Clockwork Curse [Codren & Winterhauch]

    Diese Seite verwendet Cookies. Durch die Nutzung unserer Seite erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Cookies setzen. Weitere Informationen

    • Überschüttet mit Lob schien Tessa ein winziges Stückchen zu wachsen. Ein kleines Blümchen am Wegesrand, das sich den ersten Sonnenstrahlen entgegen streckte. Die Diebin straffte die Schultern und rieb sich über die glühenden Wangen. als Chester überschwänglichen seinen Stolz verkündete. Sie schob es auf die kühle Winterbrise, die ihnen um die Nase wehte. Lächelnd schob sich Tessa eine verirrte Strähne des braunen Haares hinter die Ohren, die sich aus dem geflochtenen Zopf gelöst hatte. Mit den Händen, die in fingerlosen, dünnen Handschuhen steckten, rieb sich das Mädchen über die Oberarme und vermisste beinahe die Wärme des Zeltes. Allerdings machte Chester das Gefühl der Kälte mit seinem warmen Lächeln wieder wett. Sie nickte. Das Geschenk war ihr eigentlich egal, aber drei Würfe bedeuteten weitere Minuten, die sich Tessa erkaufen konnte bevor die Realität außerhalb der bunten Zelte einholte. Auf keinen Fall wollte sie die Gastfreundschaft überstrapazieren, obwohl Chester die Einladung ausgesprochen und sich mit einem Nein nicht zufrieden gegeben hatte.
      Sorgfältig fälte Tessa die drei Messer aus, die ihr Glück bringen sollten.
      Sie waren genauso leicht und schmal wie das Messer, dass ihr den ersten glücklichen Treffer beschwert hatte. Eine gleichmäßige Form erhöhte ihre Chancen die Zielscheibe bei jedem Versuch zu treffen. Kopfüber beugte sich Tessa über die Kiste und legte die ausgewählten Wurfmesser parallel zueinander auf dem Tresen aus. Im Augenwinkel sah sie Chester in die Hocke gehen, als dieser vielleicht glaubte, dass sie zu sehr mit der Auswahl der Messer beschäftigt war. Tessas Mundwinkel zuckten leicht.
      Als Chester den den Tresen zurückkehrte, sah das Mädchen ihn mit schiefgelegtem Kopf und einem breiten Grinsen an.
      "Deal", antwortete sie auch dieses Mal.
      Der anfängliche Verdacht bestätigte sich, als das erste Messer ein wenig zu einfach und etwas zu mittig in der Zielscheibe stecken blieb. Die Diebin vermutete, dass Chester die Ausrichtung der Ziele zu ihren Gunsten korrigierte hatte. Es war herzerwärmend wie er mit allen Mitteln versucht ihr ein gutes Gefühl zu vermitteln und den Unsicherheiten keinerlei Chance zu geben. Tessa gab sich beim zweiten Wurf richtig Mühe und schoss dabei fast etwas übers buchstäbliche Ziel hinaus. Das Messer blieb am oberen Rand des beringten Zielscheibe stecken und vibrierte dort noch einige Wimpernschläge heftig. Zu viel Schwung, zu viel Kraft. Zu wenig Augenmerk auf den eigentlichen Punkt, den sie treffen wollte.
      Tessa zog die Nase kraus, als sie rückblickend feststellte, dass sie mit dem Gedanken nicht beim eigentlichen Wurf gewesen war.
      Aller guten Dingen waren aber bekanntlich Drei. Mit dem dritten und letzten Messer ließ sich die Diebin mehr Zeit. Sie wog das Gewicht noch einmal zwischen ihren Finger, ließ die Fingerspitzen über den perfekt geformten Griff und den Klingenrücken tanzen. Sie rollte die rechte Schulter nach hinten und wieder nach vorn, um die Muskeln zu lockern.
      Dieses Mal visierte sie konzentriert das Ziel an.
      Sie vergaß die Bewegungen im Augenwinkel und das geschäftige, bunte Treiben in ihrem Rücken. Sie ignorierte die von Neugier erfüllten Blicke, die von dem Vorplatz hin und wieder zum Wurfstand herüber glitten. Tessa atmete ein und zog gleichzeitig die Schulter zurück. Während sie ausatmete, schnellte ihre Arm nach vorn und als keine Luft mehr in ihren Lungen war, ließ sie das Messer aus den Finger schnellen. Gespannt hielt das Mädchen den Atem an und mit einem 'Klonk' blieb die Messerspitze etwas links vom kreisrunden Zentrum der Zielscheibe entfernt stecken.
      Chester strahlte begeistert und auch Tessa fühlte das unvertraute Gefühl von Zufriedenheit, das den verhärteten Zug um ihre gesamte Haltung weiter auflockerte. Sie war doch zu etwas zu gebrauchen. Wie versprochen führte Chester ihr freudestrahlend die größten Preise vor, die der Stand zubieten hatte. Überdimensionale Plüschbären und andere Stofftiere hätten das Herz jedes Mädchen höher schlagen lassen, doch Tessa musterte die plüschigen Tiere unschlüssig.
      "Wie soll ich einen davon denn tragen?", lachte sie.
      Da fiel ihr etwas ins Auge.
      "Warte, ich hab' eine bessere Idee", kicherte sie.
      Tessa trat näher an den Tresen heran und ignorierte Chester, der gerade einen grauen Plüschelefanten mit riesigen Ohren präsentierte. Zugegeben, der Elefant wäre ein hübsches Andenken an Hector gewesen, aber das Mädchen hatte eine andere Idee. Sie beugte sich über den Tresen, so weit, dass sich ihre Stiefel kurz vom Boden lösten damit sie die unscheinbare Kiste hinter dem Tresen zu fassen bekam. Darin klimperte und klingelte es.
      Mit einem 'Uff!' hiefte die zierliche Diebin die Kiste nach oben und wühlte darin herum. Zum Vorschein kam ein Schlüsselanhänger, an dem der kleine Bruder des braunen Riesenplüschbären baumelte und im Gegensatz zum ihm trug sein kleiner Zwilling einen schwarzen Zylinder.
      "Du hast versprochen, dass ich mir etwas aussuchen darf. Ich nehm' den hier", sagte sie entschlossen und ließ den Bär mit dem putzigen Zylinder für einen Augenblick in der Luft baumeln. Mit dem silbernen Schlüsselring befestigte sie das Bärchen an dem versteckten Reißverschluss der Innentasche ihrer alten Lederjacke - direkt neben der Lilie, die aus der Tasche hervorlugte.
      Tessa lehnte noch immer etwas über dem Tresen, die Ellbogen darauf gestützt und sah Chester mit einem selbstzufriedenen Lächeln an.
      "Siehst du. Viel einfacher", bestätigte sie ihre eigene Idee, sichtlich glücklich mit der Wahl. "Heute muss mein Glückstag sein. Wobei, ich hab das Gefühl, ich hatte ein wenig Hilfe dabei."
      Und dann passierte etwas ganz Erstaunliches.
      Tessa zwinkerte Chester zu und lächelte schüchtern. "Danke."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 2 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Mit dem ersten Treffer klatschte Chester begeistert und auch beim zweiten Mal, als das Messer fast doch noch ins Leere ging, war er hellauf euphorisch. Und dann, mit einem gehörigen Spannungsbogen, der einen Trommelwirbel wert gewesen wäre, versenkte sie das dritte und letzte Messer tatsächlich beinahe in der Mitte.
      "Hervorragend!!"
      Entzückt sprang er vom Tresen, sammelte die Messer ein und war dann wieder so schnell zurück bei Tessa, dass er sie zum Kichern brachte. Und für den krönenden Abschluss:
      "Hier: Such dir aus, was auch immer du haben möchtest! Auch die ganz großen oben!"
      Er holte sich eine winzige Leiter, um von der Decke einen baumelnden Elefanten loszumachen, der beinahe so groß war wie Chester selbst und hielt ihn Tessa fast unter die Nase. Die riesigen Ohren waren unglaublich weich und flatterten an der Seite hinunter, sein Körper war dick genug, dass man ihn womöglich als ganzes Körperkissen hätte verwenden können. Aber Tessa zeigte wenig Interesse daran, wobei es zugegebenermaßen sehr amüsant aussehen könnte, wie die zierliche Frau den riesigen Elefanten nach Hause brachte. Stattdessen lehnte sie sich aber über den Tresen, bekam die Kiste mit dem Kleinzeug zu fassen und plünderte ihn für einen gänzlich unscheinbaren, kleinen Anhänger. Chester lugte hinter dem Elefanten hervor, verzog das Gesicht, duckte sich wieder hinter das Plüschtier und ließ dessen Ohren flattern.
      "Nimm lieber mich! Ich bin viel kuscheliger! Und größer?"
      Er hörte auf, als er Tessa damit zumindest zum Kichern gebracht hatte und steckte den Elefanten dorthin, wo er ihn hergenommen hatte. Dann betrachtete er mit einem zufriedenen Gefühl, wie Tessa den kleinen Anhänger anbrachte, nämlich neben einer noch völlig intakten, unversehrten Lilie in ihrer Innentasche. Seine kleine Lilie an seiner Lilie.
      Kurz darauf wendete sich auch noch das Blatt und es war nicht Chester mit seinem spitzbübischen Grinsen und seinem Zwinkern, sondern Tessa, die ihm zuzwinkerte und ihn dafür zum Lachen brachte. Zwei Tage und schon ein solcher Erfolg! Ihm war wirklich zum Lachen zumute.
      "Ich kann mir nicht vorstellen, was du damit meinst! Du warst doch diejenige, die schließlich geworfen hat, nicht wahr?"
      Grinsend zwinkerte er zurück, bevor ihm einfiel, dass sie das Essen stehengelassen hatten und Tessa mindestens eine Portion gegessen haben sollte, bevor sie zurück in ihr Zuhause und damit ins Straßenleben zurückkehren würde.
      "Oh, wir haben den Eintopf stehen gelassen! Wir gehen besser zurück, bevor mir dafür auf die Finger gehauen wird. Soviel Zeit werden wir doch noch haben, nicht wahr?"
      Langsamer diesmal stieg er über den Tresen zurück und obwohl er jetzt nicht mehr so eilte und hetzte, streckte er trotzdem Tessa die Hand entgegen. Und seine liebe, schüchterne Tessa, sah mit geröteten Wangen und geweiteten Augen zu ihm auf, und legte ihre Hand dann ganz behutsam in seine. Zufrieden drückte er sie, lächelte sie an und führte sie dann auf dem selben Weg zurück zu seinem Zelt, wo sie das in der Zwischenzeit unberührte Essen erwartete. Sie würden sowieso nicht alles aufessen können; Chester wartete mit dieser Erkenntnis, damit sie authentischer herüberkam.
      "Wir werden das sowieso nicht alles schaffen..."
      Kleine Kunstpause, dann sah er mit geweiteten Augen zu Tessa.
      "Nimm den Rest mit, ich bitte dich! Wenn ich einen so vollen Topf zurückbringe, ist der Chef sauer auf mich - oder noch viel schlimmer, er wird denken, dass es uns nicht geschmeckt hat! Ich packe es dir ein, nimm einfach den ganzen Topf, das wird ihm nicht auffallen - oh, und die Kekse! Ich sollte nicht so viel Süßes essen, das ist schlecht für die Figur."
      Er kicherte ein bisschen und schickte sich dann an, die Sachen transportfähig zu machen. Ob Tessa alles für sich selbst aufbehalten oder es mit ihren Freunden teilen würde, war ihm ganz egal.
      "Hier."
      Energetisch schob er ihr das Paket entgegen, dann stützte er den Kopf auf den Händen auf.
      "Wann darf ich dich wiedersehen? Du wirst doch wiederkommen, oder?"
    • "Natürlich, weißt du das nicht", antwortete Tessa kopfschüttelnd.
      Mit wirklich guter Laune, der wohl Besten sie seit lange Zeit, stimme die Diebin in das herzliche Lachen ein. Es war nicht so, dass sie mit Rosalie und Jacob nicht gemeinsam lustige oder schöne Momente verbrachte. Die jungen Erwachsenen scherzten und alberten herum, wann immer es ihnen ihr beschwerliches Leben erlaubte. Trotzdem waren diese Augenblicke selten und kurz geworden. Wenn sich alle Gedanken ums Überleben drehten, blieben die schönen Dinge des Lebens unweigerlich auf der Strecke. Vor allem dann, wenn Tesss nicht stehen bleiben konnte, um nach ihnen Ausschau zu halten. Chester ermöglichte ihr ein Durchatmen und hier durfte das Mächen stehen bleiben. Die Flucht von dem harten Dasein auf der Straße war ein winziges Schlupfloch, durch das sie bereitswillig schlüpfte um ein paar Sekunden, Minuten oder Stunden eines anderen Lebens zu stehlen. Tessa wusste, dass es schwer werden würde, in ihren Alltag zurückzukehren ohne an diese gestohlenen Momente zu denken.
      Schüchtern legte Theresa die Hand in Chesters und traute sich, den zarten Druck zu erwidern. Sie hielt das Bisschen fest, das sie bekommen konnte und das Gefühl würde sie nicht wieder hergeben. Der Blick glitt zu den verschlungenen Händen zwischen ihnen und sie versuchte sich die Wärme seiner Finger einzuprägen und wie sich die Erhebungen seiner Knöchel unter ihren Fingerspitzen anfühlten.
      Sie nickte, obwohl Chester sich längst umgedreht hatte, um sie zurück zu seinem Zelt zu führen.
      "Ein bisschen Zeit habe ich noch", murmelte Tessa.
      Sofern sie den Stand der Sonne richtig deutete, einer vernünftigen Uhr war ohne Geld nur schwer habhaft zu werden, hatte sie sogar noch reichlich Zeit. Die Wärme des Zeltes umfing Tessa und vertrieb den eisigen Hauch des Winters. Sie nahm wieder ihren Platz am Tisch ein und verspeiste unter Chesters zufriedenem Blick die Reste von ihrem Teller. Der Eintopf war mittlerweile kalt, aber das störte die hungrige Diebin nicht. Satt und am ganzen Körper aufgewärmt, lehnte sich Tessa in dem Stuhl zurück. Sie bekam große Augen, als er sein Angebot aussprach.
      "Mitnehmen?", wiederholte sie und Begeisterung über den Vorschlag glitzerte in den braunen Augen. "Das ist eine fantastische Idee! Die Kleinen werden sich wahnsinnig über die Kekse freuen. Das wird das Highlight vor dem Schlafengehen!"
      Tessa kicherte, die Ohren feuerrot.
      "Ich glaube nicht, dass ein oder zwei Kekse dir schaden würden..."
      Und für Rosie und Jacob war noch genügend Eintopf und Brot übrig, um davon einen ganzen Tag lang satt zu sein. Heute musste wirklich ihr Glückstag sein. Aufmarksam beobachtete sie Chester. Dabei stützte sie das Kinn in die Handfläche und lächelte ununterbrochen. Eigentlich taten ihr die Wangen vom ganzen Lächeln und Lachen allmählich weh, aber die Schmetterlinge in ihrem Bauch machten es einfach unmöglich die Mundwinkel wieder nach unten zu ziehen.
      "Danke. Für das Essen, für das kleine Abenteuer am Wurfstand. Das...hat wirklich Spaß gemacht.", bedankte Tesse sich artig und meinte es vollkommen ehrlich. Es bedeutete ihr viel.
      Chester stützte nun auch den Kopf in die Hände und sah sie fragend an.
      Seine Frage läutete wohl das Ende ihrer gemeinsamen Zeit und Tessa fühlte zu viele Dinge gleichzeitig. Freunde darüber, dass er sie trotz ihrer armseligen Erscheinung und mangelnder Wortgewandtheit wiedersehen wollte. Enttäuschung darüber, dass sie schon gehen musste, aber Chester hatte immerhin einen Zirkus zu leiten. Angst davor, dass alles nur ein Trick war um sich über die arme, kleine Tessa lustig zu machen. Und etwas, dass sie nicht bennen konnte, aber den Raum zwischen ihren Rippenbögen mit einer willkommenen Wärme ausfüllte.
      Letzteres erhielt das Lächeln auf ihren Lippen am Leben.
      Sie legte den Kopf ein wenig schief.
      "Natürlich. Ich würde Hector schrecklich vermissen", antwortete sie. "Aber...nicht in den nächsten zwei Tagen. Da gibt es etwas, dass ich erledigen muss."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Eigentlich hatte Chester mit mehr Widerstand gerechnet, etwa dass Tessa sich darin gekränkt fühlen würde, von ihm ein derartiges Geschenk zu bekommen, aber die vergangene Stunde musste schon ihre Wirkung bei der jungen Frau hinterlassen haben. Sie war viel fröhlicher und viel offener und begegnete Chesters Angebot mit ehrlicher Begeisterung.
      Zufrieden grinste er in sich hinein. Es machte wirklich Spaß, Tessa mit so wenigen Dingen eine Freude zu machen.
      Dann kam der Moment des Abschieds und auch, wenn Tessa es zu kaschieren wusste, besaß Chester genügend Menschenkenntnis, um das Aufflackern von Enttäuschung in ihren Augen zu sehen. Oh, allerliebste Tessa. Wir gern er sie einfach hier behalten würde, sie dürfte ihr baldig neues Zuhause schon einmal erkunden und vielleicht die Leute kennenlernen, aber es erwartete ihn wichtiger Besuch an diesem Abend und da musste er auf gewisse Dinge achten - wie zum Beispiel einen sauberen Zirkus präsentieren zu können. Es mochte sich hirnrissig anhören, und das war es auch, aber die Oberschicht machte sich nunmal nicht gerne die Schuhe schmutzig, das war schon im letzten Jahrhundert so und würde auch im nächsten so sein. Chester empfing sie, damit sie sich wichtig und respektiert fühlten, aber dabei musste er auch darauf achten, ihnen sein Gelände respektabel zu präsentieren.
      Und dann war es an ihm selbst, enttäuscht zu sein. Zwei Tage, mindestens? Er hatte sich schon darauf gefreut, sie wieder bespaßen zu können und das war nicht einmal gelogen. Er hatte sein eigenes Vergnügen daran, Tessa aus ihrer grauen Schale zu locken.
      "Nur Hector? Oh, ich sehe schon. Ich stelle das nächste Mal einfach einen dritten Stuhl hierher und dann kann Hector seine Möhren essen und wir unseren Eintopf."
      Er grinste und zwinkerte.
      "Aber zwei Tage? Das ist lange."
      Hatte sie etwas zu tun? Was konnte ein Mädchen, das mit anderen auf der Straße lebte, nur tun, dass es zwei Tage beschäftigt war? Irgendetwas sagte ihm, dass es nichts war, worauf er sonderlich stolz sein könnte.
      "Tessa."
      Er löste seine Hände voneinander und legte eine davon mit der Handfläche nach oben auf den Tisch, forderte ihre Hand ein. Fast schon selbstverständlich legte sie ihre Hand in seine größere, das erste Mal, dass sie sich auf diese Weise berührten, ohne, dass ihre Aufmerksamkeiten auf etwas anderem gelegen hätten.
      "Ich möchte dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast - oder was du nicht zu tun hast. Aber ich möchte dir hiermit sagen, dass ich dich sehr, sehr gerne hier habe. Es freut mich mindestens genauso sehr wie dich, mit dir hier zu sitzen, zu reden und ein paar Messer zu werfen. Oder Hector zu füttern. Oder was auch sonst wir noch machen können, denn hier wird es sicherlich keine Langeweile geben. Dafür musst du zum einen herkommen wollen und zum anderen herkommen können und bei beidem kann ich dich nicht beeinflussen. Das liegt ganz alleine in deiner Entscheidung. Aber bitte", eindringlich betrachtete er sie, "lass es, wenn schon, an einem wollen scheitern. Zwei Tage sind eine lange Zeit und ich weiß, dass das Leben auf der Straße nicht einfach ist. Pass auf dich auf, okay? Komm wieder, wenn du es möchtest, und ich werde mir immer Zeit für dich nehmen. Immer. Du weißt auch immer, wo du mich finden wirst, ich werde nicht weggehen. Nicht für die nächsten fünf Wochen."
      Er nahm sich den Augenblick, um Tessa noch einmal gründlich zu betrachten, dann drückte er ihre Hand und lächelte leicht.
      "So düster wollte ich es gar nicht klingen lassen. Versprich mir nur, dass du acht auf dich gibst. Ich freue mich, wenn du wiederkommst. Du weißt Bescheid, mit der Lilie kommst du herein, auch wenn ich denke, dass Ella dich mittlerweile so erkennen dürfte. Ich hätte dich auch gerne weiter hier behalten, aber ich erwarte hohen Besuch heute Abend und muss dafür noch einiges vorbereiten. Komm gut nachhause, ja?"
      Zum Schluss zog er ihre Hand noch heran und küsste sie.
    • Enttäuschung trübte den freudigen Gesichtsausdruck, der allgegenwärtig in seiner Mimik herrschte sobald er sich in ihrer Nähe aufhielt. Zumindest bildete sich Tessa ein, diese klitzekleine Veränderung zu erkennen. Sie war es gewöhnt Menschen eingehend zu betrachten, aber Chester ließ zu wenige Gelegenheiten zu um Gebrauch von diesem Talent zu machen. Ein lockerer Witz über den Elefanten am Esstisch brachte Tessa dennoch zum Schmunzeln. Sie hatte gewusst, dass er sich diese Chance nicht entgehen ließ. Immerhin, versuchte Chester bei jeder sich bietenden Möglichkeit ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern als könnte er sich nicht satt daran sehen. Es war unwirklich und geradezu seltsam, dass er alles Menschenmögliche unternahm um keine schlechte Stimmung aufkommen zu lassen. Obwohl die Umstände teilweise geradezu bizarr erschienen, dass er eine daher gelaufene Straßendiebin als Wunschobjekt seiner Aufmerksamkeit auserkoren hatte. Tessa musste sich eingestehen, dass es vernünftiger gewesen wäre Vorsicht walten zu lassen. Es war naiv und leichtsinnig. Innerhalb von zwei Tagen hatte Chester ihr eine Welt eröffnet, die für Tessa immer weiter fort gewesen war. Sie fühlte sich sicher, warm und erlebte den Luxus eines gefüllten Magens in Gesellschaft eines Mannes, der soweit außerhalb ihrer Liga spielte.
      "Groß genug für Hector wäre dein Zelt...", schmunzelte Tessa. "Aber gehören Tischmanieren auch zu seinen Kunststücken?"
      Chester war ein Zauberkünstler und sie das Publikum, das sich bereitwillig verzaubern ließ.
      "Tessa."
      Im unteren Winkel ihres Blickfeldes rührte sich Chester und ihr Blick wanderte von seinem Gesicht zu der Hand, die er offen und einladend mit der Handfläche nach oben auf den Tisch legte. Eine Hand, die sich immer warm und vertraut unter ihren Fingerspitzen anfühlte. Nein, sie konnte nicht behaupten, sich sonderlich gegen sein einnehmendes Wesen zu wehren. Tessa genoss es, diesem Mangel an Argwohn und Geringschätzung. Sie wollte, dass Chester sie vermisste. Vielleicht tat er das auch, sofern sie richtig zwischen den Zeilen lass, die sie aufmerksam verfolgte. Ganz von allein hatte ihre Hand den Weg in seine gefunden. Theresa sah zu, wie sich seine Hand, Finger um Finger, um ihre schloss. Mit den dreckigen Nägeln, den eingerissenen Nagelbetten und den rissigen Knöcheln sah ihre Hand so unscheinbar und falsch in seiner aus. Sie starrte. Schon wieder. Eilig richtete sie den Blick wieder nach oben.
      Tessa lauschte und mit jedem Wort wurde ihr ein wenig flauer im Magen.
      Natürlich ahnte Chester, dass sie etwas plante, dass weit außerhalb der Legalität lag. Sie hatte ihm genügend Details dazu freiwillig verraten. Gewissensbisse schlichen sich langsam ein, dass sie vielleicht zu viel gesagt hatte.
      Fünf Wochen...Tessa versuchte die erneut aufkeimende Enttäuschung zu verbergen, die sie bei der Ankündigung empfand. Gedankenverloren biss sich die Diebin auf die Unterlippe und ihre Finger zuckten in seinem Griff, unschlüssig die Verbindung zu beenden oder aufrecht zu erhalten. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als Chester sanft ihre Hand drückte. Wenn sie nur diese fünf Wochen hatte, würde sie keinen Augenblick davon als selbstverständlich betrachten.
      Sie sah zu, wie Chester die Fingerknöchel langsam zu seinem Gesicht hob und einen federleichte Kuss darauf platzierte. Die Geste eines Gentlemans, nicht das erste Mal, aber daran gewöhnen, würde sich das Mädchen nie. Nun war es Tessa, die seine Hand zögerlich drückte, die Geste zurückgebend, die sie lieb gewonnen hatte.
      "Ich bin vorsichtig, versprochen", antwortete sie und bisher hatte sie jedes einzelne Versprechen gehalten. "Aber ich muss das tun. Wie du sagst, es sind fünf Wochen. Ich muss weiter denken, als das."

      ________________________________________________________

      "Leise", murmelte Jacob.
      Mit einer eindeutigen Geste legte er den Zeigefinger gegen seine Lippen und nickte mit dem Kinn in Richtung der Feuerleiter, die sich seitlich am Hotel hinauf schlängelte. Die Konstruktion wirkte wenige vertrauenserweckend und löste ein flaues Gefühl in Tessas Magengegend aus. Höhe...war nun wirklich nicht ihr Metier. Im Schutz der Dunkelheit huschten die drei Freunde durch die verwaiste Seitenstraße. Sie hatten die Patrouille zeitlich genau abgepasst. Die gestrige Nacht frierend hinter den Mülltonnen und weggeworfenen Kartons zu hocken, machte sich letztendlich bezahlt. Rosie, Jacob und Tessa überbrückten zügig die Distanz von ihrem Versteck bis zur herabgelassenen Feuerleiter. Von dem wackeligen Ding schien keinerlei Bedrohung für die bewaffneten Sicherheitsmänner auszugehen. Eine wirklich, wirklich leichtsinnige Sicherheitslücke, die von dreisten Dieben allzu leicht ausgenutzt werden konnte. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf griff Tessa als letzte nach den Sprossen der rostigen Leiter und begann mit ihren Begleitern den Aufstieg.
      Das Ziel der Begierde befand sich in der zweiten Etage.
      Dort waren in mehreren Zimmern die gut betuchten Mitglieder der Oberschicht, Geschäftsmänner und Adlige, einquartiert. Auf der Plattform angekommen, spähte die Gruppe vorsichtig durch das Fenster in den Flur. Rosie sah auf die alte Uhr, die sie aus ihrer Jackentasche zog. Das Glas war zersprungen und der Verschluss des Armbandes kaputt, aber sie funktionierte noch einwandfrei. Angespannt beobachtete das Trio die Männer, die auf dem Flur standen.
      "Warte, warte...", murmelte der Rotschopf. "Jetzt!"
      Jacob fing an, am verschlossenen Fenster herum zu werkeln, während drinnen im Flur die Sicherheitsmänner ihre Posten verließen und auf das Treppenhaus zusteuerten. Sie hatten 2 Minuten Zeit das Fenster zu öffnen, hineinzuklettern, die Tür mit Nummer 105 zu knacken und dahinter zu verschwinden bevor die Wachablöse ihre Posten bezog. Wenige Sekunden später schnalzte Jacob mit der Zunge und alle drei halfen das störrische Fenster hochzuschieben. Der Junge kletterte als erste durch den schmalen Spalt und eilte in Richtung Zimmer 105. Rosie und Tessa folgten, schlossen das Fenster und eilten hinterher. Am Schloss der Zimmertür sah Jacob konzentriert auf das Schloss, während er den Dietrich konzentriert in das Schlüsselloch führte. Tiefe Falten gruben sich dabei zwischen seine Augenbrauen.
      "Eine Minute noch...", erinnerte Rosie und sah sich hektisch um. "Komm schon, Jacob."
      "Hetz mich nicht...", knurrte er.
      "Dreißig Sekunden. Ich hör Schritte! Beeil dich!"
      Tessa tastete in ihrer Jackentasche nach dem Klappmesser. Eine vollkommen sinnlose Methode bewaffneten Männern entgegen zutreten, aber kampflos würde die Diebin nicht aufgeben.
      KLICK.
      "Los, los!", herrschte Jacob die Mädchen an und stieß die Tür auf.
      Keine Sekunde zu früh, denn einen Augenblick nachdem die Zimmertür wieder ins Schloss gefallen war, öffnete sich der Zugang zum Treppenhaus und die Wachablöse steuerte ihre Posten an. Nun hieß es, leise sein. Sehr leise. Tessa deutete mit dem Daumen über die Schulter und Jacob nahm ein überaus hässliches Bild einer Obstschale von der Wand. Dahinter kam ein Tresor zum Vorschein. Jacob legte das Ohr an die schwere Tür und begann eine Nummer mit dem Drehrad einzugeben, die er von einem Zettel ablas. Was immer sich in dem Tresor befand, Miles wollte es unbedingt. Währenddessen hielt Rosie an der Tür Wache und Tessa schickte sich an, alle Schubladen, Schränke und Koffer gründlich nach etwas Wertvollem zu durchsuchen.
      Bis zur nächsten Ablöse hatten sie reichlich Zeit, so lange sie keine ungewollte Aufmerksamkeit auf sich zogen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • An diesem Abend war Chester weniger davon begeistert, den Zirkusdirektor spielen zu müssen. Dabei war spielen die richtige Beschreibung dafür, denn er war einfach nicht in der Stimmung dazu, seine gute Laune aufzulegen und sich von Besuchern allen Alters feiern zu lassen. An diesem Abend hätte er nichts dagegen gehabt, etwa Putzkraft oder Tierpfleger oder Küchenhilfe zu sein.
      Er machte sich Sorgen und das bekam Chester nicht gut, denn wenn es etwas gab, das Probleme bereitete, wollte er es auch gleich lösen und nicht abwarten, ob es sich verbessern oder gar verschlimmern würde. Vielleicht war er in der Hinsicht ein Kontrollfreak, aber auf der anderen Seite fand er das bei seinem Alter auch ziemlich gerechtfertigt. Er hatte einfach schon zu oft erlebt, dass Situationen wie diese nicht gut ausgingen und er wollte vermeiden, dasselbe nochmal durchzumachen. Dabei war Tessa noch gar kein Mitglied des Zirkus', nichtmal inoffiziell, aber das hielt ihn nicht davon ab. Er machte sich Sorgen um die junge Frau und um die frischen, schwachen Lachfalten, die sich in ihrem Gesicht zu bilden begannen. Was die ganze Sache nicht unbedingt besser machte, war die Tatsache, dass er sie nicht einmal so eben besuchen könnte, um sicherzustellen, dass auch alles in Ordnung wäre. Sie war irgendwo in den Straßen außerhalb des Zirkusses und damit hätte sie auch genauso gut in einem anderen Land oder gar einem anderen Kontinent sein können. Er hatte keinen Einfluss auf ihr Wohlbefinden und das nagte an seiner Stimmung.
      Im Publikum war bereits der Platz zu sehen, an dem sein heutiger, so toller Besuch sich niedergelassen hatte, ein extra abgetrennter Bereich, damit die hohen Herrschaften sich nicht unter das gewöhnliche Volk mischen mussten. Zu allem übel musste Chester ihnen dennoch seine ganze, überzogene Show bieten, denn sein Zirkus lebte nun einmal gleichermaßen von Leuten wie diesen wie von normalen Besuchern, die aber nunmal nicht so viel Geld hatten. Alle Einnahmen, die das tagtägliche Geschäft mit sich brachte, floss fast ausschließlich zurück in die Aufrechterhaltung des ganzen Geländes und alles darüber hinaus, jede weitere Anschaffung, jedes Upgrade und jede Extra-Ausgabe kam durch Spenden herein - aus Brieftaschen, die so prall gefüllt waren wie die dieser Besucher heute Abend. Chester musste ihnen Honig um die Münder schmieren, um zu bekommen, was er haben wollte, und außerdem um den Ruf des Zirkusses aufrecht zu erhalten. Immerhin brachte ihm der vorauseilende Ruf eine höhere Besucheranzahl ein. Zirkus Magica wurde quasi die Tore eingerannt, sobald sie in einer neuen Stadt auftauchten und bei der Anzahl an Mündern, die er zu füttern hatte, war das auch eine gute Sache.
      Trotzdem hatte er keine Lust darauf. Er machte sich Sorgen, er hatte an diesem Abend keine Lust auf seinen Affentanz und entsprechend war seine Laune schlecht.
      Dennoch strahlte er nach der Aufführung seine Ehrengäste an, ließ sich die leeren Worte um den Kopf schmeißen, die "ach so schöne Show" mit den "so tollen Lichtern" und "einzigartiger Musik" und "beeindruckende Künstler", alles reine Höflichkeiten, mit denen die Runde wohl selbst ihren Abend schnell vorantreiben wollte. Vielleicht hatten sie ja auch keine sonderliche Lust hier zu sein. Vielleicht liefen hier irgendwo die Journalisten herum und beeilten sich, ihre langweiligen Berichte darüber zu schreiben, dass der hohe Besuch in den Zirkus gekommen war und es hier sehr angenehm gefunden hatte.
      Er gab ihnen einen ganz persönlichen Rundgang über das Gelände, bei dem sie unter anderem die Elefanten von Nahem bestaunen durften. Hector streckte einen grüßenden Rüssel über die Absperrung hinweg nach draußen und eine der Frauen sprang quietschend zurück, bevor alle gezogen und höflich lachten. Chester dachte an Tessa, die sich von selbst nach drüben gebeugt hatte, um den Elefanten berühren zu dürfen. Auch jetzt hatte er in seiner Innentasche Möhren dabei, aber als er sie dem nächstbesten jungen Mann anbot, kam die Gegenfrage, ob da etwa noch Erde auf den Möhren sei und ob man sie nicht wasche, bevor die Tiere damit gefüttert wurden. Alle Augen richteten sich auf Chester, der lachte und das Futter wieder in die Innentasche seines Kostüms schob. Den Tieren habe hier noch nie ein bisschen Erde etwas ausgemacht - das gehöre zu ihrem Showbusiness dazu. Ein paar lachten darüber, aber es war kein Lachen, mit dem sie sich Chester anschlossen. Die Frauen hielten sich die Hände vor die Münder, kicherten und flüsterten sich gegenseitig etwas zu. Die Männer tauschten Blicke aus und grinsten dann erst richtig. Chester beschloss, dass hier keiner seinen humorvollen Charme verdient hatte und führte sie weiter.
      Am Stand mit den Messern bot er ihnen eine Runde an, frei aufs Haus natürlich, aber eine Dame sagte ihm, dass sie sich doch nicht etwas so kindischem wie Messerwerfen hingeben würde und ob das hier alle Darsteller in ihrer Freizeit tun würden. Chester dachte an Tessa, wie sie sich über ihre ersten Erfolge gefreut hatte und lächelte die Frau nüchtern an. Nein, hier würde nicht nur in ihrer Freizeit mit Messern geworfen, manchmal, wenn ihnen besonders langweilig wäre, wühlten sie sich auch im Dreck. Die Frau war verunsichert darüber, ob sie lachen sollte oder nicht, und entschied sich für ein unsicheres Lächeln. Vor seinem inneren Auge konnte Chester Tessa lachen sehen, so fröhlich, dass sich ihre Wangen röteten, und das machte es ein bisschen besser. Er lenkte die Gesellschaft weiter, bevor er mit dem Messerwerfen angefangen hätte.
      Sie aßen nicht in seinem Zelt, weil er sich sein Zuhause nicht schmutzig machen wollte, sondern unter dem allgemeinen Kantinenzelt. Es war kaum verwunderlich, dass die Gruppe nicht sehr lange bleiben wollte und ihre ersten Gläser Wein - guter, natürlich, aber wohl nicht gut genug - auch ihre letzten waren. Sie stellten Chester Fragen über den Zirkus, die nicht viel intelligenter waren als die Fragen eines Kindes und sie stellten persönliche Fragen, die ihn langweilten, weil sie alles andere als originell waren. Es war nur eine Wiederholung von ach so vielen Gesprächen, die er in der Weise schon geführt hatte, dass er gar nicht viel darüber nachdachte. Ja, seine Eltern waren auch im Zirkus gewesen. Ja, er habe mal eine Zeit lang als Clown gearbeitet. Nein, man verdiente hier nicht viel. Ja, die Kostüme wurden sehr schmutzig. Ja, der Tierdung roch bei Tagen höchst unangenehm. Nein, sie schliefen hier nicht alle auf nacktem Boden. Ja, es gab hier Betten. Ja, es waren richtige Betten. Ja, mit Matratzen und Bettzeug und allem. Nein, Betten mussten nicht zurückgelassen werden, wenn sie woanders hinzogen. Ja wirklich, Betten ließen sich transportieren und das war sogar günstiger, als an jedem Ort neue anschaffen zu lassen.
      Am Ende seiner Tortur war Chesters Laune schlecht und er fauchte die Helfer an, die an diesem Abend noch die meisten Requisiten abzubauen versuchten. Er keifte auch den Dirigenten an, weil einer seiner Musiker seinen Bogen liegen gelassen hatte - sowas war teuer zu ersetzen. Er scheuchte auch die Darsteller herum, damit sie sich umziehen und beim Abbauen helfen würden und nein, diesmal konnten sie nicht bis morgen früh warten, die Nächte waren kalt, die Kälte würde die Requisiten beschädigen.
      Was ihm an diesem Abend wohl geholfen hätte, wäre eine Alberei mit Hector, ein Abendessen in seinem Zelt und ein bisschen Messerwerfen, alles begleitet von einer rotbäckigen Tessa, die sich seinem herzlichen Lachen anschloss und rot anlief, wenn er auch nur ihre Hand berührte. Aber er ging alleine und unzufrieden ins Bett.
    • Neugierig beobachtete Tessa, wie Jacob mit einer Engelsgeduld die notierte Kombination des Tresors über das Drehrädchen eingab. Es war so still im Raum, dass sie das dezente Klicken hörte, wann immer der Schließmechanismus hinter der massiven Tresortür die richtige Position erreichte. Sie fragte sich, welcher Schatz sich darin verbarg, den Miles unbedingt in die Finger bekommen wollte. Tessa wusste allerdings, warum der Schmuggler und Hehler eine Bande obdachloser Jugendlicher dazu angestiftet hatte. Niemand würde sie vermissen. sollte etwas schief gehen. Miles musste sich keine Sorgen darum machen, dass einer aus dem Trio vor den Offiziellen singen würde. Weder Rosie, Jacob noch Tessa würden ihre kleinen Schützlinge in Gefahr bringen, denn mit dem hinterhältigen Schmuggler war nicht zu spaßen. Er wusste, wo sich ihr versteckt befand. Wenn sie brav mitspielten, bestand zumindest eine gute Chance, dass Miles einen von ihnen aus den Zellen holte, damit die Kinder nicht allein blieben. Er war auch kein Unmensch, wie er immer betonte. Bei dem Gedanken schnaubte Tessa abfällig, was ihr von Rosie einen fragenden Blick einbrachte. Die Brünette schüttelte den Kopf und zog die nächste Schublade auf.
      Die Minuten verstrichen und fühlten sich dabei wie Stunden an.
      Je länger sie sich in dem fremden Hotelzimmer aufhielten, umso nervöser wurde Tessa. Die Stille drückte ihr aufs Gemüt und ließ ihre Gedanken in andere Richtungen fließen, obwohl sie mit der gesamten Aufmerksamkeit beim Einbruch sein sollte. Chester würde das hier nicht billigen, denn es war unnötig gefährlich und vor allem kriminell.
      "Ich hab's", zischte Jacob aus dem obszön großen Salon, der zu den Hotelräumlichkeiten gehörte und mit allerlei Prunk und schicken Gemälden ausgestattet war. Tessa steckte ihren Kopf aus der Tür zum Schlafzimmer und sah die aufgeschwungene Tresortür. Sie sicherte den Beute mit dem erbeuteten Diebesgut an ihrem Gürtel und schlich auf Zehenspitzen zu Jacob herüber.
      "Was ist es?", fragte sie und versuchte einen Blick über seine Schulter ins Innere zu werfen.
      Ein hübsches, besticktes Seidentuch bedeckte einen ominösen, wirklich kleinen Gegenstand. Vorsichtig griff Jacob in den Tresor und holte das Objekt heraus, das zudem auch noch ziemlich leicht erschien. Die beiden sahen sich an, während Rosie an der Zimmertür immer unruhiger wurde. Mit spitzen Fingern zog Jacob das Tuch ein wenig zur Seite und gab den Blick auf einen filigranen Schlüssel frei. Tessa stutzte und auch der Junge an ihrer Seite machte einen verwirrten Gesichtsausdruck.
      "Ein Schlüssel...", flüsterte Tessa.
      Der Schlüssel war augenscheinlich aus Messing. Das Metall war bereits gut sichtbar angelaufen und hatte ein paar tiefe Kratzer abbekommen. Der Schlüssel war wertloser Plunder.
      "Dafür der ganze Aufwand?", knurrte Jacob enttäuscht. "Was will Miles mit dem Schrott?"
      Jacob war enttäuscht. Tessa war wütend.
      Sie hatten sich an bewaffneten Männern vorbei geschlichen, hatte eine rostige, lebensgefährliche Feuerleiter bestiegen und hatten noch den ganzen Rückweg noch vor sich. Das alles für ein bisschen Metallschrott.

      _____________________________________________________________

      Geduld war eine Tugend, aber vor allem eine Zerreisprobe für die Nerven.
      Das Trio kauerte hinter der Tür und wartete auf den zweiten Wechsel des Wachpersonals. Rosie ließ ihre Uhr nicht aus den Augen, denn in wenigen Minuten endete die Vorstellung im Zirkus. Sie mussten das Hotel verlassen haben, bevor die Gäste zurückkehrten. Jacob hatte herausgefunden, dass die Wachen in kurzen abständen ihre Positionen wechselten, um gleichzeitig die Korridore zu patrouillieren. Niemand hatte dabei einen Gedanken daran verschwendet, dass zwei Minuten für einen geschickten Dieb ausreichten, um sich Zutritt ins Gebäude zu verschaffen.
      "Haltet euch bereit. Wir gehen direkt zum Fenster", sagte Tessa. "Wenn uns jemand sieht, teilen wir uns auf und gehen zum vereinbarten Treffpunkt. Sie können uns nicht alle gleichzeitig verfolgen. Jake, gib mir den Schlüssel."
      "Wieso dir?", murrte er.
      "Weil ich die Älteste bin und die Verantwortung trage", knurrte sie zurück.
      "Ach? Ist das so? In den letzten zwei Tage...", setzte Jacob.
      "Oh, bitte. Na los, ich warte schon die ganze Zeit auf eine neue Rede von dir, Jake!", antwortete Tessa.
      "Seit du mit diesem eitlem Pfau herumstolzierst, hältst du dich für etwas Besseres. Du merkst nicht einmal, dass er dich vorführt. Denkst du wirklich er interessiert sich ernsthaft für dich?! Ein bisschen Aufmerksamkeit und du frisst ihm aus der Hand! Armes, kleines Straßenmädchen...Falls du es noch nicht bemerkt hast, keiner will deine tollen Geschichten über diesen scheiß Zirkus hören!"
      Rosies Hand schnellte nach vorne und drückte sich auf seinen Mund.
      "Nicht jetzt!", flüsterte Rosie und ließ erst los als der Junge gehorsam nickte. Er war ein wenig rot um die Nasenspitze geworden und sah Rosalie entschuldigend an. Der Rotschopf hielt die Hand hoch und streckte drei Finger aus während sie auf das Ziffernblatt ihrer Uhr sah. Nacheinander krümmte sie die Finger und beim Dritten öffneten sie dir Tür zum stillen Flur, der nun leer von allen Wachen sein sollte. Das Erste, was Tessa sah, als ihr Blick über den roten Teppichboden des Korridors glitt, war ein paar klobiger Schnürstiefel. Das Zweite war der bedrohliche Mündungslauf eines entsicherten Revolvers. Man hatte sie gehört!
      "Mäuse, hm?", meinte der Wachmann, der seine Waffe auf sie richtete, zu seinem Nebenmann. "Für Mäuse ein bisschen groß, hm?"
      Ein kurzer Seitenblick flog zu Rosie, die ihre Hand unauffällig in ihre Jackentasche steckte. Sie nickten sich zu und Tessa stopfte den Messingschlüssel in ihre Hosentasche.
      "JETZT!", schrie sie.
      Jacob und Tessa warfen sich in Richtung des Fensters, dass sich bereits aufgebrochen leicht öffnen ließ. Die Brünette warf einen Blick über die Schulter und sah wie Rosie den beiden Männern ein schimmerndes, feines Pulver ins Gesicht pustete. Die Wachen zuckten überraschte zurück und hoben reflexartig die Arme vor die Gesichter. Danach hörte sie aufgebrachtes Gefluche. Einer der Männer fuchtelte blind mit seinem Revolver in den Korridor. Rosies Spezial-Juckpulver würde sie für eine Weile beschäftigen.
      "Scheiße! Was ist das für ein Zeug. Das juckt höllisch!", keifte er.
      Jacob schlüpfte als erste nach draußen, gefolgt von Tessa und dann Rosie. Sie stolperten und schlitterten hektisch über die Plattformen des nebelfeuchten Eisengerüstes der Feuerleiter, übersprangen ganze Sprossen beim Abstieg. Die rostige Konstruktion erzitterte durch eine Erschütterung als schwere Stiefel auf einer Plattform über ihnen landeten. Wenige Meter trennten die Diebe noch davor wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Einer nach dem anderen ließ sich von der letzten Leiter fallen, als die Höhe nicht mehr gefährlich war. Der Abstieg der Verfolger erwies sich als mühselig und holprig, da das Puder ihre Sicht trübte. Sie beugten sich über die quietschenden Geländer und versuchten die Diebe nicht aus den Augen zu verlieren.
      Da hallte ein Schuss durch die schmale Seitenstraße.

      _____________________________________________________________
      Es regnete.
      Seit vier Tagen schon verhüllten düstere Gewitterwolken den Himmel und trieben die Stadtbewohner in die warmen Häuser. Dicke, schwere Tropfen prasselten auf das Kopfsteinpflaster und bildeten riesige Pfützen auf Gehwergen und Straßen. Wer konnte, suchte nach einem Dach über dem Kopf. Es hielten sich kaum Menschen auf den Straßen auf und falls doch, versteckten sie sich unter großzügigen Regenschirmen und eilten blind über die Bürgersteige. Deshalb verwunderte es auch nicht, dass niemand die zusammengekauerte Gestalt in einer winzigen Nische zwischen zwei Wohnhäusern entdeckte. Tessa hatte die Arme um den Leib geschlungen und versuchte das letzte Bisschen an Wärme an ihrem zitternden Körper zu behalten. Jegliche Farbe fehlte auf den sonst rosigen Wangen und ein dezenter, bläulicher Schimmer verfärbte bereits ihre Lippen. Der eisige Regeln prasselte auf sie herab und das schmale Vordach über ihrem Kopf bestand zu einem Großteil aus klaffenden Lochern. Die Kälte war furchtbar, aber noch schlimmer waren die Wut und die Trauer. Mit der Zeit spürte sie kaum noch, wie ihr die eiskalten Regentropfen über den Nacken perlten und sie bis auf die Knochen durchnässten.
      Das alles war er egal. Das alles spielte keine Rolle mehr. Nicht mehr.
      Seit der verhängnisvollen Nacht war Tessa nicht mehr im Versteckt der Diebesbande gewesen. Sie spürte die weichen Blätter der Lilie unter ihren Fingerspitzen, aber sie traute sich nicht, Chester aufzusuchen. Tessa schämte sich. Wut, Trauer und Scham herrschten in ihren Gedanken vor. Sie hatte sich von Jakob provozieren lassen. Fröstelnd zog sie die Knie an die Brust und versteckte das Gesicht zwischen den Knien, presste die eiskalte Nase gegen den klammen Stoff ihrer Hose. Sie war erschöpft, müde und durchgefroren. Tränen brannten in ihren Augen und vermischten sich mit dem Regen.
      Sie konnte nicht zurück gehen und sie konnte auch nicht fortgehen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • In derselben Nacht des hohen Besuches fing es zu regnen an.

      Am Morgen hatte es immer noch nicht aufgehört und zerrte Chesters Laune wieder hinab, wo er sich doch nach einer Runde Schlaf wieder recht erholt hatte. Der Abend war unangenehm gewesen, aber so war das eben manchmal, nichts, worüber er die Nerven verlieren musste. Jetzt regnete es in Strömen, es war kalt und die Besucher würden sicher fern bleiben, aber vielleicht kam ja Tessa wieder. Sie hatte schließlich nur gestern Abend etwas vorgehabt, vielleicht kam sie an diesem Tag wieder und Chester wusste genau, wie er die Zeit mit ihr verbringen würde. Vergnügen und Süßigkeiten stünden auf der Tagesordnung ganz oben.
      Trotz seiner Hoffnung kam aber im Verlauf des Tages keine Nachricht, dass seine Lilie das Tor durchschritten hätte und auch sonst gab es nur sehr wenige Besucher, die sich meistens unter denselben Ständen tummelten. Vielleicht würde es zur Aufführung am Abend besser werden. Chester wollte optimistisch bleiben.
      Es wurde nicht besser und Tessa kam ihn auch nicht besuchen, nicht einmal zur Vorführung, wie er es sich bis zuletzt erhofft hatte. Sie bespaßten ein halbleeres Zelt, das ihnen zwar gehörigen Applaus schenkte, aber gleichzeitig ankündigte, was geschehen würde, wenn weiter so schlechtes Wetter blieb. Aber das gehörte zum Showbusiness dazu. Es konnte nicht immer sonnig und fröhlich genug sein, dass man einen Ausflug zum Zirkus unternahm.

      Der Regen blieb auch am nächsten Tag und Besucher wurden rar. Das gab der Besatzung zwar die Gelegenheit, sich ohne Unterbrechung für die Vorstellung vorzubereiten, aber es zerrte auch an ihren Nerven, denn jeder wusste, dass die Besucher das Geld einbrachten. Chester mochte der einzige sein, der sich um die Finanzen kümmerte, aber die Zirkusarbeiter waren schließlich nicht dumm. Sie konnten selber eins und eins zusammenzählen und merken, dass der Gewinn absackte. Schlechte Stimmung verbreitete sich auch unter ihnen.
      Am dritten Tag brach Tumult in der Ferne aus, der sehr schnell näherzukommen schien. Stimmen, die durcheinander schrien und dazwischen ein ganz besonders spitzes, helles Kreischen.
      “Nein! Nein! Lasst mich los! Ihr könnt mich nicht festhalten! Lasst mich gehen! Lasst mich los!”
      Alarmiert eilte Chester aus seinem Zelt hinaus und zum Ort des Aufruhrs.
      Eine kleine Menschenmenge hatte sich versammelt, zum größten Teil unbeteiligte Zuschauer mit betroffenen Blicken im strömenden Regen. Der Rest war ein Knäuel im Schlamm, zwei der Wachmänner, die einen dritten versuchten niederzudrücken. Der dritte war Toby, einer der Standverkäufer.
      “Lasst mich los! Lasst mich los! Ich will nicht!”
      Toby warf sich mit voller Kraft gegen seine vermeintlichen Angreifer, versuchte, ihren greifenden Händen zu entkommen und sie gleichzeitig wegzustoßen. Der Boden war rutschig und schlammig, aber das galt für beide Seiten. Sie hatten ihn bereits auf dem Rücken, er versuchte mit aller Kraft, sich umzudrehen. Bisher erfolglos.
      Chester wusste nicht, was los war. Er hatte den Anfang nicht mitbekommen, wenn es überhaupt einen gegeben hatte. Eilig ging er auf die Menge zu und als er näher kam, konnte er auch die anderen unter dem Gekreische hören.
      “Beruhige dich! Hör auf, Toby!”
      “Du kannst nirgends hin! Es bringt nichts! Hör auf damit!”
      “Doch! Doch! Ich will hier weg! Ich will nicht hier sein! Ich will nicht! Ich hasse es! Ich bereue alles! Ich will nicht!!”
      Chester blieb stehen.
      Toby wehrte sich mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Sein Kopf war hochrot, sein ganzer Körper zitterte unter der Anstrengung, mit der er versuchte, zwei ausgewachsene Männer von sich zu stoßen. Vielleicht auch von der Kälte, die zweifellos in seinen nassen Gliedern sitzen mochte. Einer hatte sich strategisch gut auf seinen Arm gesetzt, den er dadurch nicht mehr hochbekam, aber der andere Arm und die Beine waren durchaus noch intakt. Er schlug und trat mit einer Wucht um sich, dass sich bald noch ein dritter auf alle warf, um ihn unter Kontrolle zu bekommen.
      “Lasst mich los! Ich will hier raus! Ich kann nicht mehr!”
      Sein Heulen drang über den mittlerweile betreten schweigenden Platz hinweg, sämtliche Zuschauer zu einer Eissäule erstarrt. Manche beobachteten das Gerangel mit betroffenem Blick, manche sahen eher so aus, als würden sie etwas zu viel Empathie für ihn empfinden. Viele flüsterten mit ihrem Nebenmann.
      “Lasst mich los! Ich will nachhause! Ich will nachhause!!”
      "Du bist Zuhause! Das ist dein Zuhause!"
      Eine ganze weitere Minute dauerte es, bis Tobys Bemühungen abschwächten und die anderen drei es endlich schafften, ihn bewegungsunfähig zu machen. Ausgestreckt lag er auf dem Rücken, auf jeder Gliedmaße ein weiterer Mann, das verschwitzte Gesicht gen Himmel gerichtet.
      Schließlich fing er an zu weinen.
      Sein Schluchzen war nicht annähernd so laut wie sein hysterisches Gekreische, aber gleichzeitig war es noch viel lauter als das. Er weinte so stark, dass ihm die Luft wegblieb und er am ganzen Körper von Schüttelkrämpfen heimgesucht wurde. Ihm fehlte wohl die Kraft, auch die letzten Emotionen zurückzuhalten.
      Da trat Chester doch durch die Menge hindurch.
      Dutzende Augen trafen gleichzeitig auf ihn, gefühlt alle Anwesenden bis auf Toby. Die drei Männer auf ihm sahen Chester und ließen Toby vorsichtig frei, wie ein Rudel wilder Tiere, das Platz für seinen Anführer machte.
      Aber als Chester in Tobys Gesichtsfeld trat, heulte er auf und warf sich sogleich nach vorne, um in die andere Richtung zu kriechen.
      Toby -
      “Nein! Nicht du! Geh mir aus den Augen! Ich will dich nicht sehen! Das ist alles deine Schuld! Ich hasse dich! Ich hasse dich!!”
      Chester hockte sich hin, damit sie auf gleicher Augenhöhe waren, und streckte den Arm nach Toby aus.
      Toby -
      “Fass mich nicht an!!”
      Toby stieß gegen die Beine seines Hintermanns und klammerte sich an dessen Hose, ungeachtet, wer es überhaupt war. Alles schien wohl besser zu sein, als Chester zu nahe zu kommen.
      Chester schluckte.
      Toby, beruhige dich…
      “Ich wünschte, ich hätte dir niemals zugestimmt! Niemals! Es ist schrecklich hier! Die Hölle! Ich will nicht mehr! Ich hasse es hier! Ich will nachhause, nachhause!”
      Seine Worte gingen in einem neuen Heulkrampf unter, der ihm den Atem raubte und seinen Körper durchschüttelte. Nachdem er ein fast quietschendes Geräusch von sich gab, als Chester wieder versuchte sich ihm zu nähern, gab der es auf. Er richtete sich auf und suchte den Blick der anderen drei, ohne mehr sagen zu müssen. Einer kniete sich schon zu Toby hin, streichelte ihm über den Rücken, murmelte sanfte Beruhigungen und brachte ihn schließlich dazu, sich wenigstens unter den angebotenen Regenschirm zu ducken. Toby krallte sich an ihn, als wäre es das einzige, was ihn vor dem Ertrinken bewahren würde, und schluchzte auf eine herzzerbrechende Art auf.
      Mit einem neutralen Gesichtsausdruck wandte Chester sich an den umstehenden Rest.
      Gebt ihm doch ein bisschen Ruhe, er muss sich nicht auch noch beobachtet fühlen.
      Er erblickte Malia in der Menge, die ihn mit zusammengepressten Lippen beobachtete, sich dann umdrehte und davonstolzierte, so wie der meiste andere Rest. Als auch Chester abmarschieren wollte, kam Liam erst an.
      “Schon wieder?”
      Hm.
      “Vor zehn Jahren war das aber besser.”
      Zeiten ändern sich.
      Liam betrachtete das Bündel Elend auf dem Boden, das nicht dazu überredet werden konnte, sich vom Platz zu bewegen. Stattdessen weinte Toby immernoch aus vollem Herzen mit dem letzten Rest an Kraft, das ihm noch blieb.
      “Er wird sich wieder beruhigen. Er und Jess haben doch vor ein paar Wochen Schluss gemacht, ich denke, es war einfach alles ein bisschen zuviel.”
      Hm.
      Chester ging ohne einen weiteren Kommentar fort, Liams Blick in seinem Rücken. Wäre Liam ein anderer Mensch gewesen, jemand mit einem direkteren Hang zu Empathie und Verständnis, wäre er ihm wohl nachgegangen und hätte sich darum erkundigt, ob es auch Chester gut ging. Aber Liam war Liam und so scheuchte er nur den verbliebenen Rest der Zuschauer zurück auf ihre Posten und ließ Chester alleine zu seinem Zelt zurückgehen.
      In der Nacht konnte er nicht schlafen. Es hinterließ immer seine Spuren, einen erwachsenen Mann brechen zu sehen, egal, wie oft er es noch erleben würde. Hätte Chester gekonnt, hätte er Toby sofort heimgeschickt, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Aber da lag ja das Problem, er konnte nicht. Toby und er saßen im selben Boot, aber das würde er wahrscheinlich nicht hören wollen.
      In dieser Nacht schien ihm das Ticken der Uhr auf seinem Nachttisch besonders laut. Es schien in seinen Ohren zu dröhnen, selbst als er sich Kissen mitsamt Decke über den Kopf zog und zu schlafen versuchte. Tick. Tick. Tick.

      Tessa kam auch am vierten Tag nicht, aber der Regen war geblieben. Chester hätte nach Toby sehen wollen, er wollte eigentlich ganz dringend nach ihm sehen, aber er wusste, dass Toby, wenn überhaupt, jetzt ganz viel Abstand zu ihm brauchte. Er vertraute darauf, dass die anderen sich gut um ihn kümmern würden, aber das dringende Bedürfnis saß ihm trotzdem unter der Haut, wie tausend Ameisen, die über seine Nervenbahnen krabbelten.
      Stattdessen ging er also nicht zu Toby, sondern zu Malia, die - wie viele anderen auch - so wenig zu tun hatte, dass sie dazu übergegangen war, Requisitien zu putzen. Ein schlecht gelaunter Teil von Chester wollte sie eigentlich zum Training schicken, damit sie für die Aufführungen am Abend fit blieb, aber für diesen einen Moment war er froh, dass er sie an einem ruhigen Fleckchen antreffen konnte.
      Wie geht es Toby?
      Malia sah mit dem Putztuch in der Hand auf und widmete sich dann wieder den Jonglier-Kugeln.
      "Er ist in seinem Wagen. Jemand ist bei ihm geblieben, damit er nicht... du weißt schon."
      Chester wusste schon. Wenn Toby verzweifelt genug würde, könnte er nach einem anderen Ausweg suchen.
      "Hast du mitgekriegt, was passiert ist?"
      "Nein. Ich habe nicht viel mit Toby zu tun."
      Chester nickte langsam.
      "Okay."
      Einige Sekunden lang herrschte Schweigen zwischen ihnen, während Malia weiter die Kugeln polierte und Chester ihr unschlüssig dabei zusah. Dann sprach er weiter:
      Tessa kommt nicht.
      “Ist ja auch ein richtig scheiß Wetter für den Zirkus. Kaum einer kommt.”
      Aber sie lebt auf der Straße, sie müsste doch herkommen wollen, wenn sie weiß, dass es hier Essen gibt.
      “Ich kenne sie noch weniger als du. Vielleicht ist sie ja nur beschäftigt?”
      Sie ist nicht beschäftigt. Sie war beschäftigt, meine ich, aber jetzt nicht mehr. Ich glaube nicht zumindest. Was, wenn ihr was passiert ist?
      Malia sah wieder auf und Chester begann, auf seiner Unterlippe herumzukauen. Ihm war kalt, er war feucht, Tobys Anfall saß ihm noch in den Knochen und alles, was er sich je wünschen könnte, wäre Tessa, die er so einfach beglücken konnte. Ein bisschen Messerwerfen, ganz egal. Es könnte so, so einfach sein.
      Malia schien das, auf irgendeine Weise, aus seiner Miene herauszulesen, legte den Lappen weg und streckte den Rücken durch. Sie schob die langen Strähnen, die ihr nach vorne gerutscht waren, zurück hinter ihre Schultern und bedachte Chester dann für einen Moment.
      “Sie hat noch nicht zugestimmt, oder?”
      Nein. Sie weiß noch nichts.
      “Wie oft habt ihr euch getroffen, drei Mal?”
      Zwei Mal freiwillig. Es hat ihr auch beide Male hier gefallen.
      “Wie lange hast du noch?”
      So lange wie wir hier sind.
      “Fünf Wochen?”
      In etwa.
      Malia bedachte ihn für einen Augenblick.
      “Dann such dir eine neue.”
      Der Vorschlag kam so unerwartet, dass Chesters Augenbrauen hochschossen.
      Nein!
      “Warum nicht?”
      Kleinlaut gab er zu:
      Ich will Tessa haben.
      Malia verdrehte die Augen.
      “Sie ist aber nicht hier.”
      Ihr könnte etwas passiert sein.
      “Das werden wir nie herausfinden.”
      Man könnte sich in der Stadt umhören.
      “Könnte man, aber das ist -”
      Malia hatte einen Moment gebraucht, dann brach sie ab und zog die Stirn in Falten.
      “Nein. Abgelehnt, Chester. Ich geh bei diesem Wetter nicht in die Stadt.”
      Du bekommst den ganzen Tag frei! Du musst dich ja nur ein bisschen umhören. Bitte?
      “Auf keinen Fall. Hast du gesehen, wie es gießt? Ich werde mir den Tod holen.”
      Du kannst meinen Mantel haben.
      “Ich brauche deinen Mantel nicht, weil ich nicht gehe.”
      Bitte!
      “Frag jemand anderen.”
      Ich will niemand anderen fragen.
      “Dann geh selbst, du weißt, wie sie aussieht.”
      Ich kann nicht gehen, ich habe zu viel zu tun.
      “Hier ist kaum etwas zu tun, du bist nie im Leben beschäftigt.”
      Ich bringe die Bücher auf den neuesten Stand.
      “Das tust du jeden Tag.”
      Ich räume sie aber auf. Ich sortiere. Ich schaffe ein bisschen Ordnung.
      “Dann mach das morgen und geh sie suchen.”
      Nein. Du bekommst auch heute Abend frei, wenn du gehst!
      Das schien nun endlich ein richtiges Angebot zu sein, denn Malia kniff die Augen zusammen und ließ es sich durch den Kopf gehen.
      “Wer ersetzt mich?”
      Ich.
      “Ich dachte, du wärst zu sehr beschäftigt.”
      Bitte, Malia.
      "Schön, nagut. Ich tue es."
      "Danke."
      "Was soll ich machen, sie suchen gehen?"
      "Dich umhören. Oder sie suchen. Schauen, ob die letzten Tage irgendwelche... Todesfälle auf der Straße gemeldet wurden."
      "Du gehst davon aus, dass sie tot ist?"
      "Ich habe keine Ahnung, was sie ist! Hör dich einfach ein bisschen um, ja?"
      "Wenn ich sie finde, habe ich bei dir was gut."
      "Abgemacht."
      Malia seufzte, dann stand sie auf und ging an ihm vorbei nach draußen in den Regen.
    • Wenige Meter von der fröstelnden und traurigen Tessa entfernt, war der Einbruch ins Maison Soleil auch Tage später noch das Stadtgesprächsthema.
      "Wirklich furchtbar, sag ich Dir!", sagte die rundliche Dame hinter dem Tresen.
      Madame Bernard und ihre entzückende Bäckerei genossen in der ganzen Stadt einen hervorragenden Ruf. Von überall kehrte die Kundschaft in ihrem kleinen Laden ein, der gefüllt mit buntem Zuckergebäck und sündhaften Torten beinahe aus allen Nähten platzte. Über der Ladentür hing ein winziges, silbernes Glöckchen, das ganz lieblich klingelte sobald jemand eintrat. Allein wegen des köstlichen Gebäckes suchten die Kunden die stets fröhliche Bäckerin nicht auf. Madame Bernard redete unheimlich gern und am liebsten über den neusten Klatsch und Tratsch. Mit gespitzten Ohren hing ihr die neugierige Kundschaft an den Lippen und dabei spielte der Wahrheitsgehalt eher eine untergeordnete Rolle. Je brisanter, umso besser. Unter die skandalösen Gerüchte über Geldsorgen und heimliche Eheprobleme mischten sich selten wirkliche Tatsachen. An diesem Morgen hielt die zahlenden Ladenbesucher nicht die Geschichte über einen untreuen Ehemann in Madame Bernards Geschäft sondern die fragwürdigen Details zu einem wirklich, wirklich brutalen Einbruch.
      "Das ist ein Skandal, wenn sie mich fragen, Madame Bernard", empörte sich eine Frau mit springenden Korkenzieherlocken, die, natürlich, niemand gefragt hatte.
      "Nicht wahr, Liebes? Die drei Übeltäter haben sich gewaltsam Einlass verschafft und die armen Gäste bestohlen während sie den Zirkus außerhalb der Stadt besucht haben. Sie haben alles verwüstet, dass Hotel klagt über Kosten ohne Ende und das in einer ehrbaren Viertel wie unserem!", ergänzte die Bäckerin
      "Ich habe gehört, es sollen zwei der Wachleute dabei getötet worden sein", flüsterte eine anderen Kundin.
      "Hinterrücks erstochen von den Dieben!", fügte die Dame mit der Lockenpracht hinzu.
      "Skandalös!"
      "Wie sollen sich ehrliche Bürger sicher fühlen, wenn selbst unsere ausgebildete Miliz nicht sicher vor hinterhältigen Angriffen ist!?"
      "Erschreckend!"
      "Ich hoffe, diese Kriminellen bekommen ihre gerechte Strafe!"
      "Hört, hört!"
      Mit einem entzückten Lächeln schob Madame Bernard den plappernden Damen einen Servierteller mit zuckersüßen Plunderstücken zu. Verschwörerisch beugte sich die Bäckerin ein wenig über die Ladenzeile und lockte die skandalhungrigen Frauen mit gekrümmten Zeigefinger näher heran. Mit einem vielsagenden Blick sah sie zunächst nach links, dann nach rechts und sprach anschließend mit gedämpfter Stimme.
      "Tatsächlich kann ich die Damen ein wenig beruhigen", wisperte sie. "Einer der hinterhältigen Diebe sitzt sicher in einer Gefängniszelle. Bisher haben sie kein Wort aus dem Jungen herausbekommen, aber es wird vermutet, dass es sich dabei um den Anführer handelt. Das ist natürlich nicht die offizielle Version, meine Lieben."
      "Wirklich? Was ist mit seinen Komplizen?"
      Madame Bernard lehnte sich noch tiefer über den Tresen und legte den Zeigefinger an die Lippen.
      Die Frauen bekamen große Augen, obwohl die Bäckerin noch kein Wort gesagt hatte. Vor Spannung hielten sie die Luft an.
      "Erschossen", verkündete Madame Bernard.
      Es wurde schockiert nach Luft geschnappt.
      "Zumindest einer der Diebe", flüsterte sie. "Der Letzte ist noch auf der Flucht, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie den Übeltäter stellen. Bei dem Wetter wird freiwillig aus seinem Loch hervorkriechen. Es wird kälter und der Frost naht."
      Madame Bernard richtete sich wieder auf.
      "Sie sehen, es besteht kein Grund zur Sorge", säuselte sie. "Das Problem wird sich auch von alleine löse. Noch eine Rosinenschnecke zu dem Puddingplunder?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Malia konnte, außerhalb des Zirkusses, ohne die Schminke, die Kostüme und das aufreizende Licht, eigentlich als recht hochaufragende, stolze Frau durchgehen, so wie sie den Rücken stets durchdrückte und das Kinn oben hielt. Man hätte ihr fast unterstellen können, dass sie aus wohlhabendem Haus käme, einzig von der Art und Weise, wie sie sich aufrecht hielt, aber der Mantel störte dann ein wenig das Bild und die Tatsache, dass sie keinerlei Habseligkeiten mit sich zu tragen schien. Außerdem würde ein findiger Dieb sein Augenmerk auf ihr Schuhwerk richten und merken, dass es nicht nur abgetragen, sondern schon verfärbt war. Malia mochte sich so bewegen wie eine gehobene Frau, aber sie war weit davon entfernt, auch eine zu sein.
      Dafür schaffte sie es dennoch, sich unter die Gesellschaft zu mischen, als wäre sie höchstpersönlich dazu eingeladen worden.
      In der warmen Bäckerei hatte sie erstmals Unterschlupf vor dem Regen gesucht und außerdem, um sich ihre unverhofft temporäre Freiheit mit warmen Gebäck zu versüßen, aber ganz anscheinend hatte sie da auch einen Treffer gelandet. Hier schien viel getratscht zu werden und nachdem Malia ihre Freiheit durch einen Handel erhalten hatte, musste sie jetzt ihren Part davon erfüllen.
      Sehr viel gab es aber sowieso nicht zu hören. Irgendein Überfall auf irgendwelche Besucher vom Zirkus, das könnte zu dieser Zeit jeder in der Stadt sein. Aber weil Malia wusste, dass Chesters neues Opfer von der Straße kam, blieb sie doch noch ein wenig länger. Nur, um ihm wenigstens eine Geschichte zu erzählen, wenn sie wiederkam.
      Letzten Endes war ihre halbherzige Recherche nicht von Früchten geprägt, denn schließlich konnte sie nicht einfach so an eine Haustür klopfen und fragen, ob jemand eine Frau mit dem Namen Theresa kannte. Straßenkinder hatten alle denselben Nebeneffekt: Sie waren nicht aufzufinden. Die Straße war ihr Zuhause und Malia hätte allenfalls versuchen können, nach Schlupfwinkeln und Ecken zu suchen, an denen sie sich verstecken könnten, wenn sie nur hier beheimatet wäre. Aber das war sie nicht, kannte sich somit nicht aus und konnte höchstens die Hauptstraßen absuchen, gerade den Ort, den Leute wie Theresa wohl vermeiden würden.
      Gerade dann, wenn die örtliche Miliz wohl von einem Überfall etwas in Aufruhr versetzt worden war.
      Entsprechend hatte sie sowieso keine große Hoffnungen an diese Unternehmung. Stattdessen ging sie also noch ein wenig bummeln, spazierte durch die Straßen und trat irgendwann den Heimweg an.

      "Es könnte sie sein. Es muss aber nicht."
      Malia war bei Chester in seinem Zelt und der hatte seine Geschäftsbücher liegen gelassen, um ein bisschen hin und her zu marschieren. Das war wesentlich besser, als sich auf die nagenden Sorgen zu konzentrieren, die in seinem Inneren brodelten und ihn zu verschlingen drohten. Was, wenn Tessa es eben schon war?
      "Wann war das? Hast du das herausgefunden?"
      "Ende letzter Woche. Vor vier Tagen etwa."
      Chester konnte den Stich spüren, der ihm bei der Nachricht durch die Eingeweide fuhr. Es überraschte ihn so sehr, dass er stehenblieb. Wann hatte er sich nur so emotional auf Tessa eingestellt? Es ging doch sonst nicht so schnell - drei Mal hatten sie sich nur getroffen.
      "Sie hat mir gesagt, dass sie etwas vorhat und dass es ein paar Tage dauern kann, bis sie wieder kommt. Was, wenn sie daran beteiligt war?"
      Er wirbelte zu Malia herum.
      "Was, wenn sie die erschossene ist?!"
      Malia hatte in etwa so viel Mitleid, dass sie Chesters aufgewühlte Miene für einen Moment betrachtete und dann die Augen verdrehte.
      "Du wirst das nicht hören wollen, aber dann ist es eben so."
      "Du hast recht, ich will das nicht hören."
      "Chester - du kennst sie nichtmal richtig. Sie ist irgendein Straßenmädchen. Ich weiß, dass du immer alle retten willst, wenn es wieder soweit ist, aber du kannst es nicht. Sie wird tot sein oder vielleicht ist sie auch die eine, die sie geschnappt haben. Finde dich damit ab und such dir ein neues Opfer, solange du noch genug Zeit dafür hast."
      Chester starrte sie mit dem gleichen entsetzten Ausdruck an, während der innere Wirbelwind nur noch zunahm und fing dann wieder an zu laufen.
      "Es geht gar nicht darum, ob ich sie an die Uhr binden werde. Es geht darum, dass Tessa da irgendwo draußen ist und dass sie genauso gut schon längst hier drinnen und im warmen und trockenen sein könnte!"
      "Oder dass sie tot ist."
      "In welchem Fall die Welt einen tragischen Verlust erlitten haben wird!"
      "Deine Welt vielleicht", murmelte Malia so leise, dass Chester sie fast überhört hätte. Er warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, der aber nicht genug war, um seine Sorgen zu vertreiben.
      "Ich hätte schneller sein müssen. Ich hätte sie gleich am ersten Abend schon verführen müssen, aber stattdessen habe ich sie gehen lassen. Und dann ist sie wiedergekommen und ich wollte sie einfach nicht so schnell verführen wie irgendeine Straßendirne."
      Malia hob die Augenbraue bei dem alten Wort, unterbrach ihn aber nicht.
      "Sie war so süß. Und so herzlich. Und so schüchtern, ich wollte sie nicht überfordern. Und das hat sie jetzt deswegen, ich hätte sie schon längst hier haben können! Sie hätte die ganzen vier Tage hier verbringen können und das alles wäre nicht passiert!"
      "Vielleicht war sie auch gar nicht beteiligt. Ich habe es schließlich nur nebenbei aufgeschnappt. Die Stadt ist relativ groß, sie könnte sonst wo zugegen sein."
      "Aber selbst, wenn sie es nicht war, werden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft werden. Sie könnte beim Stehlen erwischt werden und dann landet sie auch im Verlies."
      Malia schnaubte.
      "So nennt man das heutzutage nicht mehr."
      "Sondern?"
      "Kerker vielleicht. Gefängnis. Verlies ist so barbarisch."
      "Du weißt doch, was ich meine."
      "Tu ich auch. Und das ist nunmal das Risiko, das mit der Straße einhergeht. Was willst du jetzt machen, willst du den ganzen Zirkus dafür stoppen, dass wir deine tolle Tessa finden gehen?"
      Chesters Herz sagte Ja. Aber Chester war auch alt genug zu wissen, dass er so eine Dummheit nicht durchziehen konnte.
      "Natürlich nicht..."
      "Dann such dir eine andere und hör auf, ihr nachzuweinen. Wie oft ist es dir schon passiert, dass du jemanden nicht überzeugen konntest?"
      "Oft, aber -"
      "Das hier ist nichts anderes. Deine Tessa ist weg. Finde dich damit ab und mach weiter. The show must go on, oder etwa nicht?"
      "Schon, aber -"
      "Nichts aber."
      Malia stand auf.
      "Du bist ein mehr als erwachsener Mann, Chester. Langsam sollte dir mal klar werden, dass du nicht alle retten kannst."
      Ich will aber, wollte er ihr sagen, wie ein Kind, das sich darüber aufmüpfte, seine Süßigkeiten nicht zu bekommen, aber er schwieg stattdessen. Sie hatte ja recht, auch wenn er es nicht akzeptieren wollte. Er brauchte einen Plan B, dafür, dass Tessa wirklich nicht mehr wiederkam.
      Das hieß aber nicht, dass es ihm gefallen würde. Er hatte Tessa wegen ihres Hintergrunds gewählt, ja, aber in den letzten Tagen hatte er sich mehr und mehr wieder nach ihrer kindlichen Freude gesehnt, nach der Unschuld, die noch nicht ganz dem Düsternis der Welt gewichen war. Malia hätte sich niemals so sehr für Messerwerfen begeistern können wie Tessa. Kein erwachsener Mensch konnte so viel Spaß daran haben wie Tessa.
      Er wollte sie wiedersehen. Er wollte sich nicht schon damit abfinden müssen, eine neue suchen zu gehen.
      Er wusste, dass Malia ja recht hatte.
      Also zwang er sich zurück an den Schreibtisch, als die Frau gegangen war, merkte, dass er keinerlei Konzentration mehr dafür übrig hatte, mit Zahlen zu jonglieren, und ging hinaus in den Regen, um sich dort eine andere Beschäftigung zu suchen.

      An diesem Abend verteilte er wieder seine Geschenke. Er tat es nicht unbedingt überzeugt und es waren auch nur drei. Er hatte gar keine Lust darauf. Er kämpfte sich durch Smalltalk durch und versuchte sich davon abzulenken, dass Tessas Leiche womöglich gerade in irgendeiner Gasse vor sich hin rottete.
    • Beständig prasselte der Regen auch die letzten Stunden des Tages auf die Dächer und Straßen der Stadt nieder. Mit der Dämmerung gesellte sich eine eisige Kälte zu dem Wolkenbruch. Unbarmherzig pfiff der Wind durch die kleinsten Nischen und somit in jeden noch so gut versteckten Schlupfwinkel. Während sich die Straßen allmählich gänzlich leerten, blieb lediglich die kleine, zusammengekauerte Gestalt zurück. Beinahe ohnmächtig verweilte Theresa in der kläglich geschützten Ecke zurück und zitterte mittlerweile wie Espenlaub. Unkontrolliert schlugen ihre Kiefer aufeinander, dass ihre Zähne klapperten. Tessa fehlte die nötige Kraft und Motivation sich aus ihrem Selbstmitleid zu befreien. Mehrmals hatte sie mit dem Gedanken gerungen in das sichere Versteck der Diebesbande zurückzukehren und jedes einzelne Mal war sie zu dem vernichtenden Entschluss gekommen, dass sie einfach nicht konnte. Was sollte sie den anderen erzählen? Gleichzeitig war die Diebin wütend, dass sie sich der Verzweiflung und Hilflosigkeit hingab. Sie war die Älteste und sollte Verantwortung für ihre Dummheit übernehmen können, aber die Scham überwog die Vernunft. Erst als die dicken, platschenden Regentropfen zu weichen, weißen Schneeflocken kristallisierten, stellte sich der vermisste Überlebensinstinkt ein. Mit einem Ächzen streckte Tessa die steifen Glieder. Erst streckte und beugte das Mädchen die eiskalten Beine und krümmte die tauben Zehen in den vollkommen durchnässten Stiefeln. Die Muskeln in ihren Oberschenkeln protestierten und schmerzten, steif und unterkühlt durch die Witterung. Als nächsten waren die Arme dran. Kalte Luft strömte durch die löchrige Kleidung und die alte Lederjacke, die nicht für diese Wetterverhältnisse geeignet war. Sie hielt dürftig warm und die Feuchtigkeit drang durch die Nähte, tröpfelte vom Kragen in ihren Nacken. Tessa ballte die Finger zur Faust, mehrfach, um den Blutfluss anzuregen bis es in den Fingerspitzen unangenehm kribbelte. Mit gefrorenen Fingern befühlte die Diebin ihr von Kälte gerötetes Gesicht und die spröden, sicherlich bläulich verfärbten Lippen. Ihr gesamter Körper krampfte und zuckte unter den behutsamen Bewegungsversuchen. Es dauerte eine ganze Weile bis sich Tessa auf die Füße gekämpft hatte. Mit den Händen suchte sie halt an den rauen Backsteinmauern der Gebäude und schleppte sich mühselig Meter für Meter die Straße entlang. Wann immer Stimmen an ihren Ohren drangen oder ein Lichtkegel in ihrem Augenwinkel erschien, machte sich das Mädchen so klein wie möglich und wagte erst weiterzugehen sobald es wieder ruhig war. Die braunen Haare klebten ihr feucht und schwer im Gesicht und am Hals. Der sorgfältig geflochtene Zopf hatte sich schon vor einiger Zeit gelöst.
      Als Tessa endlich den spärlich belebten Stadtrand erreichte, war es bereits stockdunkel geworden. Die Lichter der Stadt warfen selbst in der unerbittlichen Dunkelheit einen sanften Lichtkegel auf die Landschaft, die sich vor ihrem Blick öffnete. In der Ferne funkelten die kunterbunten Lichter des Zirkus Magica wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung. Vielleicht war das Glück ihr wohlgesonnen und Chester hatte mit ihrer armseligen Erscheinung wenigstens soviel Mitleid, dass er ihr ein Quartier für die Nacht überließ. Ein kleines Plätzchen, um sich aufzuwärmen und sich Gedanken darüber zu machen, wohin ihr Weg sie zukünftig führen mochte. Sie konnte nicht zurückgehen. Die Erinnerung an das Blut, dass sich unter dem Körper sammelte blieb an der vordersten Front ihres Bewusstseins. Eine tiefrote Pfütze, die im Mondlicht beinahe schwarz geschimmert hatte und immer größer geworden war. So viel Blut. Bruchstückhaft erinnerte sich Tessa an die wütende Stimme, die immer noch in ihren Ohren klingelte. Beschuldigungen und Vorwürfe fraßen sich unerbittlich tiefer in sie hinein.
      Unter den schweren Stiefeln spritzte der Schlamm der Straße in alle Himmelsrichtungen.
      Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Tessa fasziniert über Wälder, Felder und die vereinzelten Häuser am Wegesrand gestaunt, die langsam in einer glitzernden und vom Sternenlicht beleuchteten Schneedecke versanken. Die Schneeflocken verfingen sich in ihren Haaren, stachen in ihrem Gesicht und den nackten Handrücken. Tess schlurfte mit großer Anstrengung Schritt für Schritt in Richtung der einzigen Zuflucht, die ihr geblieben war. Zumindest hoffte sie das. Sowie die Lichter und die stimmungsvolle Orchestermusik näher rückte, wurde Tessas Sichtfeld stetig kleiner und nebliger. Der Schneefall musste zugenommen haben, denn sie konnte kaum etwas erkennen. Sie hörte auch nicht die aufgeregte Stimme einer Frau, die sich zügig näherte. Sie fühlte die knorrigen Hände nicht, die ihr Gesicht umfassten. Das Gesagte war ein weißes Rauschen in ihrem Kopf. Dann gaben ihre Beine, die sie nicht mehr spüren konnte, endgültig nach. Ein spitzer, geschockter Schrei klingelte durch den lauten Puls in ihren Ohren. Das Sichtfeld schrumpfte weiter zusammen, färbte sich an den Rändern in ein tiefes Schwarz. Tessa fühlte sie Kälte und den eigenen, schmerzenden, zitternden Körper nicht mehr. Ihr Brustkorb hob sich ruckartig unter einem Atemzug der Erleichterung, als sich ein Gefühl der vollkommenen Taubheit einstellte. Sie war müde, so unendlich müde.
      Ein plötzliches Ziehen an ihrer Wange ließ sie hektisch blinzeln.
      Über ihr tauchte das alte, freundliche Gesicht einer Frau auf. Komisch, sie sah bestürzt und ängstlich aus. Tessa lächelte, weil sie den Wunsch verspürte die Frau zu beruhigen und kein Wort über ihre Lippen kommen wollte.

      ________________________________________________
      "Oh, Tessa!", wisperte Ella während die Besorgnis ins Unermessliche stieg.
      Als die Augenlider des halb bewusstlosen Mädchen zittrig flatterten, verpasste sie Tessa eine beherzte Ohrfeige damit sie wach blieb. Einschlafen wäre aktuell eine Katastrophe. Fürsorglich sprach die alte Dame mit Theresa, die wenige Augenblicke zuvor im Schnee zusammengebrochen war. Sie war bis auf die Knochen durchnässt und fühlte sich eiskalt unter ihren Händen an. Knirschend näherten sich Schritte, denn Ellas aufgebrachtes Geschrei musste zumindest ein paar der Arbeiter angelockt haben. Die Vorstellungen waren längst vorbei, aber selbst zu dieser späten Stunde und bei regelrechtem Sauwetter mussten Aufräumarbeiten durchgeführt und die Tiere nach der Show versorgt werden.
      Jemand reichte Ella eine dicke, kuschelige Wolldecke um die alte Frau zu wärmen. Empört riss sich Ella die Decke von den Schultern und wickelte Tessa so gut es ging darin ein. Das Mädchen war eisig, aber die Stirn fühlte sich dennoch heiß unter ihrem Handrücken an.
      "Was steht ihr alle so nutzlos herum!?", keifte die Frau ungehalten. "Jetzt packt schon mit an!"
      Die neugierigen Blicke fielen beschämt zu Boden, während Ella der Diebin durch das feuchte Haar streichelte und den Kopf in ihrem Schoß bettete.
      "Warte", murmelte ein bärtiger Helfer und kniete sich zu Ella in den Schnee. "Gib sie mir, ich trage sie."
      Dankbar nickte sie dem Mann zu, der ihr Tessa aus den Armen nahm und das Mädchen sicher gegen seine Brust drückte. Kraftlos hing Theresa in den Armen, die sich stützend unter ihre Schultern und Kniekehlen geschlungen hatten. Zwei weitere Angestellte des Zirkus halfen der ergrauten Kassendame auf die Füße.
      "Du", sagte Ella zu einem jugendlichen Burschen. "Lauf voraus und melde Chester, dass wir die Lilie hier ist."
      "Aber, aber...empfängt er nicht gerade Besuch?", kam es kleinlaut als Antwort.
      "Es interessiert mich einen feuchten Dreck mit wem er gerade eine Plauderei unterhält oder sich durch die Federn wühlt. Sag ihm, Ella schickt dich und dass er sofort in meinen Wagen kommen soll. Verstanden?", knurrte die alte Dame.

      ________________________________________________

      Vorsichtig trug der Bärtige seine wertvolle Fracht in Ellas Wohnwagen.
      Die Frau scheuchte alle ungebetenen und viel zu neugierigen Gäste aus dem Wagen und wartete ungeduldig auf Chester. Das Mädchen hatte sich in dieser Verfassung und bei dem miesen Wetter den ganzen Weg hier her gequält. Da konnte er wenigstens vorgeben, sich zu sorgen, wenn er dem armen Ding schon den Kopf verdrehte. Chester trug keine Schuld und Ella wusste, dass sie ihm Unrecht tat. Es speilte keine Rolle, was er für die Menschen empfand, die er an diesen Ort lockte. Ella wusste, dass er für sie alle, letztendlich, nur das Beste im Sinn hatte. Obwohl viele von ihnen die Tragweite der Entscheidung erst nach langer Zeit bemerkten. Sie hatte natürlich von der Unruhe gehört, die Toby auf dem ganzen Gelände verbreitet hatte und das vor zahlenden Gästen und spielenden Kindern. Für alle musste es ein unbegreiflicher Schock gewesen sein. Toby war nicht der Erste, der seine Wahl bereute und würde vermutlich nicht der Letzte sein. Jeder ging anders damit um. Manche stürzten sich akribisch in ihre Aufgaben, andere genossen das neue Leben und wieder andere verfluchten Chesters Existenz im Stillen. Vor allem die, die zu Beginn ihr Herz an den charismatischen Mann verloren hatten.
      Ella beugte sich über das zitternde Mädchen.
      Allein in ihrem Wagen hatte sie nicht länger gezögert den zierlichen Leib aus den nassen Kleidungsstücken zu schälen. Schicht um Schicht fiel mit einem lauten Klatschen zu Boden und hinterließ dort Pfützen auf dem Holz. Tessa zu diesem Zeitpunkt erschreckend leblos geworden und wehrte sich nicht einmal dagegen, dass Ella sie auszog. Zügig trocknete sie die klamme Haut ab und versuchte dabei durch die Reibung etwas Wärme in den Körper zurückzubekommen. Danach wickelte sie Theresa in eine trockene Decke, beschloss, dass eine allein nicht ausreichte und nahm noch zwei kuschelige Wolldecken hinzu bis nur noch ihr Kopf aus dem Deckenknäuel hervorlugte. Sie hatte über ein warmes Bad nachgedacht, aber der Temperaturschock wäre zu viel für den geschwächten und halb durchgefrorenen Körper. Das Bad musste also noch ein paar Stunden warten.
      Nun saß Ella auf der Kante ihres eigenen Bettes, in einem übertrieben plüschigen Morgenmantel mit zartrosa Farbe und hielt die halte Hand von Tessa zwischen ihren Fingern. Das Mädchen zitterte noch immer stark, aber zumindest bekam sie etwas gesunde Farbe ins Gesicht. Ella hoffte, dass es nicht das Fieber war, das in die Höhe schoss.
      "Was machst du nur für Sachen, Kindchen", schüttelte sie den Kopf
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chester hatte sich schon in sein Zelt zurückgezogen mit einem mittelalten, schlanken Mann, der jetzt, nachdem er seinen Charme ein bisschen spielen gelassen hatte, begonnen hatte, ihm hübsche Augen zu machen. Sie saßen auf der Couch und Chester plagte sich durch die endlose Wiederholung seiner Gespräche hindurch, ein bisschen zu nahe beim anderen sitzend, der andere etwas zu offensichtlich damit, seine Hand auf Chesters Knie zu legen, als sich beim Zelteingang jemand verhalten räusperte und seinen Namen rief. Der Eingang war geschlossen wegen des schlechten Wetters die letzte Tage, daher sah Chester nicht die nervöse Gestalt des jungen Mannes, nur seinen schüchternen Ruf.
      "Ich bin beschäftigt", murrte er gereizt zurück und setzte für seinen Besuch gleich wieder ein warmes Lächeln auf. Der sah in seiner Abweisung die Bestätigung darin, seine Hand ein wenig höher wandern zu lassen.
      Aber wer auch immer draußen stand, ließ sich nicht so leicht abwimmeln und das mochte schon etwas heißen. Für den Moment hieß es für Chester aber nur, dass seine Laune gefährlich zu kippen drohte.
      "... Ella schickt mich, um dir zu sagen, dass -"
      "Morgen!"
      "- ähh, dass Lilie hier ist."
      Da erstarrte Chester an Ort und Stelle. Der andere musste die Veränderung in seinen jetzt gespannten Muskeln gespürt haben, denn jetzt verharrte auch er.
      Lilie. Tessa war hier. Tessa war hier? Die Erkenntnis schlug so heftig durch seinen Körper, dass Chester beim Aufspringen seine Begleitung von sich stieß und in zwei großen, riesigen Sätzen bei seiner Garderobe war. Sein Herz galoppierte in seiner Brust, während er sich seinen Mantel überwarf, der von Malias Ausflug noch selbst etwas feucht war. Tessa war hier. Tessa war doch nicht tot. Sie war endlich hier, spät aber wieder hier. Wieso so spät? Vielleicht suchte sie einen Platz zum Schlafen? Sie könnte hier schlafen, sie könnte hier essen, sie könnte alles haben. Tessa war hier. Überstürzt eilte er zum Ausgang.
      "Wir sind fertig hier!"
      "Was?"
      Der Mann stand auf.
      "Aber ich dachte -"
      "Wir sind fertig, die Vorstellung ist vorbei! Lassen Sie sich verzaubern von Zirkus Magica und alles, aber nicht mehr in meinem Zelt!"
      Dann flog er nach draußen, prallte geradewegs in Russell hinein, der immernoch unschlüssig vor seinem Eingang stand und jetzt vor Chester zurücksprang.
      "Wo?"
      "Ellas Wagen."
      Ellas Wagen? Wieso kam Tessa nicht zu ihm? Auf der anderen Seite war es verständlich bei diesem schlechten Wetter, dass sie sich nicht dazu durchringen wollte, noch den halben Zirkus bis zu ihm zu durchqueren. Außerdem war sie bei Ella gut aufgehoben, sie hätte sicherlich einen Tee für Tessa parat.
      "Sorg dafür, dass mein Zelt leer ist, wenn ich wiederkomme!"
      "Was? Wie soll ich das denn -"
      Aber Chester hatte sich schon zügig in Bewegung gesetzt.
      "Wachen, wenn es nicht anders geht!"
      Russell starrte nur und beobachtete, wie Chester aufgeregt in Richtung Ella davonsprang.

      Ihr Wagen war ganz nahe des Eingangs, damit sie nicht allzu viel zu laufen hatte, um an ihren Posten zu gelangen, aber Chester kannte den kürzesten Weg, mit dem er die Hauptstraße vermeiden konnte. Entsprechend hatte er eigentlich damit gerechnet, so gut wie gar keinem zu begegnen, aber als er dort ankam, konnte er von weitem bereits vereinzelte Arbeiter sehen, die dort herumlungerten. Das war nun doch recht merkwürdig, denn während Ella zwar ein freundliches und warmherziges Geschöpf war, war sie doch niemand, die sonderlich viel Freunde unterhielt - erst recht nicht an einem kalten Winterabend, an dem es immernoch wie an den vergangenen Tagen regnete. Genauso wenig gefiel es ihm, dass der Auflauf so sehr an Tobys Vorfall vom gestrigen Tag erinnerte.
      "Was ist hier los? Was steht ihr hier rum? Wenn ihr nichts zu tun habt, kann ich euch gerne noch etwas zu tun suchen!"
      Die Warnung half, denn jetzt beeilten sich alle erst recht, wieder aus dem Weg zu kommen. Chesters Herzschlag stieg an, aber diesmal nicht auf die gute Weise. Was war hier los?
      Er stieg die wenigen Stufen zur Tür hinauf, klopfte und wartete dann auf Ellas ausdrückliches Herein, bevor er die Tür erst aufschob, hineinhuschte und sie schnell hinter sich wieder schloss.
      Der Anblick ließ ihm schier das Blut in den Adern gefrieren. Bis jetzt hatte er sich noch vorgestellt, dass Tessa gemütlich bei Ella saß und sich von ihr Tee einschenken ließ, aber mit den Pfützen auf dem Boden und dem Haufen Decken, der eine junge Frau unter sich begrub, fügten sich erst eins und eins bei ihm zusammen. Sie hier, Russell bei ihm, die kleine Traube draußen. Das Lächeln erlosch ihm im Gesicht.
      "Tessa!"
      Er war zu überstürzt damit, zu dem kleinen Bett zu eilen und gleichzeitig seinen Mantel abzuschütteln, der jetzt dafür auf dem Boden hinter ihm landete. Er ließ sich neben dem Bett in die Hocke fallen und streckte beide Hände nach Tessa aus, um sie ihr an die Wangen zu legen. Ihre eiskalte Haut erschreckte ihn, genauso wie die bläulich verfärbten, aufgerissenen Lippen und die dunklen Augenringe, die in ihrem fahlen Gesicht nur umso mehr hervorstachen. Viel zu sehr sah sie wie die Horrorgestalt aus, die er sich den ganzen Tag durch Malias fürchterliche Geschichte hatte ausmalen müssen. Jetzt war er gefangen zwischen der Erleichterung darüber, dass Tessa doch nicht tot war und lebendig hierhergefunden hatte, und dass sie jeden Moment trotzdem noch sterben könnte. Sie war so kalt. Die vielen Decken schienen noch immer nicht genug zu sein und in seiner übereilten Sorge wollte er Ella schon darauf hinweisen.
      Ella. Sie saß in ihrem Morgenmantel auf der Bettkante und überwachte die Situation schweigend.
      "Was ist passiert? Wann ist sie gekommen? Jetzt gerade?"
      Er sah nicht zu ihr auf, sondern hielt stattdessen weiter Tessas Gesicht in seinen Händen, um ihr etwas von seiner Wärme abzugeben. Die junge Frau reagierte kaum darauf, eine Tatsache, die ihm noch viel mehr Angst bereitete. Es war doch nicht zu spät, oder?
      "Tessa...!"
      Behutsam strich er mit dem Daumen über ihre Wange.
      "Hey, wach auf...!"
    • Ein höfliches und gleichzeitig ungeduldiges Klopfen an der Tür schreckte Ella aus den Gedanken. Mit einem 'Herein', das gerade laut genug war um durch das Holz zu dringen, dass von der Außenseite in einem kitschigen, pastelligem Zartrosa gestrichen war. Die Farbe blätterte in einer der Ecken bereits ab, aber der Wagen war auch nicht mehr der Jüngste. Genau, wie seine Besitzerin. Für die Zurückhaltung, die Chester trotz der Situation zunächst an den Tag legte, bedachte die ergraute Dame in dem plüschigen Morgenmantel ihn mit einem warmen, aber besorgten Lächeln. Sie beobachtete, wie sein Blick über das Chaos am Boden glitt. Erst nahm er die nassen Kleidungsstücke in Augenschein, dann Ella selbst, die in ihrem Morgenmantel und der zerzausten Friseur aussah, als wäre sie überraschend aus dem Schlaf gerissen worden. Als sein Augen schließlich das zitternde Bündel in Ellas Bett bemerkten, war alle Zurückhaltung vergessen. Achtlos flatterte der Mantel zu Boden und gesellte sich zu Tessas Kleidung, wo er sich gleich mit dem eisigen Wasser vollsog. Für einen kurzen Augenblick zuckte Ella ein wenig von ihrem Sitzplatz nach vorn, als wollte sie aufstehen weil sie fürchtete, dass Chester in seiner Eile über die herumliegenden Stiefel und Jacken stolperte und sich den Hals brach. Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus, als Chester sicher und ohne Zwischenfälle neben dem Bett in die Hocke ging. Schweigend betrachtete sie das Bild völliger, ehrlicher Besorgnis während er mit den Daumen über die geröteten aber eiskalten Wangen strich. Er wirkte aufrichtig erschüttert.
      "Vor wenigen Minuten, Chester", antwortete Ella möglichst ruhig. "Ein paar der Männer haben sie aus dem Schneegestöber auftauchen sehen. Weil sie zielstrebig auf den Einlass zu gestolpert ist, haben sie mich aus dem Bett geworfen. Ich hab' sie erst erkannt, kurz bevor sie das Bewusstsein verloren hat. Sie ist gestürzt, aber sie hat davon keine Blessuren."
      Ella hielt die zierliche Hand noch immer zwischen den Fingern und versuchte mit Hilfe der eigenen, warmen Hände etwas Wärme in die steifen Fingerglieder zu bekommen.
      "Chester...", versuchte sie es.
      Der Mann neben ihr war ganz auf das Mädchen fokussiert, also startete sie einen zweiten Versuch.
      "Chester", sagte Ella und dieses Mal legte sie mehr Nachdruck in ihre Stimme um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. "Sie kommt wieder auf die Beine, okay? Im Augenblick ist sie nicht bei Bewusstsein, aber sie wird wieder aufwachen. Bis dahin halten wir sie schön warm und behalten ihre Körpertemperatur im Auge. Ich will ehrlich zu dir sein, ich mache mir Sorgen, dass sie anfängt zu fiebern. Wir wissen nicht, wie lange, sie dort draußen bei dem Wetter war. Was wir jetzt brauchen ist trockene Kleidung für Tessa und ein wenig warmer Tee. Nicht heiß, warm...Ihr Körper ist so stark ausgekühlt und wir sollten keinen Schock riskieren. Wenn sie wieder einigermaßen warm ist, empfehle ich ein Bad. Bis dahin erfüllen die Decken ihren Zweck."
      Unter den sanften, behutsamen Berührungen drehte Tessa leicht den Kopf ohne die Augen zu öffnen. Wie eine Motte zum Licht, dachte Ella. Die Augenlider flatterten, dünn und durchlässig wie Papier, wollte sich aber nicht öffnen. Die Diebin murmelte etwas Unverständliches, brüchige Silben ohne Sinn.
      "Ich frage mich, was das arme Mädchen durchgemacht hat", murmelte sie.
      Eine knorrige und mit Altersflecken übersäte Hand legte sich auf tröstlich auf Chesters Schulter. Ella konnte sich an Zeiten erinnern, da ihre winzigen Kinderhände in seinen Großen buchstäblich verschwanden. Die Zeit war nicht gnädig mit ihr gewesen. Aber vor dem Alter konnte niemand davon laufen. Niemand, außer Chester. Er würde noch Leben, wenn sie alle längst verschwunden waren. In ihren Augen schimmerte ein Verständnis, dass nur Alter und Erfahrung mit sich brachte.
      "Dir liegt wirklich was an ihr, nicht wahr?", fragte Ella
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chester konnte den Blick nicht von Tessa abwenden, von dem bleichen Gesicht, das nach und nach einen rötlichen Stich hinzu bekam. Das war gut, oder nicht? Ein bisschen Wärme in ihrem Körper? Aber es fühlte sich nicht gut an, weil ihre Wangen noch immer eisig waren, während er sie behutsam streichelte.
      Sie war gerade eben erst gekommen, ein gutes Zeichen, weil man sich wohl gleich um sie gekümmert hatte, ein schlechtes Zeichen, weil es so schnell gegangen war. Es bestätigte nur Chesters Annahme, dass sie tatsächlich an dem Überfall beteiligt gewesen sein musste und die letzten vier Tage draußen verbracht hatte. Aber es war so hässlich draußen gewesen, wieso hatte sie keinen Unterschlupf gesucht? Wieso war sie nicht wieder in den Zirkus gekommen? Hätte er ihr deutlicher machen müssen, dass sie wirklich, jederzeit, zu ihm kommen könnte? Daran mochte es wohl liegen, er hätte sehen müssen, dass die zurückhaltende Tessa mehr als lose Worte benötigte, um überzeugt zu werden. Er hätte es verhindern können, wenn er sich nur mehr angestrengt hätte!
      Ella holte ihn aus den sich überschlagenden Gedanken mit dem Hier und Jetzt und Chester riss den Blick von Tessas schlaffem Gesicht los, um zu der alten Frau empor zu sehen. Langsam ergaben ihre Worte auch für ihn einen Sinn.
      Vier Tage, fürchte ich. Vor vier Tagen war sie zuletzt hier, so lange wird sie draußen gewesen sein. Oh, Tessa.
      Als hätte die junge Frau geahnt, dass über sie gesprochen wurde, drehte sie leicht den Kopf und murmelte etwas, was womöglich keine richtigen Worte waren. Chester beugte sich zu ihr vor, um sie zu verstehen zu versuchen, aber es war nicht mehr als ein paar abgehackte Silben. Tessa schien sich nicht einmal darum bewusst. Ihre Augenlider flatterten, als kämpfte sie darum, sie zu öffnen.
      Schhh, alles in Ordnung…
      Behutsam legte er eine Hand auf ihre Stirn, um sie vorsichtig abzutasten. Sie war genauso kalt wie der Rest, aber er konnte sich einbilden, dass sie etwas wärmer war. Ein gutes Zeichen? Oder Fieber? So alt Chester auch war, seine Gedanken überschlugen sich immernoch, sobald er in Panik geriet.
      Ella legte ihre Hand auf seine Schulter und er sah wieder zu ihr auf, zu der alten Frau, in der er immernoch das kleine Mädchen erkennen konnte, wenn er sich nur ein wenig anstrengte. Sie war das beste Beispiel für das, was Chester verwehrt blieb. Wo einmal dichtes, dunkles Haar gewesen war, waren jetzt nur noch graue Locken übrig, wo einmal die kindlichen Augen geleuchtet hatten, während sie sich von Chester hatten verzaubern lassen, lag nun der dumpfe Schleier des Alters. Ihr Gesicht war runzlig, ihr Körper zu schwach, um gegen die Gravitation anzukämpfen und ihre Haut von Altersflecken gezeichnet.
      Aber Chester hielt sie für einen der schönsten Menschen im ganzen Zirkus.
      Er legte die Hand über ihre und drückte sie kurz, bevor er wieder zu Tessa hinab sah, um bloß keine Regung zu verpassen. Momentan hatte er die Angst, sie verlieren zu können, wenn er nur lange genug wegsah.
      Du hättest sie sehen sollen, sie ist so herzig, so lieblich. Sie ist noch nicht verdorben, so wie die meisten anderen, sie ist noch ganz sie selbst. Vielleicht ein bisschen schüchtern, aber das macht sie nur noch hinreißender. Ich habe mich nicht getraut, sie allzu direkt zu verführen, das hätte sie nur verscheucht. Wie ein sehr hübsches, neugieriges Reh.
      Er lächelte fein, weil er den Vergleich jetzt ausgesprochen hatte und streichelte auch über Tessas Ohren, um sie zu wärmen. Leiser fügte er hinzu:
      Ich glaube, ich war auch mal so, vor dem ganzen hier. So gutherzig, so leichtfertig, so verschreckt. Ich weiß es nicht mehr, aber ich glaube es.
      Tessa rührte sich wieder, wenn auch nur, um ihren Kopf auf seine Hand zu drehen. Es wäre herzerwärmend anzusehen, wie zutraulich sie sein konnte, wenn die Umstände nicht so düster gewesen wären. Vorsichtig kämmte er mit den Fingern ihre nassen Haare nach hinten.
      Deshalb werden wir auch dafür sorgen, dass ihr nichts geschehen wird. Nicht wahr, Tessa?
      Diesmal reagierte sie nicht und auch, wenn Chester gleich der nächste Angststoß durchzuckte, zog er langsam die Hand unter ihrer Wange hervor. Er hatte schließlich Erledigungen zu machen.
      Eilig stand er auf.
      Kleidung und Tee. Ich besorge alles und du wirst weiter auf sie aufpassen. Kannst du das für mich tun?
      Er beugte sich zu Ella hinab und drückte ihr einen knappen Kuss auf die Stirn, bevor er seinen jetzt nassen Mantel aufhob und zurück zur Tür eilte.
      Lass sie nicht sterben!
      Dann flitzte er nach draußen.
      Es gab nur einen Ort, an dem er trockene Sachen für Tessa finden konnte, aber die Kostümabteilung bot - so groß sie auch war - keine sehr warmen Sachen. Entsprechend suchte er sich in dem ausladenden Zelt der Requisiten eine Hose, ein paar Strümpfe und huschte dann in sein eigenes Zelt, wo er zumindest einen Wollpulli holte. Dann eilte er genauso schnell in die Küche, besorgte sich eine Teekanne mit Untersatz und Kamillentee. Damit bewaffnet kam er zurück zu Ella, die Tessa dankenswerterweise nicht einmal losgelassen hatte. Auf die alte Frau konnte er sich wirklich verlassen.
      Er stellte alles ab, als ihm erst die Unsinnigkeit dieser Handlung in den Sinn kam.
      Sie kann ja gar nicht hier bleiben, wo sollst du denn schlafen? Ich sollte sie ins Krankenzelt bringen. … Aber sie ist ja gar nicht angestellt, sie wird noch nicht einmal wissen, wo sie ist, wenn sie aufwacht! Grundgütiger, wo ist mir nur der Kopf geblieben?
      Er raufte sich die Haare.
      Wir bringen sie in mein Zelt. Ich kann auf meinem Sofa schlafen, das macht nichts. Es ist sowieso nicht viel zu tun bei dem Unwetter, da kann ich auch auf sie aufpassen. Wenn sie wärmer ist - wenn sie wärmer ist, bringen wir sie rüber. Oder?
      Hilfesuchend sah er Ella an, dann hockte er sich wieder ans Bett und befühlte sachte Tessas Wange. Kaum eine Veränderung - war das normal? Und was, wenn sie nun doch Fieber bekäme? Seine Gedanken spielten regelrecht verrückt darüber.
    • Die angehäufte Lebenserfahrung von Jahrhunderten verlor im Angesicht des möglichen Verlusts jegliche Bedeutung. Dabei spielte es keine Rolle, wie viele Menschen Chester unter dem Fluch der goldenen Taschenuhr schon hatte kommen und gehen sehen. Obwohl der neblige Schleier des Alters bereits das leuchtende Blau in Ellas Augen trübte, erkannte sie die allgegenwärtige Besorgnis in Chesters Gesicht auch ohne die absurd riesigen, kreisrunden Brillengläser. Kontrollverlust löste in dem Unsterblichen eine erdrückende Panik aus, die seine Stimmungsschwankungen auf neue Höhen trieb. Ein verpatzter Auftritt endete in Unzufriedenheit und Zorn, den alle im Zirkus zu spüren bekamen. Es musste alles stets perfekt sein. Eine halberfrorene Tessa, deren Genesung er nur bedingt beeinflussen konnte, befeuerte eine tieferliegende Angst, die Ella nicht deuten konnten. Es war sehr lange her, dass sie diesen Ausdruck in seinem Gesicht gesehen hatten. Die alte Frau hörte förmlich die unzähligen Zahnräder hinter seiner Stirn arbeitet, während neue Beunruhigung sich in den blassblauen Augen spiegelte, sobald Theresa weder auf seine Berührung noch auf seine Stimme eine Reaktion zeigte. Über ihrem Handrücken zuckten seine Finger unwillkürlich, als kostete es ihn große Überwindung auch nur für eine Sekunde die Berührung zu dem zitternden Bündel in den Decken zu unterbrechen. Ella erwiderte die Dankbarkeit, die in der Geste lag, in dem sie die Fingerspitzen sachte in seine Schulter drückte. Die Muskeln darunter fühlten sich hart und unnachgiebig durch die Anspannung an, die Sehnen waren zum Zerreißen gespannt.
      „Nun, ich habe sie gesehen, mein Lieber“, schmunzelte Ella über die liebliche Schwärmerei und den Vergleich, der perfekt zur schüchternen Tessa passte. „Deshalb musst du behutsam mit ihr sein. Ich weiß, dass du nichts dem Zufall überlassen wirst und dich davon abzuhalten, dass Mädchen zu bezirzen, hat Malia bereits versucht. Aber solltest du die Meinung einer alten Frau dazu hören wollen: Belüg sie nicht. Das Vertrauen, das sie dir entgegenbringt, ist ein kostbares aber zerbrechliches Geschenk. Der scheue Ausdruck in ihren Augen, die leicht gekrümmten Schultern, als wollte sie sich schützen…das Mädchen ist Enttäuschungen gewöhnt. Die Frage, die du dir stellen musst, ist, ob sie eine weitere Enttäuschung erträgt. Das Mädchen ist dabei sich in dich zu verlieben.“
      Ella zog langsam ihre Hand zurück.
      „Du willst sie retten. Du willst sie alle retten“, flüsterte Ella. „Dein gutes Herz hast du nie verloren, Chester, aber bist du bereit ihr dieses Schicksal aufzubürden? Du wirst ihr die Freiheit nehmen. Zum Preis eines besseren Lebens, natürlich. Du wirst sie an Dich und diesen Ort binden. Tessa ist jung, sie kann ihr Leben noch selbst in die Hand nehmen, bedenk das. Ich weiß, dass dir die Zeit davonläuft, aber tu einer alten Frau den Gefallen und denk darüber nach.“
      Der Fluch der Uhr verlangte eine neue, frische Seele. Die Hoffnung aller lag auf dem beständigen Ticken des Uhrwerks und ohne die Erfüllung des Pakts, war ihr aller Schicksal besiegelt. Außer Ella, aber sie glaubte nicht mehr daran, das Ende des Fluchs vor Ablauf ihrer Zeit zu sehen. Chester würde alles dafür unternehmen, damit den Menschen in seiner Obhut kein Leid geschah. Tief in ihrem Herzen glaubte Ella auch, dass der Mann sein eigenes Ende scheute. Wer so lange lebte, begann sich an die eigene Existenz zu klammern. Dieses Mal sollte Tessa den Preis dafür bezahlen.
      Damit ließ Ella ihn ziehen und rührte sich erst wieder vom Fleck, als Chester zurückkehrte. Sie hatte kaum den Mund zu einer Antwort geöffnet, da überflutete sie eine Welle aus Überlegungen und Fragen. Kopfschüttelnd lächelte Ella und hob eine faltige Hand an, um den aufgekratzten Mann zur Ruhe aufzufordern. Sofort war er wieder an der niedrigen Bettkante und fühlte gleich nach der Temperatur der bewusstlosen Diebin.
      „Beruhig dich, Chester, du darfst sie mitnehmen. Vorher gibst du sowieso keine Ruhe“, sagte Ella kopfschüttelnd. „Aber zuerst zieh ich ihr etwas Warmes an und dann versuchen wir ihr etwas von dem Tee einzuflößen. Dreh dich um, mein Lieber, und nicht schummeln.“
      Durch die Bewusstlosigkeit bekam Tessa zwar nicht mit was um sie herum passierte, aber das bedeutete für Ella nicht, dass sie jeglichen Anstand einfach sausen ließ. Zumindest das waren sie dem Mädchen schuldig. Deshalb wartete Ella auch bis Chester ihnen brav den Rücken zudrehte und befreite die zitternde Frau anschließend aus dem kuscheligen, warmen Kokon aus Wolldecken. Sie wog so schrecklich wenig, dass sie selbst für eine ältere Dame wie Ella erschreckend leicht zu bewegen war. Tessa gab ein mitleidiges Wimmern von sich, als die merklich kühlere Luft die entblößte Haut traf. Eilig schob Ella die zuckenden Gliedmaßen durch Hosenbeine und Ärmel. Kaum lugten die Hände aus dem Wollpullover – Chesters Pullover, wie Ella bemerkte - heraus, schlang das Mädchen die Arme um sich und zog die Knie nah den Körper heran. Sie vergrub die eiskalte Nase im Kragen des Pullovers und schien sich langsam zu beruhigend. Ella streichelte Tessa vorsichtig über den Kopf.
      „Komm her und hilf mir sie wieder einzuwickeln.“
      Sie ahnte, dass es Chester kaum an Ort und Stelle hielt sobald das Wimmern an seine Ohren reichte. Der Tee duftete wunderbar und Ella stellte anerkennend fest, dass es sich dabei um eine kräftige Kräutermischung handelte, die Tessa sicherlich guttun würde.
      „Versuch ihr etwas von dem Tee zu geben. Lass die Kanne im Anschluss hier, ich lass dir eine Neue in dein Zelt bringen. Du bist ein talentierter Jonglierkünstler, aber selbst du kannst nicht Tessa tragen und dabei eine heiße Teekanne balancieren.“
      Ella machte ihm Platz auf der schmalen Bettkante und reichte ihm eine gefüllte Tasse in pastellrosa mit kleinen, weißen Kätzchen darauf. Er würde diese Tätigkeit für den Rest der Nacht ohnehin übernnehmen müssen. Darin dampfende der Kräutertee in einer angenehmen Temperatur. Mütterlich tätschelte Ella sein Knie, dass unruhig auf und ab wippte.
      „Es wird alles gut, mein Lieber. Sei nicht zu besorgt, wenn sie heute Nacht nicht aufwacht. Deine kleine Freundin ist stärker als sie aussieht, aber sie braucht vor allem Ruhe und Schlaf. Wenn sie anfängt zu fiebern, weckst du mich, in Ordnung?“
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Nichts, was Ella sagte, wäre etwas sonderlich neues gewesen, aber gleichermaßen brachte es etwas in Chester an die Oberfläche, das er bisher nur passiv mit sich herumgetragen hatte. Das war das eine unumstreitbare Talent, das sich mit dem Alter bei der Frau nur noch verfestigt hatte: Genau zu wissen, wo der Kern des Problems lag, ohne überhaupt damit in Berührung gekommen zu sein. Chester hatte mit seiner Unsterblichkeit unaufhaltbar Erfahrungen angesammelt, die ihn jede Situation akkurat einschätzen ließen, aber Ella hatte nur ein einziges Leben dafür gebraucht, um Chester akkurat einzuschätzen. Für diesen Rückhalt liebte er sie auf eine Weise, wie er nur seine Familie lieben könnte.
      Absichtlich sah er zu der alten Frau nicht mehr hoch in dem irrationalen Glauben, wenn er noch weiter in diese warmen, leicht vergrauten Augen blicken würde, dass sie dann mehr in ihm lesen würde, viel mehr, als er ihr anzuvertrauen bereit war. Sie hatte ja recht, mit jedem einzelnen ihrer Worte, aber Chester lebte schon zu lange, um sich nicht von seiner Unsterblichkeit prägen zu lassen. Auf die eine oder andere Weise.
      Es war unglaublich schwierig, sich wieder von Tessa zu lösen, wenn das einzige, was er eigentlich tun wollte, sie in die Arme zu schließen und die ganze Macht seines kümmerlichen Selbst dazu einzusetzen, sie wieder zu heilen, war. Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihr sofort seine Uhr überreicht, die zwar nicht heilen konnte, aber doch unumgänglich den Verfall aufhalten würde. Tessa sollte wieder auf die Beine kommen, denn der Gedanke, dass ihm ein weiteres Leben ungehindert durch die Hände rann, war genug, um tiefste Panik in ihm auszulösen. Er hätte sich mittlerweile daran gewöhnen müssen, dass alle um ihn herum vor ihm starben, aber wenn, war es eher nur noch schlimmer geworden. Er teilte sein Herz mit ihnen und mit jedem Tod, den er unweigerlich miterleben musste, starb auch ein kleiner Teil von ihm weg, den die Uhr nicht einfach so unsterblich machen konnte.
      Aber für Tessas Wohl alleine löste er sich von ihr, stand widerstandslos auf und drehte den beiden Frauen den Rücken zu. Geraschel ertönte, als Ella die Decken von Tessa löste, gefolgt von dem Knarzen des Bettes und einem geradezu herzzerreißendem Wimmern, das die kurze, eingetretene Stille durchbrach. Chester zuckte ganzkörperlich zusammen, während er den Zwang, Tessas Leiden zu beheben, zugunsten seines Verstandes herunterdrückte. Ella zog ihr nur die mitgebrachten Klamotten an, das war nichts, was der Frau schaden würde! Aber es war fast schmerzhaft, so sehr wie alles in ihm danach schrie, Tessa an sich zu ziehen und zu beschützen und er für den Moment nichts tun konnte, als an der Wand zu stehen und missmutig die alte Farbe anzustarren. Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn Tobys Zusammenbruch nicht so kurz vorher geschehen wäre und Chester immernoch damit zu kämpfen hatte, dass er den Mann nicht einfach so besuchen konnte, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Jetzt lud er wohl diese überschüssige Energie bei Tessa ab, bei der sie aber zumindest gebraucht war.
      Ella musste es ihm nicht zweimal sagen, da war er gleich wieder an Tessas Seite, die jetzt in seinem hellen Pullover fast unterging, und schob unter großer Erleichterung, endlich etwas konkretes tun zu können, den Arm unter ihren Rücken, um sie etwas aufzurichten, während Ella die Decken wieder um sie wickelte. Tessa war entsetzlich leicht, mehr, als er es sich gedacht hätte. Ein neuer, genauso furchtbarer Gedanke kam in ihm auf: Wann hatte sie das letzte Mal gegessen? Doch nicht etwa vor vier Tagen - oder? Oder?
      "Grundgütiger, sie ist so leicht, Ella. Ist das normal? Das ist nicht normal, nicht wahr? Was, wenn sie zu schwach ist, um sich zu erholen? Wir brauchen mehr decken - es ist viel zu kalt hier drin für sie."
      Wieder einmal war es die Ruhe der alten Frau, die seinen panischen Gedanken mit simplen Instruktionen Einhalt gebot. Tee, ja richtig, der würde sie von innen wärmen und Flüssigkeit war gut. Chester hatte ihn schon fast wieder vergessen.
      "Du hast recht. Ja, natürlich. Tee. Sie mag doch Tee, oder?"
      Was für eine überflüssige Frage, die keiner von ihnen beantworten konnte, aber es war besser, darüber nachzudenken, als wieder in andere Richtungen abzudriften. Also nahm er sich die Kanne, goss ein bisschen was in die Tasse und fing sich dafür gleich die nächsten Zweifel ein.
      "Das ist doch nicht zu warm für sie, oder? Oder zu kalt? Kann es zu kalt sein?"
      Diesmal brauchte er ganz aktiv Ellas Anweisung, damit er sich nicht in seinen Gedankengängen verstrickte, sondern die Hand unter Tessas Hinterkopf schob und sie etwas aufrichtete. Ganz vorsichtig, auf jede noch so kleinste Reaktion im Gesicht der jungen Frau achtend, setzte er die Tasse an ihren Lippen an.
      "Trink, Tessa. Ganz langsam, okay? Ganz vorsichtig."
      Er neigte die Tasse soweit, bis das Wasser ihre Lippen streifte. Tessa zuckte, ob vor der Wärme oder der Berührung, aber Chester hielt sie nur weiter fest und behielt sie im Auge.
      "Schhh, alles in Ordnung, trink nur."
      Er beobachtete genau, dass ein bisschen Tee über ihre Lippen kam und setzte dann wieder ab, um darauf zu warten, dass sie auch schlucken würde. Es dauerte einen Moment, dann schluckte sie und öffnete gleich wieder den Mund.
      "So ist's gut, ganz langsam..."
      Er wiederholte das Prozedere, eine kriechende Beschäftigung, bis Tessa die Tasse endlich vollständig geleert hatte. Dieser kleine Erfolg war so ungemein erleichternd für Chester, dass er die Tasse gleich wegstellte und sich nicht mehr davor zurückhielt, beide Arme unter den von Decken verdeckten Körper zu schieben.
      "Jetzt komm her, wir gehen nur ganz, ganz kurz nach draußen, versprochen."
      Er zog sie fest an seine Brust und stand mit Tessas leblosem Körper in den Armen auf, ihr Kopf locker herumrollend, bis er sich an seine Schulter lehnte. Chester versuchte, die Decken um ihren Körper noch enger zu ziehen und bekam dabei Hilfe von Ella, die auch noch darauf achtete, dass keine weiteren Gliedmaßen bis auf ihren Kopf draußen waren. Probeweise schob er seine wertvolle Fracht ein wenig zurecht, damit sie sich ganz an ihn schmiegen konnte.
      "Danke, Ella. Ich wecke dich, wenn sie Fieber bekommt, versprochen."
      Die Lüge kam ganz von alleine, denn Chester würde ganz sicher nicht die alte Frau mitten in der Nacht wieder aus dem Bett jagen, um nach Tessa zu sehen. Sie hatte schon so genug getan, viel mehr, als er von ihr erwarten konnte.
      "Bis dahin legst du dich aber wieder hin, dass du dir bloß keine Erkältung zuziehst! Heiz hier ruhig etwas mehr ein, wenn es dir zu kalt wird."
      Sie kam noch, um ihm die Tür zu öffnen, dann trat er mit Tessa in den Armen nach draußen und legte ihr gleich beruhigend die Hand an den Kopf, als sie von der Kälte zuckte und sich wohl dagegen zusammenzukrümmen versuchte.
      "Sch, sch, sch, ich weiß, ist gleich vorbei..."
      Die Hand legte er über ihr Ohr und versuchte, ihren Kopf dabei gegen an sein Hemd zu drücken, damit sie weniger von der Kälte abbekam. Er hatte seinen Mantel drinnen vergessen, aber das war nun auch nicht schlimm, weil Tessa so kaum etwas von seiner Wärme gehabt hätte. Jetzt konnte er sie ganz an sich pressen und sich durch die Dunkelheit zurück zu seinem Zelt beeilen.
      "Bald geschafft, du hast es bald hinter dir, so ist's gut..."
      Russell war verschwunden, als er wieder ankam, genauso wie der Mann, den er für den Abend hatte verführen wollen. Jetzt brach er durch seinen Zelteingang hinein, wurde gleich von der Wärme seines eigenen, kleinen Kamins erfasst und eilte gleich weiter in sein Schlafzimmer, wo sein Bett in stummer Erwartung darauf, dass er seine Nacht mit jemandem teilen würde, stand. Aber Chester hatte nur Tessa, die er jetzt vorsichtig, aber immernoch zügig hineinlegte und gleich die Decke über ihre zusätzlichen Decken zog. Er wickelte sie auch damit ein und bettete ihren Kopf auf einem seiner Kissen. Tessa war jetzt schon wieder ruhiger, schien sich wieder teilweise zu entspannen und seufzte leise, während sie sich in die Schichten aus Decken vergrub. Sein schüchternes Reh, das selbst in der Bewusstlosigkeit noch versuchte, sich vor der Welt klein zu machen. Chester setzte sich auf die Bettkante und strich zärtlich über den Haarschopf, der noch hervorlugte.
      Er dachte an Ellas Worte und daran, dass sie vollkommen recht mit allem gehabt hatte. Aber während Chester so darauf lauschte, dass Tessas Atemzüge wieder regelmäßiger wurden, während im Hintergrund seine erbarmungslose Uhr tickte, wusste er nicht, ob er einfach so auf sie hören könnte. Er sollte Tessa nicht anlügen, er sollte ihr die Wahrheit sagen, nichts als die Wahrheit und ihr selbst die Entscheidung über ihr Schicksal lassen, ohne das Vertrauen, das sie in ihn setzte, zu verletzen. Er sollte eine ordentliche Grundlage dafür bauen, dass sie den Rest von Tessas Leben in unmittelbarer Nähe verbringen würden.
      Aber da gab es nur ein Problem.
      "Ich bin ein Egoist, Tessa", flüsterte er in die Stille ihres ruhigen Atems hinein. Zärtlich strich er ihr weiter über die Haare.
      "Und das tut mir leid. Das tut mir so, so unendlich leid. Aber ich gehe keine Risiken mehr ein, schon eine ganze Weile nicht mehr. Ich bin nicht mehr gewillt, den Preis dafür zu bezahlen."
      In seinen Gedanken, seiner Vorstellung, in der er die Worte nicht in die Einsamkeit seines Zeltes sprach, schlug Tessa ihm jetzt womöglich unter strömenden Tränen die Hand weg, bezichtigte ihn eines verlogenen Verräters und warf ihm ins Gesicht, dass er ihr Leben besiegelt hätte. In einer anderen Vorstellung nahm sie sich seine Hand, lächelte, so wie er sie noch nie lächeln gesehen hatte, und sagte ihm, dass alles gut werden würde. Dass sie ihm verzieh.
      In der Realität strich er mit den Fingern hinab, um ihre Stirn zu erfühlen und dann die Decke um ihren Hals etwas zurecht zu zupfen.
      "Es tut mir so leid."
      Er stand erst auf, als vor seinem Zelt nach ihm gerufen wurde, und nahm dem Besucher sowohl Teeset, als auch Chesters Mantel und Tessas Klamotten ab. Der Mantel kam zurück auf die Garderobe, die nassen Klamotten hängte er im Schlafzimmer auf und mit dem Tee bemühte er sich, Tessa die nächste Tasse warm zu machen. Ein weiteres Mal fütterte er sie mit winzigen Schlucken, so lange, bis sie die ganze Tasse zuverlässig gelehrt hatte und zog sich dann in sein Wohnzimmer zurück, auf die Couch. An Schlaf war aber keineswegs zu denken, der Durchgang zum Schlafzimmer stand offen und so hörte er es, wenn auch nur die Decke auf dem Bett raschelte. Wach und aufmerksam legte er sich hin, starrte an die dunkle Decke und war darauf gefasst, bei jedem noch so kleinen Geräusch nachsehen zu gehen, ob mit Tessa noch alles in Ordnung war. Und wenn er nichts hörte, ging er trotzdem mindestens jede Stunde einmal, um nach ihrem Fieber zu sehen.
      Im Hintergrund tickte, dröhnend laut und unüberhörbar für ihn, seine erbarmungslose Uhr. Tick. Tick. Tick.
    • "Grundgütiger, sie ist so leicht, Ella. Ist das normal? Das ist nicht normal, nicht wahr? Was, wenn sie zu schwach ist, um sich zu erholen? Wir brauchen mehr decken - es ist viel zu kalt hier drin für sie."
      "Das ist normal. Überleg kurz. Was denkst du, wie oft sie eine ordentliche Mahlzeit hatte? Das ändert sich schnell, wenn sie erstmal jeden Tag etwas vernünftiges in den Magen bekommt. Du wirst schon sehen. Sie wird sich erholen oder glaubst du ich würde dich anflunkern? Es ist nicht zu kalt, es ist genau richtig."
      "Du hast recht. Ja, natürlich. Tee. Sie mag doch Tee, oder?"
      "Jeder mag Tee, Chester."
      "Das ist doch nicht zu warm für sie, oder? Oder zu kalt? Kann es zu kalt sein?"
      "Nein, es nicht zu warm und auch nicht zu kalt. Keine Sorge."
      "Trink, Tessa. Ganz langsam, okay? Ganz vorsichtig."
      "So ist es gut. Sie soll sich nicht verschlucken."
      Mit einer Engelsgeduld entkräftete Ella alle Fragen und führte seine Hand an den Hinterkopf des schlafenden Mädchens, die aufgrund der behutsamen Störung ein wenig das Gesicht verzog. Wären die Umstände nicht so ernst wie sie nun einmal waren, hätte die alte Frau es als überaus niedlich bezeichnet, wie Tessa widerwillig die Nase kraus zog. Stattdessen konzentrierte sich Ella darauf, dass Chester ihren Kopf im richtigen Winkel hielt, damit das Trinken leichter fiel. Mit dem Zeigefinger tippte sie die Hand an, die vorsichtig die Porzellantasse umschloss, wenn er absetzen sollte. Sobald sich die ergraute Dame sicher war, dass Tessa brav den Tee getrunken hatte, tippte sie ein weiteres Mal gegen seine Hand damit er ihr den nächsten Schluck einflößte. Der Tee würde ihr gut tun und von Innen wärmen. In dieser einträchtigen Stille verbrachten sie die nächsten Minuten, die sich gefühlt eine Ewigkeit zogen, bis Tessa die gesamte Tasse geleert hatte. Der sanfte, rosige Schimmer auf den blassen Wangen hatte noch ein wenig zugenommen, was Ella mit einem zufriedenen Murmeln quittierte, denn Theresa sah bereits wieder viel lebendiger aus. Lächelnd nahm sie Chester die Teetasse ab und hätte das gute Porzellan beinahe fallen gelassen kaum berührte es ihre Finger. Überrascht balancierte sie die Tasse, die Chester regelrecht in ihre Hände fallen ließ und ohne weitere, kostbare Zeit zu verschwenden die Arme unter den Körper des Mädchens schob.
      "Huch! Vorsicht! Mein gutes Porzellan!"
      Da war Chester samt seiner wertvollen Fracht bereits vom Bett aufgestanden und versuchte die richtige Position für Tessa zu finden, was mit all den Decken, die um den zierlichen Leib gewickelt waren gar nicht so leicht war. Ella schüttelte lächelnd den Kopf und eilte ihm in seiner Not zur Hilfe. Umsichtig stopfte sie die gelösten Zipfel der Wolldecken zurück. Muckelig eingepackt und mit der Wange an Chesters Schultern geschmiegt, würde die beißende Kälte kaum eine Chance haben. Fürsorglich streichelte Ella über die noch feuchten Haare und konnte ein entzücktes Seufzen nicht vermeiden, als das Mädchen vertrauensselig die kalte Nasenspitze in Chesters Hemd drückte. Der Anblick war herzerwärmend. Eine schöne Momentaufnahme, die nur von den Beweggründen des besorgten Mannes getrübt wurden. Er würde nicht von seinem Vorhaben abrücken und Ella hoffte inständig, für Tessa aber auch für Chester, dass keiner von beiden eine erneute Enttäuschung ertragen musste. Der augenscheinlich junge Mann mochte mit seinem strahlenden Lächeln und seinem einnehmenden Charme die Mehrheit blenden, aber die alte Frau wusste, dass die Ablehnung durch Familienmitglieder an ihm nagte. Der Zirkus war sein Heim und alle die darin lebten seine erwählte Familie. Er hatte jeden Mann und jede Frau sorgfältig ausgewählt, aber nicht immer erfüllten sich die anfänglichen Hoffnungen. Verständnis verwandelte sich in Ablehnung, Glück allzu schnell in Resignation angesichts der unbequemen Wahrheit. Zuneigung und reine Herzensgüte hatte niemanden von ihnen an diesen Ort gebracht. Sie hatten einen Zweck zu erfüllen und alle waren letztendlich freiwillig Teil der Maschinerie aus Zahnrädchen geworden, dem Uhrwerk, dass ihr Leben antrieb. Die Wahrheit und die Konsequenzen waren dennoch nur wenigen von Anfang an bewusst gewesen.
      "Danke, Ella. Ich wecke dich, wenn sie Fieber bekommt, versprochen."
      "Hmhm...", murmelte Ella wissend.
      Chester würde sie nicht wecken. Sie kannte ihn lange genug, um das zu wissen. Das stetige Voranschreiten ihres Verfalls, die Natur des Alterns, irritierte ihn. Für Ella schien die Zeit einen Ticken schneller zu laufen. Sie wirkte zerbrechlicher als der Rest der Zirkus-Crew.
      Ein wenig kleiner, ein wenig gekrümmter.
      "Ja ja. Und jetzt, husch! Bring dein Mädchen ins Warme", schmunzelte sie.
      Einen kurzen Moment sah sie Chester nach, der durch den Schnee stapfte bis ihn die Nacht und die fallenden Schneeflocken verschluckten. Dann rief sie Russell zu sich und schickte ihn fort ins Küchenzelt, um frischen Tee aufzusetzen.
      Ella hatte den Pakt abgelehnt um Chester den Schmerz ihres Dahinscheidens zu ersparen, als sie die Funktion der verfluchten Taschenuhr begriffen hatten. Wenn sie manchmal in seine Augen sah, ahnte die alte Dame, dass ihr Plan nicht ganz aufgegangen war.
      Seufzend schloss Ella die Tür und sperrte die Kälte aus.

      ______________________________________________________________

      Orientierungslos schreckte Tessa aus ihrem unruhigen Schlaf auf. Eine eiskalte Panik stieg in der Dieben auf, da sie weder ihre Arme noch ihre Beine bewegen konnte. Sie konnte die Gliedmaßen kaum ein paar Zentimeter bewegen, so sehr waren die Arme an ihre Seiten gepinnt. Prüfend beugte Tessa die Zehen und fühlte pure Erleichterung, als sie feststellte, dass sie jeden Einzelnen noch spüren konnte. Der Erleichterung folgte schnell ein neuer, panischer Schub. Sie konnte sich nicht bewegen. Warum war sie gefesselt? Hatte die Miliz sie in ihrem Dämmerschlaf und kurz vorm Erfrieren doch noch von der Straße aufgeklaubt und in das nächstbeste Loch geworfen.
      Tessa wimmerte und versuchte ihre Augen zu öffnen, deren Lider ihr einfach nicht gehorchen wollten. Sie strampelte ein wenig mit Füßen bis sich einen winzigen Freiraum erkämpft hatte, doch es war ein mühevolles Unterfangen, weil ihr Körper sich überwiegend unerträglich taub und steif anfühlte. Die kleinste Bewegung kostete mehrere Versuch als hätte ihr Körper vergessen, die Signale des Gehirns richtig zu verstehen. Alles passierte in Zeitlupengeschwindigkeit bis Tessa bemerkte, dass ihre Zehen, die nun aus den Decken hervorlugten, nicht eisigkalt waren.
      Das Mädchen erstarrte.
      Decken? Einen Augenblick lang atmete Tessa in die vollkommene Stille des Raumes, der zur ihrer Verwunderung angenehm warm war. Hier wurde geheizt und das nicht zu knapp. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass die Miliz wert auf beheizte Zellen legte. Energisch bemühte sich Tessa nun ihren Körper wieder zur Kooperation zu zwingen und schaffte es langsam zu blinzeln. Träge öffneten sich ihre Augen nur um sich gleich wieder zu schließen. So schwach hatte sich Theresa seit einer langen Zeit nicht mehr gefühlt. Hilflosigkeit machte ihr Angst, vor allem dann, wenn sie sich nicht bewegen konnte. Mühselig kämpfte sich zuerst eine Schulter, dann ein Ellbogen gefolgt von seiner Hand aus dem Decken-Kokon. Tessa strich sich mit den zittrigen Fingerspitzen über die verklebten Augen bis sie endlich einen verschwommenen Blick auf ihre Umgebung werfen konnte.
      Das war keine Zelle. Es war ein Zelt.
      Sanft flackerndes Licht eines Kaminfeuer fiel durch den geöffneten Eingang und gab den Blick auf ein gemütlich wenn auch etwas pompös eingerichtetes Wohnzimmer frei. Das hatte sie schonmal irgendwo gesehen. Tessa ließ den Blick zu ihrem befreiten Arm fallen, der in einem wunderbar warmen Pulloverärmel steckte. Verwirrt neigte sie Kinn und fühlte die weiche Wolle unter ihrer Wange. Keine kratzige, abgetragen Leinen sondern echte Wolle. Sowas besaß sie nicht, also wem gehörte der Pullover. Ein angenehmer Duft nach gebrannten Mandeln und etwas Herberem, dass sie nicht benennen konnte, stieg ihr in die Nase. Sie kannte diesen Geruch. Kraftlos stützte sich Tessa auf dem Ellbogen auf und verstand nun auch, warum ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Jemand hatte sie fürsorglich und eng in mehrere Decken gehüllt und sogar die Enden unter ihren Körper gesteckt, wie man es bei kleinen Kindern machte. Während ihr Blickfeld sekündlich ein wenig mehr aufklarte, erkannte sie auch das große Bett, in dem sie lag. Es war so riesig, dass das armselige Schlaflager im Diebesversteck gut zehnmal hineingepasst hätten. Üppige Kopfkissen, vermutlich gefüllt mit weichen Daunenfedern, stützten bequem ihren pochenden Schädel. Sie konnte sich nicht entsinnen jemals in einem so luxuriösen Bett geschlafen zu haben. Die Matratze war genau richtig, nicht zu weich und nicht zu hart. In der dicken Daunendecke versank die schmächtige junge Frau beinahe vollständig.
      Ihr Erwachen schien nicht unbemerkt geblieben zu sein. In Tessas Augenwinkel rührte sich ein hochgewachsener Schatten, der im Eingang zu dem fremden Schlafbereich, Zimmer mochte sie es nicht nennen, unschlüssig herumlungerte. Unter anderen Umständen hätte Tessa in Alarmbereitschaft nach ihrem rostigen Taschenmesser gegriffen und wäre in die hinterste Ecke abgerückt. Da ihre Glieder aber kaum dem winzigsten Befehl ihres Hirns gehorchten, blieb es bei dem Vorhaben sich so nah wie möglich mit dem Rücken in den Kissenberg zu drücken bis das Kopfende des Bettes ihren bescheidenen Fluchtversuch stoppte. Die plötzliche Bewegung versetzte die Welt um die Diebin herum in eine sich stetig drehende Karussellfahrt. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen und kämpfte gegen den Schwindel in ihrem Kopf. Der eigene Herzschlag pochte und rauschte in ihren Ohren. Erst als das Licht aus dem knisternden Kamin seinen Schein im genau richtigen Winkel auf den Mann warf, erkannte Theresa sein Gesicht. Blassblaue Augen, die anstatt eines spitzbübischen Funkelns große Besorgnis in sich trugen. Die dazu passenden Sorgenfalten gruben sich in das markante Gesicht und die Haltung wirkte ungewohnt zögerlich. Wartend.
      Chester.
      Es war sein Gesicht, dass den Nebel der Ahnungslosigkeit aus ihrem Gedächtnis fegte.
      Der Einbruch. Der Streit mit Jacob. Die waghalsige Flucht über die Feuerleiter. Der Schuss.
      Tessa zuckte körperlich dermaßen stark zusammen, dass ihr Bewegung das Teeservice auf dem kleinen Beistelltisch zum klirren brachte. Erinnerungsfragmente setzten sich in ihrem Verstand zu einem Bild des Grauens zusammen. Da war Blut gewesen. So viel Blut und Rosies leblosem Körper. Eine rote Pfütze, die sich stetig weiter zu einer großen Lache ausgebreitete. Sie erinnerte sich daran, dass Jacob sie angeschrien hatte. So wütend hatte sie den Jungen noch nie erlebt. Er war vollkommen außer sich gewesen und Tessa war im Schock seiner simplen Anweisung gefolgt.
      "Das ist deine Schuld! Haut ab! Verpiss dich und komm nicht wieder!"
      Die Zeit allein auf der Straße begleitet vom erbarmungslosen Wintereinbruch war ein einziger Wirbel aus grauen Farbtönen und dumpfen Stadtlärm. Bis sie aufgestanden war und sich den Weg bis vor die Tore des Zirkus gekämpft hatte. Sie erinnerte sich an Ella, an die vielen fremden Gesichter und an Chesters Stimme, die durch die Schwärze zu ihr durchgedrungen war. Sanfte, leise Worte, deren Bedeutung sie längst vergessen und vielleicht nie wirklich verstanden hatte. Nur der Klang seiner Stimme war geblieben, warm und tröstlich, der über ihre Haut gestreichelt hatte und eine unendliche Wärme, die sie vor der harschen Kälte abgeschirmt hatte.
      Die Erinnerung, die sich wie ein Spiegel vor ihr zusammensetzte und das Ausmaß ihres Zögerns und ihrer Gedankenlosigkeit reflektierte, zersplitterte als Chester den ersten Schritt auf das Bett zumachte in abertausende von winzigen Scherben. Sie spürte jede einzelne davon. Die Erschöpfung, der Schock und die Angst waren eine zu große Last für die schmalen Schultern. Tessas Gedankenwelt stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen und bevor der erste Laut ihre Lippen verließ, kullerten dicke und heiße Tränen über ihre Wangen.
      "Es ist alles meine Schuld...", würgte sie brüchig hervor.
      Immer und immer wieder.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Chester war knapp davor wegzudösen und schreckte dann wieder hoch, ein ewig währender Kreislauf, dem er sich einfach nicht entziehen konnte, als er sich nach einer Weile endlich mal entspannt hatte. Wie Ella vorhergesagt hatte, schlief Tessa die ganze Zeit und wenn sie sich doch mal bewegte, was ihren derzeitigen Beschützer augenblicklich hochfahren ließ, war es nur, weil sie sich in ihrem Kokon aus Decken wand und manchmal das Gesicht dabei verzog. Vielleicht träumte sie, dachte er bei sich, wenn er die oberste Decke wieder ordentlich zurecht zupfte und dann einen Moment länger blieb, um abzuwarten, ob sie nicht doch aufwachte. Aber wenn sie es versucht hatte, verlor sie jedes Mal den Kampf und fiel zurück in ihren tiefen Schlummer mit Träumen, die er nur dunkel erahnen konnte. Vielleicht waren es Fieberträume. Ella würde ihm sicher sagen, dass er sich nicht so viele Sorgen machen müsste, wenn sie nur sehen würde, wie oft er Tessas Stirn befühlte.
      Letztlich zog er aber doch immer wieder ab, legte sich zurück auf seine Couch, ohne Decke und ohne Kissen, und streckte einen Arm unter seinen Kopf. Dass er so geräuschlos wie nur möglich lag, um Tessa auch zu hören, sorgte nicht minder dafür, dass er irgendwann doch abdriftete - nur, damit sich das Spiel dann von Neuem wiederholte. Aber Chester war geduldig, er hatte Zeit, er konnte warten. Er hatte sogar alle Zeit der Welt.
      Beim etlichsten Mal Augen aufreißen, an die Decke starren und nach Geräuschen lauschen, hörte er diesmal mehr als noch davor, ein ganz feines, leichtes Rascheln und ein hohes, ängstliches Wimmern, das beinahe unter dem Geräusch von raschelnden Federn untergegangen wäre. Sofort schlug sein Puls in die Höhe, als er mit solchem Elan aufsprang, dass er fast wieder gefallen wäre. Tessa war wach! Für viele Sekunden erfüllte ihn das mit einer derart großen Erleichterung und Freude, dass er es kaum wagte, sich selbst enttäuschen zu lassen. Aber den beständigen Geräuschen nach zu schließen musste sie wach sein und er würde sie keine einzige Sekunde lang alleine lassen, bis er nicht wusste, ob es ihr gut ging.
      Vorsichtig schlich er damit zum Durchgang seines Schlafzimmers und lugte hinein, gerade so weit, dass er die schmächtige, unter den vielen Decken begrabene Gestalt ausmachen konnte, die jetzt angefangen hatte, ihre Gliedmaßen befreien zu wollen. Sie musste noch schwach sein, so sehr, wie sie sich für das Bettzeug anstrengen musste, aber kaum, als ihr Blick auf ihn fiel, erstarrte sie. Chester konnte gerade genug in dem leichten Dämmerlicht erkennen, um den verängstigten, gehetzten Ausdruck zu sehen, der über Tessas ausgemergeltes Gesicht huschte und sie vereinnahmte, der Ausdruck puren Grauens, als sie Chester wohl zu etwas zu machen schien, das ihren schlimmsten Albträumen entsprach. Das war auch der einzige Grund, weshalb er nicht schon längst zu ihr gegangen war, wie er es die letzten Mal getan hatte, nur um ihr nicht zu nahe zu treten. Er wusste nicht, wie viel sie sich noch an das Geschehene erinnern konnte, aber ganz sicher würde sie nicht wissen, dass sie hier direkt bei ihm war. Damit musste Chester nun aber auch ertragen, in ihrer Verwirrung zu einer Albtraumgestalt verformt zu werden.
      Hey…”, versuchte er sanft, ein warmes, ruhiges Lächeln aufs Gesicht zaubernd. Die junge Frau sah so aus, als wolle sie nach hinten ausbrechen, wäre da nicht das Bett gewesen, das sie unmittelbar daran hinderte - und wahrscheinlich die viel zu schweren Decken. Prompt erkannte Chester, dass es wohl ein Fehler war, Tessa ihren einzigen Fluchtweg aus diesem Zimmer so offensichtlich abzuschneiden. Sein scheues, ängstliches Reh brauchte schließlich die Versicherung, dass es einen Ausweg gab, um sich selbst sicherer zu fühlen.
      Gleichzeitig konnte er aber auch nicht einfach wieder gehen, ohne noch einmal nach ihr gesehen zu haben.
      Ich bin’s nur, Chester. Darf ich zu dir kommen?
      Die großen Augen blinzelten ihn an, viele Male. Sie schien ihn nicht richtig verstanden zu haben, zumindest gab sie keine Antwort auf seine Worte, aber dann zuckte sie so plötzlich zusammen, dass die Sorge in Chester gleich wieder in neue Wellen aufbrach. Hatte sie Schmerzen? Hatte sie sich doch verletzt? War es das Fieber? Etwas gebrochen? Er unternahm einen großen Schritt in ihre Richtung, bevor er wieder stehenblieb, sich selbst dazu zwang, sein liebes Reh nicht zu verschrecken. Aber da huschte ein neuer Ausdruck über Tessas Gesicht, so etwas wie Erkenntnis, Schrecken und ihre Augen weiteten sich noch viel mehr, bis sie ihn erschüttert ansah, ohne Chester selbst zu sehen. Er war nur zufällig im gleichen Bild, das ihr jetzt durch den Kopf huschte und binnen einer Sekunde ihre Augen zum Glitzern brachte. Es war aber nicht annähernd das Glitzern, das ihre Züge erhellt hätte, es war eine große, funkelnde Träne, die sich aus ihrem Augenwinkel löste und damit den Damm brach. Chester spürte sein Herz aussetzen, als Tessas ganzes Gesicht sich verzog und sie herzzerreißend zu weinen begann, so schnell, dass Chester noch nicht einmal bei ihr sein konnte, bevor die ersten Tränen aufs Bett fielen.
      Tessa, oh, nicht doch, hey…
      “Es ist alles meine Schuld…”, brach ihre zitternde Stimme hervor, als Chester schon bei ihr war, sich auf die Bettkante setzte und sie schnell in seine Arme zog. Sie leistete keinerlei Widerstand, als er ihren zerbrechlich anmutenden Körper an seine Brust zog und beide Arme um sie schloss, um sie fest an sich zu drücken. Wenn überhaupt, weinte sie jetzt umso mehr und feuchte Tränen drückten sich durch sein Hemd hindurch. Vor Mitleid nur so zerrissen, hielt er sie an sich, zog ihre Decken nach, damit sie nicht ganz ohne war, und strich ihr behutsam über den Kopf.
      Alles ist in Ordnung, alles in Ordnung…
      “Es ist alles meine Schuld…”
      Nein, schhh… nichts davon ist deine Schuld, sag das nicht… sch, sch, sch…
      Sachte wog er sie hin und her, ganz langsam, während Tessa sich weiter in ihn krallte. Es war in Ordnung, es war vielleicht sogar gut, gut, dass sie stark genug war, um so viel weinen zu können. Schlecht, weil Chester mit allen Mitteln versuchte, ihr zerbrechendes Herz zu heilen und einfach keinen Erfolg erzielte.
      Meine arme Tessa… ganz ruhig…
      So wie er saß, konnte er kaum Tessa ganz in die Arme ziehen, wie er es eigentlich gewollt hätte, aber es reichte aus, dass er ihr den Schutz seines Oberkörpers bot, an dem sie sich verstecken konnte, während die Tränen über ihr Gesicht fielen. Zärtlich wog er sie im langsamen Rhythmus, während er weiter leise Nichtigkeiten zu ihr flüsterte.
      Alles ist gut… du bist hier sicher, es ist nichts passiert… schhh…
    • Tessa drückte, in dem verzweifelten Versuch die unaufhörliche Flut von Tränen zu stoppen, die Handballen gegen die brennenden Augen. Dennoch kullerte Träne um Träne über ihre geröteten Wangen und hüllte das Zelt und Chester in einen trüben Schleier. Tessa hörte die bestürzte aber sanfte Stimme des Mannes, der sich nun hastig dem Bett näherte, doch sie verstand die Bedeutung der Worte nicht. Ein herzzerreißendes Schluchzen erfüllte die Luft als sich Arme beschützend um ihre Schultern legten, die durch das Aufschluchzen regelrecht durchgeschüttelt wurden. Halbherzig versuchte Tessa sich aus der Umarmung zu lösen, die sie nicht verdient hatte. Sie drückte die flachen Hände gegen seine Brust. Unschlüssig, ob sie ihn ein Stückchen von sich schieben oder festhalten sollte. Der Gedanke, dass Chester seine Meinung ändern könnte und sie ihrer Trauer alleine überließ, versetzte das Mädchen in solche Panik, dass aus den flachen Händen schließlich kleine Fäuste wurden, deren Finger sich unnachgiebig in das Hemd krallten. Daraufhin schlangen sich die Arme nur fester um ihren erschöpften Körper, der wenige Sekunden später allen Widerstand, der kaum der Rede wert war, einstellte. Kraftlos sank das Mädchen gegen die Brust und drückte das verheulte Gesicht in die Wärme, die Chester ihr bot. Sie konnte sich später dafür schämen, dass sie vermutlich gerade eines seiner teuren Hemden ruinierte. Im Augenblick war er das Einzige in dieser Welt, was ihr einen Halt bot.
      Nein, schhh… nichts davon ist deine Schuld, sag das nicht… sch, sch, sch…
      Halb erbost und halb verzweifelt schüttelte die Diebin vehement den Kopf an seiner Brust. Sie hatte noch nicht begriffen, dass Chester nicht verstand, wovon sie sprach. Tessa öffnete zum Protest den Mund, doch außer einem zittrigen Atemzug kam nichts über ihre Lippen. Frustriert schluckte sie ein weiteres Schluchzen herunter, was in einem Ganzkörperzucken endete und bis sie sich in Chesters Armen beinahe vollständig verkrampfte. Das Mädchen schnappte nach Luft und spürte neue Tränen über ihre Wangen laufen.
      Das stetige Flüstern an ihrem Ohr begleitete Tessa durch eine neue Welle der Trauer und Wut. Die streichelnde Hand auf ihrem zerzausten Haarschopf und die wiegende Bewegung, die sie gar nicht richtig registrierte, verfehlte seine Wirkung nicht. Tessa beruhigte sich, atmete stockend ein und aus im Rhythmus eines Herzschlages der tröstlich an ihrem Ohr pochte.
      Alles ist gut… du bist hier sicher, es ist nichts passiert… schhh…
      "Doch", stolperte es fast trotzig über ihre Lippen. "Doch, ist es."
      Die verkrampften Finger lösten sich allmählich und die Diebin, die sich nichts mehr wünschte als das alles wieder gut wurde, führte die Arme zögerlich um Chester herum und vergrub die Finger zwischen seinen Schulterblättern ein weiteres Mal im Stoff seines Hemdes. Dafür musste sich Tessa in der verdrehten Haltung sogar etwas anstrengen und ließ sich von der tröstlichen Nähe vollkommen einhüllen, während Chester seine hochgewachsene Gestalt um sie krümmte und wie ein atmendes Schutzschild die kalte Winternacht aussperrte. Tessa störte sich nicht daran, dass sich ihre Nase unangenehm in sein Brustbein drückte, stattdessen verstärkte sich der klammernde Griff ihrer Finger in seinem Rücken.
      "Wir hätten...wir hätten niemals dies..diesen dämlichen Auftrag a..annehmen dürfen", presste sie die gedämpften Worte gegen seinen Brustkorb hervor. Sie murmelte undeutlich weiter. "...ungutes Gefühl...von Anfang an...dieser Streit und Rosie...Oh Gott. Rosie."
      Kaum hatte Tessa den Namen ausgesprochen, erbebte sie erneut in Chesters Armen.
      "Da war dieser Schuss und das viele Blut...so, so viel Blut."
      Die Erinnerung schnürte ihr die Kehle zu.
      "Sie ist tot und das ist alles meine Schuld."
      Tessa schluchzte und erschauderte, als hätte sich das Schneegestöber ins Zelt verlagert. Sie drückte ihre Stirn gegen seine Brust damit sie nicht aufsah und den vorwurfsvollen Ausdruck in seinen Augen sehen musste.
      "Es tut mir leid. Ich wollte dir keine Mühe bereiten oder euch zur Last fallen, aber ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ich hab' mich so geschämt. Jacob hasst mich, ich hab' dich enttschäuscht und Rosie...Rosie...meine Rosie."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Zutiefst mitfühlend musste Chester mit ansehen, wie Welle um Welle über Tessa hereinschwappte und neue Tränen aus ihren Augen drückte, kaum als sie mal ruhig genug wurde, um nicht gar so sehr zu zittern und abgehackt nach Luft schnappen konnte. Was auch immer sich in den letzten Tagen zugetragen hatte, es war doch schlimmer, als er es sich ausgemalt hatte. Er hatte damit gerechnet, dass die junge Frau verwirrt, sehr wahrscheinlich sogar verängstigt und entsetzt sein würde, aber selbst jetzt, als sie erkannt haben musste, dass sie in der Sicherheit seines Zeltes war, konnte sie sich noch immer nicht beruhigen. Sie weinte und weinte und Chester wurde immer hilfloser dabei, sie irgendwie trösten zu wollen. So wie sie sich in sein Hemd krallte, als könnte sie fallen, wenn sie auch nur ein bisschen losließ, war er sich sicher, dass seine Anwesenheit essentiell war, aber wieso konnte sie dann nicht aufhören? Sie war noch längst nicht fit genug, um eine derartige Wucht an Gefühlen auszuhalten und er fürchtete sich schon davor, dass es irgendwelche Auswirkungen haben könnte. Ihr unterernährter Körper sollte nicht noch mehr Wasser verlieren, als er eh schon hatte.
      Daher bemühte er sich nach allen Kräften, sie so fest zu halten wie er nur konnte und seine Stimme ganz weich und behutsam klingen zu lassen, auch wenn er sich selbst alles andere als so fühlte. Tatsächlich war es auch eben jene, oder eher die Worte dessen, die Tessa ein bisschen aus dem Kreislauf ihrer Tränen holte, wenngleich vorerst nur so kurz, um einzelne Wörter herauszupressen. Selbst inmitten ihrer Verzweiflung brachte sie noch die Kraft auf, Chester zu widersprechen, was der mit einem kurzen Stirnrunzeln bekannte. Die schüchterne Tessa und Trotz? Das war nichts, was er bisher zusammengebracht hätte, aber ihm gefiel dieses neue Bild, das sie damit vor seinem inneren Auge von sich schaffte.
      Jetzt schob sie auch schwerfällig die Arme um seinen Leib und Chester erwiderte die Geste nur allzu willig, streichelte ihr über den Rücken und zog auch gleich die Decken nach, als er merkte, dass sie sich weiter gelöst hatten. Und dann, endlich, zwang sie die ersten Worte hervor, von Tränen erstickt und abgedämpft an seiner Brust. Geduldig streichelte er sie weiter und schwieg, gab ihr alle Zeit der Welt, um mit heiserer Stimme Worte zu formen. Nur als sie Rosie erwähnte, eine ihrer beiden Freunde, und dabei erschauderte, machte er leise wieder sein "Schh", bis sie sich erneut gefangen hatte und Fetzen der letzten Tage hervor presste.
      Sie hatte Blut gesehen. Rosie war gestorben und Tessa hatte es womöglich miterlebt. Natürlich erinnerte Chester sich noch genau an die grauenvolle Geschichte, die Malia mit nachhause gebracht hatte, aber er hatte nicht so weit gedacht, dass es Tessas Freunde erwischt hatte, so sehr war er bei der Vorstellung hängen geblieben, dass Tessa diejenige war, die tot war. Jetzt war sie hier, unversehrt, aber es gab noch zwei andere Schicksale, die damit auf ihre beiden anderen Freunde fielen.
      Sie hatte ihre Freundin verloren. Wie sehr er doch mit ihr fühlen konnte, dabei wünschte er sich mit all seinen Mitteln, dass er ihr diesen Schmerz irgendwie nehmen könnte.
      Als sie mit dem Namen ihrer Freundin drohte, wieder zurück in ihre unendliche Trauer zu fallen, die er diesmal als durchaus angemessen empfand, hielt er sich doch nicht mehr zurück.
      "Oh Liebes, nicht doch, meine ärmste... wurde sie etwa erschossen, deine Rosie? Nicht doch, hey... es tut mir ja so leid..."
      Er bettete den Kopf sanft auf dem ihren in einer Umarmung, die er so tröstend hielt, wie es ihm möglich war. Seine arme, arme Tessa, gerademal 24 und schon den ersten Verlust erlitten - wenn es nicht vorher schon längst geschehen war. Seine Brust schmerzte bei dem Gedanken und er versuchte, die junge Frau mit seiner Anwesenheit alleine vom Rest der Welt abzuschirmen.
      "Komm her..."
      Entgegen seiner Aussage löste er einen Arm von Tessa, um sich ein Stück weit aufzusetzen, sich dabei fließend umzudrehen und sich mit Tessa nun zurück an das Kopfende zu lehnen. Er hielt die junge Frau noch immer an seiner Brust, sie hätte wohl auch selbst nicht so schnell losgelassen, aber jetzt konnte er sie in eine halb liegende Position bringen, wo er zumindest wieder die Decken ordentlich bis zu ihren Schultern ziehen und sie immernoch in den Armen halten konnte. So vergraben in seinem viel zu großen Bett wirkte es viel eher, als könne sie sich vor allem und jedem verstecken. Sogar vor Chester, der sich nichts daraus machte, dass sie ihr Gesicht noch immer an seine Brust drückte.
      "Ich bin mir sicher, dass dich keine Schuld trifft...", begann er leise, noch immer so behutsam, wie nur möglich. "Du hast schließlich auch nicht auf sie geschossen, oder? Ah -" Er lächelte ganz kurz, als da wieder der Trotz hervorzubrechen drohte, der sie schon vorhin übermannt hatte. Seine schüchterne Tessa und doch so widerstandsfähig.
      "Du hast nicht auf sie geschossen, kein Aber. Es ist nicht deine Schuld. Konntest du fliehen?"
      Vorsichtig, ganz vorsichtig versuchte er, ihr die Details einer ganzen Geschichte zu entlocken, die er jetzt schon von der anderen Seite kannte. Sie sollte ihr Trauma verarbeiten, solange es noch so frisch war und bevor es anfangen könnte, Narben zu werfen.
      "Was war das für ein Auftrag?"