Clockwork Curse [Codren & Winterhauch]

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    • "Komm her..."
      Ein Seufzen überkam Tessa. Die Vorstellung sich in seinen Armen vor der Welt und der harschen Realität zu verstecken, klang zu verlockend. Sie konnte sich einfach in seiner Umarmung vergraben und vergessen, was ihr Herz mit erdrückender Trauer füllte. Entgegen seiner sanften Worte entfernte sich Chester ein Stück von ihr und der beruhigende Herzschlag an ihrem Ohr verstummte. Augenblicklich fühlte sich ihre Wange schrecklich kalt an, die zuvor an seiner Brust geruht hatte. Reflexartig krallten sich ihre Finger fester und tiefer in seinen Rücken. Erst als Chester sich soweit aufgerichtet hatte, dass es ihr unmöglich war länger an ihm festzuhalten, ließ sie notgedrungen die Arme fallen und gab das ohnehin völlig zerknitterte Hemd frei. Tessa begann heftig zu zittern über den Verlust und gab ein herzzereißendes Wimmern von sich.
      Er würde sie allein lassen. Wie Rosie. Er würde sie von sich stoßen. Wie Jacob.
      Als Tessa realisierte, dass ihre Befürchtung sich nicht erfüllte, sackte das Mädchen förmlich gegen Chester. Sie versuchte die Beine an den Körper zu ziehen bis ihre Knie unweigerlich gegen seine Beine stießen. Der Möglichkeit beraubt sich aus Gewohnheit so klein wie möglich zu machen, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich neben Chester auf dem Bett auszustrecken. Langsam beinahe steife streckte Theresa die Beine wieder etwas aus, damit ihr Knie nicht länger unangenehm gegen ihn drückten. Ganz von allein war sie dem behutsamen Zug gefolgt und bettete den Kopf erneut auf seiner Brust. Dieses Mal wog sie nicht nur im Takt seines Herzens, sondern ebenso in dem sanften Auf und Ab seiner Atemzüge. Ein Hand war geradezu an seine Seite geflogen um ihn dort wieder an seinem Hemd festzuhalten. Der andere Arm war irgendwo zwischen ihren Körpern gefangen, aber Tessa spürte es kaum. Zögerlich, sich der Situation immer deutlicher bewusst, öffnete Tessa die brennenden Augen.
      Die Welt vor ihren Augen war ein wenig zur Seite gekippt. Alles wirkte ein wenig schief bis die Diebin wirklich begriff, dass sie halb im Bett und halb auf Chester lag während dieser noch die Decken um sie zurecht zupfte. Ihr Körper presste sich in seiner Seite und suchte instinktiv die Wärme, die ihr unterernährter Körper nicht alleine halten konnte. Tessa war zu erschöpft und zu traurig, um der Verlegenheit über die ungewohnte Nähe überhaupt einen Spielraum zu lassen. Das hier waren keine flüchtigen Berührungen, kein unschuldiges Händchenhalten und keine zarten Handküsse. Der zurückhaltende Abstand, den Tessa bisher gewahrt hatte, war vollständig verpufft. Die Diebin war sich seiner Nähe überdeutlich bewusst und fragte sich für einen winzigen Augenblick, ob es unangemessen war hier so mit ihm zu liegen. Wahrscheinlich würde sie sich im Morgengrauen genauso dafür schämen wie für sein ruinierten Hemd.
      Sie wusste nur, dass sie nicht alleine sein wollte.
      Sie konnte nicht.
      "Ich bin mir sicher, dass dich keine Schuld trifft...Du hast schließlich auch nicht auf sie geschossen, oder? Ah -"
      "Aber..."
      "Du hast nicht auf sie geschossen, kein Aber. Es ist nicht deine Schuld. Konntest du fliehen?"
      Tessa schloss den Mund, den sie sofort wieder zum Protest geöffnet hatte, schluckte das zweite Aber herunter und schniefte hörbar. Ein Weile blieb sie ganz still und lauschte hinaus in das Schneegestöber. Sie nickte nur stumm an seiner Brust, keine hörbare aber spürbare Antwort. Der Wind piff zwischen den Zelten hindurch, fand aber kein Schlupfloch in die wohlige, warme Blase, die Tessa und Chester umgab. Keine Schritte waren außerhalb der Zeltwände zuhören, keine Stimmen und keine Tierlaute aus den Gehegen oder Stallzelten. Die Außenwelt war im weißen Rauschen einfach verschwunden.
      "Was war das für ein Auftrag?"
      Irgendwann mussten Tessa die Tränen ausgegangen sein, denn jetzt brannte nur noch das Salz auf ihren Wangen. Sie fühlte sich hohl und leer, aber gleichzeitig ruhiger und gefasster. Die Schwere kehrte in ihre Glieder zurück. Ob sie zu schwer für Chester war?
      "Wir sollten etwas stehlen. Aus dem Safe einer Hotelsuite, während die Gäste in eurer Vorstellung waren. Ein Kinderspiel für Jacob, aber dann ging alles schief. Sie haben uns entdeckt, aber wir konnten über die Feuerleiter abhauen. Wir waren zu langsam, wir haben Panik bekommen. Da ist der Schuss gefallen..."
      Tessa stockte der Atem und sie benötigte ein paar Anläufe um die nächsten Geschehnisse zu schildern. Unterbewusst ahnte sie, dass Chester kaum alle Zusammenhänge und Namen unter einen Hute bekam, aber sie war zu aufgewühlt um sich darüber Gedanken zu machen. Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, die Schultern bebten.
      Vor Trauer. Vor Wut.
      "Ich habe über die Schulter geschaut und da...da lag Rosie. Oh Gott, sie hat sich nicht mehr bewegt und Jacob war ganz blass. Er hat mich angeschrien und ich bin einfach nur gelaufen. Und wofür das alles? Für ein bisschen Metallschrott. Miles hat hat uns in diese Suite für einen alten, rostigen Schlüssel einbrechen lassen. Wer bewahrt sowas in einem Safe auf? Aber er wollte ihn unbedingt und wir brauchten die Bezahlung."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Das Zittern wich einem beständigen, kleineren Beben und auch der krampfhafte Griff in Chesters Hemd lockerte sich zu einem impulsiven Festhalten. Diese Position war Tessa nun deutlich besser erträglich, auch weil Chester ihr gar keine andere Wahl ließ, als sich an ihn zu schmiegen und sich seiner ausgestreckten Haltung anzupassen. Jetzt konnte die Wärme sie auch ganz einschließen, ein Umstand, der sicherlich nicht minder für ihre teilweise Entspannung sorgte. Sie war noch immer kühl, ihre Hände kälter als der Rest, ihre Wange von Chesters Hitze allein aufgewärmt. Sie musste sich noch wesentlich mehr erholen, außerdem noch essen - und viel mehr trinken. Aber nachdem sie so intensiv, fast schon verzweifelt darauf reagiert hatte, dass Chester sich auch nur für einen Augenblick von ihr entfernt hatte, wollte er sie noch nicht verlassen. Stattdessen verspürte er noch viel dringender das Bedürfnis, sie fest an sich zu halten, bis sie den größten Schreck ihrer Erlebnisse einigermaßen hinter sich hätte.
      Geduldig streichelte er ihr weiter den Rücken, jetzt in der zusätzlichen Geborgenheit der Decken, und lauschte aufmerksam auf ihren noch immer abgehackten Atem. Tessas Verfassung hing an einem seidenen Faden, das war ihm über alle Maße bewusst, umso größer war damit der Erfolg, dass die Tränen vorerst wegblieben. Sie schniefte zwar, wagte es auch immer noch nicht, den Kopf zu heben, um Chester in die Augen zu sehen, aber sie weinte nicht. Und sie schaffte es ganze, volle Sätze zu formen, wenn auch unterbrochen und mit leiser Stimme, als würde sie sich davor fürchten, gewisse Sachen zu laut auszusprechen. Fürchtete sie sich vor Chesters Meinung? Hatte sie Angst, er würde ihr doch einen Vortrag halten, so wie er es erwähnt hatte? Dabei bemühte er sich mit allen Mitteln, Tessa bei ihm die Sicherheit zu bieten, die sie so dringend benötigte.
      Ihre Erzählung gab ihm mehr Aufschluss über die letzten Tage, wenngleich es auch mehr Fragen aufwarf. Miles, wer war das nun wieder? Auch einer ihrer Freunde? Ein rostiger Schlüssel in einem Safe hörte sich an wie ein Trick, um Tessa und ihre Freunde hereinzulegen, aber dafür hatte es wohl nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Und wie oft begab Tessa sich in eine solche Situation? War sie das Risiko schon gewöhnt, das damit einherging? Einen Safe in einem Hotel zu plündern, während die Besitzer im Zirkus waren, hörte sich alles andere als nach einem Kinderspiel an. Ihm gefiel nicht, dass sie sich einer solchen Gefahr aussetzte und das allem Anschein nach auch noch freiwillig.
      Aber jetzt hatte sie die Konsequenzen dafür am eigenen Leib erfahren. Rosie war wohl erschossen worden, Jacob schien ihr die Schuld zugeschoben zu haben und war vermutlich im Gefängnis gelandet, wenn man Malias Geschichte Glauben schenken durfte. Und Tessa war auf der Straße fast erfroren.
      Mitfühlend versuchte er sie zu trösten, noch bevor die Tränen wiederkommen würden. Er konnte es hören, das unterschwellige Beben in ihrer Stimme, ihr Bedürfnis, sich klein zu machen. Leider war er nur noch nicht fertig mit ihr, er würde sie durch diese Erinnerung hindurchquälen müssen, bis es sie nicht mehr so hart treffen würde, darüber nachzudenken.
      "Hast du gesehen, was mit ihr passiert? Oder mit Jacob? Du bist sicher so schnell gerannt, wie du hier den Wachleuten ausgebüchst bist, nicht wahr? Ich habe gehört, das soll ziemlich schnell gewesen sein."
      Leicht lächelnd strich er ihr wieder durch die Haare, nur kurz, bevor er wieder ernst wurde.
      "Rosie ist tot, ich habe es von der Stadt gehört. Rosie ist gestorben und deinen Jacob müssen sie gefasst haben, er sitzt im Gefängnis. Aber es ist nicht deine Schuld, Tessa, nichts davon."
      Ganz sachte versuchte er, sie dazu zu bringen, ihn anzusehen, nur wenn sie es zuließ.
      "Du hast alles richtig gemacht. Es gab nichts, was du für sie hättest tun können. Es war richtig, dass du gerannt bist und dich in Sicherheit gebracht hast. Du hättest auch hierher kommen können, aber es war nur natürlich, dass du dich verstecken wolltest. Niemand kann dir einen Vorwurf machen. Du hast es rausgeschafft und das ist alles, was für den Moment für dich zählen muss, hörst du? Du kannst nicht rückgängig machen, was geschehen ist, du musst die Vergangenheit da lassen, wo sie hingehört. Nichts kann deine Rosie wiederbringen."
    • Geräuschvoll schniefte Tessa und versuchte die Erinnerungen an die schreckliche Nacht zu zu verdrängen. Erschöpfung plagte den zierlichen Körper und eigentlich wollte Tessa nichts sehnlicher, als der Müdigkeit diesen Sieg zu gönnen. Ein traumloser Schlaf wäre ein Segen für die Diebin und war gleichzetig reinstes Wunschdenken. Sie war genug bei Verstand um zu wissen, dass die Bilder von Rosies leblosem Körper noch eine ganze Weile in ihren Träumen herumspuken würden. Ein Beben durchlief ihren Körper und ließ sich durch eine warme, liebevolle Hand auf ihrem Rücken etwas besänftigen. Tessa fühlte die Fingerspitzen durch den Wollpullover, wie sie die kleinen Erhebungen ihrer Wirbelsäule entlang wanderten und über die gewölbten Rippenbögen streichelten, die sich gegen den Stoff drückten. Chesters Hand war so groß auf ihrem zierlichen Körper, das sie spielend leicht ihre gesamte Seite abdecken konnte, wenn er alle Finger einmal ausstreckte. Vertrauensvoll schmiegte sie ihre Wange an sein Hemd. Tessa hatte sich nie kleiner aber auch nie mehr beschützt gefühlt.
      Die tröstliche Stille drohte zu zersplittern als Chester behutsam aber mit einer gewissen Bestimmtheit nach den Details fragte. Tessa versteifte sich in den Armen, die ihr Zuflucht boten und sie ebenso an der Flucht hinderten. Für einen flüchtigen Moment stemmte sich das Mädchen gegen die Umarmung, wenn auch halbherzig weil Tessa die nötige Kraft fehlte. Alles in ihr sträubte sich davor, die Einzelheiten in diesen sicheren Raum zulassen, den Chester ihr vermeintlich gezaubert hatte. Da half auch die angestrebte Leichtigkeit nicht, um die Schwere der Fragen zu mildern. Das antwortende Zucken ihrer Mundwinkel war beinahe lieblos.
      "Nein, ich habe nur das viele Blut gesehen. Was danach passiert ist, habe ich auf der Straße gehört. Das Getratsche der Leute funktioniert besser als die Schlagzeilen in der Zeitung."
      Diese Mal war Tessa froh darüber gewesen, dass sie nicht lesen konnte. Sie hatte den Schund nicht lesen wollen, den die Lokalblätter und großen Zeitungen über ihre Freunde verbreiteten. Die Gerüchte, die in den Straßen kursierten, waren schlimm genug. Die Hand war zurück auf ihrem mittlerweile getrockneten Haarschopf und hielt die aufgewühlten Gefühle in Schach.
      "Er wollte sie nicht loslassen...", murmelte Tessa mit erstickter Stimme.
      Die Diebin lauschte den Worten, die ihre Schuld ein wenig erträglicher machen sollten. Chester ging sogar soweit, sie von aller Schuld freizusprechen. Eine Kleinigkeit hatte er jedoch nicht begriffen und das löste eine irrationale Wut in der Diebin aus.
      "Ich bin nicht einfach weggerannt wie ein Feigling! Jacob hat mich zum Teufel geschickt, dabei wollte ich eigentlich bei ihr bleiben. Sie hatte bestimmt große Angst und ich war nicht da! Aber Jacob wollte mich nicht zur ihr lassen. Er hat mich weggeschickt. Er hat gesagt, ich soll mich verpissen und nicht wiederkommen. Ich bin nicht feige, Chester...Ich hätte doch...vielleicht...hätte ich helfen können."
      Versteinert hielt sie gegen die Hand, die versuchte ihren Blick vorsichtig nach oben zulenken. Tessa wollte sich nicht dem Urteil stellen, das sie in seinen Augen vermutete. Arme, Arme Tessa...die nicht einmal ihren Freunden richtig beistehen konnte.
      Bedauernswerte, kleine Tessa. Da druchzuckte es das Mädchen erneut.
      Mit einer plötzlichen Bewegungen löste Tessa den verzweifelten Klammergriff und richtete sich soweit auf, wie Chester es zuließ. Mit den flachen Händen stützte sich Theresa auf seinem Brustkorb ab. Unaufhörlich rauschte es in ihren Ohren, als würde anstatt des Schnees erneut Regen fallen. Tränen, die nicht fallen wollten, glitzerten in ihren Augenwinkeln.
      "Ich soll sie vergessen? Wirklich? Ist es das, was du mir sagen willst?"
      Tessas Finger krümmten sich, bohrten sich in das zerknitterte Hemd und setzten den edlen, teuren Stoff unter gefährliche Spannung.
      "Das hat sie nicht verdient. Vergessen und weggeworfen zu werden. Das hat niemand von uns verdient."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Dass Tessa es ganz und gar nicht gefiel, Chester jetzt auch noch Rede und Antwort stehen zu müssen, wo sie doch schon genug erlebt hatte, um sich die nächsten Tage davon erholen zu müssen, konnte er am ganzen Körper spüren, als sie sich augenblicklich versteifte. Sie fuhr den Widerstand gegen ihn hoch, auch wenn der körperliche Widerstand sehr gering ausfiel, dafür war sie schließlich noch zu schwach. Aber er merkte, dass sie die Antwort gerne umgangen wäre, dabei war es nicht er, den dieser Widerstand eigentlich traf. Auch vor sich selbst versuchte sie sich zu verstecken und sich klein zu machen, bloß nicht zu viel darüber nachdenken, was eh schon schmerzte, lieber die Wunde ausheilen lassen, bis sie gar nicht mehr zu spüren war. Es schmerzte ihm in der Seele, sie ihr doch aufreißen zu müssen, aber es sollte zu ihrem besten sein. So wie Chester sie jetzt quälte, würde er auch für sie da sein, um sie zu heilen.
      "Hm, die Leute reden manchmal mehr, als ihnen gut tut..."
      Behutsam streichelte er sie weiter, weil das wenigstens etwas zu sein schien, das ihre Glieder wieder entspannen ließ. Tessas unterernährter, dünner Körper war schmächtig genug, dass er sie mit einem einzigen Arm hätte umfassen können, eine Sorge, die er sich für ein andermal aufheben wollte. Solange er sie warm hielt und darauf achtete, dass sie auch genug trinken würde, könnte sie bald wieder anfangen, ordentlich zu essen - sobald der erste Schock überwunden war.
      Dann aber schien er etwas falsches gesagt zu haben, denn mit einem Mal wandelte sich die anfängliche Abwehr in einen regelrechten Aufstand, mit dem Tessa es sogar soweit brachte, sich aus Chesters schützender Umarmung zu drücken. Überrascht ließ er sein Reh frei, aufdass sie sich über ihm aufrichtete. In ihrem Gesicht spiegelte sich die absolute Verzweiflung, die sich hinter ihren Worten schon versteckte.
      Er hatte die Situation falsch eingeschätzt, das wurde ihm jetzt klar. Er hatte angenommen, dass Tessa von dem Anblick ihrer Freundin so entsetzt gewesen war, dass sie jetzt, im Nachhinein, es bereute, nicht etwas getan zu haben. Aber ihr Problem ging viel tiefer als das, sie fürchtete sich davor, die Flucht ergriffen zu haben, während ihre Freundin sie vielleicht noch gebraucht hätte. Sie dachte, auf eine weitaus optimistische, verkehrte Art, dass sie eine Schusswunde hätte behandeln können. Sie schämte sich, den harschen Worten dieses Jacobs gefolgt zu sein und Rosie im Stich gelassen zu haben. Sie dachte, sie sei an ihrem Tod verantwortlich, weil sie glaubte, ihn sicher hätte verhindern zu können, wenn sie nur geblieben wäre.
      Dass dem nicht so war, hätte Chester ihr sehr ausführlich erklären können. Er hätte die ganze Nacht damit verbringen können, Tessa zu erklären, dass ein Tod sich nicht aufhalten ließ, dass man es versuchen und versuchen konnte und sein ganzes Gut, sein ganzes Leben, alles dafür hergeben könnte, um diesen einen, nahenden Tod aufzuhalten, und dass es doch nichts bringen würde. Vielleicht konnte man ihn ein wenig verschieben, aber nicht aufhalten.
      Nur würde Tessa davon nichts hören wollen, die seine ganze Aufforderung missverstanden hatte und glaubte, dass sie Rosie vergessen sollte. Niemand sollte vergessen werden, ja, niemand hatte es verdient, vergessen und weggeworfen zu werden. Aber sollte er ihr sagen, dass es trotzdem so war, genau so? Dass Rosie vergessen werden würde, genau wie alle anderen, dass die letzten, die sich vielleicht noch an sie erinnerten - so wie Tessa - eines Tages sterben würden und Rosie dann einfach verschwunden wäre, vergessen und weggeworfen, ein beschrifteter Grabstein ohne Besucher? Das war das Schicksal, das sie erwartete, denn spätestens in 80 Jahren würde sich niemand mehr an Rosie erinnern. Und in 160 Jahren würde nicht einmal der Name noch etwas sagen, ein Name ganz ohne Bedeutung, ohne auch nur die fernste Verbindung. Niemand erinnerte sich noch an die, die vergessen und weggeworfen worden waren.
      Niemand außer Chester.
      Mitleidig hob er daher nur die Hände an Tessas Wangen und strich ihr ganz vorsichtig mit dem Daumen über die Wangenknochen.
      "Du sollst sie nicht vergessen, niemals. Das wollte ich dir gar nicht sagen."
      Seine Stimme war weiterhin sanftmütig, sein Behaben mit größter Geduld, während er sich unbewegt darauf verließ, dass Tessa ihren Weg zurück in seine Arme finden würde, wo er Wärme und Sicherheit für sie bereithielt. Die Decke war jetzt ein wenig von ihren Schultern gerutscht, als sie so aufgerichtet über ihm schwebte, aber diesen Drang zum Abstand musste er ihr gewähren. Wenn er sie jetzt verschreckte, sah er schon seine scheue Tessa auf dem nächstmöglichen Fluchtweg fliehen.
      "Erinnere dich an Rosie und halte ihren Namen in Ehren. Wenn du es nicht tust, wird es kein anderer tun. Aber du musst akzeptieren, dass du eine, für dich, falsche Entscheidung getroffen hast und sie nicht umkehren kannst. Es wird Rosie nicht wiederbringen, dass du es bereust, nicht bei ihr geblieben zu sein. Was geschehen ist, ist geschehen. Was würde deine Rosie nur denken, wenn sie dich jetzt sehen könnte, hm? Würde sie dir Vorwürfe machen, dass du nicht geblieben bist? Oder würde sie sich für dich wünschen, dass wenigstens du es geschafft hast?"
      Tessas Augen glitzerten von Tränen, aber sie schien eisern dagegen zu halten. Dabei glaubte Chester, dass sie sich noch lange nicht ausgeweint hatte, nicht bei einem solchen Erlebnis.
      "Eine Schusswunde lässt sich nicht behandeln, Tessa. Nicht, wenn sie richtig platziert ist."
      Diese eine Sache wusste Chester mit Gewissheit.
      "Deswegen hätte es auch nichts gebracht, wenn du geblieben wärst. Ich gebe Jacob nur sehr ungerne recht, weil er nicht das recht hatte, so mit dir zu reden, aber es war das beste, dass du gegangen bist. Sie hätten dich auch erwischt, wenn du nicht gelaufen wärst, und dann wärst du nun entweder ebenso tot oder bei Jacob im Gefängnis."
      Sicher war es irgendwie gut, die Wahrheit so unverblümt ins Gesicht geworfen zu bekommen, aber jetzt tat Tessa ihm doch mehr leid als er glaubte, dass die Wahrheit ihr helfen würde. Am liebsten wollte er sie gleich zurück zu sich ziehen, damit sie sie wenigstens mit seiner Wärme etwas besser ertragen konnte, aber er ließ ihr weiterhin ihren Freiraum.
      "Deine Entscheidung war die richtige, auch wenn sie nicht die einfache war. Du hättest nichts für Rosie tun können. Deswegen hast du auch noch lange nicht Schuld an ihrem Tod."
      Zärtlich löste er eine Hand von ihrer Wange, um ihr die Haare etwas zurecht zu streichen.
      "Wenn du schon so denkst, dann musst du auch der Wache die Schuld geben, dass sie an diesem Abend es gewagt hat, ihre Arbeit zu tun. Und dem Verkäufer, der dafür verantwortlich ist, dass der Schütze überhaupt an seine Waffe gekommen ist. Diesem Miles, weil er euch dafür beauftragt hat. Den Gästen, weil sie mit ihren teuren Sachen hierher kommen wollten. Dem Hotel, weil es sie bei sich aufgenommen hat. Vielleicht mir, weil ich meine Aufführung nicht lange genug eingeplant habe, um euch genügend Zeit zu geben. Würdest du mir die Schuld an Rosies Tod geben?"
      Chester ließ sie gar nicht richtig antworten, das musste sie auch nicht bei dem Gesicht, das sie ihm präsentierte.
      "Nein, siehst du? Dann gib sie dir auch nicht selbst. Deine Rosie ist nicht mehr hier und das ist schon schlimm genug, mach dir nicht auch noch selbst Vorwürfe, Liebes."

    • Better terrible truths than kind lies.

      [Six of Crows - Leigh Bardugo]

      Die Wahrheit war im Kern niemals sanftmütig. Sie war selten fair, machte keine Zugeständnisse und besaß die Angewohnheit den Zuhörer genau dort zu treffen, wo es am meisten schmerzte. Auch die harte Realität, die Chester in hübschen aber ehrlichen Worten verpackte, verfehlte diese Wirkung nicht. Es tat verdammt weh. Die ungeschönte, gnadenlose Wahrheit war, dass sich wirklich niemand an die obdachlosen Jugendlichen erinnern würde. Niemand würde die unscheinbaren Mädchen und Jungen vermissen, die ungesehen ums Überleben kämpften. Verstoßen von ihren Familien, ungewollt und ungeliebt. Eigentlich, so dachte Tessa und verzog das Gesicht zu einer betrübten Grimasse, waren sie alle längst weggeworfen worden wie beschädigtes Spielzeug, das keine Freude mehr brachte. Sie waren ihrem Schicksal und der Welt überlassen worden, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was aus ihnen werden würde. Die beinahe harten Worte gepaart mit dem sanften, verständnisvollen Ton seiner Stimme irritierte Tessa. Sie wollte Chester für das Mitleid in seinen blassblauen Augen am Kragen packen, ihn durchschütteln und ihrer Wut, dem ganzen Frust, einfach Luft machen. Gleichzeitig fühlte sich die trauernde Diebin auf seltsame Weise so verstanden wie nie zuvor in ihrem Leben. Es war paradox. Es war verwirrend. Tessa bekam davon Kopfschmerzen.
      Die Decke war von ihren Schultern gerutscht und gab die zierliche Gestalt in dem viel zu großen Wollpullover frei, in dem Tessa noch kleiner aussah als sie es wirklich war. Ihr Blick fiel auf die zu langen Ärmel, die sich an ihren dünnen Handgelenken aufbauschten. Sie spürte den leichten Windzug an der nackten Schulter, die der verrutschte Kragen des Pullovers entblößte. Obwohl es durch den Kamin angenehm warm im Zelt war, fröstelte Tessa. Die Hände auf ihren Wangen spendeten eine verlockende Wärme und es war ihr unmöglich sich dem Drang ihren Körpers zu entziehen, sich ein winziges Bisschen in die Berührung zu lehnen. Eine vereinzelte Träne lösten sich aus ihrem Augenwinkel, die sogleich von Chesters davon fort gestreichelt wurde. Die Tränen würden sie eine Weile begleitet. Nicht zu jeder Stunde, nicht jeden Tag, aber hin und wieder würden die Erinnerungen ihr einen Besuch abstatten und bis dahin war es ein langer Weg. Tessa blutete nicht und in ihrem Leib steckte keine tödliche Kugel. Die Wunden der Diebin waren unsichtbar, tief verborgen und gesellten sich zu alten Narben aus vergessenen Kindertagen.
      "Ich könnte sie niemals vergessen", murmelte Tessa.
      Die Tränen kullerten nun stumm über ihre Wangen ohne ein herzzerreißendes Schluchzen. Tessa wehrte sich nicht gegen den stetigen Fluss der ihre Wangen und Chesters Finger benetzte. Mit jedem glitzernden Tropfen ebbte die Wut ab und sie gab ihren festen Griff in seinem Hemd auf. Die Schultern sackten kraftlos nach unten.
      "Ich weiß, dass du Recht hast. Es tut trotzdem weh", antwortete sie.
      Widerstandlos ließ Tessa zu, dass Chester über ihr Haar streichelte und versuchte das Vogelnest auf ihrem Kopf ein wenig zu ordnen. Eine kleine Pause entstand, in der das Mädchen die Augenlider halb senkte und die Worte sacken ließ. Das Was-wäre-wenn? blieb dennoch in einer endlosen Schleife in ihrem Kopf. Aber Chester war immer noch nicht fertig mit ihr. Als ahnte er von dem Gedankenkarussell, erhob er die Stimme erneut.
      Die Verkettung von Umständen, die ihr nun förmlich um die Ohren flogen, waren vollkommen absurd.
      "Aber...das ist doch überhaupt nicht...", protestierte Tessa.
      Zumindest versuchte sie es, aber ihr Gemurmel ging völlig unter und als Chester ein letztes Mal Rosies Namen erwähnte, fing Tessa ihre bedrohlich zitternde Unterlippe mit den Zähnen ein. Sie sah auf das ruinierte Hemd, die eigenen Hände, die sich nun mit gespreizten Fingern gegen seine Brust drückten, der Stoff darunter zerknittert, und dachte an die Umstände, die sie Chester und seinen Leuten machte.
      Tessa schniefte leise.
      "Das kann ich dir nicht versprechen, nicht sofort. Nicht jetzt."
      Vorsichtig lehnte sich Tessa noch ein kleines Stückchen von ihm Weg. Der Wahrheit folgte Ernüchterung und damit auch die Scham. Sie zog den Wollpullover zurück über ihre Schulter und angelte bereits nach der verrutschten Decke. Zögerlich zog das Mädchen die Hände von seiner Brust zurück und führte sie zurück an den eigenen Körper, wo sie am Saum der Decke zupfte.
      "Entschuldige, dass ich dich so angefahren habe", begann Tessa leise. "Ich wollte dich nicht aus deinem eigenen Bett vertreiben und dein Hemd vollheulen. Ella hat bestimmt einen riesigen Schreck bekommen. Ich wollte euch nicht aus dem Schlaf reißen. Ich...Ich kann auf dem Sofa schlafen, dann bekommst du dein Bett wieder. Oder ich such mir ein anderes Plätzchen, ich verspreche, ich werde keinen Blödsinn anstellen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Da waren sie wieder, die herzzerreißenden Tränen, die über Tessas Wangen flossen und Chesters Finger benetzten. Es waren diesmal zu viele, um sie wegzustreichen, aber er hielt trotzdem dagegen an, streichelte über ihre Wangenknochen und verzog mitfühlend das Gesicht. Seine arme, liebe Tessa, geplagt von einem Schicksal, das sich nicht hatte aufhalten lassen. Von der Welt im Stich gelassen, wo sie es doch am meisten gebraucht hätte. So jung und schon mit der fürchterlichsten Realität von allen konfrontiert.
      "Ich weiß, dass es weh tut. Meine arme Tessa..."
      Sie schien ihren anfänglichen Widerstand aufzugeben, als ihre Schultern wieder mehr einsackten und der Klammergriff an seinem Hemd sich löste. Über diesen kleinen Erfolg hätte er sich freuen können, wenn die junge Frau nun nicht so verzweifelt aussah. Sie hatte noch nicht einmal die Kraft dazu, ordentlich zu weinen, so wie sie die Tränen nur stumm laufen ließ.
      Es wurde auch nicht besser, als Chester sie nur weiter dazu zwang, die Situation auch aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, alles nur, um der Frau scheins so viel Leid zuzufügen, wie sie nur aushalten konnte. Hätte er nicht gewusst, dass irgendwo am Ende dieses Tunnels ein Licht war, das nur darauf wartete von Tessa entdeckt zu werden, hätte er sie auch niemals dazu genötigt, sich all diese fürchterlichen Dinge anzuhören, aber bei dieser einen Sache konnte er wohl sicher angeben, dass er es besser als sie wusste. Das hier war nur zu ihrem Besten, auch wenn sie es noch nicht sehen konnte und vielleicht auch nie würde.
      "Du musst mir gar nichts versprechen. Du hast etwas sehr schlimmes erfahren und das lässt sich nicht so einfach vom einen auf den anderen Moment lösen, verstehst du?"
      Er lächelte ihr leicht, beschwichtigend zu, während Tessa sich ein Stück weiter aufrichtete und schüchtern an den Lagen ihrer Bedeckungen herumzupfte. Chester ließ sie los, weil sie jetzt zu weit entfernt war, und lehnte sich bewusst entspannt zurück, um sich ihr möglichst offen zu präsentieren. Wenn sie wollte, konnte sie sich jederzeit zurück an ihn schmiegen. Diese Entscheidung würde er ihr aber alleine überlassen.
      "Oh, das ist doch nicht so schlimm. Mach dir wegen uns allen keine Sorgen, wir freuen uns, helfen zu können. Es passiert nicht alle Tage, dass ein Zirkus nützlich sein kann, aber wenn er es doch ist, bin ich glücklich, mich für seinen Standpunkt entschieden zu haben. Die einzige Entscheidung, die ich dir heute überlasse ist die, ob du noch eine Decke haben möchtest. Ich habe genug davon - lässt du mich raus?"
      Tessa wurde ein bisschen rot, als sie auch von seinen Beinen kletterte und Chester aufstand, um zu dem nahen Schrank zu gehen. Er öffnete eine unterste Schublade und zog wahllos eine weitere Wolldecke in einem ausländischen, farbenfrohen Muster hervor, die er ihr präsentierte.
      "Die hier? Ich habe auch noch dünnere. Und dann", er kam zurück und setzte sich auf die Bettkante, "musst du mir auch noch sagen, welchen Tee du gerne hättest. Wir haben alle diese exotischen Geschmäcker", er deutete auf den höchst gewöhnlichen Kamillentee auf dem Nachttisch, "und du musst schließlich genug trinken. Sonst bekommt Ella wirklich noch einen Schreck."
      Lächelnd zwinkerte er ihr zu.
      "In Ordnung? Und dann musst du dich natürlich ausruhen. Ich werde gleich hier draußen schlafen, auf dem Sofa, du musst nur rufen, wenn etwas ist."
    • Tessa nickte verstehend. Der Schmerz des Verlustes begleitete sie wie eine alte Freundin. Sie hatte ihre Familie verloren, nicht an einen tragischen Tod, aber an den Lebensweg, den ihre Mutter und der Rest ihrer Verwandtschaft gewählt hatte. Ein Zuhause, das nicht warm und liebevoll, aber trotzdem ein Anker in ihrer Kindheit gewesen war. Sie hatte Freunde und Gefährten über die Jahre an die harte Grausamkeit der Straße verloren. Tessa war immer zurückgeblieben und hatte den Schritt in eine völlig andere Zukunft nie gewagt. Vielleicht machte es die junge Frau unglaublich naiv, aber sie hatte immer gehofft, dass sich das Schicksal für sie wenden würde. Ganz von allein und ohne einen Preis von ihr zu fordern. Rosie hatte diesen viel zu hohen Preis bezahlt, denn nu konnte Tessa nicht zurück. Sie konnte sich nicht an die Gegenwart klammern, die mit jedem Ticken von Chesters Uhr ein wenig mehr zur Vergangenheit wurde. Aber wohin sollte sie von hier gehen? In ein paar Wochen war Chester und der Zirkus Magica fort. Der Gedanke allein in eine fremde Welt hinaus zu gehen, war beängstigend.
      Zögerlich wage Tessa einen Blick in Chesters Richtung, der sich völlig entspannt und mit einer beneidenswerten Ruhe in die Kissen zurücklehnte während in ihrem Kopf das Chaos tobte. Mit dem Handrücken wischte Tessa sich über die noch feuchten, geröteten Augen und hätte beinahe dem Wunsch nachgegeben, sich zurück an seiner Brust zu schmiegen. Sich dort vor dem Morgengrauen zu verstecken, schien die beste Idee zu sein, die sich seit langer Zeit hatte. Auch dieses Mal nahm der Mann, der sie fürsorglich in Decken hüllte und sie tröstend in seinen Armen gehalten hatte, ihr die Entscheidung ab. Tessas Finger zuckten verräterisch als Chester sich aufrichtete. Sie wollte nach ihm greifen und verhindern, dass er die Wärme mit sich nahm. Die Decken um ihre Schultern waren kläglicher Ersatz für die Umarmung, die er ihr geschenkt hatte. Obwohl die eisige Kälte noch an ihren Knochen nagte, fühlten sich ihr Gesicht furchtbar heiß an. Mit glühenden Wangen kletterte Tessa unbeholfen von seinen Beinen. Wackelig rutschte Theresa ein wenig zur Seite und versank in der weichen Matratze und dem Kokon aus Wolldecken. Die Nähe war ihr plötzlich so peinlich, dass sie am liebsten das brennende Gesicht in den Händen versteckt hätte. Sie hatte sich an ihn geklammert wie ein kleines Kind.
      Dankbar nahm sie die Decke entgegen und schüttelte den Kopf.
      "Danke. Die hier ist okay", murmelte sie verlegen und befühlte den weichen, gewebten Stoff.
      Die Erwähnung von Ella zauberte ein kleines Lächeln auf ihre Lippen.
      "Kamillentee klingt gut."
      Sie wollte ihm keine unnötigen Umstände mehr machen, obwohl sie nicht daran zweifelte, dass er sämtlichen Tee aus dem ganzen Zirkus herholen würde, damit sie ihm ihre Lieblingssorte verriet. Unter dem gelassenen Gesichtsausdruck entdeckte Tessa einen zarte Gefühlsregung, die sie als Sorge interpretierte. Chester hatte sich Sorgen um sie gemacht. Deshalb nahm sie auch ohne Widerstand die dampfende Teetasse entgegen und nippte daran. Das zufriedene, sie hätte gedanklich beinahe das Wort glücklich verwendet, Lächeln auf seinem Gesicht entdeckte, wurde Tessa ganz warm ums Herz.
      Tessa senkte die Tasse in ihren Schoß und tippte mit den Fingerspitzen nervös auf das Porzellan.
      "Ich will dir wirklich nicht dein Bett streitig machen", beharrte sie.
      Sie verzichtete drauf zu erwähnen, dass sie ungemütlichere Schlafplätze gewöhnt war, als sein Sofa, das bestimmt alles andere als ungemütlich war. Tessa wusste das, sie hatte mit ihren Händen auf dem Rücken gefesselt, schon darauf gesessen. Ihre Hände umklammerten die Tasse. Eigentlich wollte sie ihn bitten zu bleiben. Das Bett fühlte sich jetzt zu groß und zu leer an. Sie wollte nicht allein mit ihren Träumen sein an einem Ort, der ihr Sicherheit versprach aber doch gleichzeitig fremd war. Doch ihre Zunge klebte hartnäckig an ihrem Gaumen und wollte Tessa nicht gehorchen. Am liebsten hätte sie ärgerlich mit den Zähnen geknirscht, so blieb es bei einem dezenten Zucken ihres Kiefers.
      Tessa sah in sein fragendes Gesicht und wusste, dass er auf ein Aber wartete.
      Vorsichtig und federleicht, ein starker Kontrast zu ihrem verzweifelten Klammergriff, streckte sie die Hand aus und krümmte ihre Zeige- und Mittelfinger um die Finger seiner rechten Hand. Der Halt war locker, kaum spürbar. Da wirbelten unendliche viele Worte durch ihren Kopf und heraus kam nur ein Einziges. Ein schlichtes, einfaches Wort, das mit so vielen Emotionen gefüllt war, dass Tessa sie nicht in Silben fassen konnte. Sie hatte es sooft in dieser Nacht gesagt, aber nicht oft genug.
      "Danke."
      Sie hielt Chester nicht auf, als er ging.

      ____________________________________________________

      Früh in den Morgen stunden schlug Tessa mühevoll die Augen auf. Mit von Schlafsand verklebten Augen vergrub sie das Gesicht in den weichen Kissen, als könnte sie damit den Beginn eines neuen Tages aussperren. Eine erholsamer Schlaf war dem Mädchen nicht vergönnt gewesen. Sie hatte sich in dem viel zu großen Bett umher gewälzt und hatte sich nicht getraut Chester ein weiteres Mal zu stören, obwohl die Erinnerungen sie geplagt hatten. Der Mann, der noch immer lautlos auf dem Sofa schlief, hatte genug für sie getan. Nun drückte sie die Nase für einen kurzen Augenblick in das Kissen und ließ sich von dem vertrauten Geruch trösten. Alles in diesem Bett roch nach Chester und erfüllte den Raum hinter ihren Brustkorb mit einer seltsamen Wärme, die sich langsam aber stetig in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Es dauerte eine Weile bis sich Tessa dazu durchrang, sich aus den Wolldecken zu schälen und die Füße aus dem Bett zu schwingen. Prüfend beugte sie die nicht länger eiskalten Zehen in den dicken Stricksocken. Tessa zuckte leicht zusammen, als sie darüber nachdachte, wer sie eigentlich umgezogen hatte. Der Pullover, die Hose, die Socken...nichts davon gehörte ihr. Und ihre Unterwäsche war auch fort. Tatsachen, die in der tränenreichen Nacht nebensächlich gewesen waren, drängte sich nun weiter in den Vordergrund. Chester hatte ihr Tee eingeflößt, sie erinnerte sich dunkel daran. Ihr Blick glitt in Richtung des Durchgangs, der in das Wohnzimmer des geräumigen Zeltes führte. Tessa spitzte die Ohren, aber es war still nebenan. War Chester schon gegangen?
      Mit einer Decke um die Schultern stand sie bedächtig auf, um den Schwindel zu vermeiden, der trotzdem kam und die Welt für einen Moment zu einem drehenden Karussell machte.
      Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und schlich regelrecht aus dem Schlafzimmer.
      Sie atmete erleichtert auf, als sie Chester auf dem Sofa entdeckte. Eigentlich waren es seine Füße, die über der Armlehne hervorlugten. Dass er sein Wort gehalten und nicht einfach verschwunden war, zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Die Trauer war nicht über Nacht verschwunden, aber das Gefühl damit nicht allein zu sein, nahm ein Stück der Last von ihren Schultern.
      Neugierig näherte sich Tessa der Rückseite des Sofas und spähte über die hohe Lehne.
      Chester schlafen zu sehen, verstärkte die Wärme in ihrer Brust.
      Gleichzeitig hatte der Anblick etwas unglaublich Vertrautes und fast Intimes an sich, dass aus der Wärme ein merkwürdiges Kribbeln wurde. Leise ging sie um das Sofa herum und betrachtete die entspannten Gesichtszüge. Ihr Blick wanderte über die markanten Züge seines Kinns, dass er ein wenig auf die Brust neigte, die sich unter sachten Atemzügen hob und senkte. Er trug immer noch das Hemd mit ihren Tränenspuren darauf. An seinem Gürtel entdeckte sie die goldene, fast unscheinbare Taschenuhr, die Chester ständig mit sich herumtrug. Tessa hatte ihn nie ohne das Schmuckstück gesehen. Der Schlafende bewegte sich etwas und ihr Blick schnappte zurück zu seinem Gesicht. Sie fühlte sich kurzzeitig ertappt obwohl sie nichts getan hatte außer ihn anzusehen. Nachdenklich runzelte Tessa die Stirn und als Chester nicht erwachte, beugte sie sich vorsichtig über ihn. Stützend legte sie eine Hand auf die Rückenlehnte und neigte sich noch tiefer bis sie sehen konnte, wie sich seine Augen hinter den Lidern bewegten. Ob er träumte? Sie betrachtete den Hauch von Bartstoppeln auf seinem Kinn und die dunkeln Schatten unter seinen Augen. Chester sah aus wie jemand, der seit Tagen kein Auge richtig zugemacht hatte.
      Grübelnd nagte Tessa an ihrer Unterlippe, dann gab sie dem Impuls nach und streckte die Hand aus. Der Schlafmangel machte sie entweder mutig oder unvorsichtig. Die Berührung war nicht mehr als ein Hauch, als ihre Fingerspitzen über die Schatten unter seinen Augen glitten. Die Haut war warm und glatt. Ihr Zeigefinger wanderten über den Schwung seines Wangenknochen und über seine Wange hinab bis die Bartstoppeln ihre Fingerkuppen kitzelten. Warmer Atem streichelte über ihren Handrücken.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chester stellte sicher, dass Tessa auch wirklich die Tasse leer trank, dann schenkte er ihr ein breites Lächeln. So sah das alles schon viel besser aus; keine Tränen mehr, keine Gedankenspiralen, genug Tee. Sie zitterte auch nicht mehr so stark wie noch vorhin. Es konnte von hieran wirklich nur noch bergauf gehen.
      Ihre Beharrlichkeit wischte er aber beiseite.
      Mein Bett hat noch nie eine wichtigere Arbeit bekommen, als dir heute Nacht bequem und warm zu sein. Mich kennt es doch schon, da hat es nicht viel davon.
      Tessa schien noch mehr sagen zu wollen, zumindest zuckten die Muskeln in ihrem Kiefer für einen Augenblick. Ihr Blick huschte zwischen Chesters Augen hin und her, ihre Hand krallte sich erst in die Bettdecke und schob sich dann zögerlich nach vorne. Kühle, dünne Finger legten sich um seine Hand und Chester schloss die Finger um ihre. Ein Lächeln, das so stark war, dass es selbst seinen erprobten Muskeln schmerzte, breitete sich auf seinem Gesicht aus. Tessas Dank war ihm wie ein warmes Feuer, das in seinem Herz entfachte.
      Aber gerne doch. Wirklich. Ruh dich gut aus, morgen wird der Tag schon ganz anders aussehen. Versprochen.
      Beinahe hätte er die Hand zu ihr ausgestreckt, um Tessa über die zerrupften Haare zu streichen. So schnell ging es mit ihm, ein verlorenes Leben von der Straße geklaubt, ein Leben verändert, eine gute Tat dabei vollbracht und er war schon völlig hin und weg davon. Zu diesem Zeitpunkt hätte er Tessa vermutlich gar keinen Wunsch mehr ausschlagen können; es machte ihn zu glücklich, die schüchterne Frau lächeln zu sehen.
      Beschwingt stand er damit auf, zwinkerte ihr noch einmal zu und wanderte zurück in den Vorraum und zu seinem Sofa. Diesmal nahm er sich aber auch wirklich ein Kissen und eine Decke, immerhin hatte er sich um Tessa gekümmert und sie würde fortan schlafen, da konnte er dasselbe tun. Also machte er es sich gemütlich, lauschte für einige Augenblicke und grinste in sein Kissen hinein, als er hörte, wie Tessa sich auch wieder in seinem Haufen Decken vergrub. Was für ein schönes Gefühl an diesem höchst unschönen Tag.

      Seine Aufmerksamkeit musste sich aber schon so sehr auf seine Patientin im Nebenzimmer eingestellt haben, dass er nur leicht schlief, bis das erste Geräusch ihn auch schon wieder weckte. Es war nur Tessa, die sich im Schlafzimmer unruhig in den Laken wälzte, aber da stand er nach einem Moment trotzdem auf, schlich hinüber und vergewisserte sich, dass sie trotzdem schlief. Das tat sie, wenn auch unruhig. Ihre Finger hatten sich in eine Bettdecke verkrallt und da war eine permanente, leichte Falte auf ihrer Stirn, während sie sich bewegte. Vorsichtig setzte er sich zu ihr, tastete ihre Stirn ab und strich ihr dann durch die wilden Haare.
      Na na…
      Er wollte sie nicht wecken, aber das tat er wohl auch nicht. Die Falte verschwand und Tessa neigte sich leicht gegen seine Hand. Chester lächelte; oh, wie gerne er sich zu ihr gelegt hätte. Natürlich wusste er, dass das nicht möglich war, denn sie kannten sich erst, wie lange? Vier Tage? Da konnte er sich nicht einfach zu ihr ins Bett legen. Doch wenn man bedachte, dass sie ihr ganzes restliches Leben hierbleiben sollte, war das doch kaum der Rede wert. Nur dachte er da aus der Sichtweise eines Mannes, für den Zeit sowieso keine Rolle spielte. Tessa würde es sicher nicht so toll finden, wenn er sich einfach zu ihr legte.
      Also stand er bald wieder auf, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie wieder besser schlief, und schlich zurück zu seiner Couch. Zwei weitere Male weckten ihre Geräusche ihn noch, dann drohte der Morgen langsam hereinzubrechen und die Müdigkeit holte zu ihm auf. Er schlief ein und ließ sich auch nicht wieder wecken.

      Wenn Chester träumte, dann waren es immer dieselben Träume. Er träumte von einem Zirkus, der entweder gerade bestand oder schon Generationen zurücklag und in diesem Zirkus träumte er von Menschen, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte, deren Namen er vergessen hatte und die niemals sie selbst waren, sondern stets andere. Viele Male träumte er von Eltern, die er gar nicht hatte, und von Freunden, die es gar nicht gab, und dass der Feuerspucker gar nicht der Feuerspucker war sondern der Clown und dass die Elefanten auch keine Elefantenarbeit verrichteten, sondern die Löwen des Zirkusses waren. In seinen Albträumen kamen keine Besucher zu seinen Vorführungen, alle seiner Angestellten verstarben an einer Pest oder er verirrte sich aus seinem Zirkus heraus und fand nicht mehr zurück. Über all diesen Träumen schwebte stets das Ticken seiner Uhr, das ihn auch in den Schlaf verfolgte.
      In dieser Nacht träumte er von einer Frau, von einer Theresa, die zwar eine Theresa war, aber ganz anders aussah, und die ihm gegenüber saß in einem Zelt, das gleichzeitig das Aufführungszelt, die Kantine und sein eigenes Zelt war. Sie aßen zusammen und Theresa kicherte und Chester lächelte dafür. Er mochte es, jemanden zum Kichern zu bringen. Wage war er sich bewusst, dass diese Theresa das häufiger tat und er liebte es jedes Mal, wenn er sie soweit brachte.
      Sie nahm sich das Besteck, steckte es in ihren Teller, schob es sich in den Mund und lachte dann, weil Chester einen Witz gemacht hatte, den er gar nicht wirklich ausgesprochen hatte. Der Tisch war plötzlich eng genug, dass ihre Haare ihm gegen das Gesicht strichen, rote, lange, dünne Haare. Er wischte sie sich weg, da lehnte sich Theresa zu ihm, schien ihn berühren zu wollen, betastete dann aber nur die Stelle unter seinem Auge. Er zuckte weg und ergriff ihre Hand.
      Lass das…

      ... Theresa.”
      Chester nuschelte, sein Mundwinkel zuckte, dann zog er den Kopf von Tessas Fingern weg. In seinem Traum zog Theresa sich kichernd zurück - dann fiel ihre Miene plötzlich ein und ein Ausdruck eindringlicher Ernsthaftigkeit trat in ihre Augen. Ihre Stimme war plötzlich zu eindrücklich für die kleine Frau, der Blick zu stechend, das Echo zu laut für das Zelt.
      “Glaubst du an das Schicksal, Chester?”
      Und plötzlich war der Tisch verschwunden, das Zelt war dunkel, der Zirkus leergefegt von sämtlichen anderen Zelten. Sie waren alleine. Chester war alleine. Alles war weg.
      Chester öffnete die Augen und blinzelte, während die echte Tessa über die Traum-Theresa rückte. Es brauchte einen Moment, bis er in die Wirklichkeit zurückgefunden hatte und begriff, dass sie dort fast aufgeschreckt vor ihm stand, gekleidet in seinen Pulli und eine Kostümhose.
      Ein sanftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus und er streckte sich lang und ausgiebig auf seinem schmalen Bett.
      Guten Morgen, Sonnenschein. Du bist schon auf?
      Ihm fiel die morgendliche Helligkeit auf, die in sein Zelt fiel, und er griff sich seine Uhr.
      ... Huch. Ich müsste ja schon längst draußen sein. Aber wenn mich keiner vermisst…
      Träge setzte er sich auf, fuhr sich durch die verwuschelten Haare und betrachtete dann Tessa, die wie angewurzelt vor ihm stand und so aussah, als hätte sie einen Geist gesehen. Er schmunzelte.
      Alles in Ordnung? Wie geht es dir, hast du gut geschlafen?
    • Mucksmäuschenstill verharrte Tessa über dem Träumer. Eigentlich wagte sie nicht einmal zu atmen aus Angst Chester damit aufzuwecken. Er sah so friedlich in seinem Schlaf aus, dass es eine Schande wäre ihn aus seinen Träumen zu reißen. Die genuschelten Worte konnte Tessa nicht verstehen und neugierig beugte sie sich etwas tiefer hinab, so tief, bis sein Atem über ihre Wangen streifte. Die entspannten Gesichtszüge veränderten sich mit den schüchternen Berührungen. Sie sah es in der Art, wie sich seine Augenbrauen stärker zusammenzogen und sich tiefe Fältchen über seiner Nasenwurzel in die Haut gruben. Die Mundwinkel zuckten und sie konnte regelrecht erfühlen, wie seine Kiefer angespannt arbeiteten. Für einen Sekundenbruchteil fühlte Tessa die herrliche Wärme, die seine Haut unter ihren Fingerspitzen ausstrahlte, dann drehte er den Kopf fort und entzog sich den heimlichen Berührungen ihrer streichelnden Finger. Tessas eigene Mundwinkel sackten enttäusch nach unten, begleitet von einem schlechten Gewissen. Es gehörte sich nicht schlafende Menschen einfach zu betatschen, als wäre es ganz selbstverständlich!
      ... Theresa.”
      Hatte er gerade wirklich ihren Namen gesagt? Träumte Chester etwa von ihr? Tessa errötete, nur um einen Wimpernschlag später wieder ganz blass zu werden. Warum bescherte ihm der Traum diesen ernsten Gesichtsausdruck?
      Gerade als Tessa mit der Entscheidung kämpfte, wieder ins Bett zu gehen und darauf zu warten, dass Chester von alleine aufwachte, öffnete der Mann verschlafen die Augen. Mehrmaliges Blinzeln vertrieb den glasigen, verträumten Ausdruck nur langsam bis die Welt nach dem Erwachsen erneut an Schärfe gewann. Bevor Chester wirklich registrierte, wer frech über ihm lehnte, hatte Tessa wie von einer Tarantel gestochen bereits die Hand zurückgezogen. Sie hatte ihm genug Umstände gemacht, hatte sein Bett blockiert, auch wenn er darauf beharrte, dass es ihm nichts ausmachte. Da musste Chester sie nicht auch noch für eine Verrückte halten, der andere Personen im Schlaf beobachtete. Tessa verspürte das nagende Gefühl des Zweifels, dass sie vielleicht etwas zu viel in seine Freundlichkeit hinein interpretierte. Aber im nächsten Augenblick schon kam die Erinnerung daran zurück, wie er sie liebevoll im Arm gehalten und seine Schulter zum Ausweinen angeboten hatte.
      Erschrocken über das plötzliche Erwachen presste sie die flache Hand gegen ihr wahnsinnig, schnell schlagendes Herz. Das verräterische Ding sprang ihr beinahe geradewegs aus der Brust.
      Guten Morgen, Sonnenschein. Du bist schon auf?
      Sie nickte.
      "Ich konnte nicht mehr schlafen."
      Tessa verfolgte die Bewegung seiner Hand, die durch das zerzauste Haar fuhr und, anstatt die verirrten Strähnen zu ordnen, alles noch ein wenig schlimmer machte. Chester wirkte in diesen flüchtigen Augenblicken, in denen er erst noch richtig wach wurde, herrlich offen und nahbar. Nicht, dass er jemals seit ihrer ersten Begegnung etwas anderes als offen und einladend gewesen war.
      Sie begriff, dass sie immer noch starrte, als Chester ihr einen besorgten Blick zuwarf.
      Alles in Ordnung? Wie geht es dir, hast du gut geschlafen?
      Tessa bemühte sich um ein kleines Lächeln, dass ein wenig über die Blässe hinweg tröste. Sie nickte.
      Sie verlagerte das Gewicht ihres Körper von einem Fuß auf den anderen und wieder zurück während sie nach einer passenden Antwort suchte? War alles in Ordnung? Nein, sicherlich nicht, aber Tessa fühlte sich nicht länger als stünde sie kurz vom Ende der Welt. Das Mädchen beschloss ehrlich zu sein. Chester würde es sowieso merken, wenn sie gefälschte Heiterkeit an den Tag legte.
      "Mit ist zwischendurch etwas schwindelig und ich bin noch etwas wackelig auf den Beinen", gab sie zu. "Ich bin zwischendurch immer wieder aufgewacht und ich glaube ich habe geträumt. Von Rosie. Es ist nicht alles in Ordnung, aber das wird es vielleicht irgendwann wieder."
      Sie zögerte.
      "Du hast im Schlaf gesprochen. Tut mir leid, ich wollte eigentlich nicht lauschen..."
      Von seinem Gesicht fiel ihr Blick auf die goldene Taschenuhr.
      "Geh ruhig. Der Schneesturm hat bestimmt Spuren hinterlassen und du hast bestimmt auch viel zu tun...", murmelte sie. Chester trug die Verantwortung für seinen Zirkus. Sie konnte ihn unmöglich für sich allein beanspruchen. "Ich verspreche, dass ich nicht weglaufe."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Man könnte ja schon fast meinen, dass Chester Tessa bei irgendetwas ertappt hätte, so festgefroren sie aussah und ihn mit riesigen Augen anstarrte. Es war schon beinahe lustig. Am liebsten hätte er sie direkt gefragt, wobei er sie denn erwischt hatte, nur um zu sehen, wie sich dieser niedliche Gesichtsausdruck nur noch weiter ausbreitete, aber in ihrer jetzigen Verfassung verkniff er sich das lieber. Apropos Verfassung, es mochte in seinem Zelt zwar warm sein, aber für die Tatsache, dass sie gestern noch fast erfroren werde, sollte sie hier definitiv nicht herumlaufen. Noch nicht einmal mit Pulli.
      "Weißt du auch, woran das liegt?"
      Geschwind stand er auf, sodass die Decke dabei auf den Boden flog.
      "Du hast sicher nicht genug Kamillentee getrunken. Komm, setz dich hierher, ich gehe dir neues Teewasser besorgen. Ich könnte sicher auch einen Schluck vertragen bei dem Chaos, das mich bestimmt erwartet. Es hat sicher über Nacht geschneit - da bin ich froh, nicht draußen schlafen zu müssen."
      Er verharrte auf halbem Weg dabei, Tessa auf das Sofa zu dirigieren und verzog das Gesicht.
      "Entschuldige. Vergiss den letzten Teil wieder, da habe ich nicht mitgedacht."
      Er stellte sicher, dass sie sich setzte, klaubte dann die Decke vom Boden, schüttelte sie einmal aus und schwang sie ihr über die Schultern. Von seinem eigenen Schlaf war sie noch ganz warm. Dann blieb er stirnrunzelnd auf ihrer Augenhöhe gebeugt vor ihr und betrachtete sie kritisch.
      "Und woher weißt du eigentlich, meine liebe Dame, dass ich im Schlaf rede?"
      Ja, er war ein bisschen gemein zu Tessa. Gemein deswegen, weil er eigentlich nur sehen wollte, ob diese gesunde, kräftige Röte wieder in ihrem Gesicht auftauchte, wenn sie sich schämte. Und das tat sie und sie tauchte auf und da lächelte er gleich, um sie zu beruhigen.
      "Ich habe dich hoffentlich nicht aufgeweckt, oder? Wenn ja, tut es mir leid. Ich kann mir das einfach nicht abgewöhnen."
      Munter richtete er sich auf.
      "Ich werde jetzt den Tee besorgen und wenn ich Liam derweil erwische, werde ich ihm sagen, dass ich eine halbe Stunde mit Frühstück beschäftigt bin. Und je nachdem, ob meine reizende Begleitung auch brav alles auf isst, werde ich früher oder später dazustoßen können. Okay?"
      Er zwinkerte.
      "Dann rühr dich nicht vom Fleck. In zehn Minuten bin ich wieder hier!"
      Er verschwand kurz im Schlafzimmer, um die Kanne Tee abzuholen, dann huschte er wieder nach draußen, wirbelte beim Zeltausgang mit einem "Huch" wieder herum und warf sich seinen Mantel über, bevor er endgültig nach draußen verschwand. Dort hatte über Nacht der Wind zugenommen und trug jetzt auch noch Schneeflocken mit sich. Eine sehr dünne Schicht hatte sich schon auf dem Boden abgelegt, die jetzt unter Chesters Schuhen knirschte, während er zur Küche joggte. Bei dem Wetter konnten sie die Aufführung heute abblasen, es würde ja sowieso niemand kommen. Außerdem würde er einen Rundgang durch den Zirkus machen und sich vergewissern müssen, dass auch alles für den Winter ordentlich ausgestattet war. Vor allem die Seile und Stützbalken mussten der Kälte standhalten und die Tiere mussten es extra kuschelig haben. Außerdem würde er wohl wieder seine Decken ausgeben, damit jeder es warm hatte. Niemand, der sich nicht draußen aufhielt, sollte frieren.
      Zehn Minuten später kam er wirklich mit einem Tablett Frühstück wieder: Einigem Brot, Belag und süßem Aufstrich und dazu natürlich eine frische Kanne Tee. Munter stellte er es vor Tessa ab.
      "Iss, damit du groß und stark wirst! Und trink genug. Und versprich mir, dass du heute nicht nach draußen gehst, es ist ganz fürchterlich. Wir werden die Aufführung heute Abend ausfallen lassen müssen."
    • Chester sprang so schnell vom Sofa auf, dass Tessa vor Überraschung regelrecht zusammen zuckte. Jedoch vor der Laut, der dabei über ihre Lippen, beinahe noch peinlicher als das laute Rumpeln hinter ihr, als sie mit den Kniekehlen gegen den niedrigen Couchtisch stieß. Die Blumen darauf bebte und schwankte gefährlich, pendelte sich aber zu Tessas großer Erleichterung wieder ein. Nicht auszudenken, wenn sie das Wasser dank ihrer Tollpatschigkeit über Chesters Papiere verteilt hätte, die kreuz und quer über den Tisch verstreute waren. Tessa versuchte erst gar nicht zu entziffern, was dort auf den Blättern stand. Außer einem unübersichtlichen Buchtstaben- und Zahlensalat erkannte die junge Frau sowieso nichts. Eilig bückte sie sich um mit den flinken Fingern einer Diebin den Füller davon abzuhalten, vom Tisch zu kullern und den weichen, flauschigen Teppich vor dem Sofa mit dunkelblauer Tinte zu tränken.
      "Kamillentee...richtig", stammelte Tessa und legte den Tintenfüller vorsichtig zurück.
      Vielleicht war es der Schreck, dass sie Chester die übereilten Worte in keiner Weise krumm nahm. Halbherzig winkte Tessa ab. Er meinte es nicht böse. Warum sollte sie ihm also einen Strick daraus drehen? Anstatt beleidigt das Gesicht zu verziehen, schenkte Tessa dieses sanfte, zurückhaltende Lächeln, das die Grübchen auf ihre Wangen zauberte.
      "Entschuldige Dich nicht", murmelte sie. "Ich verstehe schon.
      Tessa folgte der Einladung sich zu setzen und ihr angeschlagener Kreislauf dankte es ihr. Beinahe sofort zog das Mädchen die Füße vom Boden und faltete die Beine zu einem Schneidersitz unter sich zusammen. Damit verschwand sie fast gänzlich in der kunterbunten Decke mit dem fremdländischen Muster bis nur noch ihr brauner Haarschopf und ihre Hände hervorlugten. Im Zelt war es weit davon entfernt kalt zu sein, aber sie konnte das Gefühl von Eis und Schnee auf ihrer Haut noch nicht gänzlich abschütteln. Tessa vergewisserte sich, dass kein Lüftchen durch die Enden der Wolldecke zog, da spürte sie ein zusätzliches Gewicht auf ihren Schultern. Chesters Decke, wie sie mit einem Blick zur Seite feststellte. Die Frage schon auf der Zunge hob sie das Kinn ein wenig an nur um Chesters Gesicht unmittelbar vor dem Eigenen zu entdecken. Er hatte sich zur ihr gebeugte und bedachte sie mit sehr kritischen Gesichtsausdruck. Die Hitze flammte augenblicklich über ihren Wangen auf und breitete sich über das gesamte Gesicht aus bis sie einer überreifen Tomate gefährlich Konkurrenz machte. Das spitzbübische Grinsen, das darauf folgte, machte es für Tessa nur noch schlimmer.
      "Nein, Du hast...mich nicht geweckt. Ich wollte nur...Ich dachte...und dann hast Du...", stotterte Tessa.
      Mit einem gequälten Seufzer schlug sie die Hände vors Gesicht und lugte zwischen ihren gespreizten Fingern zu Chester auf. Er hatte sich bereits wieder entfernt, aber wirkte äußerst vergnügt über ihre Reaktion. Er nannte sie reizend. Sie, mit ihren zerzausten Haaren, den müden Augen und den tiefen Augenringen. Ausgerechnet sie, mit den Narben im Gesicht und der schmächtigen Statur. Tessa verzog die Lippen zu einem Schmollmund, den sie hinter ihren Fingern versteckte und versuchte das seltsame Gefühl in ihrem Magen zu ignorieren. Sicherlich nur der Hunger bei der Erwähnung von Frühstück.
      "Du machst das mit Absicht, oder?"
      Chester zwinkerte und war verschwunden bevor Tessa ein Kissen nach ihm werfen konnte.

      _______________________________________________________

      Das Frühstück duftete verlockend bevor Chester überhaupt den Vorhang am Zelteingang zurückschlug. Und so köstlich wie es duftete, sah es auch aus. Der herbe Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee vermischte sich mit dem Duft von Brot, dass warm dampfend in einem Körbchen lag und wohl gerade erst aus dem Ofen kam. Tessa warf das Kissen, mit dem sie sich bewaffnet hatte, kurzerhand von ihrem Schoß und rückte näher an den Rand des Sofas. Sie wartete bis Chester alles abgestellt und ihnen Kaffee eingoss. Mit einem zufriedenen Seufzen nahm sie die warme Tasse entgegen um ihre kühlen Finger aufzuwärmen. Sie schnupperte an der dunklen, heißen Flüssigkeit.
      "Es muss ewig her sein, dass ich frischen Kaffee hatte. Wie gut der duftet. Allein dafür bleibe ich ganz brav im Zelt, du musst nur die Kanne hier lassen", flüsterte sie lächelnd und nippte vorsichtig daran.
      Was folgte, war das friedlichste und leckerste Frühstück, dass Tessa seit langem erlebt hatte. Die Wärme des Feuers im Kamin, Kaffee, Tee und die mitgebrachten Köstlichkeiten lullten sie regelrecht ein. Die Müdigkeit legte sich schwer und gleichzeitig angenehm um sie. Für einen Augenblick waren die Schatten der vergangenen Tage fort.
      "Schade, dass die Aufführung ausfallen muss", meinte Tessa ehrlich. "Sag mal...Liam ist doch dieser ernste Typ mit dem Klemmbrett, oder?"
      Das war eine milde Beschreibung.
      Einen Stock im Hintern haben, fand Tessa wesentlich passender, aber sie verkniff sich den Ausdruck. Nachdenklich sah sie Chester an und richtete sich ein kleines Stückchen auf, als ihr etwas einfiel. Sie rieb sich verlegen über den Nasenrücken.
      "Chester? Meine Kleidung ist doch nicht entsorgt worden, oder?"
      Die Lederjacke mit den wenigen Habseligkeiten in den unzähligen, versteckten Taschen, ihre Stiefel und... ihre Unterwäsche.
      Tessa wäre am liebsten im Erdboden versunken.
      "Ich kann unmöglich die ganze Zeit in deinen Klamotten herumlaufen."
      Ohne Unterwäsche.
      "Außerdem sind in der Jacke noch ein paar Dinge, die ich gerne wiederhätte. Andenken und sowas. Du weißt schon."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sehr schade, ja wirklich. Aber was meinst du, wie die anderen sich freuen werden, diese Banausen. Bei einem Wetter wie diesem, wenn ich den Zirkus schließe, rotten sie sich meistens in der Manege zusammen, machen ein Feuer und verbringen dann einen lustigen Abend. Das hat man davon, wenn man seinen Angestellten freigibt, sie suchen sich gleich die erstbeste Gelegenheit, um zu trinken.
      Chester grinste Tessa glücklich an, was eine mögliche Ernsthaftigkeit seiner Worte vollkommen aufhob. Immerhin sorgte er stets selbst dafür, dass das Feuer dann auch gut brannte und jeder eine warme Tasse in die Hand bekam. Von Arbeitszwang war hier schließlich wirklich nicht die Rede.
      Chester hatte sich auch auf die Couch gesetzt, griff sich ein Stück Brot und knabberte rein zum Vergnügen daran. Er war kein sonderlicher Frühstücksmensch, zum Mittag aß er dann genug.
      Du meinst der Blonde mit dem Stock im Hintern?”, entgegnete er fröhlich und sah dabei zu, wie Tessa erst ein bisschen rot wurde und sich dann wohl selbst ungeheuerlich über diese Aussage zu amüsieren schien. Was auch immer sie hatte fragen wollen, es reichte nicht, um ihren verlegenen Ernst zu unterdrücken.
      Nein, natürlich habe ich deine Kleidung nicht entsorgt. Sie ist hinten im Schlafzimmer, du wirst sie gar nicht gesehen haben. Aber Tessa”, da richtete er sich selbst ein Stück auf und sah auch ernster drein, “das ist keine geeignete Winterkleidung. Ich werde dir nicht vorschreiben, was du zu tragen hast, aber solange du auf meinem Gelände herumwandelst, muss ich dir vorschreiben, wenigstens noch einen Pulli darunter zu ziehen. Und ein geeignetes Paar Schuhe. Und dickere Socken! Und vielleicht noch einen Schal. Mütze sowieso. Und Handschuhe.
      Er überlegte einen Moment, dann winkte er schließlich ab.
      Also eigentlich kannst du auch gleich anbehalten, was du gerade trägst, bis ich dir ein paar mehr Sachen aufgetrieben habe. Aber deine Sachen sind trotzdem im Schlafzimmer, ich habe auch sicher nicht reingeschnuppert.
      Mit breitem Lächeln dachte Chester an was auch immer in Tessas Taschen versteckt sein mochte und nicht etwa daran, dass da auch noch Unterwäsche dabei lag. Immerhin war auch er es nicht gewesen, der Tessa entkleidet hatte. Das konnte ihm ihre plötzliche Röte im Gesicht auch nicht verraten, denn Tessa war in den letzten Minuten einige Male rot geworden.
      Was für Chester sehr amüsant zu beobachten war.
      Er aß den letzten Bissen auf und sprang dann vom Sofa.
      Dann kann ich dich also alleine lassen, ja? Wenn du etwas brauchst, dann ruf nur ganz laut und irgendjemand wird dich bestimmt irgendwo hören. Ich werde auch gar nicht lange weg sein, ich muss nur ein bisschen danach schauen, dass die Zelte auch gut abgedichtet sind und dass niemand in der Kälte frieren muss. Das organisatorische macht der ernste Typ mit dem Klemmbrett.
      Er konnte es sich einfach nicht verkneifen, es war zu leicht, Tessa eine Reaktion zu entlocken. Er kicherte spitzbübisch und wanderte dann zum Ausgang.
      Überleg dir schonmal, was du zum Mittagessen für ein Dessert möchtest! Ich glaube, es gibt heute Streuselkuchen oder wahlweise Pudding.
      Fröhlich winkte er ihr zu und schoss dann nach draußen.

      Knapp eine Stunde später drangen Schritte und Geräusche von draußen herein und zwei schnaufende, keuchende Männer schleppten einen gefüllten, dampfenden Waschzuber durch den Zelteingang. Sie waren, gelinde gesagt, überrascht darüber, Tessa im Inneren zu begegnen, denn der eine gab einen spitzen Schrei von sich und der andere hätte fast den Henkel losgelassen.
      “Huch! Ich dachte es wär keiner hier!”
      “Mylady - verzeihung! Wir dachten - wo möchten Sie das hinhaben?”
      Sie standen für einige Momente unbewegt im Zelt, während Tessa sichtlich verwirrt über ihre Ankunft war, bis der eine aufklärte.
      “Das ist zum Waschen, Chester wollte, dass wir es herbringen. Wir haben hier keine modernen Einrichtungen im Zirkus. Also, wo wollen Sie das hinhaben?”
    • Wenn die Vorstellung allein nicht völlig absurd gewesen wäre, könnte Tessa darauf schwören, dass Chester ihre Gedanken las. Der Mann mit den amüsiert funkelnden, blassblauen Augen, der vermutlich weniger aus Appetit sondern eher aus Höflichkeit mit ihr frühstückte damit sie nicht alleine aß, besaß das beeindruckende Talent in ihrem Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. Tessa versuchte die zarte Röte auf ihren Wangen hinter dem Rand ihrer Kaffeetasse zu verstecken. Dem glücklich Lächeln nach zu urteilen, das Chester ihr schenkte, mit wenig Erfolg. Mittlerweile hatte die junge Frau begriffen, dass er unheimliche Freude dabei empfand sie auf charmante Art in Verlegenheit zu bringen. Keinen Augenblick lang fühlte sich Tessa dabei wie ein dummes, naives Straßenmädchen. Mit jeder Unterhaltung und jeder freien Minute, die Chester für sie erübrigen konnte, fühlte sich Tessa etwas wohler in ihrer Haut. Selbst bei der ersten, nächtlichen Begegnung und mit Schlamm besprenkelten Gesicht hatte er nicht von einem hohen Ross auf sie herab gesehen. Jetzt saß Tessa in seinem Zelt, hatte in seinem Bett geschlafen und vertraute einem eigentlich Fremden ihre Trauer an. Sie konnte das abfällige Zungenschnalzen ihrer Mutter über ihre Naivität deutlich hören, als stünde die Frau direkt hinter dem Sofa.
      Ein schiefes Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab und sie nickte bedächtig. Ihre Zehen wussten genau, wie ungeeignet die Stiefel für tiefen Schnee waren. Mit der Vorschrift, sich noch eine Weile in den Wollpullover zu kuscheln, konnte Tessa sich natürlich geradeso anfreunden. Sie würde das weiche Kleidungsstück wahrscheinlich gar nicht mehr hergeben, wenn sie nicht müsste. Der Pullover war wärmer und weicher als alles, was sie jemals getragen hatte. Das er zu groß war, störte sie nicht. Die meisten Klamotten hingen unförmig an ihren zierlichen Schultern. Eine Jugend auf der Straße und die schlechten Lebensbedingungen sowie der Hunger hatten ihre Spuren bei der jungen Frau hinterlassen.
      Erleichtert atmete sie auf, als Chester ihr bestätigte, dass ihre Kleidung noch da war und sogar in der Nähe. Sie hatte einfach nicht darauf geachtet. Für den Rest der Unterhaltung bestanden Tessas Reaktion wahlweise aus einem verstehenden Nicken oder darin rot anzulaufen. Ja, Chester hatte eindeutig eine Schwäche dafür.
      Tessa kicherte belustigt.
      "Ziemlich viele Einwände. Ich dachte du wolltest mir keine Vorschriften machen?"
      Jetzt war es Tessa, die Chester mit einem schelmischen Grinsen ansah.
      Etwas, dass den Mann ihr gegenüber wohl ebenso erfreute, wie ihr rot angelaufenes Gesicht.
      Viel zu früh ließ er die Diebin allein im Zelt zurück, die noch ein wenig vom Frühstück naschte und sich mit vollem Bauch ins Sofa zurücklehnte. Die Zeit zusammen für für ihren Geschmack viel zu kurz. Jede Begegnung war bisher wie im Flug vergangen und jedes Mal kamen sie ihr kürzer vor. Jetzt im Tageslicht und mit ihren Gedanken völlig allein, verflog die Sorglosigkeit, die Chester mit sich brachte. Was sollte sie den ganzen Vormittag allein an diesem Ort machen. Die Bücher zur Unterhaltung standen völlig außer Frage. Sie konnte ja nicht einmal die Titel entziffern. Sowieso erschien es Tessa unpassend, neugierig Chesters Eigentum zu durchwühlen, nur weil sie sich von ihren kreisenden Gedanken ablenken wollte.
      Tessa seufzte und ließ sich unzeremoniell zur Seite kippen, bis ihr Kopf auf den Kissen ruhte.
      Das Frühstück hatte sie müde gemacht, dagegen half auch der Kaffee nicht. Sie lauschte dem knirschen des Schnees vor dem Zelt und dem entfernten Stimmengewirr. Langsam lullte die friedliche Geräuschkulisse Tessa zu einem kurzen Nickerchen ein. Unter zwei Decken begraben und dem vertrauten Duft von Kaffee und etwas, dass ganz und gar nach Chester roch, schlief Tessa einfach wieder ein.

      ____________________________________________________________
      Ein spitzer Schrei weckte sie.
      Tessa fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch und blinzelte zwei Männern entgegen, die einen Waschzuber mit dampfendem Badewasser in das Zelt schleppte. Offenbar hatte ihnen niemand gesagt, dass Chester einen Gast in seinem Zelt beherbergte, denn sie wirkten ehrlich überrascht eine junge Frau mit zerzausten Haare und in der Kleidung ihres Bosses auf seinem Sofa zu finden. Tessa fühlte sich dermaßen überrumpelt, dass sie nicht einmal vom Sofa aufsprang sondern mit großen Augen von den Männern zum Waschzuber und wieder zurücksah.
      "Für mich?", nuschelte sie.
      Ungeduldig sahen die Männer sie an, denn der Zuber war alles andere als federleicht. Tessa sah die Adern an Hals und Schläfen vor Anstrengung hervor treten. Mit einem schlechten Gewissen rappelte sich die Frau vom Sofa auf und sah sich fieberhaft nach einem geeigneten Stellplatz um. Im Hauptraum? Auf gar keinen Fall! Während Tessa noch überlegte, hörte sie ein deutliches, genervtes Räuspern.
      "Ähm...Hier lang bitte. Ins...ins Schlafzimmer, vielleicht?", murmelte sie und kam sich seltsam dabei vor, die Männer kreuz und quer durch das Zelt zu schicken, bis der Badezuber endlich in einer Ecke des Schlafzimmers seinen Platz fand. Zumindest hatte sie dort nicht das Gefühl, dass jeder, der ins Zelt hinein platzte, sofort freie Sicht darauf hatte.
      "D...Dankeschön..."
      Die Männer sahen sie neugierig an, verschwanden aber ebenso schnell wieder, wie sie mit dem Zuber aufgetaucht waren.
      Tessa stemmte die Hände in die Hüften und starrte das heiße Bad an, als hätte sie noch nie zuvor in ihrem Leben eine Wanne mit Badewasser gesehen. Der Zuber war riesig! Zumindest für Tessas Verständnis. Ein paar Sekunden zögerte die Frau, dass setzte sie sich flott in Bewegung und sammelte zunächst ihre noch klammen Kleidungsstücke ein, die sie vorsichtig in der Nähe des Kamins auslegte um sie zu trocknen. Die weiße Lilie, den kleinen Teddybären-Schlüsselanhänger mit Zylinder und einen kleinen Beutel legte Tessa auf den Kaminsims. Erstaunlich, was Chester und seine Leute alles in einem Zelt unterbringen konnte.
      Beim Ausschütteln der Hose fiel etwas mit einem dumpfen Klimpern auf den Teppichboden. Fragend bückte sich Tessa und hob mit spitzen Fingern einen rostigen, metallischen Gegenstand vom Boden.
      "Der Schlüssel...", murmelte sie und betrachtete den wertlosen Plunder, der ihr dieses Unglück eingebracht hatte.
      Tessa ballte die Faust um den Schlüssel, biss es sie schmerzhaft in den Handflächen stach. Sie war kurz ihn einfach ins Feuer zuwerfen. Stattdessen legte sie den Schlüssel neben ihre anderen Besitztümer auf den Kaminsims. Je länger sie ihn betrachtete, umso unwohler wurde Tessa. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus und gleichzeitig verspürte sie den Drang, den Schlüssel wieder in die Hand zu nehmen. Es war unheimlich und ein eiskalter Schauer lief ihr den Rücken herunter.
      Ruckartig drehte Tessa sich um und stapfte zurück zum Badezuber.
      Grimmig zog sich das Mädchen den Pullover über den Kopf, streifte Hose und die absurde Anzahl von Wollsocken ab. Obwohl es im Zelt angenehm warm war, fröstelte Tessa. Trotzdem stieg sie vorsichtig in die Wanne, um nicht aus Versehen Chesters Schlafzimmer zu fluten. Der Schock bis zu den Schultern ins dampfender Wasser einzutauchen, entlockte Tessa ein wohliges Seufzen. Es war ewig her, dass sie ein heißes Bad hatte. Bereits nach wenige Minuten wurden ihre steifen Muskeln ganz weich von der Wärme. Sie wagte sogar ganz unter die Wasseroberfläche zu sinken und den groben Schmutz aus ihren Haaren zu spülen. Nachdem Tessa davon überzeugt war, die meisten Spuren der letzten Tage von ihrem Körper gewaschen zu haben, besah sie sich die aufgeschürften Knie vom Sprung von der Feuerleiter. Es war fast nichts mehr davon zusehen, nichts, im Vergleich zu einer tödlichen Pistolenkugel.
      Sie wagte auch keinen Blick in den großen Spiegel der Ankleide um die deutlichen Erhebungen ihrer Wirbelsäule und die hervorstehenden Rippen nicht sehen zu müssen. Ihre Haut war blass und die Äderchen zeichneten sich mit einem deutlich Blauschimmer darunter ab. Ohne die bauschige Kleidung fiel auf, wie schmal Tessa wirklich war. Sie war fast so schlaksig und drahtig wie Jacob und damit vermisste ihre zierlicher Körper die weibliche Weichheit oder gar ausgeprägte Kurven und Wölbungen, die die Männer an den Artistinnen bewunderten.
      Tessa schlang die Arme um die angezogenen Knie und schloss die Augen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • In dieser Generation des Zirkus’ Magica ließ Chester es ruhig angehen. Er hatte als Zirkusdirektor schon alles mögliche durchgenommen, von alles alleine schaffen bis zu überhaupt nichts leisten, er hatte gefühlt schon sämtliche Kombinationen mindestens einmal ausprobiert und sich auch für eine liebste entschieden. Aber in dieser Generation ließ er es ruhig angehen. Es war nicht so, dass er es am liebsten tat, aber er hatte sich dafür entschieden. Nach jüngsten Ereignissen vergangener Generationen hatte er es willentlich gewählt.
      Das hieß, dass Chester längst nicht mehr dafür zuständig war, seine Angestellten einzuteilen, Schichtpläne zu schreiben, Lagerbestände zu aktualisieren und Equipment zu besorgen. Das erledigte alles Liam für ihn, der ernste Blonde mit dem Klemmbrett und dem Stock im Hintern, der früh morgens auf den Beinen war, sich am Nachmittag zu einem Schläfchen hinlegte und dann bis in die Nacht hinter den Kulissen des Zirkusses herum huschte. Er war die hauptsächliche Anlaufstelle für sämtliche Probleme und für alles, was organisatorisches betraf.
      Chester sah sich eher als die Stütze im Hintergrund. Er erledigte die Finanzen, das war das einzige, was er in dieser Generation nicht abgeben wollte, weil es ihm von Zeit zu Zeit eine Gelegenheit gab, sich in sein Zelt zurückzuziehen und vollkommene Ungestörtheit zu verlangen. Außerdem war Chesters Art, Buch zu führen, sicher längst überholt und manchmal hatte er nicht genug Nerven, immer und immer wieder jemand anderen darin einzuführen - also tat er es einfach selbst. Er vergewisserte sich auch, dass alles rund lief, dass die Tore rechtzeitig geöffnet wurden, dass die richtigen Stände besetzt waren und die richtige Aufführung geplant war. Er sah auch immer nach, dass auch ja genug zu Essen da war - hungrige Angestellte waren eine Katastrophe - und dass es sonst an nichts mangelte. Er kümmerte sich auch um das Seelenheil seiner Mitreisenden, so gut er es eben konnte; so gut er es in seiner Position und als Verantwortlicher konnte. Mit den meisten kam er schließlich sehr gut aus, nur wenige konnten sich nicht von ihrem Schicksal erholen. Der menschliche Verstand war manchmal nicht dazu geschaffen, in einer endgültigen Ewigkeit zu denken.
      Entsprechend gab es nicht viele Leute, die ihn konkret gebraucht hätten und er hatte auch keine richtigen Stationen, die er anpeilen konnte, um seine Arbeit zu verrichten. Er schlenderte einfach durch seinen Zirkus, durch sein Reich, strebte all die Ecken an, die auch in vorherigen Jahrzehnten schon Ärger bereitet hatten, und sorgte dafür, dass sie für den Winter gewappnet waren. Er ließ sich von dem Koch bestätigen, dass die Küche auch für kältere Zeiten noch stark genug war und er machte sich Notizen bei den Kostümen, um vielleicht etwas Wärmeres zu beschaffen. Er würde nachsehen, wie viel Budget sie dafür noch übrig hatten.
      Er ging auch bei Tobys Wagen vorbei. Er wusste, dass es noch viel zu früh war, um mit ihm reden zu wollen, aber Chester konnte unheimlich ungeduldig sein. Am einen Tag konnte der Mann noch jung und fit sein, am nächsten trug er graue Haare, brach sich die Hüfte beim Hinfallen und starb dann im Krankenzelt. Chester wusste, dass er im ständigen Wettlauf gegen die Zeit stand und da wollte er sie nicht grundlos einfach verstreichen lassen.
      Daher stieg er die drei Stufen hinauf und klopfte.
      Toby?
      Es kam aber keine Antwort. Chester probierte es noch zwei weitere Male auf sanfte, vorsichtige Weise, dann zog er wieder von dannen. Ella würde ihn sicher dafür schelten, sich dem Mann jetzt schon aufdrängen zu wollen, aber er wollte ja schließlich nur sehen, ob es ihm gut ging. Das konnte man ihm doch nicht verübeln, oder?
      Der restliche Rundgang verlief aber wie erwartet. Zur Mittagszeit kam er in die Kantine und ließ sich ein großes Tablett mit zwei Tellern zusammenstellen. Roy saß schon an einem Tisch und nickte ihm einladend zu, aber Chester winkte ab, deutete auf sein volles Tablett, grinste und wackelte mit den Augenbrauen. Ein verwirrter Ausdruck schlich sich auf Roys Gesicht, aber da schob Chester sich in dem Gewühl schon wieder nach draußen und steuerte gut gelaunt sein Zelt an. Es war schön, jemanden zu haben, der auf einen wartete.

      Tessa! Mittagessen! Es gibt… äh… Kartoffeln in Speck, soll das sein, denke ich. Mit Käse. Außerdem habe ich uns zwei Blaubeermuffins aus der Küche geklaut, aber das bleibt unser Geheimnis, bitte!
      Er ging zum Sofatisch, schob das alte Tablett beiseite und quetschte das neue mit dazu. Bei der Gelegenheit schnappte er sich auch den wahllosen Zettelstapel, den er hier eines Tages mal hinterlassen hatte, und verfrachtete ihn kurzerhand auf seinen Schreibtisch im Nebenzimmer.
      Tessa, schläfst du noch?

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    • Tessa verlor jegliches Zeitgefühl. Das sanfte Plätschern des dampfenden Wassers versetzte die junge Frau in ein Art von Trance, die alle Gedanken auf eine endlose Reise schickte. Sie dachte an Rosie. Der Schmerz war nicht über Nacht verklungen und pochte dumpf hinter den Rippen, grub sich tief in das Herz. Tessa dachte an Jacob, der sie mit so viel Hass angesehen hatte und nun vermutlich in einer feuchten Zelle sein Dasein fristete. Sie dachte an Miles, der vor Wut schäumte, weil der Auftrag gescheitert war. Daran denken, was passieren mochte, wenn Miles herausbekam, dass Tessa im Besitz des begehrten Schlüssels war, mochte die Diebin eigentlich nicht. Es war ihr immer noch ein Rätsel, was der kriminelle Hehler mit dem rostigen Kleinod wollte. Für Tessa sah der Schlüssel vollkommen wertlos aus; das Messing angelaufen und das einst glänzende und nun stumpfe Blattgold größtenteils abgeblättert. Zu welchem Schloss er wohl passte? Zumindest war er alt, dass sah selbst Tessa.
      Träge beugte Tessa die Zehen im warmen Badewasser und genoss das Gefühl, wie das Leben zurück in ihren Körper floss. Sie hatte nicht bemerkt, wie viel Kälte noch in ihren Knochen gesteckt hatte, bevor sie in den Badezuber gesunken war. Sorgfältig, aber ohne Eile, wusch sie die letzten Spuren der Straße von ihren Fingern und Händen. Dort, wo sich der Dreck hartnäckig in die Linien in ihrer Handflächen hielt. Tessa wiederholte de Prozedur mit ihrem ganzen Körper. Mit den Fingerspitzen ertastete sie die Rippenbögen, die knochigen Schultern und den deutlichen Schwung ihres Schlüsselbeines. Sie streifte über alte Narben aus Kindheitstagen an den Schienbeinen von längst vergessenen Stürzen und wusch die frischen Schürfwunden an ihren Knien aus.
      Es war ein seltsames Gefühl hier auf Chesters Rückkehr zu warten. Das Wasser war längst kalt geworden und hatte eine trübe Färbung angenommen, als Bewegung in das Zelt kam. Für schier endlose Minuten, vielleicht auch Stunden, hatte Tessa sich kaum bewegt. Chesters Stimme riss die sie aus der gedankenverlorenen Trance.
      "...habe ich uns zwei Blaubeermuffins aus der Küche geklaut, aber das bleibt unser Geheimnis, bitte!
      Sie blinzelte langsam.
      Erst mitten im Satz bemerkte Tessa, dass sie nicht länger alleine war.
      Tessa, schläfst du noch?
      Der Kopf ruckte in die Höhe während ihr Blick geradezu in Richtung des Durchgangs zum gemütlichen Wohnbereich zuckte. Die Position des Badezubers gewährte ihr keinen Einblick in den anderen Raum, aber Chesters Stimme klang gedämpft durch die Zeltwände, fast so, als stünde er nur wenige Meter neben ihr. Das unruhige Wasser plätscherte jetzt lauter, da Tessa eilig mit wackeligen Beinen aus dem Zuber kletterte. Nach dem langen Sitzen kehrte das Gefühl nur langsam in ihre Gliedmaßen zurück. Sie klammerte sich am Rand fest und stieg zunächst mit einem dann mit dem anderen Bein aus dem Badezuber. Das Wasser perlte von der blassen Haut und tröpfelte in den weichen Teppich. Lautlos fluchend sah sich Tessa nach einem Handtuch um und versuchte das Malheur ein wenig zu mildern.
      "Ein Minute!", rief sie hoffentlich laut genug.
      Gleichzeitig hätte Tessa sich für die fieberhafte Panik gerne vor die Stirn geschlagen. Hektisch sah sie sich um. Dabei glitt ihr Blick immer wieder zum Durchgang während sie nach dem verräterischen Geräusch sich nähernder Schritte lauschte. Fahrig wickelte sie das Handtuch um ihre tropfnassen Haare und griff nach dem erstbesten Kleidungsstück, das Ähnlichkeit mit einem Bademantel hatte. Tatsächlich hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, dass sie aus der Wanne auch wieder heraus musste. Ihre eigene Kleidung trocknete noch vor dem Kamin und geliehenen Kleidungsstücke hatte sie im Fieber durchgeschwitzt. Selbst an Chesters Schränke oder Truhen zugehen, stand nicht zur Debatte.
      Schnell wickelte sich Tessa in dem flauschigen Bademantel. Er war warm, weich und sicherlich teuer gewesen. Chester präsentierte sich in möglichst einfacher Kleidung. Vermutlich, um sich ihr etwas anzugleichen und auf gar keinen Fall einschüchternd zu wirken. Das hatte die Diebin längst bemerkt. Das Zelt sprach dennoch eine völlig andere Sprache. Alles darin, selbst das Sammelsurium aus scheinbar wahllos kombinierten Möbelstücken aus allen Epochen, wirkte teuer und versprühte einen gewissen Komfort, den eine Person sich nur leisten konnte, die genug Kleingeld in den Taschen hatte. Von dem riesigen Bett mit der samtweichen Bettwäsche und der bequemen Matratze ganz zu schweigen. Selbst der Teppich unter ihren Zehen fühlte sich kostspielig an.
      Tessa vergewisserte sich, dass der viel zu große Bademantel nicht einfach verrutschte und tapste auf jetzt trockenen Füßen vorsichtig in den Wohnbereich. Vorsichtig schob sie die Vorhänge am Durchgang zurück und lugte neugierig hindurch.
      "Chester?"
      Sie sah nichts, aber sie roch das den köstlichen Duft des Mittagsessens.
      Fragend zog sie die Augenbrauen zusammen und wagte sich in einen Schritt hinaus. War Chester aus Anstand wieder gegangen, als er das Plätschern des Wasser vernommen hatte? Tessa wanderte weiter in den Raum hinein und gefror in der Bewegung, als etwas im Augenwinkel entdeckte. Durch einen weiteren Durchgang fiel ihr Blick in einen recht übersichtlichen weiteren Raum des Zeltes, den Chester offenbar als Büro nutzte. Ein wuchtiger Schreibtisch nahm beinahe den kompletten Raum ein und war mit Papieren und Büchern übersät.
      Tessa grub die Finger in den flauschigen Kragen des Bademantels, um die alles auch ja zusammenzuhalten. Ihr Glück würde sie keinem notdürftig geknoteten Gürtel überlassen, den sie sich fast zwei Mal um die Taille schlingen musste. Mit den Fingerknöcheln klopfte sie zaghaft gegen einen Holzbalken, der diesen Teil des großen Zeltes stützte.
      "Hey...", murmelte sie.
      Scheu sah sie zu Chester herüber und spürte jeden einzelnen Wassertropfen, der aus ihrem Haar und über ihren Hals perlte.
      "Konntest du alles erledigen?", fragte sie und nickte dann über ihre Schulter zum wartenden Mittagessen. "Danke fürs Essen bringen. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, dass ich dich von deinen Pflichten abhalten."
      Kurz schnupperte Tessa und schenkte Chester im Anschluss ein Lächeln.
      "Ja, nur fast."
      Dann zupfte sie an den Ärmeln des Bademantels.
      "Denkst du...Du könntest mir da noch einmal aushelfen?", lächelte Tessa schüchtern. "Mit etwas zum Anziehen, meine ich."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Eine Minute!", kam es aus dem Schlafzimmer und Chester rief fröhlich zurück: "Keine Hektik, es läuft ja nicht weg!"
      Er mochte diese wenigen Momente des völligen Friedens, in denen er so tun konnte, als führte er ein häusliches Leben. Tatsächlich war er schon viele, viele Jahre lang nicht mehr in einem richtigen Haus gewesen, aber er wusste sehr wohl, was das Gefühl bedeutete, dieses tiefenentspannte, völlig losgelöste, liebevolle Gefühl. Dieses Gefühl, jemanden bei sich zu haben, der auf einen wartete, wenn man nachhause kam, der mit einem das Leben teilte. Das ganze Leben. Chester wusste, dass er es nicht haben konnte, aber er konnte so tun als ob, immer und immer wieder, so lange, wie er neue Menschen in sein Zelt locken und verführen konnte.
      Er lächelte still in sich hinein, während er entspannter seine Unterlagen verstaute. Wenn er schon ein bisschen Zeit hatte, konnte er sie auch nutzen.
      Bis Tessa schließlich herauskam, hatte Chester schon fast zu einem seiner Bücher gegriffen, legte es jetzt aber gleich wieder ab und stand auf - und sah an der jungen Frau herab, die in seinem übergroßen Bademantel fast zu verschwinden drohte. Er schlackerte ihr um die Beine, außerdem lag ihr Hals noch frei, an dem das Wasser herab tropfte. Ihre Haare waren noch viel dunkler von der Nässe, aber sicherlich schon wesentlich sauberer. Er konnte jetzt schon sehen, dass einiges an Schmutz abgegangen war.
      Er lächelte noch viel breiter. Ein häusliches Gefühl, ja, das war es.
      "Ich habe noch lange nicht alles erledigt - wenn ich das versuchte, würde ich eine ganze Ewigkeit hier im Zirkus verbringen müssen, stell dir das mal vor!"
      Kichernd kam er hinter dem Schreibtisch hervor und blieb vergnügt vor ihr stehen. Das war immerhin ein wirklich geschmackvoller Witz gewesen.
      "Außerdem muss ich ja selber auch noch essen. Und wenn du mich von meinen Pflichten abhältst, indem ich dir Gesellschaft leiste, dann möchte ich bitte, dass du mich sehr oft von meinen Pflichten abhältst."
      Er betrachtete sie einmal in seinem ausladenden Bademantel, während er überlegte, was denn an diesem Anblick fehlen könnte. Irgendwas war da doch, was ihm soeben ins Auge gestochen war und was... aha! Entsetzt riss er die Augen auf.
      "Herrjemine, ich hab dir ja gar kein Handtuch gegeben! Komm, das machen wir gleich, du wirst doch sonst noch krank mit deinen nassen Haaren!"
      Er ergriff ihre Hand, eine Geste, vor der Tessa jetzt merklich nicht mehr zurückschreckt - aber Chester, weil sie trotzdem noch recht kalt war - und zog sie mit nach drüben. Er öffnete seine Kommode mit all den hineingestopften Handtüchern und griff sich das erstbeste, bevor er es ihr auf den Kopf drapierte. Deutlich beruhigter betrachtete er sein Kunstwerk.
      "Etwas richtiges zum Anziehen bekommst du natürlich auch noch. Wir werden in die Kostümabteilung gehen, sobald du trocken bist und dann darfst du dir etwas aussuchen. Vielleicht schicke ich auch Malia mit dir in die Stadt, dann soll sie mit dir einkaufen gehen."
      Nachdenklich musterte er Tessa, da kam ihm gleich schon die nächste, begeisterte Idee.
      "Vorher richten wir aber deine Haare. Das Essen kann warten, sowas muss man machen, während sie noch richtig nass sind. Glaube ich. Dann geht es besser. Komm, setz dich hin, ich habe hier sicher irgendwo eine Bürste."
      Er warf einen Blick durch sein Schlafzimmer, öffnete ein paar Schubladen und fand schließlich eine Bürste im Nachttisch, sicher von einem ehemaligen Gast und ziemlich sicher auch noch von einem verstorbenen. Chester prüfte, ob auch keine Haare mehr darin verharkt waren und kam dann zu Tessa, die sicher damit rechnete, die Bürste einfach entgegen zu nehmen. Viel weniger rechnete sie damit, dass Chester hinter ihr aufs Bett kraxelte, wo sie jetzt saß, und sich im Schneidersitz hinter ihr niederließ.
      "Lass mich nur machen, du kannst ja gar nichts hinten sehen. Außerdem bin ich Bürstenexperte. Selbsternannt, vor etwa zwei Sekunden."
      Darüber schmunzelte er ja sogar selbst, aber es hatte die beabsichtigte Wirkung: Tessa entspannte sich wieder. Er nahm ihr wieder das Handtuch vom Kopf, strich ihr ganz behutsam die Haare nach hinten und griff sich ein paar Strähnen, um unten zu bürsten anzufangen. Es war gut, dass sie das nicht selbst tat, denn sonst würde sie mit dem wirren Nest konfrontiert werden, das sich hier zusammengestaucht hatte. Das übernahm Chester jetzt selbst, im ärgsten Fall sogar mit den Fingern.
      Fürsorglich, fast schon meditativ bürstete er die Haare.
      "Möchtest du heute Abend mit ins Aufführungszelt kommen? Ich habe die Aufführung nun sicher abgesagt, es ist ganz hässlich draußen. Wir werden uns ein gemütliches Feuer machen und ein wenig Punsch trinken. Vielleicht Geschichten erzählen. Vielleicht macht Roy auch ein paar seiner Kunststücke, die sind immer ganz fantastisch."
      Er lehnte sich zur Seite, um sie kurz anzusehen.
      "Und nein, du wirst ganz sicher nicht fehl am Platz sein und es wäre wirklich in Ordnung, wenn du kommst. Ich kann dich ihnen vorstellen, sie würden sich sicher alle freuen dich kennenzulernen."
    • Ein vergnügliches Kichern gesellte sich zu Chesters. Das Lächeln, strahelnd und einnehmend, linderte den allgegenwärtigen Kummer und ließ den Raum augenblicklich ein wenig heller wirken. Tessa würde sich nie an die Wirkung gewöhnen, die Chester auf andere Menschen ausübte. Eigentlich war es kein Wunder, dass ihm die Blicke folgten, egal, wohin er ging. Sie hatte es in der Manege beobachtet und dabei die unterschiedlichsten Emotionen von Bewunderung bis Begierde entdeckt. Frauen und Männer gleichermaßen ließen sich von seinem Charisma bezaubern. Etwas pochte unangenehm in ihrem Hinterkopf, doch Tessa hinterfragte nicht, dass sie nur allzugern dem strahlenden Lächeln und dem zauberhauften Funkeln seiner Augen erlag um der Betrübtheit zu entkommen. Einmal in ihrem Leben wollte sie für einen Moment glücklich sein ohne das Bedingungen daran geknüpft waren.
      Tessa legte den Kopf in den Nacken um Chester weiterhin ansehen zu können während er an sie heran trat.
      "Lass das nicht deinen Freund, Liam, hören", antwortete Tessa mutiger. "Er kann mich auch so schon nicht leiden. Da wird ihm es ganz und gar nicht gefallen, dass du dich mit mir zusammen in deinem Zelt versteckst."
      Ein kaum merkliches Schaudern durchlief die zierliche Diebin, denn sein Blick glitt suchend über ihre Gestalt. Er nahm den viel zu grpßen Bademantel in Augenschein, die nackte Haut ihres Halses, die entblößten Füße... Ein erschrockener Laut zwischen ersticktem Aufschrei und einem Quietschen blieb Tessa in der Kehle stecken, als Chester mir nichts, dir nichts nach ihrer Hand griff und sie herumwirbelte. Geistesgegenwärtig hielt Tessa den flauschigen Bademantel beisammen und stolperte überrumpelt hinter Chester her. Sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, der markanten Linie seines Kiefers beim Sprechen zu verfolgen.
      "Chester, was...?"
      Da landete bereits ein weiches Handtuch auf ihrem Kopf und nahm Tessa kurzzeitig die Sicht. Durch das Rascheln verstand sie kaum, was Chester sagte, genoss aber zur eigenen Überraschung die fürsorglichen Berührungen. Viel erstaunlicher war, dass sie keine Sekunde das Gefühl bekam, dass Chester sie wie ein kleines Kind behandelte. Alles, was sie fühlte, war eine ganz und gar wohlige Wärme. Zufrieden mit seinem Werk begann er gleich wieder etwas in den unzähligen Schubladen seiner Schränke zu suchen.
      "Malia? Wer ist Malia?"
      Verdutzt setzte sich Tessa und zog fragend die Augenbrauen hoch. Was sie allerdings wirklich in Erstaunen versetzte, war ein erwachsener Mann, der samt Haarbürste hinter ihr auf das Bett krabbelte. Sorgfältig und behutsam suchten geschickte FInger nach den kleinen Knoten in der braunen, feuchten Haarmähne. Tessa wollte nun doch protestieren, dass sie kein Kind mehr sei, wenn da nicht die sanften Fingerspitzen auf ihrer Kopfhaut und im Nacken gewesen wären. Sie spürte, wie er das Haar im Nacken sammelte und die Bürste vorsichtig am unteren Teil der wirren Strähnen ansetzte.
      "Bürstenexperte...", murmelte Tessa mit einem amüsierten Schnauben, da fielen ihr auch schon die Augen zu.
      Hätte die Diebin mehr mit einer Katze gemein, hätte sie vermutlich lautstark geschnurrt. Tessa zog die Beine über die Bettkante und drapierte sie ebenfalls in einem Schneidersitze und blieb ruhig, geradezu entspannt, sitzen. Hin und wieder zuckte Tessas Kopf ein wenig oder sie kräuselte die Lippen, wenn Chester einen besonders hartnäckiges Haarknäuel entwirrte.
      "Hmhm...", brummte sie.
      Sie hatte kein Wort verstanden.
      Erst als ihre Haut leicht prickelte, schlug Tessa die Augen auf und drehte den Kopf träge zur Seite. Erwartungsvolle, blaue Augen begrüßten die Diebin und waren dabei unerwartet nah. Tessa blinzelte langsam ehe sie die Augen ertappt aufriss.
      "Ähm...Feuer...und Geschichten", stotterte sie und bemührte ihre grauen Gehirnzellen darum sich etwas mehr anzustrengen. "Das klingt wirklich...gemütlich."
      Eine kurze Pause, dann öffnete sie noch einmal den Mund, doch Chester kam ihr zuvor.
      Tessa biss sich auf die Unterlippe und kaute für einen kurzen Augenblick nachdenklich darauf herum. Sie nickte schießlich.
      "Okay, ich komme mit."
      Zögerlich hob Tessa eine Hand aus ihrem Schoß und führte sie behutsam an seine Wange. Die federleiche Berührung der Fingerspitzen war kaum der Rede wert, doch einer der wenigen Momente in denen die Diebin sich etwas aus ihrer Schale heraus wagte.
      Dieses Mal war Chester sogar wach.
      "Ich weiß, dass ich mich wiederhole", flüsterte sie. "Trotzdem. Danke.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
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    • Chester konnte nicht nach vorne in Tessas Gesicht sehen, aber er konnte doch durchaus bemerken, wie ihre Schultern sich nach und nach lockerten und wie ihre angespannte Gestalt ein wenig einfiel, während er ihre Strähnen bürstete. Natürlich hätte er es normal tun können, es bestand keinerlei Grund, nicht einfach nur alles mit der Bürste zu tun und das ohne, dass sie irgendetwas - weder Nester, noch seine Behandlung - spüren könnte. Aber wo wäre da das Vergnügen? Wieso nicht auch mit den Fingern ihre Strähnen einteilen und über ihre Kopfhaut massieren, wenn er erahnen konnte, wie sehr ihr das gefallen könnte? Wenn er wusste, ihr damit einen Moment der Glückseligkeit zu verschaffen?
      Wo ihr Glück doch nicht für die Ewigkeit gemacht war?
      Sein Lächeln fiel ein bisschen in sich ein, dann war es wieder vollständig aufgebaut, eine Maske lebenslanger Perfektion.
      Begeistert, die Frau überredet zu haben, strahlte er sogar auf.
      "Wunderbar! Die anderen werden sicher schon ganz begierig darauf sein, dich endlich kennenzulernen. Immerhin passiert es nicht alle Tage, dass ich eine hübsche Frau in meinem Zelt nächtigen lasse."
      Eigentlich passierte das alle zwei Jahre. Und dann auch noch regelmäßig.
      Fast hätte er sich wieder zurückgelehnt, wenn ihn nicht eine Bewegung von Tessas Hand davon abgehalten hätte. Er hielt inne und beobachtete entzückt, wie sie scheu ihre Hand zu seinem Gesicht anhob. Diese Art von Schüchternheit war ihm nicht neu, aber er war ihr noch lange nicht überdrüssig bei den vielen Frauen - und Männern - die es sonst als gegeben betrachteten, eine derartige Aufmerksamkeit von ihm zu erhalten. Bei Tessa war das anders. Bei Tessa war es noch vollkommen rein, unbefleckt.
      Arme Tessa, die dennoch das gleiche Schicksal erfahren würde.
      "Es gibt nichts, wofür du dich je bedanken müsstest. Wirklich nicht."
      Er wollte sie nicht verschrecken; der Moment, in dem sie sich zu einer derartigen Geste überwunden hatte, war fragil. Aber er ließ es sich nicht nehmen, ganz vorsichtig ihre Hand von seiner Wange zu klauben und sehr flüchtig ihre Finger zu küssen. Schon beim ersten Mal, als er das getan hatte, hatte sie eine gar intensive Reaktion darauf gehabt und auch jetzt blieb sie nicht ganz aus. Das befriedigte und beglückte ihn.
      "Sieh es als Selbstverständlichkeit."
      Nachdem er schließlich seine Gegenleistung dafür erhalten würde.

      Sie kümmerten sich um Tessas Haare, die nach nur einmal baden gleich viel weicher und weniger strähnig waren, und aßen dann auch gemeinsam zu Mittag; Chesters kleines, kurzes, gemütlich häusliches Leben. Danach vernachlässigte er seine selbst auferlegten Pflichten, um Tessa in seinen Mantel zu stecken und mit ihr hinüber in die Kostümabteilung zu gehen. Das gute an seinen Kostümen: Nach einer gewissen Zeit wurde die Mode der vergangenen Jahrzehnte altmodisch genug, um sie anderweitig verwerten zu können. Chester war daher selbst aktiver Spender in dieser Sache; alle paar Jahre brachte er eins seiner Kleidungsstück hinüber, für das ihn die meisten ungläubig ansahen, dass er es überhaupt noch besaß. Aber Chester pflegte seine Klamotten gut, da konnte er sie auch gut neu verwenden.
      Die meisten Dinge waren für die Aufführung selbst ausgelegt, schillernde, farbenfrohe Gewänder, die eng anlagen und Aufmerksamkeit auf sich zogen. Das wollte er Tessa nun eher ersparen. Stattdessen führte er sie in eine Ecke, die dem aktuellen Kleidungsstil zuträglicher war. Er selbst kam da nie wirklich mit, wenn er nicht genau aufpassen würde, was seine Besucher so alles trugen.
      Sie deckten Tessa mit ein paar Sachen ein, die sie gut warm halten würden, und dann ging es auch schon wieder zurück zu seinem Zelt. Er würde sich für den restlichen Tag um seine Aufgaben kümmern und dann würde er sie abholen, damit sie ins Aufführungszelt gingen. Liam kümmerte sich derweil darum, dass auch alles zur rechten Zeit vorbereitet wäre.

      Mit der eintretenden Dunkelheit war es schließlich soweit. Es gab keine besondere Vorbereitung dafür, kein Kostüm, das Chester extra angezogen hätte und kein Ablaufplan, nach den er sich richten müsste. Wenn sonst normalerweise die Besucher durch den Zirkus strömten, um die Aufführung zu sehen, herrschte jetzt eine meditative Ruhe, während vom Himmel sanfte Schneeflocken fielen. Es war schon dunkel und damit waren sämtliche Arbeiten bereits zum Erliegen gekommen. Sehr widersprüchlich für einen Ort, an dem die Dunkelheit den Arbeitstag einläutete.
      Chester nahm Tessa ungezwungen bei der Hand und machte ein Spektakel daraus, mit ihr durch den Eingang für die Darsteller zu gehen und ihr den langen Gang hinter der Manege zu zeigen, wo die Darsteller sich zum Reingehen versammelten und wo die Requisiten an den Seiten gestapelt waren. Er alberte ein wenig herum, aus reiner Lust und Laune, und tat so, als würde er Tessa als einziges Spektakel dieses Abends ankündigen, bevor er auf dramatische Weise den Vorhang für sie öffnete.

      Die sonst lärmende und hoch belebte Tribüne lag jetzt im Dunkeln, still und verlassen. Normalerweise gab es Lichter, die das ganze Zelt erhellten und dabei auch die Zuschauerränge beliebter erscheinen ließ, aber es war der Sinn dieses Abends, dass es nicht mehr Licht als nötig gab. Das meiste kam von dem aufgebauten Lagerfeuer in der Mitte der Manege, das einen friedlichen, romantischen Schein auf die Umgebung warf und seine Besucher in warmes Licht tauchte.
      Es waren etwa 20 Leute, die sich hier schon eingefunden hatten, mal näher und mal weiter weg vom Feuer, und ausgelassen miteinander plauderten. Einige hatten eine dampfende Tasse in der Hand von einem aufgebauten Tisch mit zugehörigem Topf und Kelle. Es war nicht sehr laut, eher ein angenehmes, beruhigendes Hintergrundgeräusch.
      Als Chester mit Tessa hereinkam, sahen einige von ihnen herüber. Als sie sahen, wer da war, hörten diejenigen auf zu reden und gafften.
      Chester nahm unbeeindruckt wieder Tessas Hand und führte sie auf das Feuer zu, wobei er bereits mit dem Bekanntmachen startete.
      Da, da vorne ist Liam, den kennst du ja schon. Und ein paar Frauen rechts von ihm, die Frau mit den langen, dunklen Haaren, das ist Malia, von der ich vorhin gesprochen hatte. Die kennst du vielleicht auch, das ist nämlich unsere Trapez-Künstlerin, die beste, die ich seit langem ausgebildet habe, sie hat bei deinem ersten Besuch hier sicher auch gearbeitet. Da hinten der Mann, der so einen schlimmen Buckel beim Sitzen macht, das ist Roy, unser Haupt-Feuerspucker. Den wirst du auch gesehen haben, aber nur hier im Zelt, der ist zu gut für draußen. Hi, Roy!
      Er hob die Hand zum Gruß und Roy sah herüber, nickte grüßend und starrte dann wie andere Tessa an. Chester leitete sie weiter zum Feuer.
      Möchtest du eine Tasse? Ich hol dir eine. Freunde, das hier ist Theresa.
      Er grinste in die Runde und präsentierte dabei seinen schüchternen Fang. Von den Anwesenden rund um das Feuer, die in etwa zu zehnt waren, sahen alle mit demselben, undeutbaren Gesichtsausdruck zu Theresa auf und begrüßten sie höflich. Manche lächelten warmherzig. Malia starrte finster drein.
      Setz dich nur, ich bin gleich wieder da.
      Damit zischte Chester gleich zu dem Tisch ab.
    • Die zarte Röte auf ihren Wangen war nicht allein dem kalten Wind geschuldet. Tessas Finger kribbelten in der beißenden Winterluft, die sie außerhalb der behaglichen Wärme des Zeltes erwartete. Sie hielt sich dicht an Chester als versuchte sie hinter seiner hochgewachsenen Erscheinung Schutz vor der Kälte zu suchen. Obwohl Tessa raue Witterungen nicht fremd waren, hatten die letzten Stunden in dem Kokon aus Wolldecken und knisterndem Kaminfeuer wohl ausgereicht, um ihre Resistenz gegen die bitterlichen Temperaturen auf ein Minimum herunterzufahren. Vielleicht - und das war sicherlich wahrscheinlicher - nagte einfach die Schwächung durch Fieber und Erfrierungen noch an der zierlichen Diebin.
      Chester hatte sich hingebungsvoll um sie bemüht. Er hatte sie erst von der Couch aufstehen lassen, nachdem sie in seinen Augen genügend von dem Mittagsessen verspeist und brav den Kräutertee getrunken hatte. Tessa hatte mit seiner Hilfe die braune Mähne in einem dicken, geflochtenen Zopf gebändigt. Trotz der Blässe und den tiefen Augenringen sah sie nach einem flüchtigen Blick in den Spiegel wieder ein wenig mehr nach der alten Tessa aus. Nachdem sie gemeinsam gegessen und Chester sich davon überzeugt hatte, dass sie für das verschneite Wetter dick genug eingepackt war, hatte sie gemeinsam das Zelt für einen kurzen Spaziergang verlassen. Zwischen den Zelten herrschte wenig Betrieb. Tessa vermutete, dass sich alle bis zum Abend vor der winterlichen Kälte zurückzogen. Mit dem Kostümzelt eröffnete sich eine fremde Welt für die Diebin. Das Zelt war bis in den letzten Winkeln mit den verschiedensten Kleidungsstücken voll gestopft. Glitzernde Paillettenkleider mit Fransensaum, gefiederte und andere ausgefallene Kopfbedeckungen, farbenfrohe Kostüme für die unterschiedlichsten Akrobatiknummern, Accessoires in allen erdenklichen Formen und Farben...Tessa wusste gar nicht, wohin sie zuerst sehen sollte. Die Outfits waren darauf ausgelegt, die Blicke der Zuschauer einzufangen und gleichzeitig den Künstlern in der Manege die größtmögliche Bewegungsfreiheit zu ermöglichen. Sie waren figurbetont, auffällig und passten perfekt in die schillernde Zirkuswelt. Die Mode der verschiedensten Epochen hing hier an Kleiderbügeln nebeneinander. Egal, welche Show sich Chester ausdachte, die perfekte Garderobe war bereits vorhanden. Von klassischen, stilvollen Kleidern bis hin zu den verrücktesten Schnitten und Mustern. Der Anblick weckte eine kindliche Neugierde und schüchterte Tessa gleichzeitig ein. Umgeben von tristen Grau und dreckigen Brauntönen wurde ihr fast schwindelig von dem Wirbel aus Farben. Chester schien das zu spüren. Natürlich tat er das und zeigte, wenn auch mit einem amüsierten Grinsen, Erbarmen mit der völlig überforderten Tessa. Zu ihrer Erleichterung fiel die Auswahl ihrer Kleidung zweckmäßig und eher schlicht aus. Am meisten freute sich Tessa über den dicken Strickpullover in einem dunklen Tannengrün. Allein die Tatsache, dass sie eine Wahl hatte, war für Tessa etwas gänzlich Neues. Sie musste sich nicht mit dem begnügen, was sie notgedrungen auftreiben konnte sondern durfte aus dem riesigen Fundus an Kleidungsstücken etwas aussuchen, dass ihr wirklich gefiel.
      Tessa ließ sich von der Atmosphäre und von Chester mitreißen. Sie freute sich, dass er sich freute während er Kleidungsstücke um Kleidungsstücke präsentierte. Wenn er darauf abgezielt hatte, sie ein wenig von ihrem Kummer abzulenken, machte er einen verdammt guten Job. Das unerwartete Hochgefühl und die willkommene, erwartungsvolle Nervosität hielt den gesamten Nachmittag an bis Chester sie einsammelte. Mit großen, leuchtenden Augen folgte Tessa ihm hinter die Kulissen des Zirkus. Wie viele konnten schon behaupten, einmal hinter den geheimnisvollen Vorhang geblickt zu haben? Mit überschwänglicher Begeisterung klatschte und lachte Tessa zu seinen kleinen Albernheiten. Manchmal mit extra viel Elan, weil sie das verzückte Funkeln in seinen Augen noch einmal sehen wollte.
      Tessa ließ sich bereitwillig verzaubern.
      Sie würde noch lange von den Erinnerungen zehren, wenn Chester und der Zirkus längst weitergezogen war.

      Hinter dem berühmten Vorhang verstummten Gespräche und unverhohlene, neugierige Gesichter begrüßten Tessa, die Hand in Hand mit Chester das große Hauptzelt betrat. Zumindest erschien ihr Neugierde eine gute Erklärung für das Starren zu sein. Die Blicke kribbelte unbehaglich in ihrem Nacken. Es fühlte sich ganz und gar merkwürdig an. Mit den verstreichenden Sekunde konnte sie immer weniger in den Blicken lesen. Sie konnte den Finger nicht darauflegen, was die Schausteller und Zirkusartisten aus dem Konzept brachte. Am Ende entschied sich Tessa für die einfache Erklärung, dass Chester eine Fremde mitbrachte und sicherlich hatte sich die Geschichte von dem halb erfrorenen Mädchen schon rumgesprochen. Die Diebin, die bereits Tage zuvor den gesamten Zirkus in helle Aufregung versetzt hatte. Sie entdecket sogar den Mann, dem sie kräftig gegen das Schienbein getreten hatte und die zwei eigenartigen Männer, die sie aus ihrem Versteck in einem der Tierzelte gescheucht hatten.
      "H...Hallo...", murmelte Tessa.
      Freundlich nickte sie Roy zu, der einfach nur zurück starrte. Hatte sie etwas im Gesicht? Ganz von allein fuhr sie mit den Fingerspitzen über ihre Wangen, als vermutete sie dort noch etwas Dreck vergessen zu haben. Den Rest der Anwesenden begrüßte Tessa mit einem schüchternen Lächeln. Bei Malia, der Trapezkünstlerin, blieben ihr die Worte im Hals stecken. Sie hatte Malia tatsächlich in der Show gesehen und selbst jetzt ohne das prunkvolle Kostüm war die Artistin die wohl schönste Frau, die Tessa jemals gesehen hatte. In ihrem Gesicht entdeckte Tessa weder Neugierde und neutrale Höflichkeit. Die Frau sah mit finsterer Miene zu ihr herüber. Die Diebin senkte verunsichert den Blick und hatte das Gefühl gerade den Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden. Als Chester davon eilte, um ihnen etwas von dem Punsch zu besorgen, hätte sie ihn am liebsten am Ärmel seines Mantels gegriffen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Nicht alle hatten einen so offen abweisenden Ausdruck im Gesicht wie Malia. In der Gruppe am Feuer saßen noch mehr Akrobaten und Akrobatinnen, die sich, wenn überhaupt, durch schlanke, gut durchtrainierte Körper kennzeichneten, aber Tessa ganz freundlich betrachteten. Die nächste neben Malia, eine etwas kleinere Frau mit einem warmen, rundlichen Gesicht, beugte sich vor, um an Malia vorbeizusehen, und lächelte Tessa an.
      "Hallo Theresa, willkommen. Ich bin Yasmin, das hier sind Frederic und Maria. Wir sind alles Akrobaten. Und was machst du?"
      Tessas potentielle Antwort wurde von einem Räuspern unterbrochen, das Liam von sich gab. Der Mann hatte die langen Beine ausgestreckt und sah im Vergleich zu den Akrobaten neben ihm eher dürr als schlank aus. Für Tessa schien er kein außergewöhnliches Interesse zu besitzen, jetzt sah er dafür Yasmin an und schüttelte den Kopf.
      "Ist noch nicht so weit."
      Was immer er damit meinte, Yasmin verstand und nickte kurz darauf, noch immer lächelnd.
      "Achso. Ich dachte... naja, ist ja auch nicht so wichtig. Vergiss das wieder. Gefällt's dir hier im Zirkus?"
      Chester kam da gerade rechtzeitig zurück, um der verwirrten Tessa eine Stütze zu bieten, als er ihr ihre Tasse überreichte.
      "Sag nichts falsches, auf so eine Frage gibt es nur eine richtige Antwort."
      Er grinste Tessa an und setzte sich neben sie, während Yasmin selbst lächelte.
      "Das ist der optimale Moment, um dir konstruktive Kritik einzuholen, Chester. Theresa arbeitet ja gar nicht bei uns, sie muss also nicht um ihren Job fürchten."
      "Ach, aber ihr anderen schon, wenn ihr mich kritisiert?"
      "Ja. Dann müssen wir Elefantenscheiße schrubben oder sowas."
      "Hey!", meldete sich da ein Mann von der anderen Seite des Feuers, der sich nicht die Mühe gemacht hatte, seinen Arbeits-Overall zu wechseln, "Manche verdienen damit ihren Lebensunterhalt!" Allerdings grinste er, während er das sagte. Die Stimmung war allgemein höchst ausgelassen.
      "Aber ja wohl nicht freiwillig."
      "Einer muss es doch machen, wenn es die Elefanten nicht können!"
      "Können wir ihnen das nicht beibringen? Chester?"
      "Elefanten sind nicht sehr geschickt mit Werkzeug."
      "Aber sie haben ja einen Rüssel!"
      "... Ist ja ekelhaft."
      "Aber nicht unmöglich!"
      "Und dann soll er dich mit dem selben Rüssel hochheben?"
      Chester lachte. Ein paar kicherten mit ihm.
      "Das will ich sehen!"
      "Widerlich! Natürlich nicht!"
      "Dann muss es eben einer von uns machen."
      "Du müsstest jemanden genau dafür einstellen, dann müssen wir es nicht."
      "Stell dir mal vor: Das habe ich sogar. Er sitzt da drüben."
      "- Nein, ich meine, jemanden normalen. Einen richtigen Arbeiter."
      "Was ist denn an ihm nicht richtig?"
      "Ja Yasmin, was ist denn an mir nicht richtig?"
      "Ich... das meinte ich doch... ihr wisst schon!"
      Yasmin verdeckte ihr Gesicht in den Händen. Mitfühlend klopfte Frederic ihr auf den Rücken.
      "Schon gut, wir wissen, dass du nicht ganz helle bist."
      Yasmin schlug nach ihm und Frederic grinste.
      So ging es in der nächsten Stunde weiter, eine ungezwungene, ausgelassene Stimmung, die für entspannte, angenehme Gespräche sorgte. Chester gab sich Mühe, Tessa zu involvieren, ihr manchmal die Leute vorzustellen oder den Zusammenhang zu erklären. Er hatte mit jedem am Feuer ein gutes Verhältnis, daher wurde auch Tessa freundlich und sorglos aufgenommen. Mit der Zeit kamen auch noch mehr Leute herein, manchmal durch den Vorhang direkt bei der Manege, manchmal aber auch durch die Zuschauerränge. Einige setzten sich zu ihnen ans Feuer, um sich an dem Geplauder zu beteiligten, manche erblickten aber auch Chester und machten einen Bogen um das Feuer. Chester hielt bereits unauffällig Ausschau nach Toby, aber der Mann kam nicht.
      Als der Abend voranschritt, begannen bereits die ersten Geschichtserzählungen, simple, kleine Geschichten über gewöhnliche, höchst normale Themen, die meist davon handelten, woher jemand kam, was er an seinem Zuhause vermisste, welche Geschichten er davon zu erzählen hatte. Niemand am Feuer kam aus derselben Stadt, gar aus derselben Gegend. Chesters Angestellte holte er sich aus dem ganzen Land verteilt ein.
      Es war wieder Yasmin, die Tessa diesmal ganz direkt ansprach.
      "Was ist mit dir, Theresa? Erzähl doch etwas von dir. Du kommst doch von hier, was machst du so? Bist du hier aufgewachsen? Was macht deine Familie?"