Clockwork Curse [Codren & Winterhauch]

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    • Mein Beileid? Tessa stolperte über die höfliche Beileidsbekundung und fragte sich, ob Chester glaubte, dass ihre Familie tot war. Wenn sie recht darüber nachdachte, hatte sie sich bei der Antwort etwas wage ausgedrückt. Ein schmales Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Kopfschüttelnd drehte sich Theresa wieder zu ihm herum und in ihren Augen spiegelte sich keine Trauer oder gar Bedauern. Es war nicht der Blick einer Frau, die ihre Familie auf tragische Weise verloren oder die eine rührselige Geschichte zu erzählen hatte. Der Ausdruck in den wachen, blassgrünen Augen glich am ehesten einer Form von Akzeptanz.
      "Manchmal...", antwortete Tessa. "...aber ich habe mich schon allein zurecht gefunden, da waren meine Eltern noch da. Meine Mutter pflegte immer zusagen: Tess, Liebling, die Welt schenkt dir nichts, also musst du es dir nehmen. Vermutlich hat diese Lebenseinstellung letztendlich dafür gesorgt, dass die Betrügereien und Diebstähle irgendwann aufgeflogen sind. Sie wusste nie, wann es genug war."
      Tessa machte eine kleine Pause.
      Es war seltsam, dass Chester ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte als wäre sie zwischen all den bunten Vergnügungen, die der Zirkus zu bieten hatte, das einzig wirklich Bedeutsame. Tessa müsste lügen, wenn sie an dieser Stelle behaupten würde, dass sein Interesse ihr nicht gefiel. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass Chester in ihrer zerlumpten Erscheinung überhaupt aufgefallen war. Genug, um sich die weiße Lilie zu verdienen. Rosie hatte recht. Es war naiv und leichtsinnig.
      Trotzdem umgab den Mann eine Aura, die sie förmlich dazu einlud, ihm diese privaten Dingen zu erzählen.
      "Meine Eltern, eigentlich meine ganze Familie, sitzt seit Jahren im Gefängnis. Ich bin der Miliz entwischt, als sie niemand hingesehen hat", gab sie zu und räumte damit einen vielleicht falschen Verdacht aus. "Unsere Familienbande waren nie sehr stark. Meine Mutter hat mich schon für ihre kleinen Betrugsmaschen eingesetzt, da konnte ich kaum laufen. Ein weinendes Kind ist ein perfekter Publikumsmagnet."
      Tessa redete darüber, als würde sie über etwas belangloses wie das Wetter sprechen.
      Es war nicht die fehlende Zuneigung ihrer Familie oder die Verantwortungslosigkeit ihrer Mutter, die sie nachts nichts schlafen ließen. Tessa war nie ein sorgloses Kind gewesen, das im Sandkasten spielte oder mit großen Kulleraugen um Süßigkeiten bettelte. Es waren die Ereignisse, die danach kamen, die alles veränderten.
      Chester lächelte.
      Das Lächeln könnte fast als unscheinbar bezeichnet werden. Es war ein sanftes Heben seiner Mundwinkel begleitet von den ersten flüchtigen Spuren der Lachfältchen um seinen Mund und in den Augenwinkeln. Sah sie nur kurz weg, bestand die Gefahr es zu verpassen. Also sah die Diebin hin und spürte, wie sich die angedrohten Gewitterwolken über ihrem Kopf verzogen.
      Chester neigte den Kopf. Eine winzige Bewegung, die Tessa überdeutlich wahrnahm.
      "Kommen daher die Narben? Von deinem Leben auf der Straße?"
      Reflexartig berührte Tessa die hauchdünne Narbe unter ihrem rechten Auge. Ihre Haut schien unter dem forschenden Blick seiner blauen Augen zu prickeln, während er die blassrosa Linien in ihrem Gesicht betrachtete. Mit dem Daumen fuhr sie unter ihrem Auge entlang.
      Sie nickte.
      "Nicht jeder Bestohlene schlägt der erwischten Diebin einen freundlichen Deal vor, Chester. Eigentlich...warte ich immer noch auf den Haken. Meine Freunde sind der Meinung, ich sollte nicht her kommen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Die Welt schenkt dir nichts.
      Der Satz traf Chester so unvorbereitet, dass er mehrmals blinzeln musste, um die Maske aufrecht zu erhalten, mit der er sein perfektes Lächeln zauberte. Nein, die Welt schenkt dir wahrlich garnichts, aber während Leute wie Theresa sich nahmen, um über die Runden zu kommen, nahm er sich etwas anderes. Etwas ganz und gar anderes.
      Er hätte dazu etwas sagen können, eine Weisheit aus seinem viel zu langen Leben mitteilen, mit dem er Theresas Mutter ergänzt hätte, aber der Schock über diese unverblühmte Information saß noch zu tief, als dass er es riskieren würde, dass seine Maske noch Risse bekam. Also lächelte er stattdessen sanftmütig und ließ seine Augen in genau der richtigen Weise funkeln.
      Götter sei Dank für diesen Blick oder vielleicht auch für seine Nähe, die er sich zu Theresa aufgebaut hatte, verfolgte sie dieses spezielle Thema nicht weiter, sondern ging zu weitaus bekannteren Gefilden über. Sie erzählte ihm etwas über ihre Familie und das war nun wirklich etwas, mit dem er sich auskannte, die "Liebe" zur Familie und oh, es ist doch so schlimm, wenn man seine Familie nicht sehen kann.
      "Es ist doch schlimm, wenn man seine Familie nicht sehen kann, nicht wahr?"
      Vermutlich aber nicht ganz so schlimm, wenn man von der Mutter als Baby schon als Lockmittel ausgenutzt wurde.
      Jetzt wo Chester so darüber nachdachte, während Theresa ihm beichtete, ihre Narben durch ihre Lebensweise erhalten zu haben, fiel ihm aber auch auf, dass sie gar nicht wie jemand aussah, dessen Familie im Gefängnis saß und dessen Mutter zweifelhafte Weisheiten für ein Kind von sich ließ. Eigentlich sah sie nichtmal ansatzweise danach aus - sie sah aber nach jemanden aus, der sich nahm, was er bekommen konnte, weil er nicht hatte, was er haben musste. Nur stand das im direkten Gegenzug zueinander, denn die einen überlebten kaum lange genug, um so alt zu werden wie die anderen.
      Wie war das Leben auf der Straße, heutzutage? War es vergleichbar mit dem vor 80 Jahren? Damals lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 30, für Frauen ein bisschen darunter. Theresa war mit ihren 24 Jahren knapp davor, in die Endstadien ihres Lebens einzutreten.
      Außer Chester wusste es zu verhindern.
      Einer Eingebung folgend, die sich aus diesem Gedanken erhob, ignorierte er Theresas halbherzige Äußerung über ihr Misstrauen und lehnte sich stattdessen ein bisschen zu ihr, um die Narbe zu betrachten. Sie war eigentlich ganz schön, wie er fand: Keine aufgebrochenen Ränder, keine ungesunden Aushärtungen, kein stechendes Rot, nur eine kleine, zierliche Narbe, die man schon fast auch als Pinselstrich hätte sehen können.
      Ab jetzt wurde es kniffelig, denn jetzt testete er Grenzen aus.
      "Darf ich?"
      Theresa wusste vermutlich gar nicht, was er meinte, gestattete es ihm aber trotzdem. Ein hauchdünner, kurzer Erfolg.
      Er lehnte sich weiter zu ihr und zwar von den Zehenspitzen, Beine gestreckt lassen, Oberkörper leicht neigen, groß bleiben, stolz bleiben, Größe ausspielen und - langsam. Langsam. Langsam.
      Er hob die Hand an, in Zeitlupe gleich, täuschte mitten auf dem Weg Zögerlichkeit vor, ließ Theresa von falschen Schwächen wissen, die er gar nicht besaß. Langsam.
      Er hob seine Hand zu ihrem Gesicht und legte ihr ganz vorsichtig die Finger an die Wange. Langsam, langsam - zögern! Blinzeln.
      Er blinzelte, hob dann den Daumen und strich ganz behutsam, ganz fein über das obere Ende der Narbe, erfühlte den Unterschied zwischen rauer und weicher Haut, ließ sich Zeit mit der Berührung, denn wirklich, um die Narbe ging es gar nicht. Er tat es zweimal, währenddessen wie in Gedanken versunken und dann
      Augen!
      sprang sein Blick herab und setzte sich zielgerichtet auf Theresas Augen fest, in seinem Blick die Geschichte von Gedanken, die es überhaupt nicht gab. Was tat er hier bloß, er konnte doch nicht soweit gehen eine fremde Frau zu berühren, was hatte er sich nur dabei gedacht, er sollte sich schämen, so behandelte man doch keine Frau!
      Halten, 1... 2...
      Seine Augen weiteten sich nur minimal, dann täuschte er vor, dass er seine Gedanken wiedergefunden hätte und zog sich von ihr zurück.
      Halten! Halten!
      Sein Blick blieb auf ihrem haften, so lange, bis er zurück in seiner ursprünglichen Position war und zu den Elefanten sehen konnte, als wäre er plötzlich selbst froh darum, diese Ablenkung direkt neben sich zu haben. In Wahrheit gab er Theresa die Zeit und die Privatsphäre, die Grenze neu auszurichten.
      "Wie unhöflich von mir! Entschuldige. Das ist allerdings eine sehr hübsche Narbe, die du dort trägst."
      Wieder ein Blick, ein Lächeln und Chester konnte seinen Erfolg in ganzen Zügen feiern.
      "Was hattest du gesagt? Ein Haken? Wie kommst du darauf, dass es einen Haken geben könnte?"
    • Das verständnisvolle Lächeln bröckelte für keine Sekunde, trotzdem brachte etwas Chester aus dem Konzept. Irgendetwas an dem Gesagten hatte ihn wirklich überrascht. Tessa bemerkte das wiederholte und rasche Blinzeln, während seine übrige Mimik unverändert blieb. Der Moment verstrich binnen eines Sekundenbruchteils. Ein ungeübtes Auge hätte die winzige Erschütterung in seinem Blick niemals bemerkt, doch Tessa war eine ausgezeichnete Beobachterin. Eine mangelnde Bildung hatte das Mädchen dazu gezwungen, andere nützliche Talente zu entwickeln um in der Welt nicht verloren zu gehen. Das gründliche Studieren von Gewohnheiten war ebenso wichtig für die erfolgreiche Laufbahn als Taschendieb wie geschickte, flinke Finger. Ein wenig neigte Tessa den Kopf zur Seite als müsste sie sein Gesicht aus einem neuen Blickwinkel betrachten, aber der Moment schien vorüber oder Einbildung gewesesen zu sein.
      "Es ist doch schlimm, wenn man seine Familie nicht sehen kann, nicht wahr?"
      Theresa blinzelte verwirrt und ihre Antwort blieb eher verhalten.
      "Eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob ich meine Familie überhaupt wiedersehen will", antwortete sie irritiert. "Sie haben sich auch nicht bemüht mich zu finden, falls sie in der Zwischenzeit entlassen worden sein. Ich..."
      Die Irritation wuchs weiter an.
      Abgelenkt von den zierlichen, erhabenen Narben rückten die Worte in den Hintergrund. Chester beugte sich hinab und Tessa zog die Schultern unbewusst ein winziges Stückchen zurück. Die Bewegung erkaufte der Diebin ein paar lächerliche Millimeter, als ihr gesamter Oberkörper dem Zug ihrer Schultermuskeln folgte. Gleichzeitig hob Tessa das Kinn etwas an, damit sie ihn im Auge behalten konnte.
      "Darf ich?"
      Argwöhnisch zog Tessa die Augenbrauen zusammen bis sich zarte Fältchen über der Nasenwurzel kräuselten. Eigentlich wusste sie gar nicht, worauf Chester eigentlich hinaus wollte. Bisher hatte er der heimatlosen Diebin keinerlei Gründe geliefert, etwas Bösartiges hinter seinem Verhalten zu vermuten. Tessa überlegte lange und angestrengt, für Was er ihre Zustimmung benötigte. Die Neugierde kippte die Waage letzendlich zu zugunsten von Chester und sie nickte zurückhaltend. Ihr Körper war stocksteif.
      Anspannung knisterte zwischen ihnen, als Chester zaghaft seine Fingerspitzen zur ihrem Gesicht führte und dabei mehrmals darüber nachdachte, sein Vorhaben abzubrechen. Seine Finger zuckten kurz vor der rosigen, glühenden Wange und Tessa hielt den Atem an.
      Das Herz, dieses verräterische Ding, schlug ihr bis zum Hals. Der Rhythmus ihres Herzschlages übertönte damit sämtliche Geräusche eines lebendigen Zirkus bis auf die Atemzüge des Mannes, der sie hauchzart berührte. Ihre Augenlider flatterten nervös als sein Daumen sanft über ihrem Wangenknochen ruhte, als könnte sie unter der Berührung zerspringen.
      Tessa sog scharf einen Atemzug ein, als sich ihre Lungen darin erinnerten, dass sie eine wichtige Aufgabe hatten.
      Hypnotisiert von der Intensität seiner blassblauen Augen, löste sich jeder Gedanke an Flucht in Luft auf. Chester ließ die Bedenken verschwinden, wie zuvor die Lilie. Tessa war an Ort und Stelle gefesselt, das Rauschen ihres eigenes Blutes in ihren Ohren.
      Scham huschte über seine Gesichtszüge und nach erneutem Zögern, zog Chester sich zurück. Unbewusst neigte Tessa den Kopf nach vorn, um der Berührung zu folgen, die sie aus unerfindlichen Gründen augenblicklich vermisste. Er zog sich aus ihrem persönlichen Raum zurück und nahm die Wärme mit sich.
      Sie blinzelte und sah, dass seine Aufmerkamkeit zu den Elefanten gewandert war. Die Händen an ihren Seiten zuckten, doch sie widerstand dem Bedürfnis den Pfad seiner Fingerspitzen nachzufühlen. Minuten vergingen bis das Chaos ihrer Gedanken aufklarte und sich ein gewisses Level von Neutralität wieder einstellte. Der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich.
      "Schon...", sie schluckte. Die Kehle war staubrocken. "Schon gut. Sie tun nicht mehr weh."
      Das Lächeln nahm Tessa die restliche Anspannung und allmählich lockerte sich die versteiften Muskeln in ihren Schultern.
      "Hübsch? Nicht die Beschreibung, die ich sonst zu hören bekommen", murmelte sie.
      Sie fühlte sich noch immer außer Atem und strich sich die rebellische Strähne erneut hinters Ohr.
      Dabei war eigentlich nichts passiert.
      "Es gibt immer einen Haken. Du hast gesagt wir sind quitt, aber das stimmt nicht. Jemand wie Du...", antwortete sie auf ihre unverblühmte, herrlich unpassend direkte Art und gestikulierte energisch mit den Händen zwischen ihnen hin und her. "...hilft jemandem wie mir üblicherweise nicht aus reinster Herzensgüte ohne etwas dafür zu verlangen. Die habe ich von dem letzten Kerl, der mir einen Gefallen getan hat."
      Tessa hob die Hand und tippte sich gegen die zweite Narbe, die ihre Augenbraue teilte.
      Sie sah ihn an, weder anklagend noch wütend. Sie sah ihn einfach nur an.
      "Was willst Du von mir, Chester?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Chester hatte genug Erfahrung damit, Menschen zu lesen. Zum einen seines etwas ungewöhnlich hohen Alters verschuldet, zum anderen aber auch, damit er wusste, welche Stringe er genau ziehen musste, um sein Ziel zu erreichen. Schließlich hatte er auf die harte Tour lernen müssen, was geschah, wenn er die Uhr nicht rechtzeitig fütterte.
      Aber ein Rest beruhte auch darauf zu erkennen, was die Menschen um ihn herum benötigten, auch wenn sie es nicht aussprechen mochten. Er konnte sehen, was ihnen guttat und was ihnen helfen mochte, weil er ihnen genau das bieten wollte. Immerhin war das Schicksal, das restliche Leben in einem Zirkus zu verbringen, für die wenigsten erstreblich, selbst jene, die sich ganz bewusst für die Arbeit entschieden. Das mindeste, was er da tun konnte, war für sie dazusein.
      Und Theresa, an ihr konnte er ablesen, dass sie nähebedürftig war und dass ihr eine Unsicherheit anhaftete, die ausschließlich von äußerer Einwirkung hervorgerufen wurde. Chester wettete, dass sie eine sehr reizvolle, lebensfrohe Frau sein könnte, wenn man sie nur aus ihren verschlissenen Klamotten holte und ihr einen Ort gab, wo sie aufblühen konnte.
      Diese Erkenntnis erleichterte ihn ungemein, denn es war immer einfacherer, wenn der Zirkus eine Verbesserung zur momentanen Lebenslage darstellte. Damit konnte er sein Gewissen etwas beruhigen.
      Er lehnte sich wieder an den Zaun, jetzt ein amüsiertes Schmunzeln im Gesicht. Für eine so junge Frau war Theresa erstaunlich scharfsinnig.
      "Jemand wie ich."
      Tatsächlich musste er sich eingestehen, dass er Spaß an diesem Gespräch hatte. Es war ihm bisher nicht passiert, dass eines seiner Ziele seinem wahren Grund innerhalb einer Stunde so nahe gekommen war.
      "Wer ist "jemand wie ich"? Und "jemand wie du"? Ich sehe hier nur zwei Personen, die sich in einem Zirkus unterhalten. Zugegeben, meine Haare sind lockiger als deine. Und ich habe sicherlich nicht so hübsche Augen."
      Grinsen, Kopf neigen, Theresas Reaktion genießen.
      "Aber ansonsten… meinst du vielleicht, dass ich im Zirkus arbeite und du nicht? Aber selbst das zählt nicht, immerhin ist es der Zirkus, der uns gerade verbindet. Du stehst genauso hier, wie ich hier stehe."
      Abwehrend und definitiv etwas theatralisch hob er dann die Hände.
      "Aber ich sehe schon, so leicht wirst du mich nicht von der Schippe lassen, nicht wahr? Dafür bist du viel zu scharfsinnig. Eine gerissene, junge Frau wie du hat mich sicher schon längst durchschaut."
      Er zwinkerte ihr zu.
      "Du hast mich also ertappt, ich bin nicht der unschuldige Direktor, für den du mich halten magst. Den Zirkus mache ich nur beruflich, wenn man das so sagen kann. In Wahrheit bin ich Sammler."
      Er ließ das Geständnis auf Theresa wirken, weil es eine vollkommene Wahrheit war. Nur der Rest war stellenweise wieder zweifelhaft.
      "Am liebsten sammle ich sehr kuriose, merkwürdige Gegenstände. Die Sorte, die mal verflucht wurde oder von der die Leute sagen, dass sie magisch ist. Alles, was ganz besonders ist. Aber daneben sammle ich auch Geschichten."
      Er machte eine ausladende Geste mit dem Arm, der die Gesamtheit des Zirkusses mit einschloss.
      "Immerhin ist das der perfekte Ort, um so viele Menschen kennenzulernen, wie du es dir gar nicht ausmalen kannst. An einer großen Stadt wie dieser, wenn wir unsere Premiere aufführen, kommen schonmal 500 Leute in die Manege und noch viel mehr, die über das Gelände laufen. Und das für die nächsten drei Wochen, jeder von ihnen jemand, den ich kennenlernen könnte. Natürlich kann ich nicht mit tausend Leuten so ausführlich plaudern wie mit dir, aber das möchte ich auch gar nicht. Ich möchte die Gelegenheit dazu haben. Die Gelegenheit, mich von ganz vielen, unterschiedlichen Geschichten unterhalten zu lassen."
      Damit war der erste Stein gelegt. Theresa musste sich nur dazu entscheiden, seiner Spur zu folgen.
      "Was ich also von dir will, meine liebe Theresa, ist genau das, was wir hier gerade tun. Ich möchte mich mit dir unterhalten und ich möchte deine Geschichte hören. Vielleicht möchte ich dich morgen auch zu einem Mittagessen entführen, wenn du mich lässt. Ich hätte dir ja ein Abendessen angeboten, aber meine Abende sind die nächsten Wochen ziemlich überfüllt, wie du dir vorstellen kannst. Das heißt ja aber nicht, dass wir es uns nicht auch mittags schön machen können."
      Sein Lächeln wurde fast fröhlich.
      "Würdest du mir das gestatten? Ich lade dich ein, ganz offiziell."
    • Tessa hatte ein gewaltiges Problem mit Komplimenten, das hauptsächlich darin bestand, dass sie eine absolute Niete darin war die liebgemeinten Worte überhaupt anzunehmen. Und Chester ließ keine Gelegenheit aus Vorzüge zu unterstreichen, die Tessa einfach nicht sehen konnte. Dabei beschränkte er sich nicht allein auf Oberflächlichkeiten. Er lobte ihre Aufmerksamkeit und hob hervor, dass er sie nicht für ein dummes Straßenmädchen hielt. Mit einem charmanten Lächeln und den offenherzigen Leuchten seiner Augen schaffte er es beinahe alle Gemeinheiten und Widrigkeiten, die das Leben Tessa jemals entgegen geschleudert hatte, zu entkräften. Die Skepsis der Diebin geriet ins Schwanken. Es war einfach nicht zu leugnen, dass der Zuspruch ein Balsam für ihr brüchiges Selbstbewusstsein war. Sie war nicht naiv genug, um zu glauben, dass sie die Erste war, die Chester nach allen Regeln der Kunst umgarnte. Tat er das? Sie umgarnen? Nachdenklich biss sich Tessa auf die Unterlippe. Und trotzdem...
      Tessa verfluchte sich dafür, dass ein es vollkommen ausreichte ihre für sie gewöhnlichen Augen als hübsch zu bezeichnen, um ihr ein verlegenes Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
      "In Wahrheit bin ich Sammler."
      "Ein Sammler?", wiederholte sie wenig eloquent und wusste dabei genau, dass sie ihn mit großen und wissbegierigen Augen ansah.
      Chester warf ihre Brotkrumen vor die Füße, denen Tessa bereitwillig folgte. Der Reiz hinter die Bedeutung dieser geheimnisvollen Aussage zu kommen, war einfach viel zu verlockend für die junge Frau. Sie kam der Antwort auf ihre zuvor gestellte Frage endlich ein Stückchen näher. Die Erinnerung an die luxuriöse und teils kuriose Ausstattung seines Zeltes war noch frisch und unverfälscht. Die Glasvitrinen waren mit allerlei seltsamen Gegenständen vollgestopft gewesen. Der Verdacht bestätigte sich, als Chester weitersprach, doch beim Wort Magie spitzte Tessa die Ohren noch ein wenig mehr. Magie - echte Magie - existierte nicht außer in Märchen und Legenden. Die Erwähnung dunkler Flüche trieb alles noch einmal auf die Spitze.
      "Ich hätte dich nicht als abergläubisch eingeschätzt", gestand sie.
      Wo zuvor ein schüchternes Lächeln vorherrschte, erschien vergnügtes Grinsen.
      Tessa folgte der allumfassenden Geste und ließ den Blick über die kunterbunten Zelte schweifen. Für einen geschäftigen Zirkus, der jeden Abend förmlich aus den Nähten platzte durch hinein strömende Besucher, war es in dieser Ecke verwunderlich ruhig. In der Entfernung hörte sich von Zeit zu Zeit ein dezentes Gemurmel.
      "Geschichten, hm? Deshalb die Geschenke zu Beginn der Show", schlussfolgerte Tessa grübelnd. "Du verteilst sie per Zufallsprinzip und hoffst, dass die Beschenkten dich aufsuchen, damit du ihnen...was? Zuhören kannst? Das ist alles?"
      Auch diese Vermutung bestätigte sich wenige Sekunden später. Tessa versuchte den Stein zu ignorieren, der ihr vom Herzen fiel, als sich der Grund von der beklemmenden Vorstellung weg bewegte, die sie hinter seiner Freundlichkeit vermutet hatte. Das wollte er also nicht von ihr als Preis für seine Hilfe.
      Ein Erinnerungsfragment an unzählige Bücher, wertvolle und alt anmutende Ledereinbände, kam ihr in den Sinn.
      "Die Bücher...", murmelte sie leise, mehr in Gedanken als an Chester gerichtet.
      Tessa verschränkte die Arme vor der Brust und löste den Blick von seinem einnehmenden Lächeln. Nervös trommelte sie mit den Fingerspitzen auf ihrem Ellbogen. Er wollte ihre Geschichte. Ihre Mundwinkel zuckten.
      "Tessa", warf sie ein und ließ ihrerseits ein Geständnis folgen. "Niemand nennt mich Theresa. Ich mag den Namen selbst nicht mal besonders."
      Zaghaft glitt ihr Blick aus dem Augenwinkel zu Chester, der sein wohl fröhlichstes Lächeln präsentierte. Der Ausdruck erinnerte Tessa an einen kleinen Jungen, der gerade eine riesige Tafel Schokolade präsentiert bekam, die er ganz alleine versputzen durfte. Nur seine Augen erinnerten die Diebin daran, dass er kein kleiner Junge mehr war. Seine Augen wirkten...alt. Älter, als sie sein sollten, was keinen Sinn ergab.
      "Ich werde dich langweilen", lachte sie bis sich zarte Lachfältchen um ihre Augenwinkel zeigten. "Und ich fürchte die Auswahl an Lokalen ist begrenzt. In den meisten Geschäften habe ich nämlich Hausverbot. Abgesehen davon..."
      Tessa zupfte an der zu großen Lederjacke.
      Sie war sich bewusst, dass sie ihm noch keine klare Antwort geliefert hatte.
      Die Entscheidung zwischen Ja und Nein war ihr noch nie so schwer gefallen.
      "...besitze ich keine...angemessene Garderobe."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Ich hätte dich nicht als abergläubisch eingeschätzt."
      Chester kicherte, weil er eigentlich gerne laut gerufen hätte: Bin ich auch nicht! Bin ich schon seit Urzeiten nicht mehr! Siehst du diese Uhr hier, Theresa? Die tickt und tickt und tickt und niemals aufhört, egal was ich tue! Siehst du sie? Nein, ich bin wirklich, ganz und gar nicht abergläubisch! Bin es schon 50 Leben lang nicht mehr!
      Aber er kicherte nur und nahm einen tiefen Atemzug.
      "Sieht man mir nicht an, oder? Ich weiß schon."
      Zumindest grinste Theresa jetzt, so als ob seine Stimmung sie endlich auch angesteckt hätte und alles weitere überlagerte.
      Dass Theresa schlau war, hätte er spätestens in dem Moment schlussfolgern können, als sie direkt auf die Geschenke rückschließen konnte. Aber gleichzeitig tauchte da ein kleines, unbedachtes Problem auf, auf das er achten müsste: Dass sie gewisse Dinge nicht zu früh begriff. Es war zwar recht unterhaltsam ihr kleine Brocken zuzuwerfen und sie dabei zu beobachten, wie sie sie eigenhändig zu einem Gebilde zusammenstellte, aber wenn er nicht aufpasste, könnte sie auch ganz andere Brocken auflesen.
      Vorerst wollte er sich an dem Vergnügen aber beteiligen.
      "Genau richtig - naja, fast. Zum einen ist es kein Zufallsprinzip. Ich habe ein gewisses Auge für Leute, die interessant sein könnten."
      Er zwinkerte ihr zu.
      "Zum anderen möchte ich mich nahbarer machen. Die Leute sehen da einen Mann in der Manege, der ganz eindeutig irgendeine höhere Position bekleidet, sich von Elefanten tragen lässt und dabei kein Clown ist. Und dann ist er auch noch unerreichbar in der Manege, zu der das Publikum keinen Zutritt hat. Wie soll ich da erwarten, dass sich irgendjemand traut, sich mir zu nähern? Es passiert natürlich trotzdem, manchmal, aber manchmal ist mir zu wenig. Wir sind noch eine ganze Weile in der Stadt, da kann ich noch viele kennenlernen."
      Ein Lächeln.
      "Also ja, ich gebe ihnen die Geschenke, hoffe, dass sie sich zu mir trauen, und höre mir an, was sie mir erzählen. Manchmal erzähle ich ihnen auch was, wenn sie mir sympathisch sind. Und heute lade ich einen solchen Jemand zusätzlich auf ein Essen ein."
      Er stützte den Ellbogen auf dem Zaun auf und das Kinn auf der Hand.
      "Ein Zirkus kann eintönig werden, wenn man sich mal daran gewöhnt hat."
      Und das schon seit sehr, sehr, sehr langer Zeit.
      "Immer dieselben Leute, meistens dieselben Tiere und dieselben Zelte. Ich sehne mich nach dem Neuen, nach den neuen Städten, den neuen Menschen und neuen Sammlerstücken. Magische, natürlich."
      Bestätigend nickte er, als Theresa seine Bücher erwähnte. Oh ja, die Bücher. Durchaus Teil seiner Sammlung, aber auf eigene Weise.
      Und dann bekam er unverhofft die Erlaubnis, sie Tessa nennen zu dürfen. Chester strahlte so sehr, dass selbst ihm, dessen Lachmuskeln nun wirklich ausgeprägt waren, das Gesicht schmerzte. Das war früher gekommen als erhofft, aber es war ein riesiger Erfolg! Wenn er in dem Tempo weitermachte, könnte er sie in einer Woche vielleicht schon überredet haben. Zwar kein Rekord, aber bei Teresa - Tessa, hihi - durchaus eine Glanzleistung, wie er zu vermuten glaubte.
      Die Lachfältchen, die sich dafür in Tessas Gesicht bildeten, waren irgendwie süß. Schienen zu den Narben zu passen, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie genau.
      "Ich kann gar nicht gelangweilt werden. Das ist eine Unmöglichkeit; und wenn du es doch schaffen solltest, wärst du die erste. Was wiederum ganz und gar nicht langweilig ist."
      Seine Zähne blitzten beim Grinsen auf.
      "Außerdem habe ich gar nicht die Absicht, dich in die Stadt auszuführen, sondern hierher. Ich gehe nicht gerne raus, macht mich nervös nicht zu wissen, was hier vor sich geht."
      Huch, ein Brocken zu viel, vielleicht. Aufpassen Chester, nicht ganz so ehrlich sein!
      "Und seit wann braucht man zum Essen eine angemessene Garderobe?"
      Er hob beide Arme zur Seite weg, um sein sehr farbloses, wenn dann funktionales Outfit zu präsentieren.
      "Ich esse meistens hierin, bevor ich mich am Abend umziehe. Das Essen läuft doch nicht weg, nur weil wir nicht angemessen angezogen sind."
      Er ließ die Arme wieder fallen und beschränkte sich auf sein Lächeln.
      "Ich gebe dir zwei Optionen: Entweder, wir gehen genau so essen, wie wir heute sind - nichts anderes! Du trägst genau dasselbe wie heute und ich auch und ich werde dir versprechen, dass das Essen dich trotzdem als äußerst hübsch sehen wird. Oder du kommst morgen ein bisschen eher und ich nehme dich mit in die Kostümabteilung. Dort ziehen wir uns etwas an, dass SO bunt und schrill sein wird, dass das Essen sagen wird", er hob beide Hände neben den Kopf, die Handflächen nach vorne gezeigt und wackelte mit ihnen herum, "WOAH, was sind das für zwei Vögel?! Und dann ist es gleich so baff von uns, dass es sich sogar freiwillig dazu anbietet, von uns gegessen zu werden. Was hältst du davon?"
    • Sofern Chester wirklich ein Auge für interessante Menschen besaß, sollte er darüber nachdenken, sich schleunigst eine Brille zuzulegen. Das zumindest dachte Tessa, die versuchte die aufgelockerte Stimmung nicht gleich wieder zu runinieren und deshalb beschloss zum erste Mal in ihrem Leben zu einem Thema den Mund zu halten, zu dem der Diebin bereits die Widerworte auf der Zunge lagen. Der Spiegel begrüßte sie allmorgendlich mit dem Gesicht einer jungen Frau, die viel zu schnell erwachsen werden musste. Tessa sah in den Facetten ihres Spiegelbildes ein Paradebeispiel für Gewöhnlichkeit, von dem stumpfen Braun der Haare bis zu dem langweiligen und tristen Farbspektrum der abgetragenen Kleidung. Dunkle Töne von Grau, Schwarz, Blau und Braun, farblos und längst durch die Jahre verblichen. Vermutlich war Tessa deshalb unter all den schillernden Figuren des Zirkus und den gut gekleideten Schaulustigen aufgefallen. Sie war durch und durch gewöhnlich.
      Lächelnd ahmte Tessa seine Körperhaltung nach, stützte den Ellbogen auf dem Zaun und das Kinn die Handfläche wie eine eigenartiges, höchst abstrakte Spiegelung. Ihre blassgrünen Augen funkelten interessiert.
      "Eintönig?", wiederholte sie nachdenklich. "Wie lange machst du das schon, wenn dir das Leben im Zirkus bereits zu langweilig wird?"
      Tessa zog in dem für die typischen Gesichtsausdruck die Nase kraus. In Chesters Nähe tat sie es oft, als würde sie einfach nicht schlau aus ihm werden aber es trotzdem mit aller Bemühung versuchte. Langeweile existierte in ihrem Wortschatz nicht. Vor allem dann nicht, wenn der erste Gedanke am Morgen war, auf welche Weise dieses Mal an Geld oder Essen herangeschafft werden musste. Sie legte den Kopf schief. Vielleicht war es nicht allein Langeweile, obwohl sie sich Einsamkeit für den offenherzigen, jungen Mann nicht vorstellen konnte. Die Leute, ungeachtet der Herkunft oder des gesellschaftlichen Ansehens, musste ihm doch zwangsläufig aus den Händen fressen. Chester war unterhaltsam und äußerst charmant, sein Umgang mit Worten tadellos.
      Nein, jemand wie Chester konnte sich unmöglich allein fühlen.
      "Magie...natürlich. Du musst das nicht machen, weißt du?", schnaubte sie wenig anmutig. "Versuchen mich mit fantastischen Erzählungen über Magie um den Finger zu wickeln? Ich bin kein kleines Mädchen mehr."
      Ehrlich gesagt, konnte Tessa sich nicht daran erinnern ob es Tage in ihrem Leben gegeben hatte, in der sie einfach nur Kind hatte sein dürfen. Sie wusste, dass sie deshalb seine zauberhaften Kunststücke und kleinen Showeinlagen genoss.
      Tessa folgte seinen Bewegungen.
      Während Chester sich aufrichtete und beide Arme zu den Seiten ausstreckte, drehte sich die Diebin einmal herum, bis sie mit dem Rücken am Zaun lehnte und beide Ellbogen nach hintengeschoben auf dem zersplitternden und spröden Holz abstützte. Der lieblos geflochtete Zopf rutschte über ihre Schulter und schwang sanft über ihren Rücken als Tessa den Kopf etwas in den Nacken legte und amüsiert kicherte.
      "Schon gut, schon gut...", kicherte sie kopfschüttelnd.
      Tessa begegnete selten Menschen, die sich so frei bewegten wie Chester. Mit sorglosen Albernheiten und reinster Freude, ohne dabei auf die abschätzigen Blicke im Rücken zu achten.
      Sie konnte gar nicht Nein sagen.
      Nicht wenn Chester versuchte sie mit allen möglichen Mitteln zu überreden und während er mit den Händen vor ihrem Gesicht herumwackelte, überlegte sie, ob der hochgewachsene Mann mit den attraktiven, blauen Augen vielleicht doch ein klein wenig verrückt war.
      "Ja, okay! Ja, ich komme morgen Mittag hierher", lachte sie immernoch. "Aber lass die Kostüme weg, bitte. Du möchtest die Geschichte eines Straßenmädchens und einer Diebin, da sind meine aktuellen Klamotten wesentlich authentischer. Das unterstreicht die Geschichte."
      Apropos Klamotten...
      Tessa schreckte auf, der Blick glitt über die goldene Taschenuhr an Chesters Gürtel, als hätte das tickende Schmuckstück sie plötzlich an einen wichtigen Termin erinnert. Sie bückte sich zu dem zerlumpten Rucksack, den sie schwungvoll über ihre Schulter warf.
      "Mist!", rief sie aus. "Wie spät ist es? Mist, Mist, Mist...Ich glaube, ich muss langsam los. Die anderen warten auf mich."
      Entschuldigend sah sie Chester an.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Tessa drehte sich jetzt auch zum Zaun und stützte wie Chester ihre Ellbogen darauf. Vielleicht sah seine Pose bequem aus. Vielleicht ahmte sie ihn auch unterbewusst nach.
      In jedem Fall war auch das ein Erfolg, über den er sich freute.
      "Ich bin schon mein ganzes Leben lang im Zirkus. Soweit ich zurückdenken kann", grinste er, fast stolz. Immerhin war das eine der aufrichtigsten Antworten, die er geben konnte. Auch wenn Tessa das nicht schätzen konnte, genoss Chester die Gelegenheit, halbwegs frei zu reden, ohne beim anderen auf Abwehr und Unglauben zu stoßen. Ein ganz normales Gespräch eben. Ein normales Gespräch über sein nicht so normales Leben.
      Sie kräuselte die Nase, als wäre das etwas, worüber sie erstmal eingehend philosophieren müsste, um den Sinn zu ergreifen. In den letzten Minuten hatte sie das ein paar Mal getan und jedes Mal fragte Chester sich, was wohl in diesem schlauen Köpfchen dabei vorgehen mochte.
      Ganz unschuldig verzog er das Gesicht zu einem überzogenen, überraschten Ausdruck.
      "Aber Tessa! Magie ist doch nicht nur etwas für Kinder und um kluge Frauen um den Finger zu wickeln! Auch wenn mir letzteres sehr viel Spaß bereitet."
      Er grinste und zwinkerte ihr zu.
      "Magie ist etwas für jeden, der daran glauben mag. Vielleicht bekomme ich dich ja auch noch dazu. Ich werde es mir zur Mission machen."
      Tessa willigte dann zumindest zum Essen ein, bevor sie plötzlich ganz hektisch wurde. Chester angelte sich seine Uhr.
      "Erst halb zwölf. Wie schade, ich hatte gehofft, dich noch ein bisschen länger unterhalten zu dürfen."
      Er stieß sich vom Zaun ab und vollführte dann eine weit ausladende Verbeugung vor Tessa, bei der er beide Arme weit streckte und sich so weit nach unten beugte, dass er sich fast selbst faltete. Beim Aufrichten hatte er sein Show-Grinsen bereits parat.
      "Mylady, es war mir ein ganz außergewöhnliches Entzücken, meinen frühen Mittag mit Euch zu verbringen. Gehabt Euch wohl - und bis morgen. Nicht vergessen!"
      Für einen Moment genoss er die Scham, die unübersehbar unter Tessas Oberfläche brodelte, dann machte er ihr Platz, dass sie sich auf den Weg nach draußen machen konnte. Bis sie vollständig außer Sichtweite war, blieb er dort stehen und winkte heiter, wann auch immer sie sich zu ihm umdrehte. Dann setzte er sich erst selbst in Bewegung und schlenderte fröhlich pfeifend davon.

      Beim Mittagessen setzte er sich diesmal zu einer Gruppe Musiker und Stallarbeiter, nachdem Liam nirgends zu sehen war. Er war schließlich ein beschäftigter Mann, während Chester seine neuen Ziele umwarb.
      "Da ist aber jemand gut gelaunt."
      "Allerdings."
      Vergnügt griff er nach seinem Besteck und stach in die Portion Knödel.
      "Ich freue mich immer, die Kunst der Magie an die weitere Gesellschaft zu bringen."
      "Die weitere Gesellschaft, die da wäre...?"
      "Theresa", klärte ein anderer auf, nachdem wohl ganz offensichtlich schon die Runde gemacht worden war, dass Chester ein neues Ziel hatte. Und dass selbiges Ziel sogar schon einen Namen besaß.
      "Ah. Und was macht sie so? Theresa?"
      "Sie ist als Straßenkind aufgewachsen. Die Familie sitzt im Gefängnis, sie verdient sich ihren Unterhalt mit anderen aus ihrem Schlag."
      "Also perfekt für uns."
      "Ganz genau!"
      "Und hast du sie schon ins Bett gekriegt?"
      Chester machte ein ganz empörtes Gesicht, was vielleicht ein bisschen an Kraft einbüßen musste, nachdem seine Backen voll mit Knödel waren.
      "Also - was hältst du von mir! Ich schlafe doch nicht mit jedem!"
      "Mit mir hast du damals schon geschlafen."
      "Mit mir auch."
      "Und mit mir. Und die letzten Tage war dein Zelt ganz schön besucht."
      "- Okay! Okay, ist ja gut. Die Taktik benutze ich schon noch - sie ist halt einfach! Aber Theresa ist nicht einfach. Theresa ist eine ganz intelligente, aufmerksame, scharfsinnige Frau. Wenn ich sie dabehalten will, muss ich das anders angehen."
      "Und zwar wie?"
      "Indem ich ihr zeige, wie viel schöner unser Zirkus als die Straße ist. Ich habe sie morgen zum Mittagessen eingeladen."
      Sein Gegenüber kicherte.
      "Du willst sie bestechen? Nimm sie doch gleich in die Kostümabteilung und gib ihr ein paar Klamotten für Zuhause mit."
      "... Das wollte sie nicht."
      "Oh, Chester."
      "Was? Ihr kommt nicht von der Straße, ihr wisst nicht, wie das ist. Sie soll sich hier wohlfühlen. Sie soll wissen, dass das hier ein sicherer Ort ist, an dem sie durchaus leben kann. Mit einer Perspektive und mit Freunden."
      "Du meinst mit Perspektive, dass sie für den Rest ihres Lebens an Zelte und Wagen gebunden ist. Mh-hm."
      "Fang jetzt nicht damit an. Ihr seid alle freiwillig hier!"
      "Vielleicht vor 10 Jahren freiwillig. Zeiten ändern sich, Chester."
      "Und wie sie das tun! Und trotzdem haben wir hier alle ein sicheres Zuhause, einen Beruf, Gehaltund ihr habt alle trotzdem noch Kontakt zu euren Familien! Also beschwert euch nicht!"
      "Tun wir auch nicht. Wir nörgeln nur ein bisschen."
      "Nörgelt auch nicht!"
      "Doch, ein bisschen schon. Meinungsfreiheit für alle."
      "Für alle mit guten Meinungen!"
      "Meine Meinung ist sehr gut."
      "Deine Meinung war letzte Woche, dass wir den Boden der Tiergehege mit Futter auffüllen sollten."
      "Ja! Dann können die Tiere essen wann sie wollen und sind nicht auf uns angewiesen?"
      "So funktioniert das nicht."
      "Und wie!"
      Sie plauderten weiter bis die Mittagszeit rum war und jeder wieder zurück an seinen Posten ging; Chester mittendrin, gedanklich bereits planend, wie er Theresa zum Hierbleiben bewegen konnte.
    • Am vereinbarten Treffpunkt begrüßte Tessa eine eisige Stimmung. Es bestand keinerlei Zweifel daran, dass ihre jahrelangen Mitstreiter der Diebin das Vorhaben, alles an Diebesgut zurückzugeben, übel nahmen. Von dem Verkauf der Beute hätten alle gemeinsam für eine Weile in Ruhe leben können, ohne sich einer Gefahr auszusetzen. Jacobs Blicke durchbohrten die Brünette mit unverhohlenem Ärger. Dagegen erschien Rosie hin und her gerissen zwischen der Loyalität zu ihrer Freundin und der Enttäuschung über den entgangen Luxus einer ordentlichen Mahlzeit und vielleicht dem dringend benötigten Satz neuer Winterkleidung. Die Nächte begannen bereits merklich abzukühlen und das armselige Versteck ließ sich kaum genug heizen. Vorausgesetzt die Bande aus Taschendieben, Einbrechern und Waisen fand genug Brennmaterial um dem verrosteten Ofen einzuheizen. Das schlechte Gewissen plagte Tessa obwohl sie davon überzeugt war, die richtige Entscheidung getroffen zuhaben.
      Die drei Straßenkinder, die seit geraumer Zeit nun wirklich keine Kinder mehr wahren, kauerten in den Schatten einer winzigen Seitengasse. Der Geruch von Müll, Urin und Überbleibseln von Nagetieren stach Tessa in der Nase. Die Gegend war heruntergekommen und nicht der sicherste Ort für junge Erwachsene, die im Ernstfall niemand vermissen würde. Allerdings war es auch nicht allzu weit von ihrem Zufluchtsort entfernt und im Notfall zügig zu erreichen.
      "Oh, sieh mal an, was die Katze nach Hause bringt...", knurrte Jacob. "Schon genug vom Leben in Glanz und Gloria?"
      Theresa zuckte unter der harschen Tonlage zusammen. Mit einem Blick zu Rosie bemerkte sie, dass der Rotschopf die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen presste. Rosalie hasste Streitigkeiten. Immerhin waren sie sowas wie eine eingeschworene Familie oder zumindest etwas Ähnliches.
      "Hast du mir irgendwas zu sagen?", antwortete Tessa.
      "Oh, da gibt es so Einiges, was ich dir gerne..." begann Jacob.
      "Können wir das auf später verschieben?", murmelte Rosie bedrückt.
      "Rosie hat Recht. Also, was hat dieser Halunke Miles für uns?", forderte die Brünette.
      Miles, sie kannte seinen Nachnamen nicht, war ein zwielichtiger Hehler, der mit allerlei Diebesgut seinen Lebensunterhalt verdiente. Hin und wieder übertrug er Tessa und ihren Freunden kleinere Aufträge, für die es sich nicht lohnte die eigenen Hände schmutzig zu machen. Die Diebe bekamen nicht viel dafür, aber es reichte um nicht zu verhungern.
      "Anscheinend zieht der Zirkus Magica Publikum aus der Oberschicht an. Miles hat die Information bekommen, dass morgen mit dem Abendexpress einige Angehörige der wohlhabendenden Handelsgilden am Bahnhof eintreffen um sich die Show anzusehen", sagte Jacob. Die Abneigung triefte aus jeder Silbe, die er über den Zirkus verlor. "Miles will, dass wir uns Zugang zu den Hotelzimmern verschaffen, solange die Händler mit ihren Familien in der Vorstellung sind und alles stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist."
      Demonstrativ ließ Jacob einen Dietrich durch seine geschickten Finger gleiten. Im Schlösserknacken machte dem Burschen keiner etwas vor. Ein Talent, dass ebenso nützlich war, wie Tessas flinke Finger beim Taschendiebstahl.
      "So einen großen Auftrag habe wir noch nie von Miles bekommen. Hm, es wird nicht leicht ungesehen in das Gebäude zu kommen. Und es wird gefährlich. Was wissen wir über das Hotel? Feuerleitern? Kellerschächte?", fragte Tessa.
      Da stimmte etwas nicht.
      Tessa bekam ein ungutes Gefühl bei der Sache.
      "Nicht viel, weil es nicht in unserer üblichen Gegend liegt. Es ist das Maison Soleil, ein erstklassiges Hotel für alles mit Rang und Namen. Wachmänner an allen Ein- und Ausgängen. Bewaffnet, natürlich. Es ist nichts zu kostspielig für die feine Kundschaft", fuhr Jacob fort.
      Tessa verschränkte die Arme.
      "Es ist erst Mittag. Wir haben Zeit, um uns einen Überblick zu verschaffen und uns bis morgen Abend einen vernünftigen Plan zu schmieden". mischte Rosie sich kleinlaut ein.
      "Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Das wird gefährlich. Wir müssen uns wirklich sicher sein", nickte Tessa.
      Das Trio setzte sich in Bewegung.

      Tessa verschwieg ihren Mitstreitern die verlockende Einladung und wohin sie am nächsten Tag zur Mittagszeit verschwand.
      Sicherlich war es feige, aber sie verzichtete allzu gern auf eine weitere Diskussion mit Jacob. Während der nächtlichen Pläneschmiederei hatte allein die klitzekleinste Andeutung in Richtung Zirkus oder dem merkwürdig charmanten Zirkusdirektor ausgereicht, damit Jacob aus der Haut fuhr. Jacob musste es nicht aussprechen, aber Tessa wusste, dass ihr Handeln für den Jungen einem Verrat gleichkam. Offiziell ging Tessa also auf Beutezug am Marktplatz. Zwischen dem Mittagessen und der Rückkehr ins Versteck, musste sie folglich noch einen kleinen Abstecher in die Stadt machen, damit ihre die kleine Notlüge nicht um die Ohren flog.
      Eleonore begrüßte das Mädchen mit einem warmen Lächeln.
      Die Frau in dem bauwagenähnlichen Kassenhäuschen hatte etwas Großmütterliches mit der großen Bille und dem wirren, grauen Haaren. Tessa spürte ein Lächeln auf den eigenen Lippen.
      "Komm nur herein! Keine falsche Scheu, Kindchen!", winkte sie.
      "Hallo Eleonore", antwortete Tessa etwas eingeschüchtert von der überschwänglichen Begrüßung.
      "Papperlapapp! Nenn mich Ella, Liebes!", zwinkerte sie und lachte. "Hat der Schuft dich also wirklich überreden können? Bei einem hübschen, jungen Ding wie dir, wundert es mich nicht, dass er es versucht hat."
      Tessa lief auf der Stelle rot an, was Ella ein weiteres, herzliches Lachen entlockte.
      "Geh nur herein. Chester kommt dich gleich abholen."
      "Aber woher...?", fragte Tessa verwirrt
      "Nun, ihm entgeht nichts, was hier geschieht", flötete die alte Dame.
      Die Diebin hatte genau drei Sekunden Zeit sich über die kryptische Aussage zu wundern, da beugte sich Eleonore mit knirschenden Knochen aus dem Fenster, wobei Tessa das wilde Blumenmuster ihres Kleides bemerkte, und legte eine knorrige Hand in ihren Rücken.
      Mit einem leichten Druck schob sie Theresa in die richtige Richtung.
      "Viel Vergnügen, Theresa!", rief sie hinterher.
      Die junge Frau ging erst zögerlich, dann mit gezähmter Vorfreude, Ella sah es in ihrem Gang, auf den Vorplatz vor dem großen Zelt.
      Funkelnde Augen betrachtete bei Tageslicht, was ihr gestern aus Eile und Unsicherheit entgangen war. Ella nahm die abgetragene Kleidung und verarmte Erscheinung in Augenschein und wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Sie hoffte nur das Tessa, dass kindliche Staunen nicht verlor, das sie trotz des Schmutzes von Innen strahlen ließ.
      Als Theresa ihr den Rücken endgültig zudrehte, verblasste das Lächeln auf Ellas Gesicht.
      Eleonore hatte den Eid der Uhr nie abgelegt.
      Sie war die einzige Person an diesem wundervollen und gleichzeitig tragischen Ort, die wahrhaftig freiwillig verweilte. Ella war die freundliche und manchmal etwas kauzige Dame hinter der Kasse. Viele Menschen hatte sie über die Jahre kommen, gehen und bleiben sehen. Sie hatte erlebt wie lieblichen Mädchen das Herz erkaltete und aufstrebende, junge Männer verzweifelten. Träume verwandelten sich in Resignation, sobald die Wahrheit sich fest in den Herzen verankerte. Nicht bei allen. Viele waren auch glücklich, sie waren aus schrecklichen Leben freiwillig zu Chester und in den Bann der Uhr gekommen. Oder aus Liebe, die nicht währte. Mit Hoffnungen, die im Sand verliefen.
      Ella hatte es als Kind nicht verstanden. Sie hatte zu Chester aufgesehen. Als Ersatzvater, großer Bruder und nun betrachtete sie den jungen Mann als einen Sohn. Ihr Verhältnis zu dem mysteriösen Mann war nicht weniger seltsam als das aller anderen hier. Aber sie hatte abgelehnt, als er ihr von der Uhr erzählte. Trotzdem war sie geblieben und Chester hatte nie versucht sie fortzuschicken.
      Ella seufzte und schloss die Fenster.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Chester hatte zu dem besonderen Anlass des Tages sein Zelt umfunktioniert, die Möbel im größten Raum alle zur Seite geschoben und dafür einen geräumigen Tisch aufstellen lassen, wo sie zusammen essen konnten. Einen eigenen Esstisch hatte er sonst nicht, es käme Chester auch in hundert Jahren nicht in den Sinn, jemals alleine zu essen.
      Er ließ den Eingang offen für das Licht und schnappte sich eine Küchenhilfe, damit sie ihm beim Tragen half. Den Koch hatte er schon am Vorabend eingeweiht; es gab zwar nichts extra nur für Chester, aber der Küchenchef schöpfte von allem ein bisschen ab und verfrachtete es in kleinere Töpfe, damit es extra zubereitet aussah. Außerdem machte er sich unter Chesters Anweisung den Stress, ein paar Kekse zu backen, nicht viel mehr als ein Haufen Zucker und Mehl zusammengemischt, damit es möglichst süß und möglichst sättigend war. Immerhin hatte er die Befürchtung, dass Tessa mit ihrer Lebensweise wenig Süßigkeiten in den Mund bekam.
      Das alles zusammen ließ den Tisch wie ein kleines Festmahl aussehen: Schüsseln und Töpfe, die sich um die beiden leeren Teller drängten, die cremefarbene Tischdecke mit den seidenen Rändern, die Gläser mit den Verzierungen. Ein paar Kerzen im Raum verteilt für das richtige Licht. Das ganze war binnen einer halben Stunde aufgebaut, immerhin war das nicht Chesters erstes Rodeo.
      Und dann kam die Lilie durch das Gatter hindurch.
      Selbst nach all den unzähligen Malen, in denen er schon jemanden zum Essen eingeladen und verführt hatte, auf die eine oder andere Weise, verspürte er noch immer die gleiche Aufregung vor dem Bevorstehenden. Tessa war entgegen aller Vermutung keine Hinterwäldlerin mit schwierigen Verhältnissen, sie war intelligent, scharfsinnig und er wollte ganz willentlich ein weiteres Gespräch mit ihr führen. Er wollte sie dabei beobachten, wie ihr Gehirn neue Wege für ihn einschlug.
      Entsprechend entzückt machte er sich auf den Weg, um sie beim Vorplatz des Aufführungszeltes einzuholen. Sie waren bei weitem nicht alleine, um sie herum herrschte der rege Betrieb eines vorzubereitenden Abends, aber Chester ließ sich davon nicht beirren.
      "Tessa! Hi!"
      Er winkte ihr strahlend, als sie sich nach seiner Stimme umdrehte. In ihrer Hörweite wandten sich Köpfe, aber niemand beachtete wirklich Chester, sondern gaffte stattdessen auffällig in Tessas Richtung. Manche beeilten sich, schnell aus dem Weg oder gar ganz wegzukommen.
      "Wie schön, dass du hier bist."
      Er strahlte förmlich auf sie herab, als er bei ihr ankam, und streckte die Hand zu einem vermeintlich förmlichen Handschlag aus. Tessa tappte ihm direkt in die Falle und als sie ihre Hand in seine legte, hob er sie stattdessen an seinen Mund und küsste sie galant. Tessas Gesichtsausdruck brachte ihn zu einem herzlichen Kichern und er ließ sie los.
      "Nicht so schüchtern, meine Liebe! Es gibt nichts, wovon du dich schämen müsstest. Komm, so gern ich mich hier noch weiter mit dir unterhalten hätte, habe ich doch einen Bärenhunger. Ich habe seit gestern Abend nichts mehr gegessen und dazwischen lag eine ganze Aufführung."
      Eine Lüge. Nicht seine erste und auch nicht seine letzte.
      Sie schlenderten zwischen den Zelten und Wagen zu seinem Zelt nach hinten, ein Weg, der Tessa halbwegs bekannt vorkommen dürfte, wenn sie ihn bei Tageslicht gesehen hätte. Aber zumindest das Zelt erkannte sie wieder, wenn auch nicht unbedingt das Innere.
      "Komm, komm. Setz dich. Ich habe unseren Koch gebeten, etwas ganz feines zu machen. Hoffentlich schmeckt es dir."
      Er hatte darauf geachtet seine sichtbare Garderobe leer zu räumen, damit Tessa sich nichts komisches dabei dachte, dass er noch den exakt selben Aufzug von gestern trug. Immerhin war es seine Mission, sie sich sicher fühlen zu lassen und das schaffte er nicht, wenn er allein durch die Kleidung schon eine Kluft zwischen ihnen schlug.
      "Bei uns heißt sowas Zirkusessen, weil es die Darsteller kräftig und energetisch halten soll. Ich lasse dich also nicht aus diesem Zelt heraus, bis du nicht kräftig und energetisch davon bist, okay?"
      Er lächelte ihr zu, als er sich selbst setzte und anfing aufzutischen. Er hatte sich drei Portionen von der Küche mitgeben lassen, nur zur Sicherheit. Entsprechend war noch genug da, als er beide Teller gefüllt hatte.
      Um Tessa das Gefühl zu geben, dass er gar nicht darauf aufpasste, wie schnell oder langsam sie ihr Essen verputzte, peilte er gleich das nächste Thema an.
      "Wie geht es deinen Freunden? Gibt es genug Umsatz auf den Straßen?"
    • Eine vertraute Stimme durchbrauch die geschäftige Plauderei der Zirkusartisten und Angestellten, die sich auf die allabendliche Show vorbereiteten. Kleiderwagen voller knallbunter und glitzernder Kostüme wurden über den Vorplatz geschoben. Zwischen den Zelten, die den Platz säumten, stimmten die Musikanten des Orchesters Streich- und Blasinstrumente. Dompteure führten dressierte Tiere aller Art zwischen den fleißigen Arbeitern hindurch. Tessa erkannte die prächtigen weißen Schimmel aus der Premiere, und zwei Elefanten, die sich für ihre Größe erstaunlich behände um die Anwesenden herum bewegten. Die Pferde tänzelten selbst ohne Anweisung anmutig über den die freie Fläche und Tessa glaubte unter den Elefanten Hektor zu erkennen. Wirklich sicher war sich die Diebin allerdings nicht. Die Flut aus Farben, Stimmengewirr und Musik überforderte Tessa. Am gestrigen Tag war sie so schnell mit eingezogenem Kopf über den Vorplatz gehuscht, dass sie nichts von all dem mitbekommen hatte. Innerhalb des Eisenzaunes, der in der ersten Nacht noch bedrohlich und gruselig gewirkt hatte, ging es zu wie in einem Bienenstock.
      Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete Tessa als Chester sich seinen Weg durch die Menge bahnte und das Universum schrumpfte auf den Punkt zusammen, von dem aus er ihr freudestrahlend winkte. Menschen strömten zu den Seiten davon, um Chester Platz zu machen, der sich völlig mühelos an ihnen vorbei schob und mit zielstrebigen Schritten näherte. Die Anspannung baute sich erneut auf, als Tessa die Köpfe bemerkte, die sich in ihre Richtung drehten. Neugierige Blicke, die sich gar nicht erst um Unauffälligkeit bemühten, bohrten sich in ihren Hinterkopf. Unbewusst rollte die Diebin die Schultern ein wenig nach vorn und senkte das Kinn etwas ab. Theresa machte sich klein.
      "Hi...", nuschelte Tessa.
      Das Lächeln in ihrem Gesicht ließ sich dennoch von der ungewollten Aufmerksamkeit nicht trüben. Wärme kroch in ihre Wangen, als Tessa begriff, dass sie ihm in die Falle gegangen war.
      "Wie schön, dass du hier bist."
      Die zur Begrüßung ausgestreckte Hand hob Chester zu einem altmodischen aber galanten Handkuss. Das war ihr noch nie passiert. Die zarte, rötliche Nuance auf ihren Wangenknochen verdunkelte sich unter der charmanten Geste. Die Reaktion schien Chester zu gefallen, denn er kicherte wie ein verschmitzter Schuljunge und das entlockte auch der überrumpelten Diebin ein Schmunzeln. Die gekrümmte Haltung löste sich langsam auf und Tessa zog das Kinn etwas von ihrer Brust zurück. Dann ließ er sie los. Sie vermisste das Gefühl seiner warmen Finger um ihre Hand augenblicklich.
      "Versprochen ist versprochen. So heißt es doch, oder?", antwortete sie.
      Bei dem Wort Bärenhunger grummelte ihr Magen wie aufs Stichwort lautstark und eindeutig unzufrieden los. Die Gesichtszüge entgleisten Tessa und sie sah ihn verlegen und schockiert zugleich an. Das Letzte, was sie wollte, war in seinen Augen bedürftig zu wirken. Bemitleidenswert war ein hässliches Wort.
      "T'schuldige", murmelte Tessa und folgte Chester in das Labyrinth aus Trampelpfaden zwischen den Zelten. Sie sah sich neugierig um. "Hier ist immer viel zu tun, nicht wahr?"
      Den Zelteingang erkannte Theresa tatschlich wieder.
      Mit dem Daumen berührte sie die verkrustete Wunde über der Unterlippe, die durch Rosies gewissenhafte Versorgung bereits viel besser aussah. Sie war zwar gerötet, aber spannte längst nicht mehr so schlimm. An dem Abend hatte Tessa fest daran geglaubt in den schweren Handfesseln aus dem Zirkus geführt zu werden. Bis Chester aufgetaucht war. Sie lächelte während ihr Blick zwischen seinen Schulterblättern lag.
      Die Einrichtung des großzügigen Zeltes erkannte sie kaum wieder. Bis auf einen gemütlich wirkenden Tisch und zwei Stühle waren alle Möbel zur Seite geschoben worden. Der Raum wirkte noch viel größer als in ihrer Erinnerung. Das Licht war auch anders. Ein paar Kerzen flackerte in den dunkleren Ecken und anstatt des schwummrigen Lichtscheines der Lampenschirme floss helles Sonnenlicht durch den einladend geöffneten Zelteingang. Im Lichtkegel der Sonnenstrahlen wirbelten winzige Staubpartikel durch die Luft und Tessa erspähte eine dezente Staubschicht auf den Beistelltischen und anderen Kleinmöbeln. Es erweckte den Eindruck, als hielte sich Chester nicht oft in seinem Zelt auf. Dennoch versprühte jeder Winkel des Zeltes seine ganz besondere Aura.
      Tessa wollte gerade antworten, dass nichts schlimmer sein konnte, als das pappige Brot, das Rosalie und sie manchmal mit kaum vorhanden Zutaten zustande brachten, da stieg ihr der Duft des Essens in die Nase. Sie merkte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Wieder gab ihr Magen einen unüberhörbaren Protest von sich, obwohl Tessa bei dem Anblick der unterschiedlichsten, dampfenden Töpfe ein schlechtes Gewissen bekam...und waren das Kekse?
      Am Ende war der Hunger größer als das Schamgefühl.
      Tessa näherte sich dem Tisch und setzte sich auf den freien Stuhl. Trotz der Größe des Esstisches saßen sie recht nah beieinander, so dass sie die hübschen Lachfältchen um seine Augen gut erkennen konnte. Mit den Fingerspitzen befühlte sie das seidige Tischtuch, dass sich teurer anfühlte als der gesamte Inhalt ihres nicht vorhandenen Kleiderschrankes.
      "Habe ich nicht kräftig und energetisch gewirkt, als ich deinen Leuten immer wieder entwischt bin?", konterte Tessa grinsend.
      Die Scheu langsam ablegend hob sie den ersten Topfdeckel an und schnupperte. Es roch würzig und sie erkannte schnell, dass es sich bei dem Inhalt um einen reichhaltigen Eintopf handelte. Kartoffeln, Gemüse und etwas Speck verströmten einen köstlichen Duft. Das simple Gericht enthielt alles, was zur Stärkung notwendig war und Kraft gab für die harte Arbeit in einem Wanderzirkus. Das Brot in dem Korb daneben sah mindestens genauso gut aus. Tessa lud zunächst eine bescheidene Menge auf den Teller und zupfte ein kleines Stück von dem fluffigen Brot ab. Sie wollte nicht gierig erscheinen. Allerdings konnte sie den unerhörten, befriedigenden Laut nicht unterdrücken als sie den ersten Löffel mit Eintopf in den Mund schob. Dieses Mal zog sie vor Verlegenheit nicht den Kopf ein. Das Grinsen auf ihren Lippen war so breit, dass ihr die Wangen schmerzten und die Grübchen hervorstachen. Sie schob den nächsten Löffel gleich hinter her.
      "Oh Gott, ich glaube, das ist das Beste, das ich seit Langem gegessen habe", gestand sie.
      Sie wollte gerade einen weiteren Bissen vom Brot abbeißen, da stellte Chester seine Frage. Tessa senkte die Hand. Da war es wieder, das schlechte Gewissen.
      "Wie geht es deinen Freunden? Gibt es genug Umsatz auf den Straßen?"
      "Dank des Zirkus Magica sind so viele Menschen auf den Straßen, wie schon lange nicht mehr. Allen wollen euch sehen. Dafür reisen Besucher sogar aus der Ferne an", antwortete Tessa. "Für uns ist es eine gute Gelegenheit, aber es sind auch mehr Mitglieder der Milizen unterwegs. Also müssen wir umso vorsichtiger sein. Der Winter steht vor der Tür, wir müssen Vorbereitungen treffen."
      Tessa legte den Löffel ab und kaute auf der bereits malträtierten Unterlippe.
      Sie griff nach der Karaffe aus geschliffenem Kristallglas und füllte ihrer beider Gläser mit Wasser. Sie war eine Diebin, aber immerhin hatte sie Manieren. Manchmal. Wenn sie wollte. Der Mann, dem sie enthusiastisch gegen das Schienbein getreten hatte, würde ihr vermutlich widersprechen.
      "Rosie und Jacob, meine Freunde, sind etwas nachtragend, weil ich das Diebesgut zurückgegeben habe."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Chester lachte ganz herzlich und unbetrübt, Tessas eigenes Schmunzeln wie das Feuer, das ihn dazu anstiftete.
      "Sag das nicht zu laut! Wenn das unser Chefkoch zu hören bekommt, wird er uns für den Rest unserer Tage damit aufziehen, was für ein undankbares Volk wir im Vergleich zu dir doch sind!"
      Es war gut zu sehen, dass Tessa einen Teil ihrer sonstig so vorsichtigen Haltung ablegte und - auch nur zum Teil, aber immerhin - aus sich herauskam. Jetzt machte sie sich nicht mehr so klein wie auf dem Vorplatz und langsam schien sie sich auch an Chesters Unbeschwertheit zu gewöhnen. Sie lächelte viel überzeugter wenn er es tat und ließ mehr und mehr ihren Argwohn darüber fallen.
      Oder mit einfacheren Worten ausgedrückt: Chesters Plan war ein voller Erfolg.
      "Dann hilft euch der Zirkus, wie? Wenn das so ist, würde ich am liebsten das ganze restliche Jahr hier bleiben. Aber es gibt schließlich auch andere Städte, denen wir so helfen könnten, nicht wahr?"
      Er zwinkerte. Selbst jetzt dämmte sein Frohmut nicht ein, wobei er dennoch darauf achtete, Tessa nicht das Gefühl zu vermitteln, dass er sie nicht ernst nehmen würde. Sie sollte nur nicht so... pessimistisch sein. Schließlich sah er in ihrer Zukunft eine warme Mahlzeit jeden Tag, eine feste Unterkunft, ein Bett und eine Beschäftigung, die sie nicht zum Außenseiter der Gesellschaft machen würde. Nicht so sehr jedenfalls. Da konnte sie auch gut jetzt schon lernen, ihre Sorgen ein bisschen hinter sich zu lassen.
      Er nahm sein gefülltes Glas mit einem Lächeln entgegen und trank, bevor er selbst von seinem Teller aß. Sogar die Tischmanieren unterlagen einem gewissen Schauspielakt, auf den er ganz besonders jetzt nicht verzichten durfte. Chester kannte in etwa ein Dutzend verschiedene Arten eine Mahlzeit zu verspeisen, von barbarisch schmutzigen Manieren bis hin zu gepflogenen Feinheiten, alles nur, um sich einer Kultur anzupassen - oder in diesem Fall, um sein Gegenüber unterschwellig entspannen zu lassen. Er wollte Tessa nicht in die Bedrängnis bringen, die falschen Tischmanieren an den Tag zu legen, und er wollte auch nicht selbst so aussehen, als würde er sich um ihre Anwesenheit nicht scheren. Also beobachtete er die wenigen Bissen, die sie während ihrer Unterhaltung tat, und kopierte dann ihre Art: Schnell essen, sicher eine Angewohnheit aus etlichen Jahren des Hungers, in denen man um jede Mahlzeit fürchten musste, aber immernoch gemäßigt genug, um die richtigen Manieren durchscheinen zu lassen. Tessa gab sich Mühe. Chester gab sich im Umkehrschluss genauso Mühe.
      "Ihr habt sicher eine Menge Verlust gemacht mit der Beute, oder? Ihr braucht das Geld dringender, als die Besucher hier ihre Armbanduhren brauchen. Das verstehe ich schon. Deine Freunde scheinen klug genug, um sich anständig durchzuschlagen."
      Er breitete die Serviette über seinem Schoß aus, leckte sich dann aber die Finger ab, als etwas daneben kleckerte. So essen, damit Tessa sich in ihrer Haut wohlfühlte.
      "Sicher willst du keine Rede über Moral von mir hören. Damit will ich auch gar nicht die Zeit mit dir verschwenden. Du weißt aber sicher, welchen Zweck Moral in unserer Gesellschaft hat, nicht wahr? Du hast schließlich ein kluges Köpfchen."
      Er tippte sich lächelnd selbst gegen die Stirn.
      "Es tut mir ehrlich leid um die Beute, aber mir sind die Hände gebunden. Nur du, deine Hände sind noch frei, du kannst mit ihnen noch so viele Dinge anstellen. Findest du denn keine Arbeit, dort, wo du lebst? Eine junge, gesunde Frau wie du kann doch bestimmt irgendwo eine ehrliche Arbeit verrichten?"
    • Für einen Augenblick hielt Tessa mitten in der Bewegung inne. Der gefüllte Löffel schwebte regungslos in der Luft kurz vor ihrem Gesicht als sein Lachen das Zelt erfüllte. Das Sonnenlicht, das durch den Zelteingang hinein fiel, fühlte sich ein wenig wärmer an und strahlte heller als zuvor. Das Gefühl war dermaßen klischeebehaftet, dass Tessa kurzzeitig daran zweifelte, wirklich noch Herrin ihrer Sinne zu sein. Vielleicht hatte Jacob mit seiner bissigen Bemerkung ein wenig ins Schwarze getroffen. Vielleicht ließ sich Tessa von einem attraktiven Gesicht und Chesters Großzügigkeit blenden. Bevor sie einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, fühlte Theresa ein sanftes Beben in ihrer Brust. Etwas kroch ihre Kehle empor und über ihre Lippen entkam ein glucksender Laut. Tessa stimmte in das herzliche Lachen ein während sie um die Nase leicht errötete. Dieses Mal hatte sie nicht das Gefühl, dass Chester sich über sie amüsierte. Er lachte mit ihr,, aufrichtig. Ein Knoten löste sich in ihrer Brust und Tessa lachte mit ihm.
      "Zu Recht!", antwortete sie lachend. "Er sollte euch alle mit dem Kochlöffel durch die Zelte jagen. Eine warme Mahlzeit am Tag ist reiner Luxus. Dafür sollte ein wenig Dankbarkeit nicht zu viel verlangt sein."
      Dass sie wohlmöglich wenig Abwechslung in den Speisen hatten und der Eintopf, den Tessa überschwänglich aß, ihnen bereits zum Hals heraus hing, kam ihr ebenfalls in den Sinn. Trotzdem, sie würde lächelnd jeden Tag dasselbe Essen verschlingen, wenn sie dafür nicht mehr hungern müsste.
      Tessa entspannte sich sekündlich mehr und beobachtete Chester mit offener Neugierde. Sie hatte nicht den Eindruck, dass der Mann, der sich gerade ungehörig die Finger sauber leckte, sie für ihr Starren tadeln würde. Die Serviette befand sich offensichtlich auch mehr aus Gewohnheit in seinem Schoß. Die Tischmanieren wirkten herrlich...normal. Dabei hatte sich Tessa solche Sorgen gemacht, etwas falsch zu machen oder sich völlig zu blamieren.
      Mit dem Daumen wischte Tessa übrig gebliebene Brotkrümel von ihrem Mundwinkel.
      "Rosie hat das mit Abstand größte Herz, dass ich je gesehen habe. Sie kümmert sich rührend um alle wie eine große Schwester. Wir reden nicht oft über unsere Leben davor, über unsere Kindheit als wir noch Familien hatten. Aber ich weiß, dass sie Krankenschwester werden wollte. Sie kennt sich gut mit Nadel und Faden aus."
      Tessa nahm sich die Zeit für zwei weitere Löffel, die sie etwas zu hastig herunter schluckte. Sie räusperte sich.
      "Jacob ist...schwierig. Ich weiß eigentlich nichts über ihn, außer, dass es kein Schloss gibt, das seinen geschickten Fingern widerstehen kann", ergänzte sie und zog die Augenbrauen zusammen.
      Nachdenklich kaute das Mädchen auf ihrer Unterlippe
      "Moral ist etwas für diejenigen, die es sich leisten können", murmelte sie.
      Das Leben schenkt dir nichts, erinnerte Tessa die Stimme ihrer Mutter.
      Die nächste Frage ließ die Diebin aufhorchen.
      Mit der Antwort zögerte sie und legte den Löffel mit einem leisen Klicken auf ihrem halbleeren Teller ab. Wieder zupfte sie scheinbar konzentriert an der feinen Tischdecke. Schließlich schüttelte Tessa den Kopf und presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen.
      "Das ist nicht so einfach", antwortete sie.
      Sie wollte ihm wirklich antworten und gleichzeitig am liebsten auch nicht. Tessa runzelte sie Stirn...und stieß ein langgezogenes Seufzen aus.
      "Weißt du...", begann sie zögerlich. "Ich kann nicht Lesen und Schreiben. Hab's nie gelernt."
      Ein Straßenkind, eine Diebin und zu allem Überfluss auch noch ungebildet. Bei all dem Zuspruch von Chester über ihren wachen Geist und ihren Scharfsinn, waren die Worte stets mit einem bitteren Nachgeschmack behaftet gewesen. Jetzt würde er einsehen, dass sein Interesse verschwendet war. Eine Mischung aus Panik und Scham zog ihre Mundwinkel nach unten. Sie wusste nicht einmal, warum.
      Es konnte ihr schlichtweg egal sein, welche Meinung er von ihr hatte.
      Tessa löste ihre Finger von der Tischdecke um die Hände in den Schoß fallen zu lassen. Sie traute sich den Blick zu heben und stellte Chester das erste Mal eine persönliche Frage.
      "Was...was hast du gemacht, bevor du zum Zirkus gekommen bist?", stammelte sie etwas überhastet.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chester lauschte Tessa mit großer Aufmerksamkeit, schließlich konnte er alles, was sie ihm irgendwie vermittelte, wieder verwerten. Da war also ihre Freundin Rosie, die sich um alle Findlinge zu kümmern schien, und Jacob der "schwierig" war. Was auch immer das bedeuten mochte. Mehr schien es nicht zu geben, zumindest keine, die einer Erwähnung wert gewesen wären, wobei Chester noch immer unklar war, wie viele andere es insgesamt gab. Nur eine Handvoll? Ein Dutzend? 50? Er konnte sich gut vorstellen, dass die ganze heimatlose Kinderschar sich in dieser Gegend zusammengefunden hätte, um ums Überleben zu kämpfen, aber dann würde eine diebische Tessa, eine hilfsbereite Rosie und ein einbrecherischer Jacob auch nicht ausreichen, um alle zu versorgen - ganz von einem einzelnen Sack erbeutetes Diebesgut vom Zirkus abgesehen. Chester schloss entsprechend seine Rückschlüsse dazu, dass es wohl so einige geben mochte, nicht aber genug, um Überhand zu nehmen. Nicht genug, dass sie es nicht verkraften könnten, Tessa der Obhut des Zirkus zu überlassen.
      Aufmerksam beobachtete er die junge Frau weiterhin, wie sie wieder dazu zu neigen schien, sich unter seinem Blick wegzuducken. Wie ein scheues Reh, das noch nicht gelernt hatte, dass es im Licht Sicherheit erwartete.
      "Oh, das denke ich nicht."
      Er schob sich eine weitere Gabel in den Mund, kaute, schluckte das meiste herunter und sprach gleich weiter.
      "Moral ist eine Überlebensfrage. Nur um welches Überleben es geht, das ist die eigentliche Frage, mit der du dich beschäftigen musst. Denn was du durchmachst, hat keinen Platz für Moral, aber wenn du sie dafür vernachlässigst, bekommst du an ganz anderen Stellen Schwierigkeiten. Balance ist der Schlüssel. Selbst der beste Jongleur kann nur dann jonglieren, wenn er seine Gewichte genau kennt."
      Es war nicht so, dass Chester sonderlich belesen wäre oder sich besonders mit kritischen Fragen auseinandersetzte, es war eher so, dass er sehr, sehr, sehr, sehr, sehr viel Zeit in seinem Leben hatte, seinen Gedanken nachzukommen. Irgendwann kam man dann eben bei einem Zyklus raus und dann hatte auch er in seiner Unsterblichkeit begriffen, wofür andere eine einzelne Lebenszeit benötigt hatten.
      Unverändert schob er sich die nächste Gabel rein, die Augen niemals von Tessa abgewandt, damit er auch bloß nicht die Einzelheiten verpasste, die sie ihm so schön präsentierte: Das Zögern vor ihrer Antwort, die Scham, die sie zu verstecken versuchte, vielleicht auch die Schüchternheit. Die Ungewohnheit der Situation, die ihr noch immer zu schwer auf den Schultern lag. Wie sie sich wohl verhalten würde, wenn sie sich erst an Chester und ihre Umgebung gewöhnt hätte?
      Kurz darauf wurde Chester aber selbst aus dem Konzept gerissen, der mit vielem gerechnet hätte, aber nicht, dass Tessa, die durchaus jung, gesund und bestimmt funktionierende Hände und Augen hatte, nicht lesen und schreiben konnte. Verblüfft neigte er den Kopf.
      "Hat es dir keiner beigebracht? Ist das nicht üblich? Ich dachte das wäre -" Im letzten Jahrhundert schon normalisiert worden. Chester konnte sich aber gerade noch fangen, bevor er zu viel ausgeplaudert hätte. Oder war das in diesen Teilen des Landes nicht so üblich? Wann war er das letzte Mal hier gewesen, vor 30 Jahren? Da hätte sich viel verändern können - oder auch gar nichts.
      "... naja, weiter verbreitet eben. Hm."
      Das war womöglich ein bisschen ungünstig. Chester hätte Tessa als eine Art Assistenzkraft eingestellt, weil das üblicherweise die Aufnahme im Zirkus erleichterte - sie konnte Buch führen, die Bestände kennenlernen, mit allen verschiedenen Abteilungen interagieren. Wenn sie weder lesen noch schreiben konnte... Er konnte sie doch nicht den ganzen Tag an einen Stand setzen! Vielleicht Tierpflege? Die Küche fiel auch weg.
      Er musterte sie viele, eindringliche Sekunden lang, bis ihm erst auffiel, wie unglaublich nervös sie das nur wieder machte und er sich stattdessen auf sein Essen konzentrierte. Ärgerlich. Nicht unmöglich zu richten, aber ärgerlich.
      "Entschuldige." Er lachte ganz leicht. "Ich bin nicht so oft draußen unterwegs. So viel bekomme ich davon gar nicht mit."
      Wo sie sowieso schon beim Thema waren.
      "Ich bin hier aufgewachsen."
      Time to shine. Chester hätte Tessa viele Geschichten darüber auftischen können, was er angeblich vor dem Zirkus getan hatte, aber er entschied sich für jene, die ihr am besten gefallen könnte.
      "Meine Mutter war eine Akrobatin und mein Vater ein Clown. Ich bin in einem dieser Wagen, die du draußen überall siehst, aufgewachsen, bis ich dann irgendwann eigenständig genug war, um einen eigenen zu bekommen. Damals habe ich erst Tickets verkauft, als ich noch klein war, und bin dann in die Fußstapfen meines Vaters getreten. In die sehr übergroßen, roten Fußstapfen."
      Grinsend zwinkerte er ihr zu.
      "Ich habe hier aber alles gelernt, was ich im Leben jemals brauchen könnte. Lesen, Schreiben, Rechnen, Finanzen, Musizieren, Jonglieren. Das ist doch alles, nicht wahr? Mehr braucht man nicht, um glücklich zu sein."
      Wieder ein unbeschwertes Grinsen, nur für Tessa.
      "Meine Mutter aber, bevor sie in den Zirkus gekommen ist, hat auch auf der Straße gelebt. Ganz ähnlich wie du, möchte ich meinen, auch wenn ich die Einzelheiten nicht sehr gut kenne. Morgens hat sie sich ihr Frühstück gestohlen, Mittags hat sie ihren Lohn dadurch gesammelt, an der vollen Hauptstraße Brieftaschen zu stehlen, und Abends hat sie sich ihr Essen meistens gekauft und sich dann eine Unterkunft gesucht. Bis sie meinen Vater kennengelernt hat, hat sie viele Jahre so leben müssen - aber mein Vater hat ihr eine Stelle im Zirkus verschafft, weil der Zirkusdirektor", er zwinkerte, "nett genug war, sie auch ohne Erfahrung einzustellen. Sie hat als..."
      Jetzt war der Moment gekommen, denken! Als was konnte er Tessa, die nicht lesen oder schreiben konnte, einstellen? Wo könnte sie anfangen? Sie hatte vermutlich keine Erfahrungen in irgendwelchen Bereichen hier, aber sie hatte Erfahrung auf der Straße - was für Talente brachte man von der Straße mit? Flinke Finger?
      "... Messerwerferin angefangen. Das ist nichts für die großen, abendlichen Auftritte, aber eher wie eine kleine Standeinlage. Sie hat meistens auf Zielscheiben geworfen oder auf sehr weit entfernte Ziele oder sie hat sich darauf konzentriert, ihre Messer in einem Muster zu werfen. Das ist eigentlich gar nicht schwierig, wenn man den Dreh mal raus hat."
      Jetzt legte er auch sein Besteck nieder, verschränkte die Finger ineinander, bettete sein Kinn darauf und grinste Tessa schelmisch an.
      "Du wirst sie sogar kennengelernt haben, meine Mutter. Sie ist die ältere Dame Ella beim Eingang. Sag mir, Tessa: Kannst du Messer werfen?"
    • "Vielleicht, aber Moral füllt keine leeren Bäuche. Mit Moral lässt sich kein Ofen im Winter heizen. Moral beschützt dich nicht vor schlechten Menschen und sie bringt dir auch die verlorene Zeit nicht zurück", antwortete sie ungerührt.
      Das Geständnis, das dem flüchtigen Exkurs zur Notwendigkeit von Moralvorstellungen folgte, schien Chester auf ehrliche Weise zu verblüffen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ Tessa ein wenig tiefer in den Stuhl sinken. Vielleicht hätte sie einfach den Mund halten sollen, aber es hatte sich nicht richtig angefühlt. Chester begegnete ihr mit aufrichtiger Freundlichkeit, da schuldete sie ihm zumindest eine ehrliche Antwort. Die Befürchtung wuchs ins Unermessliche desto länger Chester sie schweigend ansah. Unbehaglich rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. Mit einem hastigen Blick in Richtung des Zelteinganges versicherte sich Tessa, dass der einzige Fluchtweg noch frei zugänglich war. Dieses Mal würden sich der Diebin keine Wachleute in den Weg stellen. Sie jonglierte noch mit dem Für und Wieder einer überstürzten Flucht, da äußerte Chester mit einem peinlich berührten Lachen eine Entschuldigung und dieses Mal war es an Tessa überrascht vom Tisch aufzusehen. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie Spott in seinem Blick zu erkennen, fand aber nichts dergleichen. Die Entschuldigung war keine hohle Phrase. Tessa stieß den angehaltenen Atem aus bevor sie blau anlaufen konnte.
      "Schon gut. Das macht nichts", nuschelte sie kopfschüttelnd. "Nein, es hat mir niemand beigebracht. Eigentlich habe ich eine Schule noch nie in meinem Leben von Innen gesehen. Meine Mutter befand es als unnötig für mein zukünftiges Leben. Für sie war die Vorstellung mich zur Schule zu schicken die reinste Zeitverschwendung und ich wäre alt genug, um meinen Beitrag zu leisten. Während andere Kinder das Alphabet lernten, hat meine Familie versucht abzuschätzen ob ich zur Taschendiebin oder Trickbetrügerin tauge."
      Nervös krümmte Tessa die Finger unter dem Tisch.
      "Sie war keine besonders fürsorgliche Frau", fügte sie leise hinzu.
      Vorsichtige Zuversicht spiegelte sich in dem Lächeln auf ihren Lippen wieder, obwohl sie den Eindruck nicht los wurde, Chester mit ihrem aufrichtigen Bekenntnis enttäuscht zu haben. Vermutlich hatte er höhere Erwartungen an sie gehabt. Sie würde den Moment solange genießen, wie sie konnte, bevor Chester sie endgültig vor die Tür setzte.
      Stattdessen geschah etwas vollkommen anderes.
      Er entschied sich dazu ihre gestammelte Frage zu beantworten und schenkte ihr dabei ein Grinsen voller Unbeschwertheit, als würde er Tessa eine der wunderschönsten Geschichten erzählen, die die Welt zu bieten hatte. Tatsächlich begleitete seine Erzählung ein unaufdringlicher Hauch von Romantik. Das Lächeln der nervösen, jungen Frau verlor ein wenig der Gezwungenheit und sie stellte sich bildlich vor, wie Chester als Clown durch die Manege stolzierte. Auf eine seltsame Art und Weise passte es irgendwie zu dem Mann, der so darum bemüht war ein Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern und ganz eindeutig das eigene Grinsen nie verlor.
      Die schmalen Schultern der Diebin entspannten sich bis sie von einem leisen Kichern durchgeschüttelt wurden.
      "Die Schuhe haben dir bestimmt großartig gestanden", scherzte sie zurückhaltend. "Dein Vater war bestimmt sehr stolz auf dich, nicht wahr? Zumindest kann ich es mir lebhaft vorstellen. Deine Mutter hatte großes Glück ihn zu treffen. Es erinnert mich ein wenig an die Geschichten aus den Märchenbüchern, die Rosie den jüngeren Kindern hin und wieder vorliest."
      Chester musterte sie erneut eindringlich und die Diebin fragte sich, ob sie etwas Falsches oder unsagbar Dummes gesagt hatte.
      Mit großen, runden Augen sah Tessa ihren Gegenüber an. Hastig legte sie das Besteck hin, damit ihr der Löffel vor Erstaunen nicht aus den Fingern glitt.
      "Oh! Ella ist deine Mutter?", wiederholte sie und kam sich dabei vor wie ein schlechtes Echo. "Sie ist wirklich sehr nett."
      Die Überraschungen schienen kein Ende zu nehmen und bald schon hatte eine überrumpelte Tessa keine Gelegenheit mehr, sich für ihre fehlende Schulbildung oder ihre schmutzigen Kleidungsstücke zu schämen. Entweder war Chester ein hervorragender Menschenkenner und Beobachter oder er hatte einfach unverschämtes Glück. Mit der Frage nach dem Messer traf er regelrecht ins Schwarze. Wenn er beabsichtigt hatte, sie abzulenken, gönnte Tessa ihm den Erfolg auf ganzer Linie.
      Suchend glitt ihr Blick über den gedeckten Tisch, doch bei Eintopf und Brot fand sie das Gesuchte nicht. Behutsam fast schob Theresa den Stuhl etwas zurück und griff ohne Umschweife in ihren Stiefel. Das rostige Klappmesser zog sie langsam hervor und öffnete es mit einem unangenehmen Quietschen. Es hatte wirklich schon bessere Tage gesehen, war alt und schlecht ausbalanciert. Tessa ließ die Klinge selbstsicher durch die Finger gleiten. Ihr Blick huschte durch das Zelt bis sie einen der Balken fixierte, die das Zeltdach wie einen Baldachin hochhielten. Mit einem Seitenblick sah sie kurz zu Chester herüber.
      Sie betete, das sie ihr Ziel nicht fehlte und sich blamierte.
      Mit einer flinken Bewegung hatte sie den Arm gehoben, Chester den Rücken zugewandt und schleuderte das Messer locker aus dem Handgelenk nach vorne. Die rostige Klinge eierte durch die Luft und hatte dabei wenig von der Eleganz einer professionellen Messerwerferin. Ein dumpfer Aufprall ertönte als die Messerspitze geradeso im Holz des Balkens stecken blieb. Einen Zentimeter mehr nach links und das alte Messer wäre geradewegs an seinem Ziel vorbei gesegelte. Der Griff vibrierte bedenklich unter der Wucht des Aufpralls.
      Tessa ließ den Kopf in den Nacken sinken und legte ihn etwas schräg, um Chester über die Schulter ansehen zu können. Der geflochtene Zopf rutschte in seiner gesamten Länger über ihren Rücken nach hinten.
      "Ganz passabel, würde ich behaupten", grinste sie.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Tessa entspannte sich wieder, aber nur unmerklich. Chester musste wirklich aufpassen, vorsichtig mit Themen umzugehen, die ihr zu nahe gehen könnten. Dazu zählte ganz definitiv ihre Herkunft und alles, was damit in Zusammenhang stand.
      Aber sie waren hier nicht in der Stadt, sondern im Zirkus und Chester auch hatte nicht umsonst einen gewaltigen Zirkus unter sich, den er sich über die Jahrzehnte aufgebaut hatte. Er wusste, was er hier tat. Er hatte dieses ganze Schauspiel schon dutzende, hunderte, vielleicht tausende Male durchgemacht, für Menschen, denen er nichts abhaben konnten, für Freunde, an deren Anwesenheit er sich ergötzt hatte, für potentielle zukünftige eingeweihte, wie sie Tessa darstellte. Er wusste, was er hier tat. Er wusste, wie er tanzen musste, damit er zurück in den Takt fiel.
      Und offenbar gelang es ihm auch jetzt, denn Tessas Miene blieb nur für wenige weitere Sekunden starr und eingemeißelt, dann weichten sich ihre Züge langsam auf und das unsichere Lächeln wandelte sich in etwas, das auch ihre Augen erreichte. Sie ließ den Blick nicht von ihm ab, aber an der Art und Weise wie ihre Pupillen sich weiteten und wie sie einen ganz bestimmten Punkt in seinem Gesicht betrachtete, wollte er darauf schließen, dass seine Erzählung Bilder vor ihrem inneren Auge herauf beschworen. Hoffentlich von einem winzigen Grünschnabel mit dem Namen Chester, der die Besucher mit kindlicher Stimme im Zirkus begrüßte. Hoffentlich von einer Frau, die womöglich etwas von Chesters Gesichtszügen haben mochte und sich in einen Clown verliebte.
      Personen, die es so sicher irgendwann gegeben haben musste, von denen er aber nicht einmal mehr die Namen wusste.
      Tessa kicherte ein Kichern, bei dem ihre Schultern zuckten und sie sich darum zu bemühen schien, nicht allzu laut zu sein. Chester grinste mit, entzückt von den winzigen Lachfältchen, die sich auf ihren Wangen bildete. Sie waren gar nicht sehr ausgeprägt, Tessa lachte definitiv nicht oft genug. Auch das würde er ändern.
      "Das haben sie! Ich hatte die besten Schuhe im ganzen Land. Und jeder hat mich darum beneidet!"
      Sein Grinsen sackte nicht ein, zu keiner Sekunde, seine Zähne blitzten weiterhin auf und er kniff die Augen weiter gerade richtig zusammen, um seine eigenen Lachfalten am besten hervorzubringen, aber für einen Augenblick spürte er fast, dass es ihm entglitt und vom Gesicht rutschte wie ein nasser Lappen. Nur für einen kurzen Augenblick, in dem ein Kälteschauer durch seinen Körper schoss.
      War sein Vater stolz auf ihn? Wäre er es jetzt? War ein Mann, den Chester sicher irgendwann mal kennengelernt hatte - vielleicht aber auch nicht - und der trotz aller Bemühungen ihm irgendwann aus der Erinnerung entglitten war, stolz auf ihn? Was würde er wohl sagen, dieser Unbekannte, den Chester nicht kannte, aber der ihn sicher besser kannte als er sich selbst; wäre er stolz auf ihn?
      "Mein Vater war ganz begeistert von mir. Er hat mich angesehen und gesagt "das ist mein Sohn" als wäre ich irgendein Preis, den er gewonnen hat."
      Diese Lüge schmeckte bitter, fand er. Sie schmeckte vergammelt. Eigentlich hatte er noch einen Bissen von ihrer Mahlzeit nehmen wollen, aber ihm war die Lust daran vergangen. So einen großen Hunger hatte er sowieso nicht gehabt, er wollte nur Tessa durchfüttern.
      Da war das Thema seiner vermeintlichen Mutter doch viel angenehmer, denn es war tatsächlich nicht schwierig sich vorzustellen, dass Ella diese Rolle einnahm - solange er nicht allzu sehr darüber nachdachte, dass die alte Frau am Eingang dieselbe junge Frau mit den dichten, schwarzen Haaren und dem freundlichen Lächeln war, die vor einigen Jahrzehnten auf seine Uhr verzichtet hatte. "Du brauchst keinen Fluch, damit ich bleibe. Ich bleibe auch so". Ja, wenn er einfach so tat, als wäre die Frau von damals eine andere, konnte Ella seine Mutter sein, wieso nicht. Zwar eher irgendwas wie eine Ziehmutter, aber wen interessierten schon solche Feinheiten.
      "Sie ist eine sehr liebenswürdige Person. Hat mich immer mit dem Kochlöffel gejagt, wenn ich Süßigkeiten gestohlen habe, aber das gehört alles zum Showbusiness. Und zum Risiko."
      Und dann war der Moment der Wahrheit gekommen. Chester schätzte, dass Tessa schlau genug sein würde, um die Geschichte nicht nur als solche aufzufassen. Keine Geschichte hatte jemals nur den Zweck zu unterhalten, aber während sie so dasaß und den Blick über den Tisch schweifen ließ, wusste er nicht, ob sie es verinnerlicht hatte. Wenn er es sich recht überlegte, wusste er aber eigentlich gar nicht, was sie überhaupt dachte.
      Dann schob sie ihren Stuhl zurück, griff sich - noch immer schweigend - nach unten ans Bein und holte das Messer hervor, das Chester vor ein paar Tagen schon auf seinem Tisch bemerkt hatte, als sie im Zelt auf ihn gewartet hatte. Messer konnte man es eigentlich nicht nennen, denn das wäre eine Beleidigung an alle wirklichen Messer. Die Klinge war von Rost überzogen und nicht mehr ganz scharf, die Scharniere schienen beim Aufklappen zu stören und der Griff wirkte nicht unbedingt fest mit der Klinge verbunden. Ausgeleiert vermutlich von zu häufigem Auf- und Zuklappen. Aber Tessa nahm es und sah sich dann weiter um, während Chester sie ansah. Wie ein mutiges, scheues Reh, das jetzt doch wagte, einen Schritt auf das Licht zuzumachen. Nur einen einzigen. Es war ein fast einzigartiger Anblick.
      Ihre Augen schienen gefunden zu haben, was auch immer ihr Ziel war. Ihr Blick huschte zu Chester, Bestätigung suchend, entweder dass er sie nicht auslachte oder dass er sie beobachtete. Chester gab ihr beides. Er legte nur den Kopf schief, sein mutiges Reh mit warmen Blick beobachtend.
      Sie warf das Messer mit einer ausladend, erstaunlich flüssigen Bewegung.
      Chester beobachtete, aber nicht das Messer. Er beobachtete die Bewegung, die Tessa durch den Rücken floss, das Zucken ihrer Schulterblätter, als sie den Arm hob, der Dreh ihres Ellbogens - ein bisschen mehr nach außen, ein bisschen mehr nach außen! - die Beugung ihres Handgelenks. Die Finger um den Griff. Der Schwung, der aus der Schulter und nicht dem Arm kam, das lockere Handgelenk. An welcher Stelle sie das Messer losließ.
      In dem Moment wusste er, dass er mit der Geschichte genau ins Schwarze getroffen hatte. Dass er es nicht besser hätte treffen können.
      Dann sah er dorthin hinüber, wohin sie die Waffe geworfen hatte und sprang mit einem Ruck auf, dass ihm fast der Stuhl umgefallen wäre.
      "Fantastisch! Das war unglaublich! Grundgütiger, Tessa!"
      Er sprang zum Balken hinüber, duckte sich aber unter das Messer ohne es zu berühren, um den wackeligen Halt mit dem Balken bloß nicht zu gefährden. Seine Augen strahlten ganz aufrichtig, als er sich zu ihr umsah.
      "Siehst du das? Genau rein! Wie gerade es ist! Grandios!"
      Er begutachtete es von allen Seiten, sah aber immer wieder zu ihr zurück. Natürlich saß es nicht gut, natürlich wäre es fast vorbeigeflogen, natürlich drohte es gleich wieder herauszufallen. Aber das war alles unwichtig; der Weg war das Ziel, nicht das Ziel selbst.
      "Das war eine ganz vorzügliche Wurftaktik! Die Bewegung aus dem Handgelenk - aber der Schwung aus der Schulter! Und dann auch noch so genau! Lass mich - darf ich mal?"
      Er deutete auf das Messer und erst mit Tessas Erlaubnis zog er es vorsichtig heraus und hielt es in der Hand. Die Klinge war unbalaciert, das konnte kein Resultat von zu langer Lebzeit sein. Das war schlicht nachlässige Arbeit.
      Umso beeindruckender, dass Tessa damit einen solchen Wurf hingelegt hatte.
      Chester kam zu ihr geschossen und hielt ihr das Messer mit kindlicher Freude hin.
      "Mach das noch einmal, das will ich nochmal sehen - nein!"
      Seine Augen wurden groß. Schließlich durfte er ja sein Schauspiel nicht ganz vergessen.
      "Wir machen das anders. Ganz anders. Komm mit - oder nein, nein. Wir essen erst. Wir essen erst und dann gehen wir."
      Er ging einen Schritt in Richtung seines Platzes, überlegte es sich anders, wirbelte wieder zu Tessa herum. Ehrlicherweise war das meiste hiervon gar nicht so sehr geschauspielert, immerhin hatte sie ihn ehrlich überrascht mit diesem Talent.
      "Nein, das Essen wird auch später noch da sein, ich verspreche es dir. Ich bin einfach zu neugierig! Komm mit, ich entführe dich. Nur ganz kurz, versprochen! Oder solange du möchtest!"
      Er hielt ihr die Hand hin und falls sie sie nahm oder auch nicht war ihm eins, hauptsache sie lief mit ihm nach draußen und ließ sich von ihm durch das Labyrinth an Wägen führen. Es dauerte keine zwei Minuten, dann waren sie an einem anderen öffentlichen Teil des Zirkusses herausgekommen, an dem die gleiche rege Vorbereitungsstimmung herrschte wie auch überall sonst. Zu dieser Tageszeit hatten die meisten Stände geschlossen, aber Chester peilte einen offenen an - einen Wurfstand. Ja, das war schon vorhersehbar gewesen, aber er konnte Tessa schließlich nicht mit so einem klapprigen Möchtegern-Messer werfen lassen.
      "Billy! Billy!"
      Ein Mann richtete sich hinter dem Tresen auf, sicher über 50 und eine Pfeife im Mundwinkel.
      "Mach Pause, ich bin dran!"
      Billy öffnete den Mund um etwas zu sagen, sah dann Tessa gleich hinter Chester, klappte ihn wieder zu, starrte die Frau an und seufzte, bevor er eine versteckte Tür an der Seite öffnete und nach draußen schlurfte. Chester hielt sich nicht mit der Tür auf, er sprang geradewegs über den Tresen hinüber und brachte eine ganze Kiste Wurfmesser zum Vorschein, die er strahlend vor Tessa hinstellte. Dann huschte er an die Rückwand und begann die Ziele aufzuhängen.
      "Wirf noch einmal! Und wenn du genug triffst, darfst du dir ein Geschenk aussuchen, wie wäre das?"
    • Mit einem gehörigen Schrecken hüpfte Tessa geradewegs von ihrem Stuhl. Die überschwängliche Reaktion vom Kopfende des Tisches traf die schüchterne Diebin dermaßen unerwartet, dass sie sich nicht einmal um das zitternde Besteck, Glas und Porzellan sorgte, das bedrohlich einen Satz machte, weil Tessa mit ihrem übereilten Manöver den Tisch angestoßen hatte. Löffel und Messer schlitterten ein Stückchen über die gedeckte Tafel während der Eintopf gefährlich in seinem Behältnis schwappte. Servietten flatterten achtlos zu Boden, doch Tessa hatte nur Augen für den Mann, der in heller Aufregung um den Holzbalken des Zeltes herum wirbelte. Chester war vollkommen aus dem Häuschen als hätte Theresa ihm gerade ein brandneues Weltwunder präsentiert. Er überschüttete sie mit Lob in den blumigsten Worten und für einen aberwitzigen Moment fürchtete Tessa, dass er vor Überschwänglichkeit vergaß zu atmen. Es war absurd, übertrieben und ganz und gar verrückt.
      Verräterisch zuckten ihre Mundwinkel bis sich das breite Grinsen einfach nicht mehr verstecken ließ. Tessa wusste, dass Chester mit allen Mitteln versuchte, sie zu bestärken, obwohl sie die Gründe immer noch nicht ganz verstand. In seiner Übertreibung war er dabei aber so überaus liebenswert, dass sie es nicht übers Herz brachte ihm die ehrliche, ungebändigte Freunde vorzuenthalten, die seine Bemühungen bei ihr auslösten. Ungetrübter Stolz blitzte seit langer Zeit zum ersten Mal in ihren Augen auf und die Grübchen auf ihren Wangen gruben sich regelrecht in ihr Gesicht. Sie ließ sich von seiner guten Laune anstecken und störte sich nicht an dem Gefühl, dass sie gerade tiefrot anlief. Damit machte sie vermutlich einer überreifen Tomate wirklich ernsthafte Konkurrenz.
      Sie beobachtete wie Chester das abgenutzte Taschenmesser mit solcher Vorsicht aus dem Holz zog, als hielte er einen kostbaren Schatz in Händen. Die Bewunderung in seinen Augen für einen offensichtlichen Glückstreffer war herrlich anzusehen. Tessa war fasziniert von der beinahe kindliche Begeisterung über ihren Wurf. Sie war ganz und gar bezaubert.
      Tessa bekam nicht die winzigste Chance eine vernünftige Antwort zu geben. Dafür änderte Chester viel zu oft seine Meinung. Der Diebin wurde davon fast schwindelig im Kopf. Anstatt eine eloquente Antwort zu geben, entfloh Tessa ein herzliches Lachen. Es hallte durch das gesamte Zelt des Zirkusdirektors und wischte die Unsicherheit auf ihrem Gesicht fort. Das Mädchen mit der bedrückenden Last auf ihren Schultern verwandelte sich in eine lebensfrohe, junge Frau, die aus tiefstem Herzen lachte um der Freude Willen.
      "Oh Gott, Chester. Langsam, langsam...Das war pures Glück, ich war mir nicht mal sicher, dass...", gluckste sie.
      Über den Wirbel um ihren glücklichen Messerwurf vergaß sie fast den geplagten Gesichtsausdruck, der für den Bruchteil einer Sekunde über Chesters Gesicht gehuscht war als sie seinen Vater angesprochen hatte. Die Veränderung war so unscheinbar gewesen, ein winziger Sprung in der Maske einer allgegenwärtiger Frohnatur, er hätte eine Einbildung sein können. Sie prägte sich den flüchtigen Moment ein. Tessa sah darin keine unverzeihliche Schwäche, es machte Chester ein weiteres Stückchen greifbarer. Die Perfektion seines Lächelns und seines eloquenten Charmes schüchterte Tessa ein kleines Bisschen weniger ein. Sie hatte das Gefühl mehr von dem Mann zu sehen, der Chester war, und nicht von der Kunstfigur, die er der jubelnden Menge präsentierte.
      Weshalb sie ohne Zögern nach seiner Hand griff und sich aus dem Zelt ziehen ließ.
      Kichernd stolperte Tessa ihm hinter her und verdrängte dabei die zum Teil neugierigen aber auch argwöhnischen Blicke, die ihnen folgten. Sie konnte den Finger nicht darauf legen, warum die Mitglieder der Zirkus sie eindringlich musterten. Die Gesichtsausdrücke waren von Person zu Person unterschiedlich. Hin und wieder entdeckte sie ein lächelndes Gesicht darunter und manchmal eine betrübte Miene, die verdächtige Ähnlichkeit mit Mitleid hatte. Wie viele Mädchen hatte Chester auf diese Weise schon durch seinen geliebten Zirkus geführt? Tessa schüttelte den Kopf.
      "Jetzt verrat mir doch wohin du willst...", lachte sie. "Warte, ich komm ja kaum hinter..."
      Beiläufig hüpfte sie über Zeltschnüre und herumliegende Habseligkeiten. Mit einem hastigen Entschuldigung! wich sie einem grimmig dreinblickenden, stämmigen Kerl aus, der über und über bepackt war mit Töpfen und Pfannen. Vermutlich der Koch, dachte Tessa. Ihre Finger schlossen sich fester um seine warme Hand, damit sie ihn in der Eile nicht verlor. Es dauerte nur wenige Minuten, da fand sich die atemlose Diebin vor einem Wurfstand wieder - einen Wurfstand mit echten, scharfen, glänzenden Messern.
      "Oh!", rief sie aus.
      Eigentlich hätte sie sich auch denken können, dass Chester vorhatte ihren Glücktreffer mit ordentlichem Wurfwerkzeug zu wiederholen.
      "Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist", zweifelte Tessa. "Damit könnte ich wirklich jemanden verletzen...Das Taschenmesser taugt ja kaum zum Schälen von Äpfeln, aber die da...sehen verdammt scharf aus."
      Der Besitzer des Standes wollte protestieren, ließ es aber bleiben als er einen Blick auf Tessa warf, die halb versteckt hinter Chester herum lungerte. Da war er wieder, dieser Blick. Schweigen trollte sich der Mann von dannen und überließ seinem Boss den Stand. Prüfend warf sie einen Blick in die Kiste. Tessa war nervös aber der Nervenkitzel schien die junge Frau zu reizen.
      "Deal. Ich garantiere für nichts", mahnte sie. "Wenn sich eines von den Dingern verirrt, geht das auf deine Kappe."
      Mit einem schiefen Grinsen auf den Lippen, zog sie eines der Messer aus der Kiste.
      Der Unterschied zu ihrem klapprigen Taschenmesser fiel sofort ins Gewicht. Die Klinge war um ein vieles leichter und der Griff schmiegte sich perfekt in ihre Handfläche. Das polierte Metall reflektierte das Licht ohne jeglichen Makel und als Tessa die Schneide über ihren Handrücken gleiten ließ, büßte sie ein paar der feinen Härchen ein. Die Dinger sahen nicht nur scharf aus, sie waren auch verdammt scharf. Sie war die schlecht ausbalancierte Klinge gewöhnt, war auf das Trudeln des Messers im Flug eingestellt.
      Mutig trat sie einen Schritt zurück, um bei einem Ausfallschritt nach vorn nicht gegen den Tresen zu stoßen. Ein letztes Mal wog sie das Gewicht des Wurfmessers zwischen ihren Fingern, ehe sie in Position ging als Chester aus der Gefahrenzone heraus war.
      Konzentriert visierte sie das erste Ziel an wobei ihre Zungenspitze zwischen den zusammengepressten Lippen hervorlugte.
      Sie atmete tief durch.
      Einmal. Zweimal. Dreimal.
      Tessa wiederholte dieselbe Bewegungsabfolge von vorhin und spürte bereits, dass sie das Ziel verfehlen würde, bevor das Messer aus ihrer Hand schnellte. Zischend flog das Wurfmesser durch die Luft, überschlug sich in einem schnellen Wirbel, den Tessa nicht gewöhnt war und auch nicht einkalkuliert hatte, und blieb im Stroh hinter den eigentlichen Zielen stecken. Sie hatte eines von Chesters aufgehängten Zielen um einen peinlichen, halben Meter verfehlt.
      "Immerhin habe ich niemanden getroffen...", meinte sie, halb ihm Scherz und halb vor Erleichterung.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Quatsch mit Sauce. Ich bin doch da, ich werde schon aufpassen, dass du hier niemanden verletzt.
      Chester kam von der Rückwand mit den Zielen wieder nach vorne gehüpft und schwang sich auf die äußerste Ecke des Tresen, wo er seine Beine baumeln ließ. Dann grinste er Tessa aufmunternd zu, die von seinen ganzen überschwenglichen Komplimenten immernoch geradezu strahlte und leuchtete. Das würde er sich merken, das schien ihr zu gefallen. Das schien sie aus der steifen Hülle herauszuholen, die sie um sich trug.
      Dieses Mal setzte sie mehr Körper ein, vielleicht, weil sie sich jetzt besondere Mühe geben wolle. Chester konnte das durchaus wertschätzen, auch er wollte sehen, wie schön sie werfen konnte, wenn sie mehr Eifer dahinter steckte. Es prickelte ihm geradezu in den Fingerspitzen, das beste aus ihr herauszuholen. Seine kleine Lilie, die er blühen lassen wollte.
      Tessa setzte an, ein Stück vom Stand weg, den Blick fest auf das Ziel gerichtet, den Oberkörper leicht nach hinten geneigt. Ihre Zunge lugte ein bisschen hervor. Es war ein allzu niedlicher Anblick, Chester kicherte in sich hinein, stumm, damit er sie nicht aus der Konzentration reißen würde. Dann kam der Augenblick und es hätte wohl keinen wirklich überrascht, dass das Messer daneben flog; ihr Handgelenk drehte sich, ihre Finger ließen den Griff zu spät los und damit wirbelte das Geschoss ungesund durch die Luft, eine nette Kurve schlagend, um das Ziel völlig zu verfehlen. Chester strahlte trotzdem.
      Gut getroffen! Ich habe dir schließlich auch nicht gesagt, worauf du zielen musst, nicht wahr?
      Schelmisch zwinkerte er ihr zu und schwang sich dann auf ihrer Seite des Standes wieder auf den Boden hinab. Bewusst locker schlenderte er an ihre Seite, während Tessa bereits das nächste Messer nahm.
      Deine Haltung ist aber wirklich gut! Das machst du ganz automatisch, nicht wahr? Das mit der Schulter? Das ist ganz fantastisch!”
      Er stellte sich ihr gegenüber auf und lächelte sie entzückt an. Dann ergriff er ihren Arm und hob ihn zurück in die Wurfshaltung.
      Aber du musst lockerer dafür sein. Ganz locker halten.”
      Er wackelte ihren Arm ein bisschen, bis Chester zufrieden mit ihr war und Tessa kicherte.
      Und dann suchst du dir erst den Punkt. Dass er genau über der Klinge liegt.
      Er hielt Tessas Arm weiter, während sie sich nach vorne lehnte - nur lehnte er sich dann selbst zu ihr. Er beugte sich hinab, bis ihre Gesichter nahe genug zueinander waren, dass sie sich fast berührt hätten. In voller Absicht neigte er sich weiter, damit sein Atem sie streichen konnte, wenn er sprach.
      Leiser, eindringlicher, intimer sprach er weiter.
      So ist's richtig. Ganz locker lassen. Sieh den Punkt an.
      Seine Augen flackerten zu ihrem Gesicht hinüber, zu ihren eigenen Augen, ihrer Nase, ihrem Mund. So nah bei ihr konnte er den Geruch von Straße wahrnehmen, von Wetter, von altem Stoff. Arme, arme Tessa.
      Merk dir jetzt, wie hoch dein Ellbogen ist. Halte ihn auf dieser Höhe, ja? Wenn du deinen Arm jetzt zurückziehst, dann aus der Schulter, nur aus der Schulter. Du ziehst ihn so zurück, wie du auch werfen wirst.
      Absichtlich raunte er tiefer:
      Schaffst du das?
    • Die Enttäuschung über den verpatzten Wurf hielt nicht allzu lange an.
      Chester schenkte der Diebin ein zuversichtliches Lächeln begleitet von spitzbübischen Zwinkern, das ihre Laune jedes Mal mit unverschämter Sicherheit aufhellte. Wenn er sie auf diese Art ansah, hatten die düsteren Gewitterwolken über ihrem Kopf nicht die geringste Chance. Außerdem war die Stimmung zu schön, zu aufgelockert um über einen misslungenen Messerwurf den Spaß zu verlieren und Tessa hatte Spaß, weshalb sie auch gleich die Kiste heran zog und nach einem zweiten Messer angelte. Wenn Chester tatsächlich Potential in ihrem Anfängerglück sah, wollte sie ihn keinesfalls enttäuschen. Tessa suchte hochkonzentriert nach einer kleineren, leichteren Klinge. Dabei bemerkte sie nicht einmal, dass Chester sich langsam näherte. Erst als seine Stimme direkte neben ihr erklang, zuckte die junge Frau ein wenig zusammen und drehte den Kopf in seine Richtung.
      "Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, was ich da eigentlich mache", gestand sie mit einem verlegenen Kichern.
      Bedächtig zog sie das auserwählte Messer aus der Kiste, mit dem sie einen neuen Versuch wagen wollte, da schob sich Chester mit einer fließenden Bewegung zwischen sie und den Tresen. Überrumpelt trat Tessa einen winzigen Schritt nach hinten, um einen gewissen Abstand zu wahren, da hatte er bereits ihren Arm ergriffen. Die Muskeln spannten sich unter der unerwarteten Berührung an. Sie zuckten, als kämpfte Tessa mit der Entscheidung, ob sie ihm den Arm entziehen oder lassen sollte. Theresa entschied sich für Letzteres und ließ die merkwürdige Spannung in der Luft auf sich wirken. Chester wusste, wie eigentlich immer, wie er ihr helfen konnte. Lachend schüttelte er ihren Arm damit sich die Muskeln wieder entspannten. Während Tessa ein wenig Mühe hatte, dabei das Messer nicht aus den Fingern zu verlieren, kicherte sie belustigt. Die Übung wirkte und Arm lag schon bald locker in seiner Hand.
      Zuversichtlich nickte Tessa und lehnte sie etwas vor um das nächste Ziel in Augenschein zu nehmen, aber Chester räumte nicht das Feld sondern blieb an Ort und Stelle stehen. Überrascht hielt sie in der Bewegung inne und musste den Kopf zurücklegen, um ihn fragend ansehen zu können. Plötzlich war sein Gesicht so nah, dass ihre erste instinktive Reaktion war, von ihm wegzutreten. Aber ihr Arm lag immer noch in seinem sanften Halt und sie wusste, dass sie sich jeder Zeit lösen konnte, wenn sie es denn wollte.
      Tessa schluckte und ihre Füße hatten am Boden Wurzeln geschlagen.
      Sie versuchte, wie er verlangte, den Punkt zu fixieren, den sie treffen wollte. Mittlerweile war Chesters Gesicht noch näher und warmer Atem streifte ihre Wange, denn sie hatte den Kopf ein wenig gedreht damit sie über seiner Schulter die Ziele erspähen konnte. Eine Gänsehaut breitete sich über ihren gestreckten Hals aus und eine unvertraute Wärme kroch über ihre Wirbelsäule.
      "...Sieh den Punkt an.
      Ganz von allein zuckte ihr Blick vom eigentlichen Ziel zu seinem Gesicht. Er hüpfte von den blassblauen Augen, die sie fesselten, über den geraden Nasenrücken und die liebenswerten Lachfältchen schließlich hinab zu seinem Mund. Als Chester weitersprach, schnappte ihre Aufmerksamkeit von seinen geöffneten Lippen zurück zu den Zielscheiben. Ihre Wangen und ihr Nacken glühten.
      Die ganze Zeit über brachte Tessa kein Wort hervor, denn ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an. Sie gab sich Mühe seinen Anweisungen zu folgen und konzentrierte sich auf die Haltung ihres Ellbogens, die er fortwährend korrigierte, bis er zufrieden damit war.
      Schaffst du das?"
      Das tiefe, dunkle Raunen unweit ihres Ohres vibrierte bis unter ihre Haut. Es hüllte sie ein, warm und verlockend. Die Finger am Messergriff zuckten verräterisch und die feinen Härchen im Nacken stellten sich auf. Die Pupillen ihrer Augen wurden so groß, dass sie das warme Braun beinahe vollständig verdrängten bis kaum mehr übrig war als ein schmaler Ring der Iris.
      Tessa blinzelte schnell hintereinander.
      "Ja...", antwortete sie flüsternd und wunderte sich über den brüchigen Ton ihrer Stimme. Sie räusperte sich. "Würdest du...?"
      Sie gestikulierte etwas ungeschickt neben sich damit Chester ihr ein wenig Platz einräumte. Dabei wagte sie einen Blick zurück zu seinem Gesicht und fühlte den holprigen Rhythmus ihres Herzschlages. Erst als er nickte und ein wenig zur Seite trat, hörte das merkwürdige, nicht unangenehme Zittern. Dennoch blieb er nah genug, dass sie sich seiner Präsenz überdeutlich bewusst war, und gleichzeitig weit genug weg, um nicht aus Versehen getroffen zu werden.
      Tessa führte den zweiten Wurf aus. Sie holte die Kraft auf ihrer Schulter, ließ den Ellbogen gerade und bemühte sich das Wurfmesser nicht krampfhaft zu umklammern. Die Klinge steckte am Ende ihrer Flugbahn tatsächlich im Holz des kreisrunden Ziels. Am äußersten Rand und haarscharf, aber es steckte. Sie war davon selbst so überrascht, das sie ein kleines Stückchen in die Luft hüpfte. Das Lächeln reichte über die geröteten Wangen fast von einem Ohr bis zum anderen. Tessa sah Chester mit großen, leuchtenden Augen an.
      "Getroffen! Ich hab' getroffen!", rief sie aus und wirbelte auf dem Absatz zu ihm herum. "Hast du das gesehen!?"
      Das Phantom seines Atems fühlte sie noch immer auf ihrer Haut.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 3 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Innerlich freute sich Chester so tierisch wie schon lange nicht mehr. Er war eigentlich noch recht zurückhaltend gewesen, ganz zahm und vorsichtig, damit er die schreckhafte Tessa nicht verschreckte, und trotzdem reagierte sie auf seine Nähe auf eine solch reizvolle, charmante Weise. Ihr Kopf wurde ganz rot, eine gesunde, starke Farbe, die sich ihr auch in den Hals hinab zog, und ihr Blick sprang ganz aufgeladen zu seinen Augen hinüber, fiel zu seinem Mund ab, zwang sich dann selbst wieder auf die Ziele und den Stand. So unschuldig, so liebevoll. Sie begegnete Chesters Annäherung nicht mit einer Offenheit, als wäre es ganz selbstverständlich, dass er ihr so viel Aufmerksamkeit schenken sollte, weil sie es schließlich erwartet hatte, sondern als würde sie selbst noch verdrängen, dass das hier gerade wirklich geschah. Dafür musste er sich eben mehr Mühe geben. Lass mich dich davon überzeugen, dass du es wert bist, meine liebste Tessa.
      Ihre Pupillen wurden ganz groß, die Röte in ihrem Kopf vertiefte sich sogar noch und Chester hielt sich gerade noch ab zu kichern. Das war wirklich allzu niedlich anzusehen. Dafür war er auch so großzügig und entließ sie auch wieder seiner Folter, um das Messer richtig werfen zu können. Immerhin hatte sie sich noch ein Geschenk zu verdienen.
      Sie zog die Schulter zurück, sie behielt den Ellbogen auf gleicher Höhe, sie ließ das Handgelenk locker, sie warf - und als sie traf, hüpfte sie vor Begeisterung. Auch Chester grinste breit, während er sich das Messer aus der Distanz ansah. Sie schien einen leichten Linksdrall zu haben, aber das war nichts, was man nicht ausbessern konnte. Alles in allem war es ein wirklich guter Wurf gewesen.
      Und wie du getroffen hast!”, lachte er und sprang zurück über den Tresen, ließ Tessa für den Augenblick alleine. Er wollte sie mit seiner Anwesenheit schließlich nicht überfordern.
      Schau nur, der sitzt fest!
      Er trat an das Ziel heran und wackelte nur ein kleines bisschen an dem Messer. Es hätte tiefer und fester sitzen können, aber immerhin hatte Chester schon gelernt, dass Komplimente bei Tessa gut zogen.
      Und das gerademal nach dem zweiten Wurf! Du bist der Wahnsinn, Tessa! Ich bin so stolz auf dich, das glaubst du mir gar nicht!
      Lachend zog er das Messer heraus und kam dann zurück geeilt, um es zurück in die Box zu werfen. Dann ging er wieder zu den Zielen hinter und ging unter ihnen in die Hocke. Jetzt, wo er herausgefunden hatte, dass sie einen leichten Linksdrall hatte, konnte er ja ein bisschen nachhelfen.
      Mach das nochmal! Drei Mal werfen und wenn du alle drei Mal triffst, kannst du dir das größte Geschenk raussuchen, das wir hier haben!