Clockwork Curse [Codren & Winterhauch]

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    • Einen Augenblick lang sah Tessa ihn einfach an. Sie sagte kein Wort sondern legte fragend den Kopf zur Seite und zog die Augenbrauen ein wenig über der Nase zusammen, als versuchte sie konzentriert seiner begeisterten Rede zu lauschen. Der Gesichtsausdruck wäre beinahe als ernst zu beschreiben gewesen, wenn ihre Mundwinkel dabei nicht verräterisch gezuckt hätten. Je länger Chester sprach desto schwerer fiel es Tessa die bitterernste Miene zubehalten. Mit den verstreichenden Minuten wanderte ihre Hände ein Stückchen nach oben, als wollte sie sich grübelnd ans Kinn fassen, biss jedoch die Lippen, die sie nun mühevoll zusammendrückte, hinter den Fingerspitzen verschwanden.
      Eindringlich sah Chester sie dabei an und Tessa war sich sicher, dass er ganz genau den Moment nicht verpassen wollte, an dem seine Worte ihre volle Wirkung entfalteten. Er preiste das Zirkusleben an, seine Vorzüge und natürlich die winzigen Schattenseiten, er war immerhin ein ehrlicher Arbeitgeber. Nachteile die im Schein der vielen Vorteile verblassten. Für jeden dahergelaufenen Taschendieb und Straßenräuber wäre sein Angebot der Himmel auf Erden gewesen. Auch für Tessa war es zweillos unwiderstehlich, aber hatte sie nun Mal nicht diese Gier gemeint.
      Sie hatte nicht gedacht, den Moment zu erleben, in dem Chester - der eigentlich alles über sie zu wissen schien und in ihr las wie in einem offenen Buch, sie verstand wie kein Zweiter unter dem imposanten Dach des Zirkuszeltes - in eine völlig falsche Richtung gallopierte.
      Chester beendete seine Anpreisung des Zirkuslebens und Tessa hatte das Gefühl, dass ihr von der krampfhaften Zurückhaltung jeden Augenblick die Tränen in die Augen schossen. Das Ticken der goldenen Taschenuhr erfüllte den schier endlosen Raum unter dem Zeltdach, als es von einem gänzlich anderen Geräusch übertönt wurde.
      Tessa lachte.
      Sie lachte so laut und so von Herzen, dass ihr tatsächlich die Lachtränen aus den Augenwinkeln kullerten. Sie lachte so sehr, dass sie bereits wenige Zeit später Bauchschmerzen davon bekam und aufpassen musste, nicht von der Plattform geradewegs in die Tiefe zu plumpsen. Die Ängst vor einem beklemmenden Gespräch verpufften im Nichts, als sich ein Schluckauf in das Lachen mischte. Tessa schnappte nach Luft, als sie sich die Tränen aus dem Augenwinkel wischte und Chester mit geröteten Wangen ansah. Die Schultern wurden von einem letzten Schluckauf durchgerüttelt.
      "Du hast es wirklich noch nicht bemerkt?", fragte Tessa atemlos.
      Der Mann, der das Geheimnis hinter jedem Zaubertrick kannte, hatte sie wohl doch nicht durchschaut.
      Als ihre Atmung endlich wieder ein normales Level erreicht hatte, schlug ihr das Herz dennoch bis zum Hals. Etwas umständlich und wenig galant rutschte Tessa näher zu Chester heran. Die Knie waren etwas im Weg, aber das machte nichts. Fast ein wenig zu energisch packte Tessa den Kragen seines Hemdes. Ihre fehlte die nötige Erfahrung und das Feingefühl für Romantik. Dafür war in den dreckigen Straßen kein Platz.
      Entschlossen, eilig und bevor sie kalten Füße bekommen konnte, küsste sie Chester. Ihre Nasen drückten sich unangenehm gegeneinander und der Winkel stimmte nicht. Es war ein kurzer Kuss, eine flinke und ungeschickte Berührung ihrer Lippen, als hätte es sich Tessa mittendrin anders überlegt. Die Finger zuckten an seinem Hemdkragen. Mit hochrotem Kopf huschte ihr Blick hinauf zu seinem Gesicht.
      "Das Gold ist mir egal, Chester."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Tessa betrachtete ihn mit einem Ausdruck, den Chester wirklich nicht deuten konnte - oder eher nicht deuten wollte, denn er widersprach so ziemlich allem, was er von ihr in diesem Augenblick erwartete. Ihre Augenbrauen waren auf die Weise zusammengezogen, wenn sie über irgendetwas besonders eindrücklich nachdachte, aber ihre Mundwinkel zuckten einmal, zweimal. Wie stand das im Zusammenhang miteinander? Nach Weinen sah es ja nicht gerade aus, viel eher nach...
      Chester beendete seine Frage, aber anstatt seiner Erwartung Folge zu leisten und seinem Blick auszuweichen, wie Tessa es sonst tat, wenn sie sich bei einem versteckten Gefühl ertappt fühlte...
      lachte sie. Nichtmal nur das, es schien geradezu aus ihr heraus zu sprudeln, eine innere Explosion, die die Fassade zum Einsturz brachte. Sie lachte, als hätte Chester den besten Witz des Jahrhunderts gerissen, dabei hatte er das nicht, ganz sicher nicht. Sie lachte laut und frei und unbeschwert und sicher machte sie sich in dem Lachen auch irgendwie über ihn lustig, sicher lachte sie nicht nur mit ihm, sondern auch über ihn, aber Chester konnte sich einfach nicht davon abbringen: Seine Mundwinkel sprangen nach oben und er grinste mit ihr, zwei Komplizen bei einem Witz, den nur einer von ihnen verstanden hatte. So düster die Stimmung auch geworden war, sie perlte jetzt wie Wasser von ihm ab und machte einer Fröhlichkeit platz, die Tessas Lachen allein zuzuschreiben war. Er kicherte selbst, während er beobachtete, wie Tessa vom Lachen nur so geschüttelt wurde. Es war ihm eigentlich ganz egal, was sie gerade so lustig fand, er würde sich selbst zu gerne als Zielscheibe machen, wenn es sie so sehr erheiterte.
      "Was habe ich noch nicht bemerkt?"
      Sein Grinsen war noch immer nicht verklungen, als sie sich wieder genug beruhigte, um auch wieder ordentlich Atem zu schöpfen. Natürlich war er höchst verwirrt von dieser derart unvorhersehbaren Reaktion, aber im Angesicht von Fröhlichkeit war alles andere ausnahmslos unwichtig. Einen Menschen lachen zu hören, konnte alles andere überschatten.
      Sichtlich noch nicht wieder beruhigt, rückte sie ein Stück näher an Chester heran, so nahe, dass ihre Knie jetzt aneinander pressten. Er rechnete damit, dass sie es ihm ins Ohr flüstern würde, warum auch immer - schließlich konnte sie hier oben niemand hören. Aber dann streckte sie die Hände nach ihm aus.
      Oh.
      Oh.
      Nein.
      Nein.
      Sowas meinte er nicht. Das wollte er nicht. Er hatte sich dagegen entschieden, Tage zuvor schon, als sie im nächtlichen Schneegestöber gestanden hatten, die Hände miteinander verschränkt, die Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Freundschaft oder Liebe? Er hatte seine Wahl getroffen und das nicht unbedacht: Tessa würde hinterher in jedem Fall an ihrem Vertrauen zu ihm zweifeln, aber sie würde nicht daran zweifeln müssen, ob sie ausgenutzt worden wäre. Sie würde niemals daran zweifeln müssen, dass jemand sie lieben konnte, ohne dabei andere Hintergedanken zu verfolgen. Sie könnte richtige Liebe finden, ohne sie hinterfragen zu wollen.
      Sie hätte. Aber in der kurzen Sekunde, in der sich ihre Lippen streiften, eine hauchzarte Berührung nur, war es fort mit diesem könnte. Tessa hatte ihre Entscheidung getroffen und dabei Chesters eigene Wahl zunichte gemacht. Liebe.
      Seine Gedanken wirbelten auf. Er wollte es nicht, gleichzeitig blieb ihm jetzt gar keine Wahl mehr. Dabei mochte er das Gefühl nicht, dass jemand anderes soeben die Regie übernommen hatte, dass er sich jetzt einem Skript fügen musste, das er gar nicht selbst gewählt hatte. Es war doch bisher alles so glatt gelaufen, warum dann plötzlich nicht mehr? Was war passiert? Hatte er es wirklich nicht erkannt, hatte er etwa Tessas Glitzern in den Augen falsch zugeordnet? Hatte er die Blicke zu weit getrieben, die er von ihr gefordert hatte, war es zu viel Aufmerksamkeit gewesen, die er ihr zugesprochen hatte? Was war es? Und wieso zum Teufel war es ihm nicht aufgefallen? Kannte er sich doch nicht mehr so gut mit Menschen aus, wie er bisher angenommen hatte? Aber warum nicht - was hatte sich geändert? Wo hatte er versagt?
      Tessa zog sich ein Stück zurück, sichtlich aufgeregt, und all dem Wirbel in Chesters Kopf musste schlagartig ein Ende gesetzt werden. Er musste jetzt improvisieren und zwar unverzüglich; Tessa hatte für ihn die Wahl getroffen und er würde sie sie nicht bereuen lassen, er würde sie nicht von sich stoßen, sie verletzen, bevor es nicht sowieso soweit war. Er würde alles nur noch schlimmer damit machen, ja das wusste er, aber wenn er es nicht tat, könnte sie sich noch von ihm losreißen, er könnte sie immernoch verschrecken, so wie er die scheue Tessa anfangs noch nicht verschrecken wollte. Mittlerweile hatte sie sich gut eingewöhnt, aber die Unsicherheit stand noch immer in ihren Augen geschrieben, jetzt mehr als je zuvor. Schlagartig kam ihm der nächste Gedanke: Er war doch nicht ihr erster Kuss? Oder?
      Er starrte ihre großen, feurigen Augen an, nur eine Sekunde, denn dann...
      Auf die Plätze, 3... 2... 1...
      Mund-Augen-Nase-Wange und Zähne-Zähne-Zähne.
      Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, erstrahlte regelrecht, funkelte in seinen Augen und erhellte seine ganzen Gesichtszüge. Er sah Tessa mit einem Ausdruck an, der Erleichterung und bisher versteckte Sehnsucht zum Ausdruck bringen sollte, so als hätte sie ihm gerade eine Offenbarung beschert.
      Halten-halten-halten und
      Er lachte, kurz und warmherzig. Sein Blick wanderte zwischen Tessas Augen umher, während er gezielt die Hand über die ihre legte und die nervös zuckenden Finger einfing. Bekräftigend drückte er ihre Hand an seine Brust, damit sie sie auch nicht zurückzog.
      "Ach. So gierig bist du?"
      Wieder kicherte er, dann setzte er sich langsam auf, fast lauernd.
      1... 2... 3... Augen-Augen-und...
      Sein Lächeln verwandelte sich in etwas spielerisch raubtierartiges, mit der er Tessa betrachtete, als würde er gleich über sie herfallen, im besten Sinne wie nur möglich. Ihre Hand hielt er immernoch fest, nur damit sie keine falschen Zweitgedanken bekäme.
      "Da hast du dir aber einen ganz speziellen Preis ausgesucht. Denkst du denn, du bist mir gewachsen, meine liebe Tessa?"
      1... 2... weiter-weiter... 4...
      Er schob sich weiter zu ihr, über sie, bis Tessa soweit nach hinten weichen musste, bis sie sich halb hinlegte. Sein Grinsen schwand nicht, es war spielerisch und auf eine Weise verführend, wie nur er es konnte, die perfekte Mischung aus Charme und Süße. Er ließ ihre Hand los, um sich neben ihr aufzustützen.
      "Ich muss dich nämlich warnen, ich kann sehr..."
      Er legte eine Hand auf ihre Hüfte.
      1...
      Er beugte sich zu ihr hinab.
      2...
      Er fing eines ihrer Beine unter sich ein.
      3...
      "... überwältigend sein."
      4.
      Er kitzelte sie mit einem Zwicken in ihre Seite und dann gleich noch einmal und noch einmal, zog ihr nach, als sie mit noch immer hochrotem Kopf unter ihm wegzuckte und anfing, sich von seinen Fingern wegzukrümmen. Aber er zog ihr nach, unnachgiebig, kitzelnd, bis sie wieder losprustete, bis die Spannung von ihr abfiel und sie so lachte, wie sie es eben getan hatte, lachte und sich gegen seinen Angriff zu wehren versuchte. Da schloss er doch noch die Distanz zwischen ihnen und fing ihre Lippen ein, küsste sie dieses Mal auf die richtige Weise, mit dem richtigen Druck, mit der richtigen Sicherheit, die sie soeben noch vermisst hatte. Er küsste sie und er schloss die Augen dabei, denn so machte man das, man schloss die Augen um zu fühlen und man ließ die Miene entspannen und man ließ sich in einen Traum fallen, in dem alles vor Schmetterlingen kribbelte und es eine riesige Explosion von Farben gab, die mit dem Gefühl einhergingen, die Lippen des anderen auf seinen zu spüren, den Druck, die Sehnsucht, das Verlangen. Die Gier, ja. So machte man das.
      Und weil man das so machte, machte es auch Chester.
      4-und-küssen.
    • Die Stille dehnte sich für Tessa zu einer Ewigkeit aus, während der eigene Herzschlag dröhnend in ihren Ohren pochte und das Bedürfnis, sich ganz klein zu machen von Neuem entflammte. Sie hatte allen Mut zusammengenommen und die Distanz mit Anlauf überrückt, damit sie nicht im letzten Moment verunsichert stockte und umdrehte. Tessa war gesprungen ohne zu wissen, ob sie sicher auf den Füßen landen würde. Ein Risiko, dass sie bei einem Sprung nie und nimmer einging, wenn sie nicht sehen konnte, wo sie aufkommen würde.
      'Merk dir, meine kleine Tessa. Riskiere keinen Sprung, bei dem du nicht siehst, wo du aufkommst! Ein verstauchter Knöchel kann dein Todesurteil sein! Du musst laufen können. Du musst flink sein. Du darfst dich unter keinen Umständen erwischen lassen. Wenn sie die Hände nach dir austrecken, muss du davonlaufen.‘
      Nur ging es gerade nicht um einen verstauchten Knöchel aus Konsequenz einer Dummheit. Für das unbeständige Leben in den Straßen gab es nicht ohne Grund wichtige Regeln.
      Regeln, die Tessa brach um ein Stück von dem zubekommen, was sie sich seit einiger Zeit so sehnlichst wünschte. So sehr, dass sie bereit war, die Konsequenzen für ihr unbedachtes Handeln zu tragen. War sie zu forsch gewesen? Zu dreist? Zu anmaßend? Chester schwieg und setzte damit sämtlichen Nerven, wie das Hochseil unmittelbar neben ihnen, unter eine kaum erträgliche Spannung. Sie vibrierten unter ihrer Haut bereit dem aufkeimenden Fluchtreflex nachzugehen. Vielleicht sollte sie sich einfach von der Plattform stürzten und so der Stille entkommen, die ihre Zweifel in neue Höhen trieb. Ein alberner Gedanke und aus der Not der Situation geboren, während sie Scham auf ihrem Gesicht ausbreitete. Tessa blickte prüfend zur Seite in die schier endlose Tiefe, dankbar seinem Blick nicht länger standhalten zu müssen aus Angst, was sie schon bald in ihnen sehen würde, da regte sich etwas in Chesters bisher unbewegter Miene. Die Diebin versteifte sich, rüstete sich für das Unausweichliche. Mit der Enttäuschung hätte Tessa leben können, aber ein Scherz auf ihre Kosten, nicht absichtlich böswillig aber um der Situation und der Ablehnung die Schwere zu nehmen, hätte ihr das Herz durchbohrt.
      Sie war keine Witzfigur. Ihre Gefühle waren kein Witz.
      Tessa erstarrte mitten in dem Versuch ihre angewinkelten Beine zu entknoten, bereit den Rückzug anzutreten.
      Ein zu Beginn eher schmales Lächeln, das sich ganz langsam in ein freudiges Strahlen verwandelte. Leuchtende, blassblaue Augen funkelten Tessa geradezu an. Groß und warm, ein Ausdruck zwischen Verstehen, Glück und Sehnsucht. Chester lachte. Nicht höhnisch, nicht amüsiert über ihren ungeschickten Versuch. Das Lachen streichelte über ihre Nerven hinweg, löste die Anspannung und brachte die zweifelnden Gedanken zum Verstummen. Gleichsam fasziniert und nervös, beobachtete Tessa, wie er ihre Hand gegen seine Brust drückte. Der Stoff des Hemdes weich, die Haut darunter warm, die Muskeln unnachgiebig und sein Herzschlag kräftig unter ihren Fingerspitzen.
      Als sie endlich von den verschlungenen Händen aufsah, sah Chester sie an als wollte er sie mit Haut und Haar verschlingen. Sein Blick war durchdingend, intensiv und jagte einen ungewohnten Schauer über ihren Rücken. Nicht kalt und unangenehm, sondern viel zu heiß für die winterlichen Temperaturen, die zu diesem Zeitpunkt vorherrschten. Sie konnte sich nicht von seinen Augen abwenden. Es zog sie magisch an, unwiderstehlich wie das Licht die verirrte Motte. Wie Tessa. Das einfache, unscheinbare, graue Mädchen, das sich ein Stück vom Licht erhoffte, dass sie nie gesehen hatte.
      "Da hast du dir aber einen ganz speziellen Preis ausgesucht. Denkst du denn, du bist mir gewachsen, meine liebe Tessa?"
      Sie schluckte.
      "Bisher habe ich mich ganz gut geschlagen, nicht?", trotzte Tessa seiner Frage.
      Ihre Stimme klang überhaupt nicht kratzig. Nein. Nein. Ganz und gar nicht klang die Diebin, als könnte allein das Versprechen, das sich in Chesters Worten versteckte, ihr den Atem rauben. Zumindest, versuchte Tessa sich das einzureden. Es war wirklich unverschämt, welche Wirkung ein einziger, sehnsüchtiger Blick von Chester entfaltete.
      Bevor Tessa wusste, wie ihr geschah, war Chester über ihr und ihre Finger gruben sich in sein Hemd. Wie war sie von einem überstürzten Kuss, wenn man die flüchtige Berührung denn so nennen wollte, hier her? Chester bewegte sich gemächlich, ein geduldiger Räuber vor dem es doch kein Entkommen gab. Ihre Ellbogen drückten sich in das spröde Holz der Plattform, während Chester über ihr lauerte. Es geschah langsam aber doch schneller als sie blinzeln konnte.
      Für einen Moment wusste Tessa, ob sie den Mann näher heranziehen oder wegdrücken sollte.
      "Ich muss dich nämlich warnen, ich kann sehr..."
      Eine Hand legte sich über ihre Hüfte. Warm und schwer. Das Gefühl sickerte durch Stoff und Haut wie heiße Glut.
      Zu viel, zu brennend, aber einfach nicht genug.
      Chester lehnte sich zu ihr herab, verdeckte ihre Sicht auf das bunte Zirkuszelt über ihren Köpfen.
      Bis sie nichts mehr sah, außer das glühende Blau seiner Augen und den spitzbübischen gleichzeitig verheißungsvollen Zug um seine Lippen.
      "... überwältigend sein."
      Ein ungewohntes Gewicht drückte auf ihr Bein herab, während das anderen gefährlich nah am Abgrund ruhte. Ein winziges Stückchen fehlte und es würde von der Plattform rutschen. Ein Reflex ließ Tessa zurückzucken, ihre Hand drückte gegen seine Brust, doch Chester gab nicht nah. Er hielt sie gefangen zwischen sich und den alten Holzbohlen, die sie davor bewahrten zu fallen.
      "Chester."
      Tessa erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder.
      Ein dünnes Flüstern, dass zu viele Emotionen in sich trug, angefeuert von dem Adrenalin in ihren Adern.
      Die Angst vor dem Fall.
      Die Erwartung, was Chester tun würde.
      Das Verlangen, dass sich heiß in ihrem Bauch ausbreitete.
      Die Nervosität, ob sie das wirklich wollte.
      Hier.
      Jetzt...
      Tessa zuckte zusammen, als sie etwas oder besser jemand in die Seite zwickte. Perplex zuckte sie vor der Hand zurück. Zumindest versuchte sie es, doch vor Chester gab es kein Entkommen. Das nächste Zwicken entlockte ihr ein erschrockenes Quietschen. Auch das beeindruckte den Mann nicht und die Diebin krümmte sich, zuckte unter Protest und grub die Finger in sein Hemd bis sie hässliche Falten im teuren Stoff hinterließ. Ein weiteres Mal schossen ihr vor Lachen die Tränen in die Augen. Tessa bekam keine Luft bis sich ihr Kopf wunderbar leicht und die Gedanken herrlich sorglos anfühlten.
      Atem, den sie nicht benötigte, als Chester ihre Lippen zu einem Kuss einfing. Ein Laut zwischen schockierter Überraschung und einem zufriedenen Seufzen erklang in ihrer Kehle. Chester küsste sie. Und wie er sie küsste. Tessa schloss die Augen und vergaß die schwindelerregende Höhe, die Bedenken, die Zweifel, die Frage nach einem Morgen. Sie hörte auf zu denken und verspürte den irrsinnigen Wunsch bis an ihr Lebensende nichts Anderes mehr zu tun als diesen Mann zu küssen. Ein Kuss hatte sich noch nie zuvor so erfüllend angefühlt. Mutig schob Tessa eine Hand in die kurzen, blonden Haare in seinem Nacken und spürte ihr Herz einen freudigen Hüpfer machen, als er seine Lippen nachdrücklicher, fordernder auf ihre drückte. Sie wollte näher sein, viel, viel näher und um das zu bekommen, gab sie den Versuch auf seine kitzelnden, flinken Finger abzuwehren um Halt auf der Plattform zu finden. Sie ließ die Hand zur Seite fallen und… griff ins Leere.
      Mit einem erschrockenen Aufschrei zuckte Tessa heftig und ruckartig zur Seite. Das freie Bein riss sie regelrecht von der Kante fort und hätte es beinahe schmerzhaft in seine Rippen gestoßen. Sie klammerte sich an Chester, den wunderschönen Kuss für einen Augenblick vergessen, während sie atemlos in die Tiefe schaute. Tessa schnappte nach Luft, ein wunderbares Kribbeln, das die Erinnerung zurückbrachte, auf den rotgeküssten Lippen und verpasste Chester einen halbherzigen Schlag gegen die Brust. Zum Schimpfen fehlte ihr der Atem. Stoßweise pumpten die Atemzüge wieder Luft in ihre Lungen, bis aus dem stockenden Rhythmus ein Kichern wurde. Sie musste verrückt geworden sein.
      Verrückt, aber glücklich.
      „Das war…“, versuchte sie mit heiserer, kratziger Stimme. „…das war…“
      Lebendig.
      „Küss mich nochmal“, forderte sie und fügte ein schulbewusstes „Bitte“ hinzu.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Mit einem Kuss war das Ende besiegelt. Es gab jetzt kein Zurück mehr vor den Gefühlen, die in Tessa gekeimt hatten und jetzt ihre Blüte erfuhren.
      Chester war ein begnadeter Küsser. Er bekam es nicht oft zu hören, denn so funktionierten die meisten Menschen nicht. Sie gaben sich nicht die Blöße einer derartigen Intimität, nur um dieselbe Intimität mit den Füßen zu treten. Manchmal kam es vor, dass sie überrascht genug von seinen Künsten waren, um es zur Aussprache zu bringen, aber meistens konnte er es sehen - so wie er es bei Tessa nun sehen konnte. Da war die Art, wie die Spannung ihren Körper verließ, als hätte er ein Ventil geöffnet, dem die Luft entweichen konnte. Chester wusste, was es bedeutete, auch wenn er es selbst nicht nachempfinden konnte: Der Kuss forderte alle Sinne, überwältigte die Gefühlswelt in einer Art, wie es nur wachgerufene Instinkte konnten. Der Kuss war viele Sachen gleichzeitig: Eine Berührung, eine Liebkosung, ein Versprechen, ein Kompliment, ein Flüstern, er sprach jeden greifbaren Sinn an und drang in jede Ecke des Gehirns, um dort die Gedanken auszulöschen. Der Kuss war eine Droge, der man nicht mehr absagen wollte, wenn man sich einmal auf sie eingelassen hatte. Er trennte Körper und Seele und zurück blieb nur das Gefühl. Er ließ einen sich fühlen, als könnte man nie wieder im Leben alleine sein.
      Das alles sah Chester bestätigt an der Art, wie Tessa an seine Wange atmete und wie ihre Hand an seinem Hinterkopf auftauchte, um sich in seine Locken zu schieben, ganz als verlange sie mehr von der Droge. Chester hatte sie süchtig gemacht und jetzt war sie abhängig davon.
      Chester selbst spürte nichts davon. Chester fühlte... die Realität.
      Tessas Knie war ein bisschen spitz und lag unangenehm an seiner Haut. Er wollte sein Gewicht nicht auf der zierlichen Frau ablegen, deswegen stützte er sich ein bisschen ab, hatte aber in der Eile einen leicht abwegigen Winkel gewählt, wodurch sein linker Arm mehr Gewicht trug als sein rechter. Tessa schmeckte hauptsächlich nach dem Eintopf, den sie gerade gegessen hatten, und ihre Lippen... ihre Lippen waren weich und sprachen von Jugend und Schönheit. Chester erfühlte in einem Kuss, den er sorgfältig führte, wo die Lippen in Haut übergingen, wo ihre Mundwinkel sich zusammenpressten, wo die Wölbung ihrer Lippenspitze war. Er erkundete ihre Lippen und stellte sich im gleichen Augenblick vor, dass sie eines Tages vom Alter heimgesucht würden, dass sie an Fülle verloren und die Falten ihre Umgebung säumten. Und dann stellte er sich vor, wie diese Lippen sich eines Tages schließen und sich nie wieder öffnen würden.

      Mit einem unvermittelten Aufschrei nahm Tessa da auf einmal zur Seite reißaus und Chester fuhr nach oben. Mit einem Schlag war er aus den Gedanken gerissen und ins Hier und Jetzt zurückgeholt worden, wo Tessa - wo Tessa ganz knapp das Knie in seine Rippen gedonnert hätte. Was? Was war denn jetzt los? Chester begriff nicht, denn er war sich sicher gewesen, Tessa richtig gelesen zu haben. Woher kam dann also die plötzliche Meinungsänderung? Dann sah er aber, wie ihr Blick in die Tiefe unter ihnen wanderte und sie sich gleichzeitig immer noch an ihm festklammerte. Und endlich holte Chesters Verstand zu ihr auf. Ah. Sie war es einfach nur noch nicht gewohnt, in schwindelerregenden Höhen ihre Umgebung zu vergessen.
      Chester grinste und sein Grinsen wurde begleitet von ihrem anbahnenden Kichern. Sie kicherte, als gäbe es für den Moment nichts lustigeres auf der Welt, als beinahe in eine ungesicherte Tiefe zu stürzen.
      Als ob Chester das jemals zugelassen hätte.
      "Das war sehr schön", beendete er ihren angefangenen Satz und ließ sich dieses Mal neben ihr auf die Platform nieder, die eine Hand immernoch an ihrer Hüfte. Ihr unschuldiger, aufgeregter Blick traf auf den seinen und eine Bitte, die so süß wie nichts anderes auf der Welt in seinen Ohren klang, kam über ihre Lippen. Chester mochte ein guter Küsser sein, dem die Gefühlswelt dahinter abhanden gekommen war, aber er war nicht gefühllos. Um alles in der Welt wollte er diese kleine, hübsche Bitte erfüllen.
      Noch immer lächelnd richtete er sich in eine sitzende Position auf und breitete die Arme ein wenig aus.
      "Komm her zu mir."
      Tessa sah ihn aufmerksam an, aber durch den Kuss, und ganz besonders durch seine freimütige Annäherung, hatte sie vieles von ihrer Unsicherheit abgelegt. Sie kroch zu ihm, ganz vorsichtig vom Rand weg, und Chester leitete sie an den Armen weiter, bis sie sich rittlings in seinem Schoß niederließ. Dort schloss er die Arme um ihre schlanke Taille und spielte eine Sanftheit in seinen Blick, die er mindestens genauso gut beherrschte wie seine Küsse.
      "Ich habe dich. Ganz sicher."
      Er sprach leise zu ihr, seine Stimme im Einklang mit seinem weichen Blick. Zur Bestätigung strich er ihr den Rücken empor und wieder hinab.
      "Ich werde dich nicht runterfallen lassen."
      Sie vertraute ihm, was blieb ihr auch jetzt noch anderes übrig? Sie war seinem Kuss erlegen und seinem Blick, seinem ganzen Wesen, das schon so, so viel mehr Erfahrung darin hatte, einen solchen Moment zur vollen Blüte aufleben zu lassen. Sie beugte sich hinab zu ihm und Chester begegnete ihren Lippen.
      Er spielte mit ihr, nur ein ganz klein wenig. Seine Lippen bewegten sich gegen ihre in einem Tempo, das sie selbst vorschrieb, er fing aber auch ihre Unterlippe ein, kitzelte sie mit ganz wenig Zähnen. Er hob die Hand an ihren Hinterkopf, hielt sie fest und küsste seitlich auf ihren Mundwinkel. Er kostete die ganze Länge ihrer Lippen aus und in seinen Armen wurde Tessa weich wie Butter.
      Als sie sich dieses Mal wieder voneinander lösten, fehlte selbst Chester der Atem. Er mochte diesen Moment, hätte ihn für alles mögliche eingetauscht, um bis in die Ewigkeit hinaus nur noch hier oben zu sitzen, mit Tessa alle möglichen Küsse auszuprobieren und ihre Reaktionen zu erfühlen. Es wäre um Längen besser, als irgendwann wieder hinunter zu steigen und zur Realität zurückzufinden.
      "Du machst mich gerade sehr, sehr glücklich, meine liebe Tessa."
      Lächelnd strich er ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr.
    • Gefährlich. Das Wort hatte Tessa auf der Zunge, die ihr nicht mehr gehorchen wollte, gelegen. Dabei ergab das Ende des Satzes, das Chester mit einem breiten Grinsen hinzufügte, wesentlich mehr Sinn und wärmte das Herz in ihrer Brust. Das Holz ächzte unter Protest, als Chester sich zur Seite lehnte und sich neben Tessa sinken ließ. Das Gewicht seines Körper, das sie für keinen Augenblick als zu viel oder gar aufdringlich empfunden hatte, verschwand und nahm die allumfassende Wärme, die sie eingehüllt hatte, mit sich. Ein unbewusstes Frösteln durchlief Tessa, die sich binnen weniger Sekunden zurück in die Vertrautheit seiner Arme sehnte. Von unsichtbaren Fäden geführt, folgte ihr ganzer Körper seinen Bewegungen. Chester ließ sich an ihre Seite sinken und Tessa wandte sich zu ihm herum. Er setzte sich auf und ihr ganzes Wesen folgte ihm nach. Langsam zog sie die Beine unter ihren Körper bis sie das unnachgiebige, spröde Holz spürte, das sich in ihre Knie drückte. Abwartend in der Schwebe zwischen Ungeduld und Ungewissheit verharrte sie.
      "Komm her zu mir."
      Mit großen, erwartungsvollen Augen starrte sie Chester an und hing an seinen Lippen, als die Aufforderung lockend und unwiderstehlich wie der Ruf einer Sirene an ihre Ohren drangen. Die zauberhafte Fabelgestalt und der charmante Mann mit den unergründlichen, blauen Augen hatten eines ohne den geringsten Zweifel gemeinsam: Niemand konnte sich ihnen entziehen.
      Tessa überbrückte die winzige Entfernung bereitwillig. Die Gravitation der Erde hielt sie nicht länger an Ort und Stelle, denn es war die Anziehungskraft dieses Mannes, die nun ihre Richtung bestimmte. Auf Händen und Knien rutschte Tessa über die ächzenden Holzdielen näher an Chester heran. Es bedurfte keiner Worte als er die Hände hob und die junge Frau wie selbstverständlich danach griff. Die unsichtbaren Fäden wurden durch seine großen, warmen Hände ersetzt. Chester führte sie, lenkte sie, arrangierte sie bis sie sicher auf seinem Schoß thronte. Die Position verlieh ihr ein Gefühl von Sicherheit, obgleich er Tessa nie einen Grund dafür geliefert hatte, irgendetwas anderes als absolute Sicherheit in seiner Nähe zu fühlen. Er unterstrich sein Versprechen mit zwei starken Armen, die sich um ihren Rücken legten. Ein subtiles Zittern durchlief Tessa und sie fühlte jeden Zentimeter des Weges, den seines Fingerspitzen beschrieben. Sie wanderten die Wirbelsäule herauf, über die zarten Erhebungen bis zwischen die Schulterblätter und wieder herab. Dabei hinterließ Chester einen glühenden Pfad auf ihrer Haut, die er nicht einmal berührte. Die sanfte Liebkosung brannte auf ihrem Rücken und überwand die dünne Barriere des Pullovers.
      "Ich habe dich. Ganz sicher."
      Tessa legte die Hände auf seinen Schultern ab und nestelte an dem zerknitterten Kragen seines Hemdes.
      "Ich werde dich nicht runterfallen lassen."
      "Ich weiß. Ich vertraue dir."
      Die Worten waren nicht mehr als ein sanftes Flüstern und kosteten Tessa große Überwindung.
      Vertrauen war ein Luxus, den sich nur wenige leisten konnten. Vertrauen war gefährlich.
      Das erste Mal, das sie so ihm so nah gewesen war, da hatte sie tiefbetrübte Trauer fest im Griff gehabt und auch da hatte sie ihm vertraut. Sie hatte ihm vertraut, als er sie später in dieser verschneiten Nacht im Arm gehalten hatten. Warum sollte es nun anders sein? Tessa begriff, dass ihm nicht nur mit ihrer Verletzlichkeit traute. Sie traute ihm mit ihren Gefühlen, mit ihrem Körper.
      Ihre Lippen prickelten bei der Erinnerung an das Gefühl seiner Lippen, die sie zärtlich und behutsam küssten. Tessa ließ von seinem Hemdkragen ab und traute sich mit den Fingerspitzen federleicht über die Seiten seines Halses zu streicheln. Darunter spürte sie, wie Sehnen und Muskeln arbeitete, als er den Kopf leicht zurücklegte noch bevor Tessa ganz begriff, dass sie den Kopf neigte. Warmer Atem kitzelte ihre Haut, streifte verheißungsvoll ihre Lippen. Zögerlich drückte die Diebin einen Kuss auf seinen Mund, schmiegte sich sanft an seine Lippen. Mutig fing sie zunächst seine Oberlippe, dann die Unterlippe ein und unwillkürlich verließ ein beinahe lautloses Seufzen ihre Kehle, denn er neckte sie vorsichtig mit Zähnen. Tessa lernte und imitierte, was Chester ihr schenkte, bis sie einen Rhythmus fand, zum dem ihr Herz einen Salto vollführte und glühende Hitze sammelte sich in ihrer Magengrube. Sie genoss das Gefühl seiner Hand an ihrem Hinterkopf und der Finger, die sich mit ihren Haarsträhnen verwoben. Ganz von allein folgte sie dem Zug, der ohne jeglichen Druck kam, und schmiegte ihre Lippen fester, inniger in den Kuss, der ein Ewigkeit währte.
      Als Chester sich löste, umfassten ihre zierlichen Hände seine Gesicht und die Daumen wanderten hauchzart über seine Wangenknochen.
      "Du machst mich gerade sehr, sehr glücklich, meine liebe Tessa."
      "Sieht ganz danach aus, als hätte ich keine andere Wahl", schmunzelte sie glücklich. "Dann muss ich wohl bleiben."
      Die junge Frau mit den rosigen Wangen und den rotgeküssten Lippen strahlte über das ganze Gesicht. Chester musste hören, wie laut das Herz unter ihrem Schlüsselbein klopfte. Er musste sehen, wie sehr er Tessa den Atem raubte, wie sich ihr Brustkorb unter schweren Atemzügen anhob und bebend wieder zurücksank. Ihre Augenlider flatterten, als er eine verirrte Strähne hinter ihr Ohr schob und sie konnte nicht widerstehen ihre Wange in seine Handfläche zu schmiegen.
      Widerwillig lehnte sich Tessa ein wenig auf seinem Schoß zurück, doch leuchtete ein neues, verspieltes Funkeln in ihren Augen.
      Mit einem flüchtigen Blick sah sie zu dem verwaisten Essensgeschirr herüber.
      "Vermisst dich nicht schon jemand?", fragte sie. Dabei dachte sie vorrangig an Liam, der versuchte die verlorene Zeit durch den Schneesturm wieder aufzuholen und dem es offenbar ein Dorn im Auge war, dass sich Chester ständig mit Tessa herumtrieb anstatt sich um die Arbeit zu kümmern. "Ich möchte dich nur ungern von der Arbeit abhalten."
      Tessa war keine gute Lügnerin.
      Das Grinsen ließ sich kaum zügeln.
      Gerade gab sie sich nicht einmal wirklich Mühe.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chester lächelte breit und aufrichtig. Letzten Endes bekam er ja doch immer, was er sich als Ziel setzte.
      Aber der Preis dafür…
      Er konnte nicht genau bestimmen, was es war, dass ihm dieses Mal der Preis so hoch schien. Solange er zurückdenken konnte, hatte er schon alle zwei Jahre mit einem Menschen angebändelt oder ihn auf andere Weise verführt, ihm einen scheinheiligen Arbeitsvertrag vorgesetzt und sein Blut auf die Uhr tropfen lassen. Alle zwei Jahre - das war eine verdammt kurze Zeit gemessen an der Ewigkeit. Das war einmal blinzeln und schon wachte er eines Morgens auf und hatte das Ticken seiner Uhr so tief in seinen Ohren liegen, dass es sein gesamtes Gehirn zu erschüttern schien. Zwei Jahre waren absolut gar nichts, eine ledigliche Aneinanderreihung von dem selben Ablauf, immer und immer wieder.
      Aber dieses Mal… Wenn er so in Tessas vertrauensseliges Gesicht blickte und auf die rotgeküssten Lippen, wie Tessa bei seinen Berührungen entweder über ihren Atem stolperte oder ihren Körper gegen ihn bewegte, wie sie sich in aller Naivität ganz auf ihn einließ und ihm ihr vollstes Vertrauen schenkte, da schien ihm dieser Preis mit einem Mal Übermaße anzunehmen. Mit einem Mal fragte er sich in aller Ernsthaftigkeit, ob er denn bereit war, ihn zu zahlen. Ob es das wert war.
      Natürlich war es keine Frage, ob er überhaupt gewillt war, irgendeinen Preis zu zahlen. Ein verstorbener Freund hatte ihn einst gefragt, ob er auch bereit wäre, den Fluch weiter zu leben, wenn er gezwungen wäre, alle zwei Jahre jemanden umzubringen, anstatt ihn im Zirkus aufzunehmen. Er durfte sich nicht aussuchen, wen: Einen Schwerstverbrecher, einen alten Mann, einen Kranken, aber auch ein Kind, einen Heiligen, eine schwangere Frau. Chester hatte mit aller Ehrlichkeit Ja geantwortet. Er würde alles tun, um seine hundertköpfige Familie zu beschützen.
      Es ging daher gar nicht um den Preis selbst, es ging um Tessa.
      Sein Lächeln war noch immer so echt, wie es nur sein konnte.
      Dann musst du wohl bleiben.
      Mit einem spitzbübischen Grinsen lehnte Tessa sich ein Stück zurück und betrachtete ihn eingehend. Chester ließ seine Arme locker fallen, bis sie eher auf ihren Beinen lagen.
      Hoffentlich vermisst mich niemand”, gab er locker zurück, von seinen eigentlichen Gedankengängen keine Spur. “Das würde nämlich bedeuten, dass nur irgendwas passiert ist, das ich ausbaden muss. Oder unterschreiben muss. Oh -
      Sein Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an.
      Ich hoffe, niemand verletzt sich in dem ganzen Schnee dort draußen. Du wirst hier drin bleiben müssen, wo du ganz sicher bist. Hier, bei mir. Da bist du nämlich ganz sicher.”
      Er zwickte ihr in die Seite und der Ausdruck in seinem Gesicht verschmolz zu einem frechen Grinsen.
      Oder bist du das? Bist du das wirklich?
      Er kitzelte sie wieder, diesmal am Bauch und an den Oberschenkeln, bis Tessa sich wandt und er sie festhalten musste, dass sie nicht von seinem Schoß rutschte. Er stimmte in ihr Gekicher ein und beobachtete, wie ihre Wangen sich sichtbar erhitzten.
      Wie hoch war zu hoch für einen Preis?

      Auch, wenn er es gern getan hätte, konnten sie letzten Endes doch nicht bis in alle Ewigkeit dort oben verbringen. Der Eintopf war unlängst kalt geworden, sie aßen ihre Reste aber trotzdem noch auf und stiegen dann wieder hinab. Chester brachte das Geschirr zurück und deponierte Tessa dann in seinem Zelt, während er sich der leidvollen Aufgabe geben musste, einen Zirkus zu leiten. Tatsächlich vermisste ihn niemand, aber Liam schimpfte ihn dafür, dass er seinen Kopf bei seiner neuen Liebschaft gelassen hätte und die Tage wieder in irgendwelchen Ecken verschwand, um wie ein kleines Kind Dummheiten anzustellen. Er sei erwachsen, ein Zirkusdirektor und zudem auch noch steinalt, er solle sich gefälligst jedes Jahr so benehmen, nicht alle zwei Jahre. Chester versprach ihm mit ernster Miene, sich wieder mehr anzustrengen und seine Position ernst zu nehmen. Eine halbe Stunde später lauerte er ihm mit seiner Komplizin auf und tyrannisierte Liam mit Schneebällen. Er nahm Tessa lachend mit auf seine Flucht, bevor der Zorn des stellvertretenden Direktors sie noch eingeholt hätte.
      Alles war gut, alles war schön. Am Abend öffnete er eine Schublade seines Schreibtisches und holte einen vorgefertigten Arbeitsvertrag heraus.
      Tessa saß auf seinem Sofa. Chester kam heraus und legte das Blatt auf dem Wohnzimmertisch ab.
      Und du möchtest immer noch bleiben? Ganz sicher?
      Sein Lächeln kam freundlich und ein bisschen herzlich herüber.
    • Eine angenehme Leichtigkeit verblieb für den restlichen Tag über allen Gedanken, die Tessa begleiteten. Der milde Protest, dass Chester sie zum wiederholten Male in seinem gemütlichen, warmen Zelt ohne jegliche Aufgaben zurückließ, ging in Küssen und Lachen unter. Dinge, die ihr Herz mit einer allgegenwärtigen Wärme füllten und sie mit einem Versprechen zurückließen. Mit einem verträumten Blick betrachtete Tessa ihre Umgebung, die sich jetzt noch viel mehr nach einem Zuhause anfühlte. Sie seufzte glücklich, als ihr Kopf, der sich immer noch anfühlte als hätte jemand ihn mit Watte gefüllt, gegen die Rücklehne des Sofas sank. Geistesabwesend streiften ihre Fingerspitzen das samtige Polster während ihre Tagträume sie zurück zu den unbeschwerten Momenten der Zärtlichkeiten in das große Zirkuszelt zurückführten. Bei der Erinnerung kroch die glühende Hitze zurück in ihre Wangen. Die starken, warmen Hände auf ihrem Rücken und die zarten Küsse spürte sie wie ein Echo. Das Gefühl breitete sich durch ihren gesamten Körper aus und wärmte sie auf jede erdenkliche Weise. Tessa schlug die Augen auf, von denen sie nicht einmal bemerkt hatte, sie geschlossen zu haben. Ein Lächeln kämpfte sich auf ihre Lippen, das schnell größer wurde bis ein leises Kichern das Zelt erfüllte. Verlegen rieb sich die Diebin über die erhitzten Wangen und fühlte sich ganz und gar wie ein über beide Ohren verliebter Teenager. Chesters Rückkehr konnte sie kaum abwarten. Sie ließ die Hände von ihrem Gesicht auf ihren Bauch sinken, wo flinke Finger sie solange gekitzelt hatten, bis sie kaum noch Luft bekommen hatte. Nur, um ihr im gleichen Zug mit einem weiteren Kuss den Atem endgültig zu rauben. Chester hatte in einer Sache zweifellos nicht gelogen: Er war überwältigend. Nicht, dass sie ihm diese Tatsache auf die Nase binden würde um sein Ego zu streicheln. Tessa grinste mittlerweile so breit, dass sich die Grübchen zu beiden Seiten tief in ihre Wangen gruben.
      Erst am späten Nachmittag stürmte Chester mit einem spitzbübischen Funkeln in den Augen begleitet von aufgewirbeltem Schnee in das Zelt und entführte Tessa in ein kleines Abenteuer, das für Liam weniger erfreulich ausging. Die einseitige Schneeballschlacht endete für Tessa mit einer eisigen, tauben Fingerspitzen und einer kalten, roten Nase. Den Spaß war das allerdings alle Male wert gewesen. Atemlos und prustend waren sie zurück in das heimelige Zelt gestolpert. Ein Bad hatte die Kälte vertrieben und nun saß Tessa an ihrem mittlerweile gewohnte Platz auf der Couch, die Beine zu einem Schneidersitz gekreuzt während sie aus Chesters Büro das rascheln von Papier vernahm. Die schweren Winterstiefel hatte sie gegen bunte, gestreifte Wollsocken getauscht, die Ella ihr im Vorbeigehen zugesteckt und offensichtlich selbst gestrickt hatte. Ein Albtraum aus pinken und violetten Farbtönen lugte unter ihren Beinen hervor, während Tessa mit den Zehen wackelte, die langsam wieder auftauten.
      Sie lauschte seinen leisen Schritten auf dem Teppichboden, mit dem das gesamte Zelt ausgelegt war und sah erst auf, als er die Papiere auf dem Tisch ablegte. Tessa lehnte sich nach vorn und fischte den Arbeitsvertrag, wie Chester erklärte, von dem niedrigen Wohnzimmertisch. Einen Augenblick lang starrte sie intensiv auf das Papier, als könnte sie es auf diese Art davon überzeugen, sein Wissen freiwillig preiszugeben. Ein wenig länger und sie hätte allein mit ihrem Blick ein Loch den Vertrag gebrannt. Tessa zog die Nase kraus.
      Bei seiner Stimme sah sie auf, fast ein wenig erschrocken, als er sie aus dem konzentrierten Starren riss.
      Lächelnd legte Tessa den Kopf schief.
      "Ganz sicher", bekräftigte sie. "Aber da ist etwas, dass ich noch erledigen möchte, bevor ich mit euch allen weiterziehe."
      Zögerlich zupfte sie an einer Ecke des Papiers und ihre Mundwinkel sanken nach unten.
      "Ich möchte das Armengrab am Friedhof besuchen. Sie müssen Rosie dorthin gebracht haben."
      Tessa fuhr sich über die Augen, als sie ein verräterisches Brennen darin spürte.
      "Es ist der einzige Ort, an dem ich mich von ihr verabschieden kann."
      Ein weiteres Zögern folgte.
      "Und ich möchte Jake sehen. Wenn sie ihn festhalten, kann ich mich hineinschmuggeln. Er wird mich nicht sehen wollen, aber ich möchte ihn um Verzeihung bitten. Ich weiß, dass er für Rosie geschwärmt hat. Damit ich meinen Frieden machen kann, verstehst du?"
      Sie reichte ihm den Arbeitsvertrag und bemühte sich um ein neues Lächeln.
      Tessa bemühte sich wirklich.
      An einen offiziellen Vertrag, den sie weder lesen noch wirklich unterschreiben konnte, hatte sie nicht gedacht.
      "Du wirst ihn mir vorlesen müssen...und ich weiß nicht, wie man meinem Namen schreibt."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chester setzte sich zuerst aufs Sofa und kreuzte dann die Beine unter sich. Mit einem vertrauensseligen Lächeln sah Tessa zu ihm auf, ein geradezu unschuldiger Anblick.
      "Natürlich - wir sind noch eine ganze Weile hier. Du kannst gehen, wann immer du möchtest. Was ist es denn?"
      Geduldig hörte er zu, als Tessa anbrachte, sich gebürtig von Rosie verabschieden zu wollen. Das war vernünftig, ein löbliches Vorhaben sogar. Wer wäre Chester schon, um dem im Weg zu stehen?
      "Aber natürlich kannst du dich von ihr verabschieden gehen. Oh - hey."
      In ihren Augen glitzerte es verdächtig, ein Anblick, den Chester schon von der Nacht vor ein paar Tagen kannte. Flüssig lehnte er sich nach vorne und schlang den Arm um ihre Hüfte, die Nähe zu ihr voll ausnutzend.
      "Ich glaube, Rosie wird sich sehr darüber freuen, dass du dich bei ihr verabschieden gehst. Ihr wart immerhin sehr gute Freunde."
      Er lächelte sie an. Sie blickte ihm in die Augen und der Zauber, das magische Etwas in Chesters Wesen, fand auch hier seinen Einfluss. Das Glitzern wurde ein wenig kleiner und ihre Mundwinkel zuckten.
      "Pass nur gut auf dich auf, einverstanden? Ich möchte dich gerne in einem ganzen Stück wiederhaben."
      Neckend setzte er ihr einen Kuss auf die Wange und dann gleich noch einen auf den Mundwinkel. Da entstand endlich wieder ein Lächeln in Tessas Gesicht, das man halbwegs als lebendig bezeichnen konnte.
      Mit einem eigenen Lächeln setzte Chester sich da wieder auf und griff nach dem Vertrag auf dem Tisch.
      "Ich lese dir alles vor und zum Schluss zeige ich dir, wie du deinen Namen richtig schreibst. Was hältst du davon? Dann mach es dir gemütlich, der ist nämlich eine ganze Seite lang."
      Chester rückte sich selbst ein wenig zurecht und fing dann an zu lesen, Zeile für Zeile, Wort für Wort. Er nahm sich die Mühe, wann immer es ihm angemessen schien, eine Pause zu machen und Tessa genau zu erklären, weshalb er sich für eine derartige Formulierung entschieden hatte oder warum er es gerade so machen wollte. Er erklärte ihr die Vor- und Nachteile, die sie vielleicht beim vorangegangenen Absatz nicht entdeckt hatte und erwähnte, wie andere dazu gestanden hatten. Er beteuerte, dass man alles ändern und anpassen könne, dass er aber natürlich vorher darüber reden wolle. Alles in allem war es aber sowieso ein gänzlich anständiger Vertrag, an dem auch kein Mann vom Fach etwas hätte aussetzen können.
      "Dann kommen wir jetzt zu den Feierlichkeiten. Warte, ich hole dir einen Stift."
      Er stand auf, kehrte mit einem Stift zurück, mit einer Nadel und mit einem leeren Blatt Papier.
      "Da unterschreibt man mit Vor- und Nachnamen. In deinem Fall also Theresa... wie? Penhallow. Oh, wie hübsch. Ich wusste ja noch gar nicht, wie du mit vollem Namen heißt, du Schlingel."
      Auf seinem Gesicht lebte ein eigenständiges Lächeln vor sich hin.
      "Hier, ich schreib's dir einmal vor. Das sieht so aus. Te... re... sa... Pen... hall... ow. Ups, das h hab ich vergessen, da muss noch ein h rein. Das spricht man nicht, aber das gehört so. Das w spricht man übrigens auch nicht und wenn du mich jetzt fragst, warum es dann dort steht, dann muss ich dir gestehen, dass meine Schulzeit eine sehr, sehr lange Zeit zurückliegt. Ich habe keine Ahnung von solchen Dingen."
      Seine Zähne blitzten beim Grinsen auf.
      "Probier mal."
      Er reichte ihr den Stift und unter Chesters geduldiger Anleitung fabrizierte Tessa etwa ein Dutzend Mal ihren Namen auf dem leeren Blatt, bevor sie ihn im Vertrag einfügte. Chester ergänzte seinen eigenen - nur ein "Chester" - und dann war es soweit.
      "Wunderbar! Fast geschafft."
      Er nahm sich die Nadel, setzte sich so zurecht, dass er Tessa direkt ansah, und grinste sie verheißungsvoll an.
      "Das war der offizielle Teil, aber jetzt kommt auch noch der inoffizielle. Du musst nämlich wissen, dass wir Zirkusleute höchst abergläubisch sind. Immerhin ist das hier ein magischer Zirkus, deswegen müssen wir uns davor hüten, dass die Magie nicht Überhand nimmt, nicht wahr? Wir werden also auch ein kleines Ritual abziehen müssen, sonst werde ich heute Abend nicht gut schlafen können."
      Er zog seine Uhr heraus und klappte sie auf. In Momenten wie diesen fühlte Chester sich ausgesprochen leer und ausgehöhlt, aber sein Lächeln war so strahlend wie eh und je.
      "Wenn du einen Tropfen Blut auf die Uhr fallen lässt, segnet das die Stunde an diesem heutigen Tag. Das ist also... knapp fünf Uhr. Fünf Uhr ist jetzt deine Stunde, Tessa - das wird im Sommer rechtzeitig für die Aufführungen sein."
      Er kicherte. Jetzt war es ein bisschen anstrengend, so viele Muskeln auf eine solch intensive Weise zu beanspruchen.
      "Ich mach es dir vor, schau."
      Er piekste sich in den Finger und hielt ihn über das Ziffernblatt. Ein hellroter Tropfen Blut löste sich und fiel hinab.
      "Jetzt sagst du: Alles kommt, wenn die Zeit vergeht. Und damit ist es schon vollbracht. Jetzt du."
      Fröhlich hielt er ihr Uhr und Nadel entgegen.
    • Die schwermütigen Gedanken über den endgültigen Abschied von Rosie zauberten einen traurigen Glanz in ihre Augen. Chester hatte sein Bestes gegeben, um sie in den vergangen Tagen von derlei Erinnerungen abzulenken, aber wenigstens diese letzte Ehre schuldete sie Rosie. Sie konnte diesen verfluchten, grauen Ort nicht verlassen ohne Lebwohl zu sagen. Ein Arm schlang sich tröstlich um ihren Leib und Tessa ließ sich widerstandslos in seine Seite ziehen. Seufzend fiel ihr Kopf gegen seine Schulter und sie vergrub vertrauensselig das Gesicht an seinem Hemd während der vertraute Geruch nach gebrannten Mandeln, süß und herb zugleich, sie einhüllte. Sie nickte zaghaft, ob Rosie sich wirklich darüber gefreut hätte, würde die Tote niemand mehr fragen können. Mehr als einen gebührenden Abschied hätte sich das Mädchen wohl gewünscht noch am Leben zu sein.
      Rosie, mit ihrem strahlenden Lächeln von einem Ohr zum anderen und den wilden, roten Locken. Deren Herz so groß gewesen war, dass sie für jedes Waisenkind der Stadt ein wenig Platz darin übrig hatte. Die mit Tessa gelacht und Unsinn angestellt hatte, obwohl ihr häufig vor Angst die Knie dabei geschlottert hatten. Sie war die Stimme der Vernunft gewesen, wenn der Übermut der Diebin einen Höhenflug erfuhr und sie sich kopfüber in die nächste Katastrophe gestürzt hatte.
      "Ich gehe morgen Vormittag", bekräftigte Tessa ihren Entschluss. "Es wird nicht leichter, wenn ich noch länger warte. Ein namenloses Grab...Sie hat mehr verdient als das. Ich weiß nicht einmal, ob jemand aus ihrer Familie noch lebt. Rosie war eine Ausreißerin. Sie werden nie erfahren, was ihrer Tochter passiert ist."
      Tessa hob den Kopf und blinzelte überrascht, als warme Lippen ihre Wange und Mundwinkel streiften. Eigentlich konnte sie noch immer nicht glauben, dass das jetzt ihr neues Leben sein konnte. Chester, der sie mit sanfter Zuneigung überschüttete und jeder Zeit genau wusste, wie er die dunklen Wolken über ihrem Kopf vertrieb. Tessa konnte nicht glauben, dass sie ihn wirklich haben durfte.
      "Pass nur gut auf dich auf, einverstanden? Ich möchte dich gerne in einem ganzen Stück wiederhaben."
      "Versprochen. Ich passe auf."
      Kaum lehnte Chester sich zum Vertrag herüber, vermisste sie die Wärme. Der verschneite Abend lud förmlich dazu ein, sich unter warmen Wolldecken zu verkriechen. Bei der Vorstellung sich seufzend an seine starke Brust zu schmiegen, kroch Hitze ihren Nacken herauf. Es hatte sich gut angefühlt ihm so nahe zu sein. Mehr als gut. Fantastisch. Aufregend.
      Stattdessen richtete auch Tessa sich etwas gerader auf und versuchte sich ganz auf den Inhalt des Vertrages zu konzentrieren. Chester gab sich alle Mühe und nahm sich genügend Zeit jede Einzelheit zu erläutern. Selbst beim Vorlesen eines trockenen, langweiligen Arbeitsvertrages übte seine melodische, warme Stimme eine gewisse Anziehung aus. Er hätte das Einwohnerregister vorlesen können und Tessa hätte, wie sie peinlich berührt feststellte, ebenso an seinen Lippen gehangen. Rosie hätte es zweifellos sehr amüsiert zusehen, das Tessa sich in ihrer jugendlichen Schwärmerei verlor. Sie hätte es herzallerliebst genannt.
      Letztendlich kehrte Chester mit einem Stift und einem Blatt Papier aus seinem Büro zurück. Und einer Nadel.
      Fragend zog Tessa eine Augenbraue in die Höhe.
      Eine Nadel?
      "...Penhallow. Oh, wie hübsch. Ich wusste ja noch gar nicht, wie du mit vollem Namen heißt, du Schlingel."
      Tessa zuckte mit den Achseln.
      "Hat mir nie wirklich Glück gebracht. Der Name, meine ich."
      Die Schreibübungen forderten jedoch ihre gesamte Aufmerksamkeit. Es war schwierig ein Wort zu Papier zu bringen, wenn die Buchstaben keinerlei Sinn ergaben. Chester hätte sie jeglichen Blödsinn schrieben lassen können und sie hätte das Gekritzel für den eigenen Namen gehalten. Der Stift lag fest zwischen ihren zu verkrampften Fingern und die Linien, die sie zu Papier brachte, waren zittrig und uneben. Die Buchstaben sahen aus, als hätte sie ein Kind geschrieben. Hochkonzentriert lugte die Zungenspitzen zwischen ihren Lippen hervor, während sie seinen Anweisungen folgte. Verstohlen schielte sie zwischendurch zu der Nadel, die kommentarlos auf dem Tisch ruhte.
      Erst als Chester mit den gekritzelten Werken zufrieden war und ihre Finger von der ungewohnten Tätigkeit schmerzten, setzte Tessa den Stift ab und richtete sich ächzend aus der gebeugten Haltung auf. Sie fuhr sich mit der Hand in den verspannten Nacken. Glücklich über sein Lob reichte sie ihm den Stift und lugte neugierig über seine Schulter, während er selbst seinen Namen an einer freien Stelle einfügte.
      Tessa runzelte die Stirn. Ihre Unterschrift bestand aus zwei Wörtern: Vorname und Nachname. Chester unterschrieb mit einem einzigen Wort. Das Kinn an seiner Schulter aufgestützt beäugte sie die langsam trocknende Tinte.
      "Kein Familienname, Mr. geheimnisvoller Zirkusdirektor?"
      Sie zog sich zurück, als er ihr feierlich die nächsten Schritte eröffnete.
      Tessa kicherte erheitert, denn Chester wurde es nie müde, seinen geliebten Zirkus als wirklich magisch zu betiteln. Ein wenig Magie musste dieser Ort wohl besitzen, wenn er Tessa die Sorgen nehmen konnte.
      "Ah, deswegen die Nadel...", murmelte Tessa lächelnd. "Ein magisches Ritual, für einen magischen Zirkus. Verstanden. Ich habe mal davon gehört, dass Schausteller solche Traditionen fortführen. Nur kam darin bisher nie Blut vor."
      Skeptisch beäugte sie die Nadel zwischen seinen Fingern.
      Was Chester sagte, verwirrte die Diebin.
      "Meine Stunde? Das versteh ich nicht", gestand sie während sie fasziniert und gleichzeitig, aus einem ihr unerfindlichen Grund, beunruhigt zusah, wie sein Blutstopfen das Ziffernblatt benetzte. Die Uhr, die er stehts bei sich trug und die ordentlich poliert im Lichtschein der Lampen glänzte. Dort, wo seine Finger gelegen hatten, fühlte sich das Metall leicht erwärmt an. Je länger sie die Taschenuhr in ihrer Hand anstarrte umso lauter kam ihr das gleichmäßige Ticken vor. Von der Uhr ging eine eigenartige Anziehungskraft aus und gleichzeitig wollte sie Chester des Schmuckstück zurück in die Hand drücken. Ein ähnliches, zwiespältiges Gefühl hatte sie bereits einmal zuvor verspürt. Der Schlüssel übte die gleiche widersprüchliche Faszination aus, erinnerte sich Tessa.
      Ein kurzer Blick in Chesters lächelndes Gesicht, beruhigte das flatternde Herz.
      Zögerlich nahm sie auch die Nadel entgegen und nickte. Eigentlich war sie nicht zartbesaitet und ein klitzekleiner Nadelstich war sicherlich kein Weltuntergang. Es war nur ein kleiner Stich. Der Schmerz war zu vernachlässigen und kaum spürbar, als sie die Fingerkuppe ihres Daumens mit der Nadel durchstach. Sachte drückte Tessa gegen die dünne, empfindliche Haut bis ein Tropfen rotes Blut hervorquoll.
      "Einfach...auf die Uhr tropfen lassen?"
      Chester nickte.
      Tessa sah zu, wie sich der winzige Blutstopfen von ihrer Fingerspitze löste und lautlos auf die Taschenuhr fiel. Die Blutstropfen verliefen ineinander und tröpfelten das gewölbte Glas hinunter bis goldene Einfassung ihren Weg stoppte. Gebannt blickte Tessa für einen Augenblick auf die Taschenuhr, während das allgegenwärtige Ticken immer lauter erschien bis es selbst ihren Herzschlag übertönte.
      "Alles kommt, wenn die Zeit vergeht", murmelte Tessa wie in Trance.
      Gefangen, vom vertrauten Rhythmus der Taschenuhr.
      Erst, als sie eine Berührungen an ihren Händen spürte, schreckte Tessa aus dem Tagtraum auf, an den sie sich nicht erinnern konnte.
      "Entschuldige, ich..."
      Tessa vernahm das Zuschnappen der Taschenuhr und wie ihr beides, Nadel und Uhr, aus den Händen genommen wurde.
      Verwirrt legte sie die Stirn in Falten.
      "...eigentlich macht mir der Anblick von Blut nichts aus."
      Ein verlegenes Lächeln zuckte um ihre Lippen.
      Ja, das musste es gewesen sein. Das Blut.
      Allmählich löste sich die eigenartige Taubheit aus ihren Gliedern und endlich sah sie zu Chester auf, der sie mit einem zufriedenen und warmen Lächeln begrüßte. Tessa schob den Daumen zwischen ihre Lippen, als ein weiterer Tropfen drohte auf das Polster der Couch fallen. Der metallische Geschmack von Blut benetze ihre Zunge. Sie blinzelte. Einmal. Zweimal.
      Dann konnte sich Tessa nicht länger gegen das strahlende Lächeln wehren, dass sich über ihr ganzes Gesicht ausbreitete.
      Die Lachfältchen um ihre Augenwinkel gruben sich tiefer in ihre Haut, hoben die Narben markanter hervor.
      Tessa wünschte sich wirklich, wirklich sehr, er würde sie küssen.
      Sie biss sich auf die Unterlippe.
      "Dann gibt es jetzt kein Zurück mehr, hm?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chester sah zu, wie Tessa Uhr und Nadel entgegennahm. Er sah die Verunsicherung in ihrem Blick und wusste gleichzeitig, dass sie tun würde, was er von ihr wollte. Sie würde sogar schon viel mehr tun als sich bloß in den Finger zu pieksen, auch das wusste er. So sehr hatte sie sein Einfluss in den letzten Tagen schon dazu gebracht.
      An sich war das Ritual gänzlich unspektakulär. Es gab keinen Geist, der aus der Uhr gesprungen wäre und sich für die Seele bedankt hätte und die Uhr öffnete auch nicht ihr Ziffernblatt und offenbarte ein Maul, mit dem sie Tessa plötzlich verschlungen hätte. Chester hatte sich von anderen einmal sagen lassen, dass das Ticken der Uhr sich mit dem Herzschlag vereinte, sodass man für einen Moment nur noch das Ticken war, was auch immer das bedeuten musste. Immerhin sah es bei allen so aus, wie gerade bei Tessa: Man blickte gebannt auf den Blutstropfen, man verfolgte seinen Weg zum Ziffernblatt hinab und dann starrte man mit einer merkwürdigen Abwesenheit, als hätte der Geist sich soeben vom Körper entfernt. Auch Tessa starrte so und wie bei so vielen anderen auch verharrte sie einfach in dieser Position, bis Chester sich dazu entschied, vorsichtig den Finger auf ihre Hand zu legen. Da zuckte sie, auch wie so viele andere, und konnte sich wohl vom Anblick der Uhr losreißen.
      Das Ticken war für einen Moment unangenehm präsent, als kämpfte die Uhr mit aller Kraft um die alleinige Aufmerksamkeit in diesem Zelt, und dann war alles wieder normal, so normal wie immer. Tick, tack, tick, tack.
      Chester lächelte auch so wie immer, als er die Uhr zurücknahm und zuschnappen ließ. Er kümmerte sich nicht um das gemeinsame Blut auf den Ziffern, das würde spätestens in ein paar Stunden vollständig wieder verschwunden sein.
      "Es gibt nichts zu entschuldigen."
      Er lehnte sich vor und küsste sie auf die Stirn. Dann war auch das vorbei und seine Anstrengungen der letzten Tage hatten sich gelohnt. Tessa war jetzt sein und für immer an den Zirkus gebunden. Sie würde hier leben und eines Tages würde sie hier sterben und wenn sie das tat, überlegte er sich bereits jetzt, würde er ihr ein paar sehr hübsche weiße Lilien auf ihr Grab legen. Denn dann - ja, dann wäre auch das vorbei.
      Lächeln war heute besonders anstrengend, wie er fand. Dafür strahlte Tessa umso mehr, die es wohl kaum erwarten konnte, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und das neue zu beginnen. Ja, wieder jung und naiv zu sein, das hätte doch was.
      "Nein, jetzt gibt es kein Zurück mehr, gar keins."
      Er lehnte sich zu ihr in einem gespielten Anpirschen, wie er es bereits oben auf der Platform im Zelt getan hatte.
      "Jetzt gehörst du ganz... mir!"
      Da sprang er - behutsam - auf sie und versuchte ihren Hals zu kitzeln. Tessa quietschte manchmal, wenn sie so vergnügt lachte. Eine Weile rangelten sie so auf dem Sofa, dann wurde es zu den atemlosen, neckenden Küssen aus dem Zelt. Tessa hielt sich an ihm fest und Chester bediente sie aus einem Sortiment an Küssen.
      Es war ganz
      ganz
      furchtbar.

      Nach dem Abendessen, das sie vorsorglich im Zelt verspeisten - nicht, dass Liam ihnen irgendwo auflauern und den Überfall heimzahlen würde - verdrückten sie sich unter die dicken Decken seines Bettes, um vor der Kälte zu entfliehen. Es hatte nichts Anzügliches, dafür war diese ganze Verbindung noch zu frisch, aber es war etwas warmes, wohlig vertrautes, wie sie sich unter den Decken zusammenkuschelten und erkundeten, was diese Verbindung überhaupt werden sollte. Für Chester hatte es nur einen einzigen Zweck: Die letzten Stunden auskosten. Er hatte Tessa eine unsichtbare Frist gesetzt, die voraussichtlich am morgigen Tag auslaufen würde und bis dahin wollte er ihr das sein, was er danach nicht mehr sein konnte: Ein guter Freund und eine erfrischende Liebelei. Auch sie sollte die letzten Stunden genießen, wenngleich sie gar nicht wusste, dass es die letzten sein würden.
      Natürlich war Chester nicht dazu gezwungen, sie gleich darüber aufzuklären, was es mit dem eigentlichen Pakt auf sich hatte. Er könnte es einfach nicht tun, diese neuartige Freundschaft weiterlaufen lassen und sehen, wohin sie sie noch führen würde, aber in seinem langen Leben hatte er schon diverse Methoden ausprobiert, um seine Arbeiter mit der Wahrheit zu konfrontieren - einschließlich dem Versuch, es ihnen einfach nie zu sagen - und diese eine Methode jetzt war, leider, am effektivsten. Es hielt auch sein eigenes Gewissen reiner, denn es hatte ihn immer gestört, den Leuten etwas vorzumachen, was dann gar nicht der Wahrheit entsprach. Er wollte, dass sie wussten, was sie im Leben noch erwarten würde.
      Auch Tessa würde es erfahren und weil er sie trotz seines Verrats gern hatte und ihr das beste Leben ermöglichen wollte, das sie hier führen konnte, würde er sich darum kümmern, dass sie es anständig verarbeiten würde, so wie er ihr auch über den Tod ihrer Freundin hinweg geholfen hatte. Es mochte wehtun, aber so war das immer. Alles hatte einen Preis, der mit Schmerzen verbunden war.

      Tessa schlief in seinen Armen ein und war kirschrot im Gesicht, als er sie am Morgen in seinen Armen weckte. Er neckte sie dafür, bis sie ihre Schüchternheit ein wenig abgelegt hatte und wieder ehrlich lachen konnte und ging mit ihr zum Frühstück. Danach brachte er sie bis zum Zirkuseingang.
      "Pass auf dich auf. Wenn du nicht bis zum Abend zurück bist, werde ich Hector auf deine Suche ansetzen."
      Sein Grinsen war breit und fröhlich. Er verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Wange von ihr und nahm damit wohl auch Abschied von dem, was sie so fragil zwischen einander aufgebaut hatten. Dieses Konstrukt würde er später noch ganz eigenhändig zum Einsturz bringen.
    • Mit Müh und Not löste sich Tessa aus den Armen des Mannes, der ihr eine vollkommen neue Welt eröffnet hatte. Abgesehen davon, dass sie die Hälfte der Zeit kaum wusste, was sie überhaupt tat, war sie in ihrem Leben noch nie so glücklich gewesen. Dick eingepackt in die Winterkleidung, die Chester ihr ohne Widerworte zu dulden in die Arme gedrückt hatte, wappnete sich Tessa gegen den kühlen Wind. Der Himmel war aufgeklart und es versprach ein herrlicher, sonniger Wintertag zu werden. Unter ihren Stiefel knirschte der Schnee, als sie das Haupttor erreicht, wo Ella ihnen fröhlich mit einer dampfenden Tasse in der Hand zuwinkte. Die Diebin grüßte zurück, doch bevor sie ein Wort äußern konnte, verschwand die alte aber resolute Frau im inneren ihres Wohnwagens. Verwirrt starrte Tessa die abgeblätterte, rosa Farbe der Holztür an und richtete denselben, fragenden Blick an Chester, der nur beiläufig mit den Achseln zuckte. Anscheinend war Tessa kein Morgenmensch. Dennoch ließ sie den Blick über den großen Vorplatz schweifen. Es war ungewöhnlich ruhig zu dieser Stunde, in der für gewöhnlich bereits die ersten Schausteller und Arbeiter fleißig zwischen den Zelten und Buden hin und her wuselten.
      Der Kuss auf die Wange ließ die Haut kribbeln und erinnerte sie an all die kleinen, unschuldigen Zärtlichkeiten, die sie in dieser Winternacht ausgetauscht hatte. Jede Berührungen war ein Versprechen nach Mehr gewesen. Einem Mehr, zu dem sie noch nicht bereit war. Trotzdem hatte sich ihr Kopf am Morgen unangenehm heiß angefühlt, da sie sich im Schlaf eng an Chester geschmiegt hatte, der darüber äußerst vergnügt gewirkt hatte.
      Ungern entließ Tessa die warmen Hände aus ihrem Griff und schlüpfte eilig in die Handschuhe, damit ihre Finger nicht kalt wurden. Noch unbehaglicher wurde ihr bei dem Gedanken, allein das Gelände zu verlassen. Ohne den Blick von Chester abzuwenden, setzte sie einen Fuß zurück und durchschritt rückwärts das Tor. Tessa zögerte. Musste sie wirklich heute gehen? Konnte es nicht warten bis es weniger kalt war? Sollte sie nicht lieber mit anpacken, nun, da sie offiziell angestellt war anstatt sich in der Stadt herumzutreiben? Das widerstrebende Gefühl ballte sich zu einem Stein ihrer Magengrube. Tessa blinzelte und schüttelte das plötzliche Unbehagen mit einem Gedanken Rosie ab.
      Tessa zog sich den Schal bis zum Kinn und schenkte Chester ein warmes, verträumtes Lächeln.
      "Wie besprochen. Keine Umwege, keine waghalsigen Manöver...und nicht mit Fremden reden", schmunzelte Tessa und musste gerade beim letzten Teil beinahe ein Lachen unterdrücken. Sie wusste, dass Chester sich darum sorgte, dass Tessa möglicherweise wieder in Schwierigkeiten geriet. Immerhin hatte sie bisher ein außerordentliches Talent dafür bewiesen.
      Tessa ging einen weiteren Schritt rückwärts und winkte Chester zum Abschied zu.
      Der Stein in ihrem Magen blieb, als sie durch den Schnee davon stapfte.

      Die Armengräber am Friedhof außerhalb der belebten Straßen der Stadt waren in erster Linie genau das: armselig.
      Tessa ging still und andächtig zwischen den zahllosen Reihen schlichter Gräber hindurch. Einfache und in Hektik gezimmerte Holzkreuze zierten die Gräber unterschiedlichen Alters. Die Witterung der Jahre hatte einige Kreuze bereits so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass der Querbalken abgefallen oder in Schieflage geraten war. Es war schwer die frisch aufgehäuften Grabhügel im hohen Schnee zu erkennen. Rosies Beerdigung, anonym und ohne großes Aufsehen, war erst wenige Tage her und daher dürfte es nicht allzu schwer sein, ihr Grab zu finden. Erschreckend für Tessa war der Anblick der vielen, neuen Gräber, die seit dem Schneesturm dazugekommen waren. Wie viele Menschen waren jämmerlich ohne ein Dach über dem Kopf erfroren. Kurz dachte Tessa an die Straßenkinder im Versteck. Sie würden lernen zu Überleben. Rosie, Jakob und Tessa hatten am Anfang auch niemanden gehabt, der sich um sie gekümmert hatte. Es war hart, aber sie würden sich durchbeißen wie Generationen zuvor.
      Beinahe hätte Tessa aufgegeben, wenn aus einem kleinen Schneehügel nicht der zerdrückte Blütenkopf einer gelben Rose hervor gelugt hätte. Gelb war Rosies Lieblingsfarbe gewesen. Tessa ging vor dem schlichten Holzkreuz, in die Hocke und befreite ganz behutsam die welke Rose vom Schnee. Da erkannte sie, dass es keine echte Rose war. Jemand hatte sie mit ungeschickten, kindlichen Händen aus Stoffresten gebastelt. Tessa wehrte sich nicht gegen das Brennen in ihren Augen. Hier war niemand, der sie für Tränen verurteilen würde. So kullerte ungehindert Träne für Träne über die geröteten Wangen während das Mädchen auf das Holzkreuz sah, das weder Namen noch Daten trug. In ein paar Jahren würde sich niemand mehr daran erinnern, wer genau in diesem Grab zur Ruhe gebettet worden war. Rosies Familie würde nie erfahren, was ihrer Tochter passiert war...
      Tessa ließ sich in den Schnee plumpsen und ignorierte die feuchte Kälte, die durch ihre Hose sickerte. Schniefend rieb sie sich über die Nase und räusperte sich.
      "Hey, Rosie...", murmelte sie. "Ich vermiss' dich. So, so sehr. Es tut mir alles so leid. Chester sagt, es ist nicht meine Schuld, aber ich hätte diesen dämlichen Auftrag nicht annehmen dürfen. Du bist für Nichts gestorben. Du warst meine beste Freundin. Du hast mich immer vor meinem Leichtsinn gewarnt und jetzt bist du deswegen fort. Das ist nicht fair."
      Mit dem Ärmel wischte sich Tessa über die Augen.
      "Ich gehe fort. Deshalb ist das hier ein Abschied für immer, nicht? Ich hoffe du bist glücklich, wo immer du bist. Ich werde auch versuchen glücklich zu werden und ich glaube, Chester kann mir dabei helfen."
      Tessa lächelte schüchtern.
      "Ich mag ihn sehr, weißt du?"
      Sie seufzte.
      "Jacob kann nicht hier sein, aber ich denke, ich darf für ihn sprechen und dir sagen, dass er dich auch vermisst."
      Eine ganze Weile sprach Tessa zu dem blanken, schlichten Holzkreuz bis sie ihre Zehen kaum noch spürte.
      Bevor sie dem Grab den Rücken zukehrte, berührte sie die gelben Stoffblätter der Rose.
      "Leb Wohl, Rosie."

      Mit eiligen Schritten huschte Tessa durch den matschigen Schnee.
      Ihre Beine mussten von der Kälte schon fast taub sein, denn jeder Schritt in Richtung der erleuchteten Stadthäuser viel ihr schwerer und schwerer. Eine unsichtbare Kraft wollte ihre Füße am Boden festhalten, so dass sie mehrfach stehen blieb und verharrte bis sie sich dazu durchringen konnte, weiterzugehen. Mit jedem Meter gestaltete sich das fortkommen schwieriger und eine Welle der Müdigkeit schwappte über das Mädchen hinweg. Die Schwere breitete sich langsam in allen Gliedern aus. Es war eine Erschöpfung, die sich bis in die Knochen niederschlug und dumpf in ihrem Kopf wiederhalte.
      Tessa blinzelte gegen den kalten Wind und den fallenden Schnee, wobei sie sich immer wieder über die Augen rieb um die verschwommene Sicht zu klären. Sie musste weiter, wenn sie noch einen Weg zu Jakes Zelle auskundschaften und zum Abend zurück im Zirkus sein wollte.
      Chester wartete. Sie hatte es versprochen.
      Er wartete.
      Sie musste zurück.
      Musste zurück.
      Zurück.

      Tessa schlug desorientiert die Augen auf.
      Ein schmerzhaftes, unangenehmes Prickeln durchzog ihre Finger. Die tauben Fingerspitzen gruben sich tiefer in den Schnee, in dem sie kniete. Verwirrt blickte Tessa hinab auf ihre von Kälte geröteten Hände, die versuchte sich in den lockere, feuchten Schnee zu krallen. Ihre Oberkörper schwankte von links nach rechts, während das Bild vor ihren Augen langsam schärfer wurde.
      Wo war sie?
      Mühevoll hob sie den Kopf und erkannte den vertrauten Anblick eines hohen Eisenzaunes und dazwischen das geschmückte Eingangstor zum Zirkus Magica. Tessa lächelte versonnen und stand ganz und gar neben sich, als sie bemerkte, dass sich jemand die Mühe gemacht hatte, den Torbogen mit Misteln zu schmücken. Lichter, die später zauberhaft funkelten sobald die Dunkelheit heranbrach waren in das frische, dunkle Grün gebettet.
      Schritte näherten sich durch den Schnee und die Diebin vernahm eine Stimme, dumpf und weit, weit weg.
      "...du hast...alleine...gehen lassen...?"
      Ella.
      Vielleicht.
      "...dumm und gefährlich...Chester!"
      Chester.
      "...hättest...ihr sagen müssen...!"
      Tessa horchte auf.
      Ein paar Schritte noch, dann war sie Zuhause.
      Sie schwankte und kam taumelnd auf die Füße, bis sich ein dünner Arm um ihren Torso schlang. Schlank und gebrechlich, die Hände in kitschigen, selbstgestrickten und rosafarbenen Handschuhen.
      "...Ella?", murmelte Tessa benommen.
      "...ja, Liebes. Komm, holen wir dich ins Warme. Ein paar Schritte noch, dann geht's dir gleich besser."
      "...wie bin ich...ich wollte doch...ich fühl mich so merkwürdig..."
      "Shhh, das geht gleich vorbei."
      Sie bewegten sich vorwärts, doch Tessa spürte ihre Füße nicht. Ein Zug, als hätte jemand unsichtbare Fäden um ihren Leib gespannt, zog sie unerbittlich nach vorne. Im Augenwinkel nahm sie weitere, verschwommene Gestalten war, die sich am Tor versammelten. Gemurmel erfüllte die Luft, das sie nicht verstand. Jemand hatte ihre Ohren mit Watte vollgestopft. Erst als sie das Tor durchschritt löste sich der Druck auf ihrem Brustkorb und Tessa sackte erneut in die Knie, als hätte jemand die Fäden ohne Vorwarnung durchtrennt. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie fasste verängstigt nach Ella, die sich erhob und sie losließ.
      "Ella, irgendwas stimmt nicht mit mir...", murmelte sie.
      Träge verfolgte sie Ellas Stiefel, die sich einem zweiten Stiefelpaar näherten.
      Die Stimme wurden langsam lauter.
      Es war die schneidende Stimme der Kartenfrau, die sie als erstes klar und deutlich hörte.
      "Bring das in Ordnung!", forderte sie wütend.
      Tessa hatte noch nie gehört, dass die gutmütige Frau ihre Stimme erhob.
      Nach einer Pause sprach Ella ein weiteres Mal, dieses Mal war der Ton resignierend beinahe schon enttäuscht.
      "Diese Mal habe ich wirklich geglaubt, dass du irgendwo da drin", sie konnte nicht sehen, wie Ella ihren Zeigefinger in die Brust ihres Gegenübers bohrte als ihr Mitgefühl für Tessa alles überschattete, denn Ella hatte das schüchterne Mädchen wirklich lieb gewonnen. "noch ein Herz besitzt. Hat sie nicht genug durchgemacht? Die Suppe löffelst du alleine aus. Bring sie zu mir, wenn es Zeit ist die Scherben aufzusammeln."
      Und Ella stapfte davon.
      Die Tür zu ihrem Wohnwagen fiel geräuschvoll ins Schloss.
      "Chester...?", flüsterte Tessa mit dünner Stimme.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chester sah Tessa noch nach
      und dann verschwand sein Grinsen. Eigentlich, wenn er es sich recht überlegte, war er gerade auf dem besten Weg, schlechte Laune zu bekommen.
      Seine erste Station war Liam, den er in seinem Wagen fand, über die Aufführungszeiten für diesen Monat gebeugt. Er würde ein neues Pamphlet ausstellen, damit sie auch wieder mit Besuchern rechnen konnten, wenn es neu anging.
      Als Chester hereinkam, sah er nur ganz kurz auf und widmete sich dann wieder seiner Arbeit.
      "Du bist ja früh wach. Verbringst du nicht wieder den ganzen Tag mit deiner Liebschaft?"
      "Sie hat's getan. Gestern Abend."
      Da sah der stellvertretende Direktor doch mit hochgezogenen Brauen auf.
      "Ich habe gar keinen Krach gehört. Wie hat sie es aufgefasst?"
      "Sie weiß es noch nicht, weil sie sich heute von ihrer toten Freundin verabschieden geht. Da konnte ich ihr das doch nicht gestern sagen."
      Liam nickte langsam, schien etwas sagen zu wollen und sagte dann etwas anderes.
      "Du musst es wissen. Dann trage ich sie ein?"
      "Nicht für diese Woche, vielleicht auch nicht für die nächste. Ganz davon abhängig, wie sie es auffasst."
      "In Ordnung."
      Das war es dann auch schon wieder. Liam widmete sich stoisch wieder seiner Arbeit und Chester ging, die Lippen fest genug aufeinander gepresst, dass sie ihm schmerzten.

      Malia fand er im Kantinenzelt mit einigen anderen, die dort eine Feuerschale hin verfrachtet hatten und eine Kartoffel-Schäl-Station aufgebaut hatten. Sie unterhielten sich ausgelassen, während der Koch auf einem Stuhl saß und gemächlich Zwiebeln schnippelte.
      "Alle mal herhören!", rief Chester, als er hereinkam. Diesmal lächelte er nicht und hatte ein neutrales Gesicht aufgesetzt. "Wir haben einen Neuzugang: Die bezaubernde Theresa Penhallow. Sie wird ihr Glück nachher erst erfahren, deswegen verlange ich absolute Diskretion von euch. Verstanden?"
      Allgemeine Bestätigung kam ihm entgegen, manche fröhlich, andere skeptisch. Wenn Chester nicht offen lächelte, bedeutete das meist, dass seine Laune zu sinken begann.
      "Sie wird ihre erste Woche entweder bei den Ständen oder in der Küche beginnen. Malia, du wirst ihre Mentorin sein. Komm mit mir."
      "Was?" Die Angesprochene richtete sich auf ihrem Platz auf. "Wieso ich?"
      "Weil du. Komm jetzt."
      Sie kniff die Augen zusammen. Dann schnaubte sie unwillig, knallte ihren Schäler auf den Tisch und folgte ihm zu seinem Zelt.
      "Tessa - Theresa", er würde sich das wieder angewöhnen müssen, "ist gerade noch unterwegs. Wenn sie zurückkommt, wird sie zu meinem Zelt kommen und dann werde ich es ihr sagen. Du wirst draußen warten, bis sie rauskommt, und sie in Empfang nehmen. Ich will nicht, dass sie alleine ist, weil sie eine schwere Zeit durchmacht."
      Malia verschränkte die Arme vor der Brust.
      "Ich muss also draußen im Schnee warten, dass du ihr drinnen im Warmen erzählen kannst, dass sie nie wieder fort kann?"
      Chesters Miene verdüsterte sich ein wenig.
      "Stell dich nicht so an, so kalt ist es nicht. Zieh dir zwei Paar Socken an."
      "Es ist arschkalt hier draußen. Wenn du nicht den ganzen Tag in deinem Zelt hocken würdest, würdest du das merken."
      "Pass auf, wie du mit mir redest", knurrte er.
      Die Frau verdrehte nur die Augen.
      "Warum ich, Chester? Ich will das nicht."
      "Was denkst du wohl, warum du? Damit du was zu tun bekommst, während hier nichts los ist."
      "Sehr witzig."
      "Tu es einfach und geh mir nicht auf die Nerven. Heute nicht."
      "Ach." Sie lächelte trocken. "Ist da jemand etwas aufgeregt?"
      "Raus hier", knurrte er zurück. "Und lass dich nicht blicken, bis sie rauskommt."
      "Schon verstanden."
      Damit stolzierte sie zurück nach draußen und Chester setzte sich an seinen Schreibtisch. Jetzt galt es eigentlich nur noch zu warten und die Zeit überbrückte er, indem er die Schublade seines Tisches aufschloss, sein Privatbuch herausholte, es aufklappte und zu schreiben begann. Diesen Moment einer Neuanstellung hasste er besonders.

      Als Tess- Theresa nach Stunden immer noch nicht aufgetaucht war, begann er sich langsam zu sorgen, auch wenn er wusste, dass es nicht vonnöten war. Ihr konnte nichts ernsthaftes zustoßen, denn sie würde immer einen Weg zum Zirkus finden, jetzt da sie an ihn gebunden war. Aber seine Nerven waren heute schon sehr strapaziert und da wollte er es eigentlich lieber schnell hinter sich haben.
      Irgendwann bekam er dann den Aufruhr beim Zirkuseingang mit. Er warf sich seinen Mantel über und eilte nach draußen.
      Theresa war zurückgekommen, aber nur unter dem Einfluss der Uhr. Es war deutlich erkennbar an ihrer Orientierungslosigkeit und der geistigen Abwesenheit, die sie noch immer an den Tag legte. Chester hatte bisher nur zwei Leute unter dem Einfluss der Uhr zurückkehren gesehen, noch bevor sie den Eingang erreicht hatten, und es war beide Male ein gar gruseliger Anblick gewesen. Jetzt war er fast froh darum, als einer der späteren aufgekreuzt zu sein.
      Ella eilte gerade heraus, als sie ihn erblickte. In ihren Augen stand ein mütterlicher Zorn, für den er dieses Mal aber nichts übrig hatte. Auf seiner Stirn bohrte sich bei ihren Worten eine tiefe, harte Falte ein.
      "Was hätte ich tun sollen?! Sie begleiten?!", keifte er zurück. Doch Ella war schon zu lange dabei, um sich vor seinen Stimmungsschwankungen zu fürchten.
      "Sie wusste es noch nicht. Ich dachte, sie würde nicht so lange bleiben!"
      Wo war sie schließlich hingegangen? Zum Friedhof und zurück dauerte doch sicher keine Stunden.
      Chester blieb unbewegt genau dort stehen wo er war, während die Alte schon vorlief, um Theresa zu stützen. Das Mädchen hob den Kopf ein Stück, aber ihre Augen waberten nur orientierungslos durch die Gegend. Direkt hinter dem Tor ging sie erneut in die Knie, aber Ella war bereits da, um sie wieder hochzuziehen. Um sie herum murmelten die Schaulustigen sich zu.
      Chester hatte es schon immer gehasst, wenn die Leute einfach rumstanden und gafften, er drehte sich einmal im Kreis.
      "Was steht ihr hier rum und guckt?! Weg mit euch! WEG! Geht an eure Arbeit, JETZT SOFORT!"
      Von Chesters brüllender Stimme stoben sie auseinander. Sie verließen den Platz und ließen lediglich Malia zurück.
      Malia, die ihn voller grimmigem Vorwurf ansah.
      Chester wandte sich von ihr ab, gerade rechtzeitig, um die neueste Anschaffung des Zirkus Magica quasi vor die Nase gesetzt zu bekommen. Ella funkelte ihn dabei mit einer erstaunlichen Energie an.
      Ihr Vorwurf verletzte ihn nicht, dafür war er schon zu alt. Mittlerweile hatte er auch nichts anderes im Sinn, als diese Sache endlich hinter sich zu bringen.
      "Ich mache das nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, Ella."
      Darauf gab es nichts zu erwidern. Die alte Frau ging und ließ Theresa alleine bei ihm zurück.
      Chester sah sie für einen Moment an. Sie sah nicht wirklich fähig dazu aus, irgendwas aufzunehmen, aber da musste sie jetzt durch. Ihr Gesicht war von der Kälte ganz rot und ihre Augen sahen verquollen aus.
      Am gestrigen Tag, ungefähr zu dieser Uhrzeit, hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Jetzt würde Chester diesem armen Mädchen das Leben nehmen.
      Seine Stimme war kühl und bar jeglicher Sympathie, als er zu ihr sprach.
      "Komm mit mir."
      Leider schien sie noch nicht zu wissen, wie das zu bewerkstelligen war, daher nahm er sie am Arm - nicht mehr an der Hand - und führte sie. Malia blieb hinter ihnen und verweilte draußen vor dem Zelteingang, als er mit Theresa hineinging.

      Er setzte Theresa auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch ab. Sich selbst setzte er hinter diesen Schreibtisch. Einige Sekunden lang musste er noch warten, bis auch der letzte Rest an Orientierungslosigkeit bei der jungen Frau verschwunden war.
      Sie sah ihn unsicher an, verängstigt. Er glaubte, dass sie sein Gesicht noch nie gesehen hatte, ohne dass nicht mindestens ein Lachfältchen dort gehaust hätte. Jetzt war es vollkommen emotionslos und das musste es auch sein.
      Auf die Plätze, 3... 2... 1...
      "Du warst nicht beim Friedhof."
      Seine Stimme so kühl zu halten war ein bisschen wie zu singen, auch wenn die schönen Töne dabei fehlten. Man musste sich einfach bewusst sein, was die Stimme tun sollte.
      Er gab ihr die Gelegenheit, zu antworten und sich zu rechtfertigen, aber auch nicht mehr als das.
      "In Zukunft will ich, dass du entweder das tust, was ich dir sage, oder mir sagst, wenn du etwas anderes tust. Haben wir uns da verstanden?"
      Er konnte die Unsicherheit förmlich an ihrem ganzen Körper ausmachen. Er konnte sehen, wie sehr sie die Situation verängstigte und wie verwirrt sie war.
      Er würde sie zerstören und das musste er. Es wäre nur zu ihrem besten.
      "Du bist wieder zum Zirkus zurück gelangt, weil die Uhr dich geführt hat. Das ist jetzt dein Leben, Theresa. Hiervon gibt es kein Zurück mehr."
      Er zückte die Uhr und klappte sie auf. Der Sekundenzeiger tickte vor sich hin.
      "Es gibt keinen Arbeitsvertrag, es gibt nur das hier. Das ist keine gewöhnliche Uhr, aber das musst du mir nicht glauben. Du musst nur glauben, was ich dir jetzt sagen werde."
      Er lehnte sich vor, langsam, in seinem eigenen Takt - 1... 2... 3... 4... Seine Augen strahlten nicht mehr und verbreiteten auch keine Wärme, sie waren kalt und fast teilnahmslos.
      1... Mund.
      Seine Mundwinkel zuckten nach unten, als er zu sprechen begann.
      "Ich habe dich damals nur aus einem einzigen Grund aus der Menge herausgesucht und das ist nicht etwa, weil ich mich für dich interessiert hätte. Ich bin unsterblich und diese Unsterblichkeit", 2... er zeigte mit dem Finger auf sie, "ist dir zu verdanken. Alle zwei Jahre bediene ich mich an einer Seele und dieses Jahr ist es deine geworden. Ich bin nicht daran interessiert, dein Freund oder deine Liebschaft zu sein, ich bin nur an der Unsterblichkeit interessiert. Du wirst den Rest deines Lebens in diesem Zirkus verbringen, denn deine Seele ist an meine Uhr gebunden. Durch das Ritual, zu dem ich dich hereingelegt habe. Das Gefühl, das dich draußen beschlichen hat, das wird immer kommen, sobald du dieses Gelände verlässt. Und das hast du alles. Nur."
      Er lehnte sich nach vorne. In seinen Augen funkelte es von gespieltem Böswillen, der genauso echt war wie seine unbeschwerte Fröhlichkeit. Er wollte, dass sich dieser Moment und diese Worte in Theresa einprägten, dass er das Zentrum ihres Schicksals wurde.
      "Mir zu verdanken. Mir alleine. Ich habe dich an mich gebunden, damit ich weiterleben kann. Ich habe dich hereingelegt, nur dafür. Die Welt schenkt dir nichts, Theresa. Und ich tue es auch nicht."
      Und während er in den Augen dieses jungen, bislang noch unschuldigen Geschöpfes das Herz brechen sah, hoffte er inständig, mit allem was er hatte, dass Theresas Hass auf ihn und seinen Verrat stark genug wäre, um das Gefühl grenzenloser Hilflosigkeit zu überschatten, mit dem ihr Schicksal unweigerlich besiegelt war. Denn dann, wenn sie den ersten Schock überwunden hätte und nur noch der Hass verblieb, dann könnte er von vorne anfangen. Dann könnte er eine neue Beziehung zu ihr aufbauen und ihr ehrlich das restliche Leben im Zirkus so schön gestalten, wie es ihm nur möglich war.
    • Die allgegenwärtige Kälte lähmte sie. Wie sehr sich Tessa auch bemühte, ihr Körper wollte ihr einfach nicht gehorchen. Der undurchsichtige Nebelschleier lichtete sich viel zu langsam. Der kräftezehrende Versuch, der Anziehungskraft zu widerstehen, die ihr Kinn herunter auf die Brust drückte, schien ganz und gar unmöglich. Eine unendliche Schwere legte sich in ihren Beinen nieder, dass sich ihre Füße nicht vom Fleck rührten. Tessa schien an Ort und Stelle festgefroren.
      "Komm mit mir."
      Die kühle, distanzierte Stimme, die vor wenigen Stunden noch voll von Zuneigung und Wärme für sie gewesen war, trieb Tessa nun das Eis durch die Adern. Jeder Muskel in ihrem Körper sträubte sich instinktiv nach Leibeskräften der Bitte, nein, der Anordnung nachzukommen. Sie wollte dem Fremden nicht folgen, der sie mit festem Griff am Arm packte, als ihn die Ungeduld packte. Obwohl die Berührung nicht grob war oder gar schmerzte, zuckte Tessa vor Chester zurück als hätte der Mann sie mit seinen Fingern verbrannt. Ruckartig riss Tessa das Kinn hoch, was den Schwindel in ihrem Kopf verschlimmerte. Die Welt und der verschneite Zirkus begannen sich erneut zu drehen. Der Protest erstarb in ihrer Kehle und alles, was aus ihrem Mund kam, war ein erschrockenes Japsen, als Chester sie mühelos nach vorn zog. Tessa stolperte die ersten Schritte hilflos hinter ihm her, bis sie endlich wieder das Gefühl von festem Boden unter den Füßen hatte.
      Malia folgte ihnen den ganzen Weg über ohne dabei ein Wort zu verlieren. Die hübsche Frau mit dem gleichgültigen Blick hatte sich nie sonderlich für den Neuankömmling interessiert. Etwas Verstörendes lag in der Art und Weise, wie sie ihnen nun folgte wie ein stummer, gehorsamer und lauernder Schatten.
      Mit jedem Schritt in Richtung Chesters Zelt, dröhnte der eigene Herzschlag und ein vertrautes, unheimliches Ticken in ihren Ohren. Als das Zelt in Sichtweite rückte, hätte Tessa am liebsten die Fersen in den vereisten, harten Boden geschlagen. Der Fluchtinstinkt überwog jedoch nicht den kleinen Funken an Hoffnung, dass alles gut werden würde.

      Über den wuchtigen Schreibtisch hinweg, wagte Tessa das erste Mal einen flüchtigen Blick in sein Gesicht. Sie hatte den Rest der Orientierungslosigkeit abgeschüttelt und das massive Möbelstück baute sich nun zwischen ihnen auf wie Mauer aus poliertem, dunklen Holz und wurde für Tessa in diesem Augenblick zu einem Symbol der unüberwindbaren Distanz, die sich in den blassblauen Augen spiegelte. Da war kein spitzbübisches Zucken seiner Mundwinkel, kein warmes Leuchten in seinen Augen, kein Lächeln, kein verschwörerisches Zwinkern. Nichts. Nur eine kalte Maske bar jeglicher Emotion, die seine Gesichtszüge verhärtete und alle verspielte Jugendlichkeit vertrieb, die Tessa seit der ersten Begegnung verzaubert hatte. Vor Tessa saß ein Fremder mit einem gestohlenen Gesicht, das ihm nicht recht passte und das machte ihr Angst.
      "Du warst nicht beim Friedhof."
      „Natürlich war ich beim Friedhof!“, widersprach Tessa hastig. „Chester, was soll das? Denkst du, ich habe dich angelogen? Hast du geglaubt, dass ich mich heimlich aus dem Staub mache? Ich habe dir doch gestern erklärt, dass ich noch in die Stadt wollte um eine Möglichkeit zu finden, mit Jacob zu sprechen bevor…“
      Bevor er ihr mit zärtlichen Küssen eine bisher unerreichbare Zukunft versprochen hatte.
      Bevor er sie behutsam an seine Brust gezogen und die ganze Nacht gehalten hatte.
      Bevor sie sich ganz und gar in ihm verloren hatte.
      Bevor sie ein neues Leben beginnen würde.
      Zusammen.
      "In Zukunft will ich, dass du entweder das tust, was ich dir sage, oder mir sagst, wenn du etwas Anderes tust. Haben wir uns da verstanden?"
      Die süße Erinnerung bekam einen bitteren Beigeschmack, als Chester ihre Verteidigung einfach abwürgte. Er hatte gehört, was er wollte. Unter dem teilnahmslosen Bick sank Tessa noch tiefer in den Stuhl hinein. Die Illusion einer glücklichen Zukunft zersplitterte mit jedem Wort und es dauerte nicht allzu lange, da schlich sich ein verräterisches Glitzern in ihre Augen. Mit dem zerstörten Traum bahnten sich die ersten Tränen den Weg über ihre bleichen Wangen. Das Blut rauschte lautstark in ihren Ohren, während Chester ihr ein Märchen auftischte, dass zu unglaublich klang um wirklich wahr zu sein. Es war die grausamere Version von Isadora Penhallows Gutenachtgeschichte. In Chesters Variante war der Zirkus keine Zuflucht für die Verlorenen, sondern ein Gefängnis für die Leichtgläubigen. Ein Seelensammler, der kühl und unerbittlich durch die Lande zog wie der Ostwind.

      'Mein Liebling, hüte dich vor dem Ostwind.
      Er ist kalt und unbarmherzig.
      Nur die Schwachen holt er vom Antlitz dieser Welt.
      Deshalb darfst du niemals schwach sein, Tessa.'

      Rückblickend war Isadora Penhallow vielleicht keine verrückte, selbstsüchtige Rabenmutter gewesen. Vielleicht hatte sie schon immer mehr gesehen, als andere Menschen. Obwohl Tessa nicht lesen konnte, wusste sie, dass Worte eine mächtige Waffe waren. Sie erfuhr es am eigenen Leib, als jedes von Chesters sorgfältig ausgewählten Worten sich wie ein Dolch in ihre Brust trieb. Mit unheimlicher Präzision zerbrach Chester das verletzliche Herz in ihrer Brust in tausend Stücke. Schmerz, den nichts lindern konnte, explodierte in ihrer Brust. Den Todesstoß versetzte er dem gebrochenen Herz, als er die mahnenden Worte von Isadora gegen sie verwendete. Er erinnerte sie auf grausamste Art, wie dumm und leichtgläubig sie sich in seine Nähe begeben hatte. Tessa fiel in das tiefe Loch ihrer Gedanken und ließ den Tränen ungehemmt freien Lauf.

      'Die Welt schenkt dir nichts.'
      'Niemand ist ohne Hintergedanken so freundlich, Tess.'
      'In Wahrheit bin ich ein Sammler.'
      Tick
      'Es war einmal vor sehr langer Zeit ein Zirkus. Ein Zirkus der Unsterblichen…'
      'Es war ein Trick.'
      Tack
      'Ich würde dich nicht anlügen, aber ich würde dir auch nicht die ganze Wahrheit sagen.'
      'Ich würde dir eine Zukunft versprechen.'
      'Stelle lieber die Frage, warum ich es nicht versprechen sollte.'
      Tick
      'Es war ein Trick.'
      'Wer bist du draußen, der du nicht hier drinnen sein kannst, Tessa?'
      'Du machst mich gerade sehr, sehr glücklich, meine liebe Tessa.'
      Tack
      'Die Welt schenkt dir nichts.'
      'Es war ein Trick.'

      "Du hast Recht. Ich glaube dir kein Wort.", wehrte sich Tessa gegen die Wahrheit, die sie nicht sehen wollte. "Aber wenn du mir damit wehtun wolltest, dann herzlichen Glückwunsch. Dass du mir lieber ein Märchen auftischt, als mir die Wahrheit zu sagen...Eine verzauberte Uhr? Ein unsterblicher Zirkusdirektor? Ein Pakt? Magie? Ich hätte dich für vieles gehalten, aber nicht für grausam. Oder feige. Zumindest hättest du dir mehr Mühe geben können, als mir die gleiche Geschichte noch einmal zu erzählen. Ich hab' dir vertraut Chester!"
      Bei den letzten Worten war ihre Stimme höher geworden. Beim Sprechen schmeckte sie das Salz auf ihren Lippen.
      Trotz regte sich in der stillen, jungen Frau. Trotz und Wut.
      "Und worauf wartet Malia draußen? Ist sie jetzt sowas wie meine Aufpasserin? Die böse Hexe in deiner Geschichte, die acht gibt, dass ich keine Dummheiten anstelle? Du kannst mich hier nicht festhalten, Chester. Ich bin nich dein Eigentum und auch nicht eines deiner Sammlerstücke."
      Knarzend schob Tessa den Stuhl zurück, als sie ruckartig aufstand.
      In der schüchternen Diebin loderte ein ungeahntes Feuer, das sich jetzt auf ein Ziel richtete: Chester. Zorn und Trauer waren eine gefährliche und explosive Mischung. Gepaart mit einem gebrochenen Herzen machte das Tessa unberechenbar.
      Aber nicht in diesem Moment.
      Tessa sah auf die winzige Spur des Einstichs an ihrem Finger.
      Unter all dem Bravado blieb trotzdem die kleine Tessa übrig. Sie schniefte herzzereißend und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Das Gesicht traurig zu einer Grimasse gezogen, in der sich die Narben eines harten Lebens allzu deutlich abzeichneten.
      "Ich dachte du..."
      Nein, er hatte es nie gesagt.
      Und er würde es nie sagen.
      "Was war ich für dich? Ein Zeitvertreib? Ein kleiner Spaß bevor ihr in die nächste Stadt zieht und du dir das nächste, einsame Mädchen aus der Menge pickst? Die Nächste, der du deine Märchen erzählen kannst?"
      Chester hatte sie benutzt.
      "Ich hab' dir vertraut..."
      Wiederholte sie und dann...
      "Ich will gehen. Sofort."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Langsam lehnte Chester sich in seinem Stuhl zurück. Dafür brauchte er fünf Sekunden, was er nur deshalb so genau wusste, weil er gedanklich mitzählte.
      Mehrere Ausdrücke waren in Tess - Theresas Gesicht aufgetaucht, die sich jetzt allesamt zu überlagern schienen. Sie hatte schon früh angefangen zu weinen und während Chester sie vor einigen Tagen noch von solchen Tränen getröstet hatte, ließ er sie jetzt einfach an sich abprallen. Auch Theresa würde eines Tages sterben, hielt er sich vor, während er sich kein bisschen rührte, um die Frau zu beschwichtigen. Sie würde sterben wie jeder andere auch und dann wäre auch dieses Kapitel vorbei. Ein paar Tränchen zu vergießen war da noch nichts, was irgendwie seiner Aufmachung bedarf.
      Danach konnte er beobachten, wie jedes einzelne seiner Worte sie auf eine Weise traf, wie sie nur jemand mit einer entsprechend emotionalen Verbindung verspüren konnte. Er schlitzte sie quasi von innen heraus auf. Wenn er ein Messer gehabt hätte und es ihr wiederholt in die Brust gestoßen hätte, so vermutete er, hätte es kaum mehr Schaden anrichten können als das. Theresa war in ihrer Naivität und Unschuld seiner Härte vollkommen ausgeliefert und das war ihr unweigerlicher Untergang.
      Dafür überraschte es ihn umso mehr, dass sie nicht völlig in ihrem kleinen Stuhl vor seinem wuchtigen Schreibtisch einging, sondern dass eine Art Trotz in ihren Augen aufflammte. Er hätte gedacht, dass sie die Art von Frau würde, die sich in ihrer Verzweiflung die Seele aus dem Leib weinte und dann später, etwas nüchterner, sich mehr mit diesem Augenblick auseinandersetzen würde. Aber in ihren Worten tauchte ein Widerwille auf, den er ihr nicht zugeschrieben hätte. Ein Kampfgeist, der gar nicht zu seinem scheuen Reh passte.
      Zu einem scheuen Reh. Sie war nicht mehr seins.
      Aber auf der anderen Seite war sie ein Leben auf der Straße gewöhnt. Und was tat man wohl auf der Straße? Man hielt sich die blutenden Wunden, bis man einen Ort gefunden hatte, an dem es sicher genug war, sie zu verarzten.
      Chester verstand das, Chester konnte das respektieren. Dann wollte er sie mal nicht von diesem sicheren Ort fernhalten, der jetzt nicht mehr sein Zelt sein würde.
      "Wenn du mir nicht glaubst, ist das deine Schuld", gab er schroff zurück. "Es ändert nichts an der Sache selbst."
      Scheinbar die Ruhe selbst verschränkte er die Hände in seinem Schoß. Wenn es eine Sache gab, die er im Angesicht von Theresas aufschäumender Wut machen musste, dann war es vollkommen ruhig zu bleiben. Es würde sie nur noch mehr aufregen, wenn er so unbeteiligt blieb und das würde sich alles am Ende noch auszahlen. Dessen war er überzeugt.
      "Malia ist hier, weil ich sie darum gebeten habe. Sie ist genauso an die Uhr gebunden wie du es bist - jeder hier ist das. Und wenn du das schon nicht glauben willst, dann erinnere ich dich an den Vertrag, den du eigenhändig unterschrieben hast. Woher willst du wissen, dass dort wirklich steht, was ich dir vorgelesen habe? So sehr hast du mir vertraut, was?"
      Trotz seiner Worte verzichtete Chester darauf, Theresa weiter zu provozieren als nötig. Seine Miene blieb ganz unbeteiligt, aber sie war nicht gelangweilt, sie war auch nicht schadenfroh. Er ließ lediglich sämtliche seiner Gesichtsmuskeln völlig entspannt, was ein Akt an sich war. Es kostete mindestens genauso viel Mühe wie zu lächeln.
      Mit einem Ruck stand die Frau auf. Sie starrte auf Chester nieder, als wolle sie ihn in Flammen aufgehen sehen, was vermutlich auch genau so war. Trotzdem weinte sie noch und er war sich deutlich bewusst, dass unter diesem ganzen Zorn immernoch eine Theresa versteckt war, die sich weinend an seine Brust geschmiegt und Schutz gesucht hatte. Das hier war immernoch ein und dieselbe Person.
      "Was war ich für dich? Ein Zeitvertreib? Ein kleiner Spaß bevor ihr in die nächste Stadt zieht und du dir das nächste, einsame Mädchen aus der Menge pickst? Die Nächste, der du deine Märchen erzählen kannst?"
      "Ja. Nicht mehr als das."
      In ihrem Blick bewegte sich etwas. Chester kannte es, diesen Zorn, den er nicht nur heraufbeschworen, sondern dann auch noch auf sich selbst gerichtet hatte.
      Selbst jetzt tat sie noch genau das, was er von ihr wollte. Selbst jetzt hatte sie keine Möglichkeit als einfach zu tun, was für sie vorherbestimmt war. Ohne das Ausmaß dieser ganzen Dinge zu begreifen.
      "Ich werde dich nicht aufhalten. Raus mit dir, geh mir aus den Augen. Aber denk daran, dass du das Gelände nicht verlassen kannst."
      Sicher würde sie es versuchen, daran hatte er gar keine Zweifel - und er wusste auch, dass sie niemand aufhalten würde. Letzten Endes würde sie schließlich immer wieder zurückkommen, ob sie das wollte oder nicht. So war das Schicksal all jener, die im Zirkus Magica arbeiteten.
      Sie stürmte nach draußen. Chester blieb sitzen, bis nur noch das leise, unauffällige Ticken im Zelt übrig blieb. Theresa war verschwunden und damit hatte er sein Zelt wieder für sich alleine, sein eigenes kleines Reich in seinem größeren Reich, das nie jemand anderem als ihm selbst gehören würde.
      Er starrte ihr nach, richtete sich auf, schlug sein Buch auf und begann zu schreiben.

      Malia stand noch immer da, wo sie sich beim Zelt aufgestellt hatte. Es hatte den Anschein, als würde sie alleine sein, aber gut ein Dutzend anderer Arbeiter beobachteten aus ihren Verstecken den Augenblick, bei dem eine völlig aufgelöste Theresa aus dem Zelt gebrochen kam, das Gesicht voll von Tränen und unverhohlener Wut.
      Malia musterte sie abschätzend und sagte dann ganz nüchtern:
      "Hast du ihn geschlagen? So hab ich das gemacht, einmal die Faust direkt ins Gesicht. Hat schön geblutet."
      Nein, Theresa hatte ihn natürlich nicht geschlagen. Das nahm Malia zur Kenntnis und zuckte mit den Schultern.
      "Das kannst du ja noch nachholen. Komm mit, wir gehen uns jetzt erstmal einen Tee holen. Ich habe so ein Gefühl, dass du den heute ganz umsonst bekommen könntest. Sogar mit einem Schuss Honig. Und keine Widerrede, ich mach das hier genauso ungern wie du, das kannst du mir glauben. Wir waren alle mal dort, wo du jetzt stehst."
      Damit ging sie voran und verlangte von Theresa, dass sie ihr folgen würde. Sie führte sie zum Kantinenzelt, wo die Versammlung vom Vormittag sich bereits aufgelöst hatte. Der Koch war da und begann sogleich den Kessel aufzusetzen, als er auch nur einen Blick auf Theresa erhaschte. Ohne Einwände überreichte er ihnen das ganze Gefäß und betrachtete den Neuzugang dabei mit einem mitleidigen, gar entschuldigenden Blick.
      Malia stellte sie beide nicht vor, sie nahm den Kessel einfach entgegen und ging mit Theresa wieder nach draußen.
      "Jetzt setzen wir uns bei Ella rein, das ist eine gute Idee, denke ich. Ihr kennt euch ja schon, nicht wahr? Ella hat die schönste Kennenlern-Geschichte von uns allen, vielleicht erzählt sie sie dir ja, wenn du sie darum bittest. Dann lässt sich alles auch ein bisschen besser verdauen."
    • You may tell a tale,
      that takes up residence in someone's soul,
      becomes their blood and self and purpose.
      That tale will move them and drive them and
      who knows what they might do because of it.
      Because of your words.

      [The Night Circus - Erin Morgenstern]
      ____________________________________


      Die vollkommene Regungslosigkeit auf den vertrauten Gesichtszügen, die Tessa nun ebenso fremd erschienen, hätte die Flammen des Zorns beinahe im Keim erstickt und die Diebin buchstäblich in die Knie gezwungen. In einem letzten, verzweifelten Akt trat Tessa einen Schritt nach vorn.
      "Wenn du mir nicht glaubst, ist das deine Schuld."
      Nie zuvor hatte Chester in diesem schroffen, gemeinen Ton mit ihr gesprochen.
      Sie wollte erbost die Hände auf den Tisch schlagen und ihm all seine Lügen um die Ohren pfeffern. Tessa stellte sich vor, wie die sämtliche Papiere, Notizen und dekorativen Plunder von seinem Schreibtisch fegte. In ihrer Vorstellung wirbelten Blätter durch die Luft und das gläserne Tintenfass zerschellte am Boden, wo sich die dunkelblaue Tinte in alle Himmelrichtungen verteilte und Teppiche sowie seine hochwichtigen Geschäftsbücher gleichermaßen ruinierte.
      „…Woher willst du wissen, dass dort wirklich steht, was ich dir vorgelesen habe? So sehr hast du mir vertraut, was?"
      Nie zuvor hatte Chester sie mit dieser Härte und Kälte in seinem Blick angesehen.
      Tessa wollte die Verzweiflung und Wut an der teuren, irrsinnig luxurösen Einrichtung seines Zeltes auslassen. Sie wollte die Spiegel zersplittern und Bücher brennen sehen bis sein Zelt ansatzweise dem kläglichen Trümmerhaufen ähnelte, den Chester in ihrer Brust hinterließ.
      Bei dem einen Schritt sollte es jedoch bleiben.
      "Ja. Nicht mehr als das."
      Unter der Endgültigkeit dieser wenigen Worte zuckte Tessa zusammen als hätte Chester sie geschlagen. Es war der Blick in seinen Augen, der langsam Zweifel bescherte. Warum sollte er sie mit dieser aberwitzigen Geschichte zum Bleiben nötigen wollen, wenn er nur zu seinem Vergnügen mit ihr gespielt hatte? Die Puzzleteile, die sich vor Tessa ausbreitete, wollten einfach nicht zusammenpassen. Es sei denn, Chester erzählte die Wahrheit. Die Zornesröte verließ die mit Tränen benetzten Wangen und zurückblieb eine Leichenblässe, als hätte sie einen Geist gesehen. Tessa wurde schwindelig.
      „…Raus mit dir, geh mir aus den Augen.“
      „Du bist ein Monster, Chester“, murmelte Tessa. „Ein herzloses Monster, das vergessen hat, wie es sich anfühlt ein Mensch zu sein.“
      Tessa wusste nicht, wen sie mehr bemitleiden sollte: Chester oder sich selbst.
      Wenn seine Geschichte über die Unsterblichkeit, eine verzauberte Uhr und den verwünschten Zirkus tatsächlich stimmte, lag sie vielleicht näher an der Wahrheit, als sie ahnte.
      Noch einmal fuhr sich Tessa mit dem Handrückten über die brennenden, feuchten Augen.
      "Ich wünschte, du hättest mir nicht die Lilie gegeben. Ich wünschte, du hättest mich den Offiziellen übergeben damit ich in einer Zelle verrotte und ich wünschte, du hättest mich einfach im Schnee liegen lassen."
      Sie wusste, dass ihre Worte ihn nicht bewegten.
      Sein liebevolles Lächeln, das spitzbübische Funkeln in den Augen, die zarten Berührungen, nichts davon würde je wieder ihr gehören. Obwohl,...eigentlich hatte es ihr nie wirklich gehört und das machte es noch schlimmer.
      Tessa lächelte bekümmert.
      Wenn seine Geschichte stimmte, hatte er ihr mehr als nur das Herz gebrochen.
      Chester hatte ihr etwas wichtiges einfach weggenommen, weil er es nun mal konnte.
      "Da draußen. Ich war nichts. Ein Niemand, aber zumindest war ich frei."

      Energisch schlug Tessa den Zelteingang auf und bedauerte es, dass das Zelt keine massive Eingangstür besaß. Die hätte sie nämlich geräuschvoll hinter sich zuschlagen können. Sie war traurig, verletzt und konnte die unterschwillige Wut nicht abschütteln. Das Gefühl verwandelte sich binnen von Minuten in einen treuen Begleiter. Tessa hatte geistesgegenwärtig daran gedacht, die wenigen Habseligkeiten, die in Chesters Zelt verstreut waren, einzusammeln. Es war nicht viel: ihre abgewetzte Lederjäcke, ihr Taschenmesser, der rostige Schlüssel vom Kaminsims. Rückblickend war es nich klug gewesen, den warmen Wollpullover über dem Rücklehne des Sofas zurückzulassen. Die dünne Stoffschicht ihres Shirts und die Lederjacke waren kein passender Ersatz, aber der Pullover hatte nun so aufdringlich nach Chester gerochen, dass Tessa davon speiübel geworden war. Daraufhin war Tessa in den Schnee hinaus gestapft um sich Malia zu stellen. Der Schlüsselanhänger mit dem kleinen Teddybären, der einen noch kleineren Zylinder trug, blieb auf dem Kaminsims zurück.
      Neben der weißen Lilie.
      Malia hatte noch haargenau denselben Gesichtsausdruck wie wenige Minuten zuvor, bevor Chester seine neuste Errgungenschaft für den Zirkus in Zelt geschleift hatte. Sie stolperte geradewegs in die Frau hinein, die keinerlei Mitleid äußerte und das war Tessa eigentlich ganz Recht. Kurz spielte sie mit dem Gedanken einfach auszubüchsen, aber die Entscheidung wurde ihr von Malia und den Gestalten zwischen den Zelten abgenommen. Die Zirkusangestellten versteckten sich nicht einmal halb so gut, wie sie glaubten. Fröstelnd schlang Tessa die Arme um sich und fühlte sich unter den neugierigen Blicken unwohl.
      Seltsam, wie anders die Menschen im Zirkus sie jetzt ansahen. Selbst der brummbärige Koch, der mit seinem frisch aufgebrühtem Tee mal nicht geizig war, sah sie entschuldigend an. Er drückte Tessa sogar ein paar seiner heißbegehrten Kekse in die Hand. Der mürrische Kerl war das Sinnbild für ein schlechtes Gewissen. Unwillkürlich fragte sich Tessa, wie seine Geschichte wohl lautete. Das fragte sie sich bei jedem Gesicht, das ihren Weg bis zu Ella kreuzte.
      'In Wahrheit bin ich ein Sammler.'
      Richtig, Chester sammelte Geschichten.
      Nein, sammeln war nicht das richtige Wort.
      Tessa spürte wie ihre Hände zitterten.
      Er stahl sie.


      Bei Ellas Wohnwagen angekommen, wartete die alte Frau bereits in die Tür.
      Eleonore scheuchte die jüngeren Frauen ins Warme und nahm dabei Malia den dampfenden Kessel ab, um ihn sorgfältig auf dem brennenden Ofen zu platzieren. Schneller, als Tessa der Alten zugetraut hatte, schloss Ella das Mädchen fürsorglich in die Arme. Obwohl Tessa sich fest vorgenommen hatte, nicht mehr zu weinen, konnte sie neue Tränen nicht zurückhalten. Schluchzend ergab sich das Mädchen in die großmütterliche Umarmung. Für ein paar Minuten genoss sie die Geborgenheit ehe sie bestimmt zurücktrat und Eleonore mit derselben Skepsis betrachtete, mit der sie nun alle Angehörigen des Zirkus Magica beäugte.
      "Du wusstest es und hast mich nicht gewarnt."
      Der Vorwurf mischte sich deutlich unter die Worte.
      Ella seufzte lang und schwer.
      "Ja."
      "Warum?"
      "Weil ich hoffte, dass Chester dieses Mal ein Einsehen hat."
      Sie warf Malia einen kurzen Blick zu.
      Sollte sie Tessas Reaktion richtig deuten, hatte Chester ihr nicht alles erzählt und Ella begriff, mit sehr schwerem Herzen, was der Mann, nun wieder einsam und allein in seinem Zelt, damit bezweckte. Also sagte Ella auch nichts.
      "Dann bist du auch...?"
      "Oh nein, nein, nein, mein Liebes. Ich bin freiwillig geblieben. Nun, das sind andere auch, aber ich bin nich an die Uhr gebunden."
      "Wieso?"
      "Weil Chester damals noch ein anderer Mensch war."
      Die herzensgute Frau deutete auf die gemütliche Sitznische im hinteren Teil des Wagens und wartete bis Malia und Tessa sich gesetzt hatte, bevor sie etwas von dem wunderbar duftenden Tee eingoß.
      "Bei einem guten Tee erzählt es sich gleich viel besser, nicht wahr?"
      "Du, Ella? Waren du und Chester...?"
      Daraufhin machte die alte Frau große Augen und begann herzlichst zulachen.
      "Du meine Güte! Nein, nun wirklich nicht. Ich kenne Chester seit ich ein kleines Mädchen war, vielleicht so groß -"
      Ella deutete mit der Hand die ungefähre Größe einer Fünfjährigen an.
      "Für mich war er Vieles über die Jahre hinweg. Ein großer Bruder. Eine Vaterfigur. Ein Freund."
      "Also ist die Geschichte, dass du seine Mutter bist auch gelogen..."
      Tessa grummelte mehr, als das sie wirklich deutlich hörbar sprach.
      Eleonore nickte.
      "Er ist kein schlechter Mensch, mein Kind, auch wenn du es eine Weile lang nicht sehen wirst."
      Sie sah zu Malia, die sie unbeeindruckt ansah.
      "Nun, manchmal ist die Weile auch ein wenig länger."
      Jetzt sah auch Tessa zu der dritten Frau im Bunde.
      "Also stimmt es wirklich, was Chester sagt...? Das ist doch verrückt. Hast ihm von Anfang an geglaubt?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 4 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Kaum waren sie im sicheren Wagen von Ella angekommen, da fiel die vorher noch so hoch erhaltene Fassung in sich zusammen und neue Tränen flossen heraus. Mit herzzerreißenden Schluchzern klammerte das junge Mädchen sich an die alte Frau, die sie vermutlich selbst dann noch festgehalten hätte, wenn ihr die Arme schon schmerzten. Die Szene war ganz rührend und irgendwie traurig an diesem Ort, an dem es eigentlich vor Spaß und Freude nur so wimmeln müsste. Aber hinter den Kulissen ging es bekanntlich nie so zu wie vorne auf der Bühne.
      Malia rieb sich im Hintergrund die kalten Hände und setzte sich auf einen kleinen Schemel neben dem Bett.
      Als Tessa sich wieder beruhigt und etwas Abstand gewonnen hatte, kam das unausweichliche Thema zur Sprache. Dabei begegneten sich die Blicke der beiden Zirkusfrauen, als wollten sie sich gegenseitig bestätigen, was schon offensichtlich war. Chester hatte kein Einsehen gehabt, auch nicht dieses Mal. Tessa war sein Opfer geworden so wie viele andere zuvor.
      Bald darauf setzten sich die drei Frauen zu dem Tee zueinander und brachten dabei zur Sprache, was Tessa wohl am dringendsten am Herzen lag. Allen voran war das Chesters ganz eindeutiger Verrat an der unschuldigen Frau.
      Malia nahm sich ihre warme Tasse zur Hand und nippte vorsichtig daran. Sie zeigte sehr wenig davon, wie sie zu der Sache stand, außer mit einem gelegentlichen missbilligenden Stirnrunzeln und einer ganz eindeutigen Stimmung.
      "Natürlich habe ich ihm nicht von Anfang an geglaubt. Als er es mir erzählt hat, habe ich erst gedacht, der will mich auf den Arm nehmen. Aber auf eine ganz unlustige Weise, du weißt schon. Es hat natürlich nichts daran geändert, dass er einfach ein Arsch war. Ich habe es ihm also doppelt übel genommen, einmal für sein Theater und dann, dass er mich auch noch auf den Arm nehmen will. Aber später fand ich das nicht mehr ganz so unwahrscheinlich, das wird dir nämlich auch so gehen, wenn du hier erstmal ein bisschen Zeit verbracht hast. Ich sage es mal so, der Zirkus heißt nicht ohne Grund Magica und im Vergleich dazu ist die Uhr sogar irgendwie langweilig. Sie kann ja nichtmal was, außer niemals stehenzubleiben oder kaputt zu gehen."
      Sie zuckte wieder mit den Schultern und schlürfte an ihrem Tee. Ihr Blick ging dabei zu Ella über.
      "Ella wird dir bestätigen können, dass er wirklich unsterblich ist, denn damals sah er noch exakt so wie heute aus. Stimmt doch, oder? Ich bin zwar erst sechs Jahre hier, während manche schon fünfzig Jahre hinter sich haben, aber Chester ist immernoch einfach nur... Chester. Genau dasselbe Gesicht, dieselben Falten, dieselben Augen - sogar dieselben Haare. Keine Locke anders. Sowas ist nicht normal, selbst bei sechs Jahren nicht. Menschen verändern sich schneller als das."
      Sie stellte ihre Tasse ab, um Tessa mit einer Mischung aus leichter Neugier und Ernsthaftigkeit anzusehen.
      "Chester hat mich übrigens niemals auch nur angefasst, er ist mir nichtmal nahe gekommen. Ich habe euch zwei Händchen halten gesehen und sowas hätte er bei mir nicht gewagt. Ich hätte ihm die Augen ausgekratzt. Nein, bei mir wusste er ganz genau, dass ich nicht angefasst werden will, also ist er immer auf Abstand geblieben, immer so weit, dass er mich nichtmal zufällig hätte berühren können. Er hat dafür so einen Riecher, weißt du? Er sieht dich an und", sie schnippte mit den Fingern, "sofort weiß er, was du brauchst. Zugegeben, das war bei mir auch nicht schwierig zu erraten."
    • "Eigentlich will ich die Geschichte überhaupt nicht glauben. Ich will…“
      Betrübt senkte Tessa den Blick. Mit bebender Unterlippe studierte die Diebin die dampfende Flüssigkeit, die in der Tasse hin und her schwappte, als könnte der angedeutete Bodensatz ihr die Lösung präsentieren. Ja, was wollte sie eigentlich? Tessa wollte, dass jemand, ganz egal wer, die Zeit zurückdrehte und sie zurück an den Tag brachte, an dem sie beschlossen hatte, dass über einen massiven Eisenzaun in einen Zirkus einzubrechen ein ganz fantastischer Plan gewesen war.
      Als Malia sie neugierig musterte, hätte Tessa sie am liebsten wütend angefunkelt.
      "Soll ich mich deswegen jetzt besser fühlen? Dann haben wir Händchen gehalten und uns geküsst. Das macht mich nicht zu etwas Besonderem. Chester war gerade sehr gründlich darin, mir das klar zu machen..."
      Tessa presste die Lippen aufeinander und wurde rot, dieses Mal aus Scham.
      Mit beiden Händen umklammerte Tessa das warme Porzellan. Trotzdem fühlten sich ihre Fingerspitzen immer noch eiskalt an. Die Wärme wollte einfach nicht in ihren Körper zurückkehren. Sie war sehr bemüht bei der Erwähnung seines Namens die aufsteigenden Tränen im Zaum zu halten. Dennoch schniefte Tessa herzzerreißend und Eleonore löste behutsam die einen Finger nach dem anderen von der Tasse, die in dem verkrampften Halt der verstörten, jungen Frau allmählich zu zittern begann. Ella nahm ihr das zerbrechliche Porzellan aus der Hand und tätschelte tröstlich ihren Handrücken. Sanft drückte sie die kühlen, klammen Finger.
      Eleonore sah Malia mit der Weisheit des Alters an.
      "Nun, das bringt eine Ewigkeit wohl mit sich. Diesen 'Riecher', wie du es so schön nennst. Das ist eine Gabe und ein Fluch, Malia. Wie viele Menschen er wohl durch dieses Tor hat Kommen und Gehen sehen?"
      Die Kartenverkäuferin schüttelte leicht den Kopf.
      "Wie dem auch sei... Es lebt niemand mehr, der uns sagen könnte wie alt Chester wirklich ist. Alle, die du fragst, werden die dasselbe erzählen wie Malia."
      Was Ella und Malia sagten, machte es nicht besser. Es änderte nichts daran, dass sie sich bereitwillig hatte an der Nase herumführen lassen und alle in diesem Zirkus hatten dabei zugesehen. Gott, sie kam sie so unfassbar dumm vor. Tessa hatte sich so sehr gewünscht, dass jemand ihren wahren Wert erkannte. Jemanden, der ihr eine Chance, Wärme und Geborgenheit schenkte.
      „Also stimmt es, was Malia sagt?“, hakte Tessa nach.
      Obwohl sie sich von Ella ebenso betrogen fühlte, sah das Mädchen sie hoffnungsvoll an. Tatsächlich hoffte Tessa, dass es sich um einen wirklich, wirklich schlechten Scherz handelte. Eine Weile könnte sie stinksauer auf Chester sein bis alles wieder normal wurde. Eleonore sah sie mit Bedauern an. Da wusste Tessa, dass die alte Frau ihr diesen Wunsch nicht erfüllen konnte.
      „Ja, Liebes. Chester ist seit Jahrzehnten unverändert, als wäre die Zeit um ihn herum eingefroren. Er sieht noch haargenau so aus, wie in meinen Kindheitstagen hier im Zirkus“, erzählte Ella und versuchte Tessa zuliebe, nicht ganz so verträumt bei der Erinnerung auszusehen. „Ich hatte kein Zuhause. Ähnlich wie du, Theresa. Krieg ist keine schöne Sache. Viele von uns hatten keine Heimat mehr, bevor sich ihre Wege mit Chester kreuzten. Der Zirkus Magica zog an dem kleinen Dorf vorbei, in dem ich mit ein paar anderen Waisenkindern in einer Unterkunft lebte. Es war fürchterlich. Die Aufpasser waren mit uns Kindern einfach überfordert. Damals als kleines Mädchen haben mich die bunten Zelte, die Musik und natürlich die vielen Süßigkeiten…“
      Ella zwinkerte lächelnd.
      „…angelockt und weil ich sowieso nirgendwo zuhause war, bin ich der kunterbunten, schillernden Karawane hinterhergelaufen. Chester hat ein paar Mal versucht, mich woanders unterzubringen, aber irgendwann hat er es wohl aufgegeben.“
      Sie gluckste.
      „Zugegeben, ich war ein sehr dickköpfiges Kind.“
      „Das entschuldigt nicht, dass er die Leute betrügt.“
      „Er hat seine Gründe, Liebes.“
      „Sicher", schnaubte Tessa. "Unsterblichkeit, klar. Ganz nebenbei vergnügt er sich damit, dass Menschen wie ich ihm sein aufgeblasenes Ego streicheln. Was ist das für ein bescheuerter Grund, um anderen die Lebenszeit zu stehlen!?“
      Tessa schlug mit der geballten Faust auf den Tisch und das Teeservice klirrte unter Protest.
      Verlegen schob sie ihre zuckenden Fäuste unter den Tisch.
      „Entschuldige…“
      „Nicht doch. Sei wütend und traurig so viel zu willst, aber friss es nicht in dich hinein. Es wird an der Situation nichts ändern.“
      Trotz der Endgültigkeit in Ellas Worte, war ihre Stimme sanft und warm.
      Eine Weile war es still bis Tessa wieder sprach. Sie klang ernüchtert nach ihrem kleinen Ausbruch und ein wenig zu leer und hohl für Eleonores besorgtes Gemüt. Das Mädchen war zu blass und sah aus, als fiele sie jeden Augenblick von der kleinen Eckbank.
      „Und jetzt?“, murmelte Tessa niedergeschlagen.
      „Jetzt, wirst du dich ein wenig ausruhen. Du kannst fürs Erste hier bei mir in meinem Wagen bleiben, bis Liam ein Plätzchen für dich gefunden hat oder auch länger. Wir machen es uns schön gemütlich.“
      Das rang Tessa ein gequältes, zaghaftes Lächeln ab ehe sie beide wieder ernst ansah.
      Die dunklen Ringe unter ihren Augen stachen durch die Blässe um ihre Nase noch deutlicher hervor. Das Mädchen wirkte so kleine und hilflos auf ihrer Bank, dass es Ella das Herz brach.
      "Ihr sollt aufpassen, dass ich keine Dummheiten mache, richtig?"
      Ella lehnte sich in ihrem Stühlchen zurück und sah Malia hilfesuchend an.
      “We all change, when you think about it.
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    • Malia studierte die junge Frau eindringlich. Die Akrobatin wirkte nicht wie ein Mensch, der viel lächelte; dafür waren ihre Gesichtszüge zu straff und bar jeglicher Lachfalten. Meistens bewegte sie ihr Gesicht gar nicht oder wenn, um ihr Missfallen auszudrücken.
      Aber ihre Augen waren warm und hatten eine Sanftheit in sich, die der stolzen Frau sonst fehlte. Sie konnte jemanden mit ihrem Blick aufspießen, aber wie sie es jetzt bei Tessa zeigte, konnte sie mit ihrem Blick auch dort Einfühlsamkeit zeigen, wo ihr Gesicht nicht recht mitmachte.
      "Damit will ich sagen, dass Chester uns nicht alle gleich behandelt. Alles andere kannst du ihm getrost vorwerfen, aber sowas nicht."
      Eine neue Gefühlswelle bahnte sich bei dem Mädchen an die Oberfläche, diesmal ganz eindeutig Scham. Sie blieb von den beiden Frauen nicht unbemerkt, aber sie besaßen den Anstand, die Verletzlichkeit des Mädchens zu ignorieren. Sie hatte heute wahrlich schon genug erlitten, sodass es ihr wohl vergönnt war, ein bisschen die Beherrschung zu verlieren. Dabei schien die Fürsorglichkeit der alten Eleonore essentiell zu sein, um sie ein wenig zurück in die richtige Bahn zu lenken. Malia fragte sich dabei zum ersten Mal, weshalb Chester nicht auf die Idee gekommen war, Tessa in die Obhut der alten Frau zu geben.
      Sie trank von ihrer Tasse und beobachtete den Austausch der beiden Frauen. Drei Mal hatte sie jetzt schon dieses Drama miterlebt, sich selbst eingeschlossen, doch bei den anderen beiden nach ihr war sie nicht zuständig gewesen. Andere hatten sich ihrer angenommen und Malia war eine derjenigen gewesen, die Chesters Zelt beobachtet und auf den Moment gewartet hatten. Schließlich bekam man so etwas nicht alle Tage zu sehen. Alle Leute im Zirkus kannten sich höchst persönlich und nur alle zwei Jahre kam jemand neues hinzu. Das mochte man sich nicht so recht eingestehen, aber letzten Endes war es doch ein kleines Spektakel, wenn Chester seine Uhr wieder fütterte.
      Nun aber bei Tessas wachsendem Gefühlsausbruch dabei zu sein, warf eine ganz neue Perspektive auf. Zu sehen, wie die Frau in ihrem Unglauben, ihrer Verzweiflung und ihrem Hass verloren war, gab Malia das Gefühl, als verkörperte das Mädchen etwas von Malia selbst, das sie längst verloren hatte. Auch sie war verzweifelt gewesen, verwirrt, definitiv wütend, aber irgendwann hatte sich das alles gelegt. Der Alltag hatte eingesetzt und Malia hatte ihn akzeptiert.
      Zu dem Zeitpunkt war dann auch Chester wieder aufgetaucht, hatte sie zu einem Tee eingeladen, mit ihr gesprochen und ihr alle Fragen beantwortet. Er hatte sich von ihr beschimpfen lassen und ihr angeboten, dass sie ihn noch einmal schlagen könne, wenn sie wollte. Aber sie hatte nicht mehr gewollt, denn irgendwie hatte sie sich ja mit dem Gedanken zu dem Punkt schon längst abgefunden.
      Tessa würde dieser Weg noch bevorstehen. Ob sie ihren Weg nach draußen finden würde, so wie Malia? Oder ob sie, so wie andere, dazu verdammt war, Chester bis an ihr Lebensende zu verfluchen?
      Malia trank noch einen Schluck. Tessa sah jetzt so aus, als wäre sie endgültig am Ende ihrer Nerven angelangt.
      "Ich bin mir sicher, Liam hat schon einen Wagen herrichten lassen. Immerhin wussten wir, dass jemand kommt, seit..."
      Sie machte eine knappe Kopfbewegung, um es nicht auszusprechen. Seit der Aufführung halt. Malia war immerhin dabei gewesen, hatte gesehen, wie Chester seine Geschenke verteilt hatte.
      "Du kannst aber auch hierbleiben, wir sehen das nicht so ernst. Was mich betrifft, werde ich jetzt wohl sowas wie deine Mentorin sein."
      Mit einer ruckartigen Bewegung warf sie ihr Haar über ihre Schulter zurück.
      "Chester wirst du jetzt nämlich nicht mehr zu Gesicht bekommen, eine ganze Weile lang nicht. Er wird dir den Abstand geben, den du gerade brauchst. In der Zeit werde ich dich im Zirkus einweisen und dir erklären, wie hier alles so abläuft. Hat Liam schon gesagt, wo er dich einsetzen will?"
      Der Blick sprang zu Eleonore.
      "Wenn nicht, gehen wir ihn zusammen fragen. Ich werde dich sowieso bei ein paar Leuten vorstellen müssen und da ist Liam wohl Priorität Nummer eins, auch wenn du ihn schon kennst."
      Sie blinzelte.
      "Aber ja, wir passen auch auf, dass du keine Dummheiten anstellst. Dazu zählt zum Beispiel, deinen Mordvorstellungen nachzugeben und Chesters Zelt abzubrennen, während er darin schläft. Das ist nicht so nett und macht dich auch bei anderen ganz schön unbeliebt, deswegen passen wir einfach auf, dass du das von vornherein nicht machst."
      Sie trank aus und stand dann auf.
      "Wenn du also irgendwelche Fragen hast, komm damit erstmal zu mir oder auch zu Eleonore. Mein Wagen hat die Nummer 63 und ist bei dem Haufen Wägen hinter dem Kantinenzelt. Ich komme dich morgen früh zum Frühstück abholen und dann werde ich dir ein paar Leute vorstellen. Bis dahin solltest du schlafen, wenn's geht. Und keine Dummheiten anstellen."
    • Neu

      Schön, dachte sie. Tessa wollte Chester auch so schnell nicht wiedersehen. Es war eine zu reizvolle Vorstellung dem Beispiel von Malia zu folgen und doch den Schlag in sein Gesicht nachzuholen, nun, da der erste Schock verflogen war. Zumindest war das Bild einfacher zu ertragen, als weiter darüber nachzudenken, dass sie dem Mann nichts bedeutete.
      "Von mir aus kann er getrost da bleiben, wo der Pfeffer wächst...", brummte Tessa.
      Dann sah sie zwischen den Frau hin und her.
      Nervös knetete Tessa ihre kühlen Finger und sah dann Ella bittend an.
      "Ich würde heute Nacht wirklich lieber hier bleiben", gestand sie. "Ich möchte nicht allein sein. Nur für heute Nacht."
      "Natürlich."
      Ella hätte es niemals übers Herz gebracht, ihr diese Bitte abzuschlagen und nickte Malia bestätigend zu. Sie hatte es selbst vorgeschalgen und würde Tessa diesen Trost nicht nehmen. Das Mädchen zeigte sich trotz der schwelenden Wut auf eine herzzerreißende Art verwundbar.
      Tessa schüttelte bei den nächsten Fragen ratlos den Kopf.
      "Nein, ich weiß noch nicht, welche Aufgabe ich bekomme. Chester hat nichts gesagt bevor..."
      Und dann sah sie Malia beinahe beleidigt an.
      "Ich würde niemals...!"
      Die Diebin hielt mitten im Satz inne und die Scham kroch ihr in den Nacken.
      "Es ist genug für heute", beschloss Eleonore und lächelte Malia zu, während Tessa mit herabhängenden Schultern wieder in sich zusammen sank.
      Tessa nickte noch einmal damit Malia sicher wusste, dass sie ihre Worte verstanden hatte.
      Was blieb ihr auch anderes übirg?

      Leise fiel die Tür hinter Malia ins Schloss und verkündete das Ende eines Tages, den Tessa am liebsten aus ihrem Gedächtnis streichen würde. Sie blieb mit Ella in dem gemütlichen Wohnwagen zurück, der sich plötzlich erdrückend klein anfühlte. Alles fühlte sich zu eng und zu klein an. Tessa hatte bisher einmal in ihrem gesamten Leben hinter schweren Gitterstäben gesessen, ohne zu wissen, ob sie jemals wieder einen Fuß in die Freiheit setzen würde. Damals war sie gerade zum Teenager herangereift, 17 Jahre alt. Der Zirkus Magica entpuppte besaß auch Gitterstäbe aus massivem Eisen, nur waren diese hübscher und der Komfort mit einem rostigen Eimer in der Ecke und der wanzenzerfressenden Matratze nicht zu vergleichen. Es war warm und heimelig so lange sie den Kopf nicht aus der Tür hinaussteckte. Die Menschen waren viel freundlicher und bis auf den Misthaufen hinter den Stallzelten roch es zweifelsohne wesentlich angenehmer.
      Niedergeschlagen fuhr sich Tessa durch die Haare. Die Diebin hatte nicht vergessen wie es sich anfühlte, eingesperrt zu sein. Es spielte keine Rolle welche Verlockungen der Zirkus bot. Chester hatte nicht zu viel versprochen. Tessa würde sich nie wieder um einen Schlafplatz sorgen müssen. Sie würde nie wieder mit einem leeren Magen ins Bett gehen. Nie wieder frieren, nie wieder weglaufen, nie wieder stehlen.
      Egal, mit wie viel Glitzer, Prunk und hübschen aber unnötigem Luxus Chester seine Show ausstaffierte oder wie viele Annehmlichkeiten er den Menschen bot. Egal wie sehr er versuchte darüber hinweg zu täuschen, ein Gefängnis blieb ein Gefängnis.
      Eleonore richtete Tessa ein improvisiertes Schlaflager mit Decken und Kissen vor dem kleinen Kachelofen ein. Das Mädchen weigerte sich der alten Dame ihr Bett streitig zu machen. Dennoch saß sie gerade auf der Bettkante während Ella leise summend die vom kalten Wind zerzausten Haare zu bändigen. Mit den Fingern teilte sie vorsichtig die verknoteten Strähnen.
      Tessa war still geworden. Sie hatte keine Kraft mehr für Fragen und hinter ihrer Stirn pochte ein fürchterlicher Kopfschmerz, der nicht verschwinden wollte.
      „Reichst du mir die Bürste, Liebes?“
      Tessa schreckte aus ihren Gedanken hoch und fischte die hölzerne Bürste vom Nachttisch. Für einen Augenblick starrte sie den Gegenstand in ihren Händen einfach nur stumm und mit schmalen Augen an. In das dunkle, bereits glanzlose Holz war verspielten Blumen und Ranken geschnitzt. Ein wenig Perlmutt, dass leicht rosig schimmerte, blätterte von den Blüten ab. Die Haarbürste war als und ähnelte etwas, das jemand einem kleinen Mädchen schenken würde.
      „Darf ich dich um etwas bitten?“
      Die zaghafte Frage hörte sich selbst in den eigenen Ohren zu leise an, aber Ella hatte sie trotzdem genau verstanden. Im Spiegel auf der Kommode zeigte Ella in ihrem Rücken ein warmes, großmütterliches Lächeln und kämmte unermüdlich den braunen Haarschopf. Was sich tröstlich anfühlten sollte, drehte Tessa den Magen um. Sie wickelte eine zart gelockte Strähne um ihren Zeigefinger.
      „Natürlich, Kindchen. Was ist es denn?“
      Die Diebin sah Ellas Spiegelbild fest in die Augen. Als sie ihre Bitte aussprach, mischte sich ein ernster und gleichzeitig schockierter Ausdruck auf das Gesicht der älteren Frau. Es folgte ein harsches Einatmen, als hätte sie Eleonore darum gebeten, einen Mord zu begehen.
      „Kannst du mir die Haare schneiden?“

      Am nächsten Morgen wartete Tessa geduldig auf den Stufen von Eleonores Wagen auf Malia. Sie saß auf den Treppenstufen, die Knie leicht angezogen und das Kinn darauf gebettet. Tiefe Schatten lagen unter ihren leicht geröteten Augen. Die frische Morgenluft umschmeichelte ein wenig unangenehm ihren Nacken und Tessa erschauderte.
      Zum wiederholten Male fuhr sie sich durch die Haare, deren Spitzen nur noch knapp ihre Schultern berührten.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Neu

      Malia kam pünktlich am Morgen über den freigeschaufelten Weg herübergestapft. Die Akrobatin hatte ein ganz besonderes Talent, ihre Gedanken hinter einer ausdrucksschwachen Miene zu verbergen, aber als sie Theresa erblickte, kämpfte sich selbst bei ihr ein skeptischer Ausdruck an die Oberfläche. Ihre Augenbrauen zuckten nach oben, bevor sie sich wieder legten.
      “Morgen. Haben sich etwa die Termiten deine Haare zum Nachtisch vorgenommen?”
      Ihr Kommentar war keinerlei abwertend aufzufassen - man könnte sogar fast glauben, Malia hätte einen Scherz gemacht. Ihr Humor war jedoch definitiv etwas gewöhnungsbedürftiges.
      Während sich die beiden Frauen auf den Weg zum Kantinenzelt machten, klärte Malia Theresa ein bisschen über die Infrastruktur des Zirkusses auf.
      “Die Zelte sind immer auf die gleiche Weise angeordnet. Du wirst schon noch irgendwann sehen, was ich mit “immer” meine. Das Aufführungszelt ist ja relativ mittig und grenzt den öffentlichen vom privaten Bereich ab. Alles, was in Richtung Ausgang steht, ist für die Besucher gedacht und muss daher ordentlich sein. Darauf wird ganz groß Wert gelegt. Alles dahinter ist ein bisschen bunt zusammengewürfelt, weil gerne mal die Wagen verschoben werden. Solltest du mal verloren gehen, orientier dich am Aufführungszelt. Das Zirkusgelände ist manchmal größer, als es den Anschein hat.”
      Malia ging aufrecht ins Kantinenzelt hinein, aus dem schon einiger Lärm herausquoll. Das rechteckig aufgezogene Zelt war schon fleißig mit dutzenden Zirkusangestellten gefüllt, die sich allesamt an den Tischen verteilten. Sehr viele Blicke gingen ganz beiläufig nur zum Eingang, um sich dann aber auf Theresa festzusetzen. Einige Leute tuschelten miteinander hinter hervorgehaltenen Händen.
      Malia blieb nahe des Eingangs wieder stehen. Sie schien die Blicke gar nicht zu bemerken.
      "Das ist jetzt die erste Lektion für dein Zirkusleben: Hier drinnen herrscht eine Sitzordnung, also pass gut auf."
      Sie zeigte auf mehrere recht gut gefüllte Tische.
      "In der Regel sitzen die Abteilungen zusammen. Da hast du zum Beispiel die Musiker, da sind die Akrobaten", von dem angesprochenen Tisch winkten ein paar herüber, darunter Yasmin, "da die Tänzer, da die Standverkäufer, die Sicherheitsleute, und so weiter. Dich zu deiner Gruppe zu setzen ist immer die sichere Variante, du kannst dich aber auch irgendwo sonst hinsetzen. Wenn du das machst, musst du aber aufpassen."
      Sie zeigte auf den ersten Tisch, direkt neben ihnen am Eingang. Da saßen bereits Roy, Liam und eine Frau mit langen schwarzen Haaren, die am Ansatz bereits ein bisschen angrauten.
      "Je weiter du am Eingang sitzt, desto, hm, besser bist du dem Zirkusdirektor gesonnen. Er selbst sitzt immer nur hier vorne. Da ganz hinten zu sitzen ist deshalb sowas wie ein Statement."
      Jetzt wurde auch erst ersichtlich, dass das Zelt tatsächlich nicht gleichmäßig gefüllt war. Die meisten Leute saßen näher am Eingang, während es sich nach hinten hin immer weiter ausdünnte. Da gab es dann sogar noch ganz freie Tische, während sich vorne die Leute teilweise quetschten, bevor der ganz hintere Tisch kam. Dieser eine Tisch war mit acht Leuten ganz gut gefüllt.
      "Wir setzen uns hier nach vorne hin, nicht für irgendein Statement, keine Sorge, sondern weil Liam schon da ist."
      Sie holten sich das Essen bei der Ausgabe, wo Malia Theresa gleich ganz offiziell dem Koch vorstellte, der sie recht freundlich bei ihnen begrüßte und ihr zur Ausnahme eine extra große Portion auftrug. Danach setzten sie sich und Malia fuhr mit dem Vorstellen gleich fort.
      "Das ist Roy, unser Feuerspucker. Unser Haupt-Feuerspucker, er macht fast nichts anderes."
      Roy war ein Mann mit breiten Schultern und einem recht zerfurchten Gesicht. Seine Stimme war dunkel, als er Theresa grüßte.
      "Ich mache nichts anderes, nicht nur fast", ergänzte er.
      "Sonst kann er auch nichts. Wie auch immer, Liam kennst du schon."
      "Freut mich, Theresa."
      Liam hatte für die Neue ein Lächeln übrig, das eher entschuldigend als alles andere wirkte.
      "Ich hoffe, du hattest eine erträgliche erste Nacht. Dein Wagen steht übrigens schon bereit, wenn du -"
      "Habe ich ihr schon gesagt."
      Liam nickte und nahm einen Bissen.
      "Naja er wird auch heute noch bereitstehen. Und morgen. Er läuft ja nicht weg."
      "Ja. Das hier ist Jude, unsere Hellseherin. Das ist Theresa."
      Jude war eine Frau, die auf dem besten Weg war, eine höhere Altersstufe zu erreichen. Die Haut in ihrem Gesicht war noch straff, wenngleich mit Falten geschmückt, und ihre Haare bargen noch immer den letzten Schein einer ehemaligen Jugend, die sie nun definitiv hinter sich gelassen hatte. Nicht mehr viel und sie würde Ella in vielen Hinsichten ähneln. Doch noch war sie jünger und besaß nahezu strahlende Augen.
      "Hallo Theresa, ich glaube, wir kennen uns noch nicht."
      Sie lächelte breit, wenngleich sich ihr Blick ein wenig auf dem neuen Mädchen festsetzte. Über den Tisch hinweg reichte sie ihr eine dürre Hand.
      "Wann ist es passiert?"
      Sie meinte wohl die Enthüllung gestern. Sie ging aber nicht näher darauf ein, als Theresa es ihr offenbarte.
      "Es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen."
      In ihren Augen funkelte es.
      Malia richtete sich zurück an Liam und Roy, als sie zu essen begann.
      "Toby ist ja wieder da. Habt ihr ihn gesehen?"
      "Ach wirklich? Hier?"
      Roy verrenkte den Kopf, um zum hinteren Tisch zu schauen, während Liam nur nickte.
      "Er hat sich auch wieder zum Arbeiten bereiterklärt. Das ist ein Fortschritt, schätze ich."
      "Gut für ihn."