Schauspielkunst, allein von ein paar Jahren zu viel, die er in dieser Branche verbrachte. Er konnte sich mit einem Ticken seiner Uhr davon abhalten zu zeigen, was in seinem Inneren vorging, der schwere Stein, der sich ihm mit einem Mal in den Bauch legte und seinen ganzen Körper hinab zog, die Trockenheit, die seine Kehle befiel und seinen Mund zum Schlucken brachte. Er konnte sich davon abhalten unwillkürlich zu nicken und zu sagen "Richtig, sie sind leer, vollkommen hohl, nichts ist mehr übrig, wenn die anderen sterben und sterben und sterben und es das einzige ist, was sie selbst nicht können". Er konnte sich sogar davon abhalten zu lachen; nicht etwa, weil er es lustig gefunden hätte, sondern weil Tessa so plötzlich, so unerwartet den richtigen Punkt getroffen hatte, dass er sich gar nicht gegen das Gefühl hätte vorbereiten können. Ja, Chester hatte sich wirklich perfekt unter Kontrolle.
      Nur die Augen konnte er nicht kontrollieren, das Aussterben des Lichts, das darin lag, und der Schleier, der sich über sie legte und eine Tiefe suggerierte, die eigentlich gar nicht existieren dürfte. Aber weil er sich auch dessen bewusst war, wandte er den Blick von Tessa ab und sah stattdessen die tanzenden Flammen an.
      "Das ist ein kluger Gedanke, sie können nicht loslassen. Sie sehen in der Frau sicherlich etwas, was sie unwiderbringlich verloren haben."
      Seine Stimme verklang in dem mittlerweile totenstillen Zelt. Was eigentlich ein geselliger, gemütlicher Abend gewesen wäre, wurde von der Schwere herabgezogen, die Chesters Leben ausmachte. Genauso viele, die fast schon wie gebannt Tessa anstarrten, sahen auch ganz weg.
      "Deswegen müssen sie aber nicht böse sein, oder? Vielleicht kennen sie es gar nicht anders, vielleicht sind sie schon viel zu lange im Zirkus, um die Sache anders anzugehen. Vielleicht haben sie auch selbst keine Wahl, vielleicht bietet ihnen die Frau einen Ausweg, den sie sonst nicht gehabt hätten. Das alles wäre viel zu kompliziert, um es in ein einfaches Wort wie "böse" zu verpacken, oder?"
      Wieder herrschte Stille. Das einzige Geräusch im ganzen Zelt war das Knistern des Feuers, begleitet von Chesters Tick... Tack... Tick... Tack...
      Bald darauf brummte Malia:
      "Scheiß Geschichte."
      Aus welchem Grund auch immer war das eine Rettung, die Chester mit vollstem Herzen ergriff. Daran konnte er sich hochziehen, konnte sich aus dem Tümpel befreien, der sich unter ihm aufgemacht hatte und konnte Malia mit einem ernst gemeinten, überzeugenden Lächeln betrachten.
      "So schlecht ist sie gar nicht. Ich glaube", er streckte die Beine aus und überkreuzte sie, "der Frau wird es im Zirkus gut gehen. Die Darsteller werden sich sicher alle darum kümmern, dass es ihr an nichts mangelt. Vielleicht gefällt ihr ja sogar das Leben im Zirkus, wer weiß."
      Er grinste und konnte sich dann doch nicht verkneifen, Tessa dabei anzusehen. Frederic kam ihm aber auch schon dabei zur Hilfe, die Stimmung wieder etwas aufzulockern.
      "Also ich würde bleiben, wenn mir sowas angeboten werden würde. Natürlich nur, wenn es drei sehr heiße Akrobatinnen wären."
      "Mit riesigen Brüsten", pflichtete ihm der Wachmann leicht fröhlich bei. "Das würde ich eintauschen. Brüste gegen Zirkus. Ja."
      "Außerdem", versuchte auch Yasmin etwas beizutragen, "macht ein Zirkus auch wirklich Spaß. Wenn du jemals das Angebot bekommst, in einem Zirkus zu arbeiten, Theresa, würde ich es an deiner Stelle tun. Du hast hier alles, was dein Herz jemals begehren könnte."
      "Nicht du auch noch", raunte Malia ihr zu, aber Yasmin zuckte nur mit den Schultern.
      "Ich sag die Wahrheit."
      So ging es wieder ein wenig nach oben mit den Gesprächen, aber Chester packte die Lust selbst nicht mehr und auch Tessa wirkte nicht so, als würde sie wieder die Unbefangenheit vom Anfang zurück bekommen. Daher linste er nach einer Weile auf seine Uhr.
      "Langsam wird es spät, ich denke, ich könnte wohl bald ins Bett gehen. Möchtest du mich zurück begleiten oder noch ein bisschen bleiben?"
    • Ehrliche Verwunderung spiegelte sich auf Tessas Gesicht. Der spitzbübische Ausdruck in den vertrauten Augen verblasste und hinterließ eine bisher unbekannte Schwere. Diesen Blick kannte sie von den alten, verhärmten Bettlern auf dem überfüllten Marktplatz der Stadt. Männer und Frauen, die beim schrecklichsten Wetter unter freiem Himmel saßen und das Leben betrauerten, das sie verloren hatten. Ein wehmütiger Schleier aus Erinnerung eines vergangenen Lebens, dass sie nie zurückbekommen würden. Die eigenartige Stimmung übertrug sich schleichend auf alle Anwesenden, die entweder den Blick bedrückt abwanden oder mit eigenartiger Faszination die Szenerie beobachteten, als warteten sie auf etwas. Tessa wurde mulmig zumute.
      Chester rechtfertigte sich ein wenig zu sehr für die erfundenen Figuren einer Lagerfeuergeschichte. Aus irgendeinem Grund schien es ihm unglaublich wichtig zu sein, dass Tessa die Männer auf keinen Fall für bösartig hielt. Sie hörte Zweifel in seiner Stimme heraus, die zuvor nicht dagewesen waren. Die Seite, die sie gerade zu Gesicht bekam, war neu. Etwas an ihrer Antwort rüttelte an dem Mann, der ein immerwährendes Lächeln auf den Lippen trug und tagein, tagaus eine beflügelnde Stimmung verbreitete. Zumindest in den Stunden, in denen Tessa ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie Chester sich präsentierte, wenn sie nicht hinsah. Es war der Diebin stets ein wenig seltsam vorgekommen, dass Chester niemals etwas andere zeigte als verspielte Freude und Leichtigkeit. Kein Mensch konnte rund um die Uhr fröhlich sein, aber sie hatte es nicht hinterfragt, weil sie sich in seiner Gegenwart besser fühlte. Glücklicher. Es war leicht gewesen, sich der Fürsorge und dem uneingeschränkten Verständnis hinzugeben. Den Trost hatte sie begierig aufgesogen wie ein Schwamm. Er hatte sie nicht verurteilt, lediglich milde getadelt, aber das stets mit einem Lächeln.
      Tessa fühlte, dass sie einen verbotenen Blick hinter einen Schleier warf. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, fühlte sich dieser schwermütige Ausdruck in seinen Augen das erste Mal wirklich echt an.
      Malia riss den Moment herum. Nach und nach folgten alle ihrem Beispiel und bis alle das bedrückende Ende des Gespräches scheinbar vergessen hatten. Nur Tessa nicht. Sie bekam das Bild seiner Augen, die verzweifelt eine Antwort bei ihr suchten, nicht aus dem Kopf.
      Irritiert sah sie Chester an.
      Die drei Männer hatten notgedrungen die Wahrheit offenbart, nachdem ihre Absichten nicht mehr im Schatten gelegen hatten. Hätte sie das auch getan, wenn der Tierpfleger nicht eingegriffen hätte? Was war ein behütetes Leben wert, wenn es auf einer Lüge fundierte? Wären sie der Frau, die ihr Herz einst entflammte, überdrüssig geworden, hätte sich die Herzensdame ebenso der Ewigkeit verschrieben? Nur damit sich der Kreislauf aufs Neue wiederholt?
      Es ist nur eine Geschichte, Tessa!
      Tessa bemühte sich um ein fröhliches Lächeln, als die Runde wieder munter drauflos plapperte.
      "..Du hast hier alles, was dein Herz jemals begehren könnte."
      Hier? Tessa stutzt kaum merklich.
      "Ich glaube für die große Manege fehlt es mir an Talent", lachte Tessa verhalten. "Es sei denn, Geldbörsen verschwinden zulassen ist ein anerkannter Zaubertrick."
      Für die nächsten Minuten verhielt sich Chester auffällig still.
      Sie glaubte nicht schon einmal gesehen zu haben, wie er so lange und gleichzeitig so unbewegt an einem Platz gesessen hatte. Eigentlich stand er niemals still. Bei seiner Frage wurden unauffällig die Ohren gespitzt. Tessa biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste welchen Eindruck es erweckte, wenn sie nun mit ihm ging. Andererseits hatte auch niemand in Frage gestellt, dass er sie mitgebracht hatte, als gehörte sie dazu. Tat er das oft mit anderen?
      Niemand ist ohne Hintergedanken so freundlich...
      Tessa schüttelte den Kopf um die Stimme in ihrem Kopf zum Schweigen zu bringen.
      Niemand der nur daran interessiert war, hätte nicht die ganze Nacht besorgt an ihrem Bett gesessen. Das war zu viel Aufwand.
      Sie bemerkte, dass Chester sie fragend ansah.
      Das Kopfschütteln war keine eindeutige Antwort auf seine Frage und die Pause zog sich in die Länge.
      "Ich begleite dich.", antwortete Tessa schließlich.
      Sie verabschiedete sich höflich und lächelnd von den allen Darstellern und Angestellten, ehe sie mit Chester in die kühle Nachtluft hinaustrat. Der beißende Wind fuhr durch die gefütterte Kleidung und sämtliche Lagen von Stoff. Es war still, bis auf das Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln.
      "Sie scheinen alle sehr nett zu sein.", murmelte Tessa.
      Als sie nicht sofort eine Reaktion darauf bekam, blieb sie stehen und berührte hauchzart seinen Ellbogen, ehe sie ihre behandschuhten Finger in den Mantel gruben. Verunsicherte kaute sie auf der Unterlippe. Sie hatte das starke Bedürfnis sich zu entschuldigen. Es hatte wieder angefangen zu schneien und die ersten Schneeflocken verfingen sich glitzernd in dem dunklen Haarschopf und den langen, geschwundenen Wimpern.
      "Es tut mir leid, wenn ich etwas Falsches oder Dummes gesagt habe."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Obwohl die Stimmung sich wieder aufgelockert hatte, beschloss Chester, dass der Zeitpunkt gekommen war zu gehen. Toby war nun definitiv nicht gekommen, was weder etwas Gutes, noch aber etwas Schlechtes bedeuten mochte, und außerdem hatte Chester sich mit seiner Geschichte ein bisschen zu sehr daran erinnert, dass diese entspannte Phase des Annäherns zu Tessa nicht auf ewig halten würde. Ein paar Tage noch, höchstens zwei Wochen, bis ihn die Uhr endgültig zu einer Entscheidung zwang, und er würde sie bei sich aufgenommen haben, was nichts anderes bedeutete, als dass er seinen Alltag wieder aufnehmen würde und sich derweil Sorgen darum machen durfte, wie es seinem neuen Schützling mit der Offenbarung ihres Schicksals gehen mochte. Das war keine schöne Zeit. Das Vergnügen einer neuen Bekanntschaft brachte immer einen schrecklichen Preis mit sich.
      Sie waren schon längst nach draußen gegangen, hatten die Wärme, das Licht und die Gemeinschaft hinter sich gelassen, als Tessa ihn am Arm aufhielt. Chester drehte sich zu ihr um und blickte in das vertrauensselige, offene Gesicht hinab, ein hübsches, wenn auch vom Schicksal gezeichnetes Gesicht, das jetzt von gesunden, dunklen Haarsträhnen eingerahmt war. Die hellen Schneeflocken, groß und dick, verfingen sich in dem langen Haar und erinnerten an eine Zeit, in der die Frauen noch glitzernden Haarschmuck getragen hatten, um auf sich aufmerksam zu machen. Die blassgrünen Augen schienen davon noch viel heller zu werden.
      Eine Welle der Schwermut ergriff ihn, als sie sich unverhofft wieder bei ihm entschuldigte. Er hatte ihr schon einmal gesagt, dass sie sich für nichts zu entschuldigen brauchte, genauso wie sie sich für nichts bedanken musste. Ich bin es, der sich bei dir entschuldigen muss. Aber erst zur rechten Zeit, erst wenn er den Schaden schon angerichtet hatte.
      "Du hast ganz sicher nichts falsches oder dummes gesagt", entgegnete er mit einer Weichheit in der Stimme, die ihn selbst erstaunte. Er würde doch nicht sentimental werden? Tessa war das wievielte Opfer einer langen Reihe an Verführungen? Es war doch alles nichts neues.
      Aber oh, wie sehr es ihm schmerzen würde, das Licht in diesen gutgläubigen Augen verlöschen zu sehen. Wie sehr er sich hinterher nach dieser Unschuld sehnen würde, die Tessa nie wieder hervorbringen würde. War die Frau, die in den Zirkus Immorta kam, glücklich? Das spielte keine Rolle, denn sie würde nie wieder dieselbe sein. Die Frau, die sich von all den Späßen verzaubern ließ, würde nie wieder existieren.
      Auf welche Weise soll ich dir dein Herz brechen, meine unschuldige Tessa?
      Vorsichtig, fast zögernd ergriff er ihre behandschuhte Hand.
      "Ich freue mich, dass du hier bist, Tessa. Hier, im Warmen, bei uns, anstatt dort draußen auf der Straße. Wie erschüttert ich war, als ich dachte, dir wäre etwas zugestoßen."
      Soll ich dich auf immer daran zweifeln lassen, was Liebe bedeutet? Oder was wahre Freundschaft ausmacht?
      "Aber es geht dir gut und ich könnte glücklicher nicht sein."
      Yasmin könnte dir eine gute Freundin sein. Vielleicht versiehst du dich in einen hübschen, jungen Mann. Aber du wüsstest, weshalb du hier bist. Du wüsstest, dass du den Fehler schon einmal begangen hast.
      "Stell dir vor", ein Lächeln huschte auf sein Gesicht, "du wärest die Frau meiner Geschichte. Stell es dir nur vor. Würdest du in meinem Zirkus bleiben, wenn ich dich nur fragen würde?"
    • Tessa fühlte, dass sich in den letzten Stunden etwas verändert hatte. Die Energie, die Chester gleißend und beinahe überwältigend umgab, verwandelte sich in ein verblasstes Echo. Zurückblieb eine Sanftheit, die Tessa erst in wenigen und ausgewählten Momenten zu Gesicht bekommen hatte. Hinter den blassblauen Augen offenbarte sich ein Funken von Zerbrechlichkeit, der ihr das Gefühl gab, etwas zu erblicken, das nicht für ihre Augen bestimmt war. Erwartungsvoll und gleichzeitig besorgt sah Tessa zu dem Mann auf, dessen Leichtigkeit und Freude ihre Welt auf den Kopf gestellt hatte. Unwillkürlich drückte sie sanft seinen Arm und atmete erleichtert aus, als er die beruhigenden Wort sprach. Der Ton war ein anderer, als zuvor, denn den Silben fehlte der vertraute Schalk. Chester zog sie nicht mit einem charmanten Lächeln und spitzbübischen Zwinkern auf. Die Worte besaßen mehr Gewicht und der Klang seiner Stimme war warm und weich.
      "Ich wusste nicht, dass du dir solche Sorgen gemacht hast", flüsterte sie verlegen.
      Fragend neigte Tessa den Kopf, denn kräftige und warme Finger schlossen um ihre Hand. Es war nichts Ungewöhnliches mehr, dass Chester mittlerweile wie selbstverständlich nach ihren Händen griff. Die Geste erfüllte Tessa jedes Mal aufs Neue mit einem flatternden Gefühl, aber dieses Mal war etwas anders. Die Berührung fühlte sich durch die Handschuhe unendlich leicht an und war begleitet durch eine zaghafte Vorsicht, die sie überraschte. Unwillkürlich hob Tessa ihre zweite Hand und legte sie über Chesters.
      Von den verschlungenen Händen huschte ihr Blick zurück in sein Gesicht, das ein wenig verschwommen wirken. Tessa blinzelte die geschmolzenen Schneeflocken aus ihren Wimpern.
      "Und ich bin froh, dass ich den Weg hierher gefunden habe", gestand Tessa mit einem Murmeln. "Ich bin traurig, wegen Rosie. Aber ich bin glücklich, hier zu sein. Seltsam, oder? Gleichzeitig traurig und glücklich zu sein."
      Die zarte Röte auf ihren Wangen, stammte nicht allein von den glitzernden Schneeflocken, die ihre Wangen im Vorbeifallen streiften.
      Gebannt beobachtete Tessa wie sich das Lächeln auf sein Gesicht schlich. Auch sein Lächeln hatte sich verändert. Es war sanft und sie erkannte kaum die sonst tiefen Lachfältchen um seine Augen. Chester sah betrübt aus.
      Ein zurückhaltendes Lächeln spiegelte sich auf dem Gesicht der Diebin, die ihn nun mit schief gelegtem Kopf ansah. Obwohl sie lächelte, kamen die Worte nur mühsam über ihre Lippen.
      "Ich bin es gewöhnt, dass Menschen mich anlügen, Chester. Das heißt nicht, dass es weniger weh tut. Ich bin es gewöhnt, dass Menschen mich übersehen. Auch das tut weh. Den meisten Menschen in meinem Leben, ging es nicht um mich sondern nur um das, was ich tun konnte..."
      Sein Zirkus? Ein Versprecher, vielleicht. Es war nur eine Geschichte. Dennoch schien sie ihn auf eine Art zu berühren, die Tessa nicht begriff. Sie seufzte und drückte seine Finger.
      "Ich möchte gesehen werden. Als der Mensch, der ich bin. Nicht als der Mensch, den andere aus mir machen wollen."
      Etwas blitzte in ihren Augen auf.
      Sie wusste, dass sie ihm die Antwort immer noch schuldig war.
      Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als sie mutig einen Schritt auf ihn zuging.
      "Stell dir vor, du wärst einer dieser Männer", stellte sie die Gegenfrage. "Welches Versprechen würdest du mir geben, damit ich bleibe?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Es hätte beinahe eine angenehme Idylle sein können, sie beide, inmitten eines dunklen, schlafenden Zirkusses, der langsam anwachsende Schnee, der wie ein Schleier sämtliche Geräusche unter sich verbarg. Niemand konnte sie stören in diesem Nichts aus Nacht und Schnee, sie waren wie unantastbar für den Moment. Und doch gab es dort ein einzelnes, beständiges Geräusch, ganz leicht und fein, fast schon so leise, dass man es hätte überhören können.
      Tick… Tack… Tick… Tack…
      Der einzige Beweis, dass sie doch nicht so unantastbar waren, wie sie vielleicht glauben mochten.
      Chester ließ den Blick nicht von Tessas Augen ab, nicht einmal dann, als sie ihre zweite Hand über seine legte. Wenn er sich konzentrierte, dann konnte er sich einbilden, dass das sanfte Grün ihrer Pupillen die einzige Farbe war, die er wahrnehmen konnte. Würde auch das sich ändern? Würden ihre Augen hinterher nicht mehr dieselben sein?
      Seltsam, ja. Aber besser, als nur traurig zu sein. Und besser, als nur glücklich zu sein.
      Eine feine Röte legte sich auf Tessas Gesicht, die die Farbe ihrer Augen nur noch weiter unterstrich. Der Ausdruck war Chester nicht gänzlich unbekannt, die Verlegenheit, die sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen versuchte. Sie blieb auch dann noch erhalten, als ihre Augen sichtbar über sein Gesicht glitten und zu seinen Lippen herab zuckten, wo sich ein Lächeln ausbreitete, das dann von ihr auf eigene Weise erwidert wurde. Sie spiegelte sich in ihrer Stimme wieder. So wenig Zeit hatten sie gemeinsam verbracht und doch schien es Chester, als könnte er sie schon lesen wie ein Buch.
      Doch ihre Antwort auf seine Frage, die kam von etwas tieferem, vielleicht von einem versteckten Charakterzug, der sich dort in Tessa verbergen mochte, begraben von Unsicherheit und Zweifel. Aber war es wirklich so versteckt? Tessa war eine Kämpfernatur, das mochte ihr nicht bewusst sein, aber Chester wusste es doch, konnte es darin sehen, wie determiniert sie gegen ihr Fieber angekämpft hatte und wie fröhlich sie werden konnte, wenn man sie nur ließ, trotz ihres nicht einfachen Schicksals. Da war es doch eigentlich nichts überraschendes, dass sie nicht angelogen werden wollte, oder? Dass sie als die Person gesehen werden wollte, die sie war?
      Aber, das war eigentlich gar keine Antwort auf seine Frage, oder? Sie zeigte ihm nur auf, was sie hören wollte, nicht, ob sie sich entschließen würde zu bleiben. Diese Sache ließ sie unangesprochen, selbst dann, als sie einen für die scheue Tessa wagemutigen Schritt auf ihn zu trat. In ihren Augen funkelte etwas, das Chester interessierte, nicht nur deshalb, weil er es zum ersten Mal zu Gesicht bekam.
      Aber dann stutzte er. Die Gegenfrage war, ehrlicherweise, unerwartet.
      Nur einer dieser Männer?
      Sein Lächeln verflüchtigte sich, um Platz für Ernsthaftigkeit zu machen. Welche Antwort sollte er darauf nur geben?
      Wenn ich einer dieser Männer wäre…
      Mittlerweile standen sie sich nahe genug, dass ihre Mäntel sich berührten.
      Wenn ich unsterblich wäre…
      Er drückte ihre Hände, beide. Welche Antwort?
      Wenn ich ewig leben würde, dann würde ich dich ansehen…
      Ihre blassgrünen Augen sahen vertrauensvoll zu ihm auf.
      ... und ich würde sehen, was du brauchst, was es wirklich ist, wonach du dich in deinem Leben sehnst.
      Liebe? Oder Freundschaft? Was soll ich dir zerstören, liebste Tessa?
      Ich würde dich nicht anlügen, aber ich würde dir auch nicht die ganze Wahrheit sagen. Ich würde dir soviel der Wahrheit sagen, wie du benötigst. Und diese Wahrheit sähe so aus, dass ich dir Sicherheit versprechen würde, einen Ort, an dem du ein angenehmes Leben führen kannst, ohne die Gefahren und Strapazen der Straße und mit Freunden, die sich um dich kümmern würden. Ich würde dir versprechen, dass du dir nie wieder Sorgen um morgen machen müsstest und dass du dir ein angenehmes, schönes Leben führen kannst. Das wäre nicht gelogen, nichts davon. Ich würde so offen und ehrlich zu dir sein, wie ich nur kann.
      Ein bisschen lächelte er doch wieder. Seine Stimme wurde wieder weich, fürsorglich.
      Ich würde dir sagen, dass ein Leben im Zirkus wunderschön sein kann und dass manche hier bis an ihr Lebensende glücklich bleiben. Ich würde dir versprechen, dass du genauso glücklich werden kannst und dass es dir an nichts mangeln würde. Ich würde dir eine Zukunft versprechen.
    • Die unschuldige Frage erhielt eine Antwort, deren Ernsthaftigkeit sie nicht erwartet hatte. Tessa beobachte, wie sich das warme Lächeln, dass ihr ein Gefühl von Geborgenheit schenkte, in eine gerade, ernste Linie verwandelte. Die Worte begleitete eine Tragweite, die Tessa schwerlich begreifen konnte und das Gefühl zurückließ, dass sie ein theoretisches Gedankenspiel längst verlassen hatten. Der sanfte Druck seiner Hände unterstrich seine Antwort, die ihr Herz mit einer zarten Wärme voller Zuneigung erfüllte. Die Fürsorglichkeit, die Chester ihr schenkte, als die Trauer Tessa überwältigt hatte, tauchte in ihren Erinnerungen auf ebenso wie die sanfte Beharrlichkeit, mit der er sie durch die fürchterlichen Bilder einer schrecklichen Nacht geführt hatte. Er hatte immer gewusst, was sie gebraucht hatte. Vielleicht sollte es ein furchteinflößender Gedanke sein, dass Chester sie scheinbar besser kannte, als sie sich selbst. Nie war sie einem Menschen begegnet, der dieses Bedürfnis von bedingungslosem Vertrauen in ihr weckte. Sie wollte nichts sehnlicher, als ihm zu glauben.
      Das Lächeln, das seinen Worten folgte, klein und beinahe zerbrechlich, weckte in Tessa den Wunsch, die Schwermütigkeit aus seinem Blick zu vertreiben. Seit dem Ende der Geschichte schimmerte der Ausdruck in seinen blassblauen Augen.
      Ganz leicht neigte Tessa den Kopf zur Seite. Das Lächeln auf ihren Lippen war ungebrochen, doch ließ sie die Worte auf sich wirken. Etwas in Chesters Stimme veränderte sich mit den letzten Silben und die vertraute Weichheit und Wärme kehrte zurück. Sie legten sich um Tessa, wie der Kokon aus unzähligen Wolldecken, in die Chester sie in der Nacht zuvor gewickelt hatte. Dieser Moment war eine andere Form von Kokon, die sie nicht verlassen wollte. Tessa fühlte sich dem Mann, der für sie ein Mysterium darstellte, näher als nie zuvor. Die Kälte und der frisch gefallene Schnee waren längst vergessen. Sie war Chester so unglaublich nah, dass seine Körperwärme angenehm durch die vielen Schichten von Kleidung drang. Es mochte Einbildung sein, aber solange Chester ihre Hände hielt, vermochte keine Winterkälte unter ihre Haut zu kriechen.
      Die Wortgewandtheit von Chester zählte nicht zu ihren Stärken, dennoch verstand sie, dass dieses Versprechen in all seiner Theorie, einen Haken hatte. Tessa legte den Kopf ein wenig zurück in den Nacken und ließ den Blick über die Gesichtszüge gleiten, die sich in ihr Gedächtnis gebrannt hatten. Die Erhabenheit seiner Wangenknochen, die sie heimlich und schließlich mutig mit den Fingerspitzen berührt hatte. Den Schwung seines Kiefers, dem sie gefolgt war. Das liebgewonnene Leuchten seiner Augen und den Lachfältchen in seinen Augenwinkeln. Die gerade Linie seiner Nase und das lockende Schmunzeln auf seinen Lippen.
      "...nichts davon. Ich würde so offen und ehrlich zu dir sein, wie ich nur kann.
      Tessa seufzte nachdenklich.
      "Du würdest mir all das geben. Mehr, als ich mir je erhofft habe und trotzdem blieben Dinge ungesagt. Am Ende hat jeder seine Geheimnisse?", murmelte sie.
      Nur Tessa hatte keine Geheimnisse. Sie war ein einfaches Mädchen von der Straße. An ihr war nichts besonders oder erwähnenswert. In der schillernden Welt des Zirkus verblasste sie in dumpfen Farbtönen.
      "...Ich würde dir eine Zukunft versprechen.
      "Warum?", entfloh Tessa das kleine Wörtchen.
      Unwillkürlich biss sich Tessa auf die Unterlippe, vergrub die Zähne darin, bevor ihr ein weiteres, unbedachten Wort aus dem Mund stolperte, das in ihren Ohren verzweifelt und viel zu bedürftig anmutete. Es war nur ein Gedankenspiel, eine Theorie.
      Nicht mehr.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Du würdest mir all das geben. Mehr, als ich mir je erhofft habe und trotzdem blieben Dinge ungesagt. Am Ende hat jeder seine Geheimnisse?”, kam der kleine, fast zurückhaltende Einwurf. Chester nahm seinen Blick nicht von Tessas Augen, von dieser klugen, klugen Frau, deren einziges Verbrechen es war, unerfahren genug zu sein, um nicht hinter seine Fassade blicken zu können. Er konnte sehen, wie es in ihr ratterte und brodelte, wie sie an seinen Lippen hing und gleichzeitig doch die Stirn runzelte, weil sie genau spürte, dass dort etwas zwischen den Zeilen lag, das dort nicht hingehörte. Aber sie würde nicht darauf kommen, es war ihr unmöglich, und so konnte Chester auch diesen Anblick genießen, ohne in die Sorge darüber zu verfallen, dass er allzu schnell vorbei sein könnte. Sie würde es nicht herausfinden, bis er es ihr sagte. Sie würde es nicht wissen, bis es zu spät war.
      Geheimnisse sind manchmal das, was den Menschen weiterbringt. Und manchmal sind sie das einzige, was ihm übrig bleibt”, entgegnete er sanft, fast schon so, als würde er große Geduld dabei aufbringen, Tessa etwas beibringen zu wollen, was sie gar nicht verstand. Ihre Hände fühlten sich klamm in seinen an, auch wenn er es sich durch die Handschuhe auch gut einbilden konnte. Mehr Schneeflocken ließen sich wie Schmuck in ihrem reinen, jugendlichen Haar nieder und brachten ihr Gesicht zum Leuchten.
      “Warum?”
      Das war eine kühne Frage, ja eine mutige noch dazu. Die junge Frau musste es selbst bemerkt haben, so schnell, wie sie ihre Unterlippe mit den Zähnen einfing und wie groß ihre Augen wurden. Dabei wandte sie sich doch nicht von ihm ab, dabei schien sie sich an seine Nähe zu klammern, auch wenn das Risiko bestand, dass sie ihr schmerzen würde.
      So eine kluge, mutige Tessa. Chester war so stolz auf sie und konnte es doch nicht zum Ausdruck bringen.
      Warum ich dir eine Zukunft versprechen würde?
      Ihre Augen huschten unmerklich zwischen seinen hin und her, kaum mehr als ein Zucken der Pupillen. Chesters warmes Lächeln breitete sich ein wenig mehr aus.
      Dafür gibt es so, so viele Gründe, mehr, als du dir vorstellen kannst. Weil das Leben zu kurz ist, um nicht die Freuden davon mit anderen zu teilen. Weil ich nicht mit ansehen kann, wie eine junge, hübsche Frau wie du auf der Straße verendet. Weil ich die Mittel, als auch die Kapazitäten habe, ein solches Versprechen zu machen.
      Er neigte den Kopf, legte ihn schief, ein bisschen so, als würde er sich für einen Kuss vorbereiten. Aufmerksam beobachtete er Tessas so ausdrucksstarkes Gesicht.
      Stelle lieber die Frage, warum ich es nicht versprechen sollte. Denn dafür gibt es nur einen einzigen Grund.
      Dass du bis an dein Lebensende an mich gebunden sein wirst.
      Und der wird von all den anderen, guten Gründen überschattet.
      Hoffentlich würde sie das hinterher auch noch denken, denn Chester mochte Tessa. Er wollte sich nicht vorstellen, dass sie sich durch ihr Schicksal miteinander verfeindeten und nie wieder ein solches Gespräch führen würden. Er liebte sie nicht, dafür war Chester nicht mehr in der Lage, aber vielleicht kam das, was er für sie empfand, dem noch am nächsten.
      Würdest du es akzeptieren? Mein Versprechen?
    • Tessa verzog den Mund zu einer dünnen Linie. Die Mundwinkel neigten sich enttäuscht nach unten. Vielleicht hatte sie gehofft, dass Chester die Feststellung abstritt. Am Ende des Tages gehörten seine Geheimnisse - und das war sein gutes Recht, das wusste Tessa - nur ihm allein. Seit der ersten Begegnung begnete er der Diebin mit Güte und einem unerschöpflichen Verständnis, wofür er nichts weiter verlangte, als ihre Gesellschaft und die kurze Geschichte ihres wenig eindrucksvollen Lebens. Sie nahm bereitwillig und gab so wenig wenig zurück. Letztendlich blieb ein Gedanke, um den sich Tessa immer und immer wieder drehte: Chester schuldete ihr nichts.
      Niemand ist so freundlich ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen!
      Träge blinzelte Tessa während seine Worte sie umschmeichelten und die warnende Stimme in ihrem Kopf übertönte. Chester neigte den Kopf und unwillkürlich zuckten die winzigen Muskeln in ihren Augenwinkeln. Warmer Atem streichelte über ihre geröteten Wangen und kribbelte auf der von Winterkälte kühlen Haut. Ihre Augen wurden groß, die Pupillen weit und dunkel.
      Du lässt dich um den Finger wickeln!
      Sein Gesicht war ihrem so nah, dass Tessa die unterschiedlichen Blautönte seiner Iris bemerkte. Sie war nicht einfach nur von einem hellen Blassblau sondern gesprenkelt mit Tupfen in allen erdenklichen Blauschattierungen. Chester legte den Kopf schief, neigte sich noch ein wenig tiefer, bis sie den Atem auf ihren Lippen spürte.
      Das Leben schenkt dir nichts.
      Tessa öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch alles, was den Weg in die Nacht fand, war ihr zittriger Atem.
      Mit einer kaum greifbaren Intensität sah Chester zur ihr hinab und unter das wohlige Gefühl der Geborgenheit, des Verstandenseins und der Wärme mischte sich ein eisiger Schauer, von dem Tessa nicht wusste, woher er kam. Ganz von allein streckte sich die Diebin ein wenig, reckte ein winziges Stückchen das Kinn.
      Also musst du es dir nehmen.
      Stelle lieber die Frage, warum ich es nicht versprechen sollte. Denn dafür gibt es nur einen einzigen Grund.
      Sie schluckte den Kloß in ihrer Kehle herunter und erstarrte. Die Warnung in den Worten war geschickt verpackt im samtig, weichen Klang seiner Stimme. Langsam wippte sie von den Ballen ihrer Füße zurück. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln.
      Und der wird von all den anderen, guten Gründen überschattet.
      Lauf, Tessa! Verschwinde!
      Tessa schüttelte den Kopf, verweigerte sich der Stimme in ihrer Erinnerung und ignorierte das Bitten, das Chester nicht hören konnte.
      Würdest du es akzeptieren? Mein Versprechen?
      Die Frage, die sie zwar bereits zu Beginn schon einmal gehört hatte, klang nun gänzlich anders. Tessa glaubte, Sehnsucht in der Frage zu hören. Den Wunsch nach der einen Antwort. Die Hoffnung nach Verbundentheit, einem Mehr, das Tessa nicht verstand. Während ihr gemeinsamer Atem sich in weißen Wölcken gen Himmel verflüchtigte, zeichnete sich endlich wieder ein Lächeln auf ihren Lippen ab. Nervös, ein wenig zögerlich doch begleitet von einem flüchtigen und amüsierten Funken in ihrem Blick, der ununterbrochen auf Chester gerichtet war.
      "Und anderen die wichtige Aufgabe überlassen, brave Bürger von dem schweren Gewicht ihrer Geldbörsen zu befreien? Vielleicht würde ich das. Aber was würde ich tun? Wer wäre ich hier? Ich kann unmöglich den ganzen Tag Hector füttern oder in deinem Zelt herumlungern wie eine faule, verhätschelte Hauskatze, die vergessen hat, wie man Mäuse fängt", wisperte Tessa
      Kein Bravado konnte das laute Herzklopfen in ihrer Brust übertönen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ihr Gesicht war ihm so nahe, doch Tessas Gedanken waren noch viel näher. Wie eine Bühne, die vor Chesters Augen ihren Vorhang öffnete, offenbarten sich ihm die Gefühle der Frau, ob er es nun wahrhaben wollte oder nicht. Er sah die aufflackernde Unsicherheit und den instinktiven Argwohn bei seinen sanften, aber ehrlichen Worten. Tessas Verstand schien ganz genau die winzigen Nuancen herauszuhören, die sich hinter den Worten des jungen Zirkusdirektors verbargen und die er selbst als bester Schauspieler der ganzen Welt nicht vollständig verstecken konnte, aber ihr Herz sprach eine andere Sprache. So unbefleckt, so unschuldig wie seine junge Tessa noch war, hatte sie noch nicht gelernt, einen zweiten Gedanken an ihre Gefühle zu verschwenden. Oder gar einen dritten. Eine Welle von Zweifel schwappte an die Oberfläche, der Schnee knirschte leise unter dem verlagerten Gewicht, als das Reh sich bereit für die Flucht machte.
      Aber dann ein Kopfschütteln. Die Früchte von Chesters Anstrengungen, sorgsam dort platziert, wo sie ihre Aufgabe am besten machen konnten, ließen diese Zweifel davon fließen. Sie waren seine Verbündeten, genauso wie es der schöne, friedliche Schnee um sie herum war und die tiefe, stille Nacht, die intime Sphäre, in die sich beide hüllten, selbst Chesters weiche, warme Stimme. Sie alle arbeiteten für ihn und gegen Tessa, ohne dass der Frau es jemals bewusst gewesen wäre.
      Sie spielten ein Spiel nach Chesters Regeln, von dem eine Partei gar keine Ahnung hatte. Doch sie würde es begreifen, wenn sie erst einmal verloren hatte. Sicher würde sie das.
      Ein wenig von der üblichen Tessa drang wieder hervor, als ihr Verstand und ihr Herz gleichermaßen sich wieder auf den Mann vor ihr eingestellt hatten.
      Chester erlaubte sich ein leichtes, feines Lachen, einfach nur, weil er sehen wollte, wie Tessas Augen zu seinem Mund sprangen, weil sie unweigerlich seinen Atem dabei spüren musste.
      "Du kannst hier sein, wer auch immer du willst. Du kannst alles ausprobieren, du kannst den ganzen Tag Hector füttern und eine faule Katze kannst du sogar auch sein, das würde ich dir hin und wieder erlauben."
      Sein spitzbübisches Grinsen kehrte ein Stück zurück, ein Hauch von Chesters üblichem Selbst.
      "Sieh dich um, Tessa. Das hier ist nicht die offene Straße, auf der sich niemand dafür interessiert, wer du bist oder woher du kommst. Hier gibt es nicht die Not, sich an anderen zu bereichern und seine eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen, damit man zumindest ein Abendessen haben kann. Oder ordentliche Kleidung. Wir sind hier eine Familie, in der sich jeder um sich selbst und um alle anderen kümmern kann. Sicher kannst du hier nicht", er zuckte knapp mit den Schultern, "Kerzenmacher werden. Und an den Königshof kommst du von hier sicher auch nicht. Aber ist es das, was du willst? Ist das das Leben, wonach du suchst?"
      Sein Blick wurde wieder ernst, sein Lächeln verblasste. Womöglich hätte es ihn stören müssen, dass er unlängst von dem "würde" ins "wirst" gewechselt hatte, aber das machte jetzt wohl auch kaum einen Unterschied.
      "Wer bist du draußen, der du nicht hier drinnen sein kannst, Tessa?"
    • Die Zeit verlangsamte sich und die Welt außerhalb der bunten, verschneiten Zirkuszelte rückte in weite Ferne. Die Stadt mit all ihren braven Bürgern versank in einer Decke aus frischgefallenem Schnee. Die winterliche Nacht ließ lediglich wenig Sterne am Himmel erahnen, doch zwischen den Wolken brach das silbrige Mondlicht hindurch. Rauch stieg von den unzähligen Schornsteinen der Stadt hinauf. Die Menschen hatten Kamine und Öfen gegen den Wintereinbruch entfacht und rückten vor dem Feuer zusammen. Die Dächer waren bereits von glitzerndem Weiß bedeckt und alle Straßen vollständig verschneit. In den nächsten Stunden, vielleicht auch Tagen, würde sich keine Menschenseele nach draußen verirren. Es war bitterkalt geworden, doch die Landschaft leuchtete silbern und wunderschön im Mondschein.
      All das hätte Tessa bemerkt, wenn sie für eine Sekunde den Blick von Chester genommen hätte. Stattdessen senkten sich flatternd ihre Augenlider, wie die zarten Flügel eines Schmetterlings, als erneut warme Atem die erhitzte Haut ihre Wangen streichelte. Ganz von allein zuckte ihr Blick zu seinen Lippen, als Chesters leises und amüsiertes Lachen den winzigen Raum zwischen ihren Gesichtern füllte. Tessa sah hypnotisiert zu, wie sich die Mundwinkel mit einem verschmitzten Grinsen nach oben bogen und hätte beinahe die Bedeutung seiner Worte völlig überhört.
      Chester bot ihr eine verlockende Chance. Eine Möglichkeit das triste Leben, das sie bisher geführt hatte, hinter sich zulassen. Sie konnte davonlaufen vor all den Dingen, die ihr Trauer und Schmerz bereiteten. Tessa war doch längst in den Schutz seiner Arme geflüchtet, den Chester ihr angeboten hatte, als es keinen anderen Ort mehr gegeben hatte, an den sie hätte gehen können. Halbohnmächtig vor Kummer und Furcht hatte ihr Verstand bereits eine Entscheidung getroffen, die Tessa gar nicht bewusst war.
      Es klickte in ihrem Kopf, als Chester ihr die eine Frage stellte, deren Antwort so schmerzte wie es nur die Wahrheit konnte. Kein plötzlicher Schmerz jagte durch ihre Glieder oder drohte Tessa in den Schnee auf ihre Knie zu zwingen. Die Wahrheit schmerzte auf andere Weise. Es war ein dumpfes, unterschwelliges Pochen in ihrem Schädel, das nie gänzlich verschwand.
      Eigentlich, war es schon immer dort gewesen und das ein ganzes Leben lang. Rhytmisch tickend wie der Sekundenzeiger einer Uhr.
      Tessa fühlte das Gewicht ihrer Antwort auf den Schultern und die Last der Erkenntnis auf ihren Gedanken. Es drückte ihr Haupt herunter bis ihre Stirn gegen seine Brust sank und die erdrückende Wahrheit auf ihrem Gesicht vor seinem Blick verbarg. Chester hatte seit ihrer ersten Begegnung ein einmaliges Talent, das sie von Zeit zu Zeit verteufelte, dafür besessen, ihr die Wirklichkeit vor Augen zu führen. Wärme drang durch den weichen Stoff an ihrer Stirn und sie drückte seine Finger. Fest. Klammernd.
      "Wer bist du draußen, der du nicht hier drinnen sein kannst, Tessa?"
      Niemand würde merken, dass sie fort war.
      Niemand würde nach ihr suchen.
      Niemand würde sie vermissen.
      „Niemand.“
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ganz langsam, als beuge sich ihr Oberkörper unter dem Gewicht der Frage, als würde Chester eigens seine Hände auf ihre Schulterblätter legen und sie führen, sackte Tessa nach vorne. Sie lehnte sich mit dem Kopf an ihn, eine Stütze, die gleichzeitig ihr Untergang sein würde und der sie sich doch nicht erwehren konnte. Sie hatte aufgegeben, wie es schien. Konnte die mutige, junge Tessa eines Tages aufhören zu kämpfen? Ja, das konnte sie und es würde Chester sein, der sie so weit brachte.
      Das wusste er. Es war ihm im selben Augenblick bewusst, als er die Arme um ihren Körper legte und das leise, zögerliche "Niemand." vernahm. Ihr Schicksal lag jetzt ganz in seinen Händen.
      Behutsam strich er ihr über den Haarschopf, beobachtete die winzigen Schneeflocken dabei, wie sie die Länge ihrer Strähnen herab rutschten.
      "Hier drinnen kannst du alles sein, alles, was du dir je gewünscht hast."
      Er rückte ein bisschen näher, bis aus der halbherzigen Berührung eine richtige Umarmung wurde. Seine Tessa, nur seine. Es war jetzt unumstößlich.
      Ein paar Sekunden lang erlaubte er ihr - und damit auch sich selbst - diese Nähe, dann ließ er sie frei, wohlwissend, dass er sowieso nichts zu befürchten hatte. Die Schlinge lag unlängst um ihren Hals und hinderte sie daran, die Flucht zu ergreifen.
      "Lass uns reingehen, es wird hier draußen noch so ungemütlich."
      Ein Lächeln erwärmte seine Züge, dann ergriff er ihre Hand und führte sie zurück zu seinem Zelt. Jetzt noch die Zeit genießen, die letzten Momente auskosten, so gut es ging. Das nächste Mal würde er solch angenehme Gespräche wieder in zwei Jahren führen.
      Das Ticken der Uhr lag ihm in den Ohren, selbst über das Knirschen des Schnees hinweg.

      Tessa sollte wieder in seinem Bett schlafen, weil es womöglich die letzten Male sein würde, dass sie diese Gelegenheit bekam. Am Tag darauf gab Chester sich alle Mühe, sie mit neuen Aktivitäten zu unterhalten und zu bespaßen. Er zeigte ihr mehr vom Zirkusgelände, ließ sie einem Tiger das Fleisch ins Gehege werfen und spielte mit ihr an einem der Stände. Am Tag darauf wieder: Er ließ sie Kostüme und lächerlich große Accessoires aus der Kostümabteilung anprobieren, versuchte sie dazu zu überreden, einmal das Trapez im Aufführungszelt auszuprobieren, und schlich sich mit ihrer großartigen Hilfe in der Kantine ein, wo sie vom Kuchenteig naschten und ein ganzes Blech Muffins klauten. Der Küchenchef erwischte sie gerade in der Tür und warf einen Schöpflöffel nach ihnen, der sie beide verfehlte. Chester lachte ihn aus, noch während er mit Tessa davonjagte - natürlich nicht zu seinem Zelt, das wäre ein zu offensichtliches Ziel. Stattdessen setzten sie sich an den Zaun, wo die wenigsten Karren standen, und vertilgten ihre Beute.
      Am dritten Tag aßen sie in der Manege zu Mittag, auf einer der Plattformen weit oben, wo man das ganze Zelt überblicken konnte, als Chester sich ganzkörperlich Tessa zuwandte. An seinem Mundwinkel klebte ein bisschen Soße, aber sein Gesicht war ganz ernst.
      "Ich möchte nicht, dass du gehst."
      Der Moment war gekommen, wie er befand. Er wusste genau, wie er sie ansehen musste, wie groß er seine Augen machen musste, wie seine Stimme zu klingen hatte. Eine kleine Aufführung für ein Publikum, das gar nicht wusste, dass es ein Publikum war.
      "Was willst du machen, wenn du wieder zurückgehst? Wieder auf der Straße leben? Dir dein Mittagessen durch Taschendiebstahl verdienen?"
      Er wusste genau, was er sagen musste, während beide ein Tablett mit dampfendem Eintopf auf dem Schoß stehen hatten. Sieh nur gut hin, Tessa, sowas wirst du nie, nie, nie wieder haben können.
      "Erinnerst du dich daran, über was wir vor ein paar Tagen geredet hatten? Nach dem Abend hier drin?"
      Er musterte ihren Blick, ihr ganzes Gesicht. Präg es dir ein, so wie jetzt wird sie dich nie wieder ansehen.
      "Du könntest hierbleiben. Du könntest wirklich hierbleiben. Ich meine das ernst."
    • Mit einem glücklichen Lächeln überblickte Tessa die leere Manege. Das große Hauptzelt wirkte um diese Tageszeit mit seinen verwaisten Sitzrängen und ohne probende Artisten wie leergefegt. Die versammelte Mannschaft hatte sich zum Mittagessen eingefunden, aber Chester hatte die angenehme Ruhe im Zirkuszelt dem lebhaften Treiben bei einer gemeinsamen Mahlzeit vorgezogen. Ein wenig untypisch für den energiegeladenen Mann, der ihr in den vergangenen Tagen kaum einen Augenblick für eine Verschnaufpause gegönnt hatte. Jeden Morgen war er mit einer neuen, tollen und wirklich fantastischen Idee von der Couch aufgesprungen, als wartete er bereits Stunden darauf, dass Tessa endlich aufwachte und er ihr seinen neusten Einfall präsentieren konnte. Sie hatten herumgealbert und reichlich Unsinn veranstaltet, wohl sehr zum Leidwesen der anderen Zirkusmitglieder. Tessa war sich sicher, dass sie Einiges gehörig durcheinandergebracht hatten, aber sie hatte noch nie so viel an einem Stück gelacht. Beim mürrischen Koch hatte Tessa jedenfalls Eindruck hinterlassen. Sein mahnender Blick verfolgte die Diebin misstrauisch, wann immer sie auf der Suche nach einem Leckerbissen durch die Küche wanderte, um Chester mit ihrem Diebesgut eine Freude zu machen. So sehr er ihr Talent auch missbilligte, gegen süßes Gebäck schien er offensichtlich keine Einwände zu haben. Tessa liebte es durch die verschlungenen Pfade zwischen den Zelten zulaufen, schwang sich dabei geradezu grazil über Kisten, Fässer und Zäune. Sie wollte nicht einrosten, hatte sie gesagt. Selbst ein waghalsiges Klettermanöver zum Hochseil hinauf, das in halsbrecherischer Höhe zwischen den großen Plattformen gespannt war, hatte sie gemeistert. Das Hochseil zu betreten, war der geschickten Kletterin dann doch eine Nummer zu waghalsig gewesen.
      In den wenigen stillen Minuten, die Chester ihr wohl notgedrungen zugestand, weil die Pflichten als Zirkusdirektor sich nicht einfach in Luft auflösten wie die Karten in seinen Zaubertricks, wurde Tessa bei der Erinnerung an die innige Umarmung im Schnee immer noch ganz warm. Rückblickend war es der flinken Diebin beinahe etwas peinlich, wie sie sich an Chester geklammert hatte, die Finger tief in seinen Mantel vergraben. Etwas hatte sich an diesem verschneiten Abend für Tessa verändert. Die Stimmen in ihrem Kopf, die sie eindringlich warnten, waren verstummt. Chester entführte sie in seine bunte, schillernde Welt und Tessa hörte auf, sich dagegen zu wehren. Sie begrüßte das Wunderland, durch das Chester sie führte, mit geöffneten Armen. In einem Wirbel aus berauschender Musik, glitzernden Kostümen und all dem Schabernack, der sie so hart zum Lachen brachte, dass sie Bauchweh davon bekam, ließ sie sich treiben.
      Nur manchmal, da brannte der rostige Schlüssel ein Loch in ihre Jackentasche.
      Das dämliche Ding erinnerte sie gerne daran, welche Tragödie sie an diesen wunderlichen und sicheren Ort geführt hatte. Sie wusste nicht, warum sie den Schlüssel behielt, aber jedes Mal, wenn sie mit dem Gedanken spielte ihn zu entsorgen, konnte Tessa es nicht.
      Eine Bewegung im Augenwinkel fing ihre Aufmerksamkeit ein.
      Chester sah sie mit einem ungewohnt ernsten Gesichtsausdruck an, was Tessa dazu brachte den letzten Bissen vom Eintopf mühevoll herunterzuschlucken. Das war der Moment. Er würde ihr sagen, dass sie gehen musste. Natürlich, Chester hatte Pflichten und konnte unmöglich seine ganze Zeit für ihre Unterhaltung verschwenden. Er hatte ihr lediglich ein paar schöne Erinnerungen gezaubert, bevor er wieder auf die Straße setzte. Tessa fühlte, wie sie ganz blass wurde. Zögerlich deutete sie mit dem Zeigefinger an ihren eigenen Mundwinkel, als die Stille sich hinzog.
      „Du hast da w…“, begann sie.
      "Ich möchte nicht, dass du gehst."
      „Was?“
      Tessa sah ihn vollkommen überrumpelt an.
      Deutlich hörbar klickten ihre Zähne aufeinander, als sie den Mund schloss, um ihn nicht anzustarren wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sicherheitshalber stellte sie das Tablett neben sich ab. Vorsichtig zog sie ein Bein unter ihren Körper, während das andere nervös in schwindelerregender Höhe über der Manege baumelte. Das Gesagte sickerte langsam und zäh bis in ihren Verstand durch. Natürlich erinnerte sie sich! Ein wenig gesunde Farbe kehrte auf ihre Wangen zurück, als sie nickte. Die unschuldige, zarte Umarmung war bereits jetzt eine ihrer schönsten Erinnerungen.
      „Aber…“
      "Du könntest hierbleiben. Du könntest wirklich hierbleiben. Ich meine das ernst."
      Mit großen Augen sah Tessa ihn an und ihr Verstand verwandelte sich in Watte.
      Ein eigenartiges Gefühl machte sich in ihrer Brust breit. Es war eine Mischung aus Hoffnung, Angst und etwas, das viel, viel mehr war.
      "Wenn das ein Scherz ist, ist das nicht lustig, Chester."
      Er blinzelte nicht einmal.
      Er meint das ernst, kreiste das Echo in ihrem Kopf.
      „Du meinst das wirklich ernst", wiederholte sie völlig perplex. "Du meinst das wirklich, wirklich ernst?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • "Ich meine das wirklich, wirklich ernst."
      Jetzt stellte Chester auch sein Tablett ab und ahmte Tessas Haltung nach, ein Bein angewinkelt auf der Seite liegend, das andere noch hinab baumelnd. Sein Blick war beschwörerisch, seine Augen funkelten.
      "Ich kann dich einstellen, als Mitarbeiterin des Zirkus. Das ist eine ehrliche Arbeit, nichts, womit du dir die Hände schmutzig machen würdest - wenigstens nicht auf diese Weise. Feste Arbeitszeiten gibt es nicht, Liam erstellt wöchentliche Schichtpläne, aber zwei freie Tage sind dir immer gesichert. Du bekommst jede Woche sechs Silbermünzen, davon musst du dir aber kein Essen kaufen und schlafen kannst du auch hier. Das solltest du sogar, wir sind nämlich ein Wanderzirkus, da können wir nicht immer an einem Ort bleiben. Wir haben hier aber auch einen Arzt und sämtliche Verpflegung, die du dir vorstellen kannst. Und Urlaub bekommst du auch, wann immer du möchtest! Ich möchte es nur gerne früh genug wissen, damit ich planen kann. Aber du kannst Freizeit haben, wann es dir beliebt!"
      Sein Blick versuchte sie geradezu zu verschlingen, während Chester einer Begeisterung freien Lauf ließ, die er den meisten Neuankömmlingen entgegen brachte, wenn das Thema auf den Tisch kam. Sie mussten sich einzigartig fühlen, als hätte ihn damit eine grandiose Idee befallen, die er nicht mehr loswerden wollte. Dabei hatte er ja schon seit einigen Tagen gewusst, dass es soweit kommen würde.
      "Das einzige, was du tun müsstest, ist, dich von dieser Stadt und ihren Straßen zu verabschieden. Denn dort würdest du nie, nie wieder landen, Tessa. Das verspreche ich dir."
    • Tessa hielt unbewusst die Luft an, als Chester sich ihr ein weiteres Stückchen mehr zuwandte und damit ihre eigene Haltung spiegelte bis sich die Knie ihrer angewinkelten Beine beinahe berührten. Sekündlich brach die Ernsthaftigkeit auf seinem Gesichter ein wenig mehr auf bis Tessa das vertraute Funkeln darin erblickte. Mit jedem Wort verlor die Szenerie an Bedrohlichkeit, die Tessa zuvor gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Sie hatte sich wirklich davor gefürchtet, dass er sich einen Scherz erlaubte. Ein spontanes Hirngespinst, weil ihm der Gedanke gerade so gut gefiel. Die beklemmende Enge um ihren Brustkorb lockerte sich und Luft strömte wieder in ihre Lungen. Mit dem erlösenden Atemzug verschwand die bedrückende Angst und wurde von einem anderen Gefühl abgelöst.
      "Du möchtest, dass ich für dich arbeite?"
      Ernüchterung machte sich breit, während Tessa die Hände in den Schoß legte und Chester mit einem nachdenklichen, aber offenen Blick ansah. Nicht, dass er nicht auch sonst immer genau wusste, was in ihrem Kopf vor sich ging. Der Gedanke, eine Verbindung mit Chester zu teilen, hatte sie schlicht und ergreifend glücklich gemacht. Offenbar hatte sie den Wunsch einer armen, obdachlosen Straßendiebin zu helfen mit Zuneigung verwechselt. Tessa pickte grübelnd an ihren Fingernägeln, die so sauber waren wie seit Jahren nicht mehr, und bekam, zur ihrem Leidwesen, prompt ein schlechtes Gewissen.
      "Versteh mich nicht falsch, Chester. Das ist ein großzügiges Angebot. Mehr, als ich mir je ausmalen könnte."
      Tessa dachte an die Geschichte mit den drei Männern zurück.
      "Ein Leben, in dem ich nie wieder frieren oder hungern müsste...Die Vorstellung kam mir immer meilenweit entfernt vor. Ich hätte ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett und immer einen vollen Magen. Nie wieder das Leben meiner Freunde riskieren zu müssen, für irgeneinen dummen, gefährlichen Deal...Ich könnte neue Freunde finden. Yasmin ist sehr freundlich zu mir gewesen und Ella hat mich längst um den Finger gewickelt. Das klingt nach einem guten Leben, Chester."
      Sie lächelte sanft. Der Mut verließ Tessa am Ende, weshalb sie den Blick doch von Chester löste und etwas im Zirkuszelt suchte, obwohl es menschenleer war. Das kleine Mädchen von der Straße verschwand ein wenig in dem halb verträumten, halb ernsten Gesichtsausdruck.
      "Ich bin dankbar für Alles, was du für mich getan hast. Für die Chance, die du mir geben willst. Ich hatte sehr viel Spaß in den letzten Tagen. Mehr, als ich vielleicht haben sollte und sicherlich mehr als ich verdient habe nach allem, was passiert ist. Du warst für mich da. Du warst der Freund, den ich gerade dringend gebraucht habe."
      Mit schief gelegtem Kopf sah sie Chester aus dem Augenwinkel an.
      "Ich bin dankbar...", wiederholte sie lächelnd und bat allein mit ihren großen Augen um Verzeihung. "...und gierig. Ich weiß nicht, ob das genug für mich ist."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chesters Grinsen wurde nur noch breiter, das Leuchten in seinen Augen nur noch heller, je mehr Tessa sich selbst mit der Idee anzufreunden schien. Auch das war ein Spiel, natürlich, ein eintrainierter Akt, an den Chesters Muskeln sich ganz von selbst erinnerten. Nur die Augen groß genug machen, das Lächeln weit genug ausbreiten, die richtigen Zähne zeigen, Kopf ein bisschen schief, Arme steif, Körper angespannt - immerhin spielte er das Aufflammen einer grandiosen Idee, die ihn am ganzen Körper packte. In Wahrheit war Tessa nur eine weitere von vielen und sie tat ihm dabei sogar leid, ehrlich leid. Hatte sie es verdient, ein Leben auf der Straße zu führen? Ganz bestimmt nicht. Aber hatte sie es verdient, ihre Seele an ihn zu binden? Nun, wer hatte das schon? Aber bei diesen beiden Optionen war wohl die einzig gute Entscheidung, das kleinere Übel der beiden zu nehmen und Tessa zumindest zu einem erfüllten Leben zu verhelfen.
      Nicht, dass sich etwas von diesen Gedanken in Chesters Gesicht gespiegelt hätten. Er war ganz im Hier und Jetzt, ein engagierter Zirkusdirektor, der auf das nächste Talent hoffte.
      Aber einen kleinen Widerstand gab es noch, ein ganz winziges aber, das Tessa nicht einmal in der Weise zum Ausdruck gebracht hatte. Sie konnte sich auch entscheiden, sie konnte noch ablehnen - Chester würde einfach noch schwerere Geschütze auffahren. Es ging nicht darum, dass er keinen anderen finden würde, der an ihre Stelle trat - schließlich hatte er noch etwa vier Wochen Zeit - sondern dass er sich einfach schon festgelegt hatte. Und Chester bekam in der Regel auch, was er haben wollte.
      "Das ist ein guter Einwand - ein wichtiger sogar. Du solltest dir darüber im Klaren sein, was dich hier erwartet und was du womöglich zurücklässt, wenn du hierbleiben solltest. Das hier ist ein Unterhaltungsberuf so wie der Hofnarr, damit wirst du dir keinen Namen machen, du wirst nicht reich werden, du wirst nicht die Geheimnisse der Welt entschlüsseln oder Einfluss auf sie nehmen."
      Er verschränkte die Hände in seinem Schoß und ließ seine Miene einen entspannteren, wenn auch nicht weniger ernsten Ausdruck annehmen.
      "Du wirst hier niemand sein, über den sich das Volk den Mund fusselig redet oder deren Name eine ganz eigene Bedeutung mit sich bringt. Du wirst hier noch nicht einmal große Reichtümer finden, denn einen Zirkus geht niemand mit seinem teuersten und edelsten Schmuck besuchen. Ich würde behaupten, dass du hier ein bescheidenes Leben führen wirst: Du wirst einen Wagen haben, du wirst deine eigenen Klamotten und deine eigenen Habseligkeiten haben, du wirst drei Mahlzeiten am Tag bekommen, einen geregelten Arbeitsablauf und alles Geld, das du bekommst, wirst du ausschließlich für deine Freizeit ausgeben können - aber sechs Silbermünzen in der Woche sind nicht viel. Davon kannst du zweimal aus essen gehen, glaube ich. Das ist nichts, womit du Reichtum anhäufen könntest - aber das wirst du auch nicht können, wenn du von den Taschengeldern von unaufmerksamen Spaziergängern lebst, oder?"
      Mitfühlend betrachtete er die Frau, deren Schicksal er besiegeln würde.
      "Wenn du all deine Einkünfte erst für Essen, dann für Kleider und wenn etwas übrig bleibt, vielleicht für einen Schlafplatz ausgeben kannst. Wann würde sich das ändern, was meinst du? Wie viele Aufträge für diesen Miles müsstest du noch erledigen, bis du dir die Grundlagen für ein normales Leben schaffen kannst? Weniger, als meinen Arbeitsvertrag einmal zu unterschreiben?"
      Chester wartete. Er wollte die Gedanken in diesem klugen Kopf erspähen, bevor Tessa sie aussprechen würde.
      "Was bedeutet dir deine Gier, wenn sie der Preis für eine lebenslange Verdammung ist?"