Clockwork Curse [Codren & Winterhauch]

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    • Clockwork Curse [Codren & Winterhauch]

      Clockwork Curse
      by @Codren & Winterhauch


      They are enthusiasts, devotees. Addicts. Something about the circus stirs their souls,
      and they ache for it when it is absent. They seek each other out, these people of
      such specific like mind. They tell of how they found the circus, how those first
      few steps were like magic. Like stepping into a fairy tale under a curtain of stars.


      "Das ist mit Abstand die dümmste Idee, die du jemals hattest, Tess", flüsterte Rosalie.
      Der Rotschopf sah sich nervös zu allen Seiten um und bemühte sich gleichzeitig darum die Balance auf dem matschigen Untergrund nicht zu verlieren. Rosalie ächzte unter dem Gewicht der zweiten Person, die gerade versuchte mit Hilfe einer wackeligen Räuberleiter über den massiven Eisenzaun zu klettern. Die Schuhsole drückten sich beißend in die Handflächen ihrer verschränkten Hände während sie sich mit aller Kraft gegen das Gewicht stemmte, das sie beständig tiefer in den Matsch drückte. Das Mädchen, das gerade angestrengt versuchte sich über den Zaun zu hieven, pustete sich kichernd eine störende Haarsträhne aus den Augen und klang dabei für Rosalies Geschmack ein wenig zu vergnügt. Die zierliche Brünette mit den blassgrünen Augen und der geteilten Augenbraue war eine äußerst talentierte Taschendiebin und Rosalie kannte das Mädchen seit sie beide als Jugendliche zu einer chaotischen Bande aus Waisenkindern und Ausreißern gestoßen waren.
      Theresa Penhallow hatte eindeutig zu viel Spaß an brenzligen Situation.
      "Stell Dich nicht so an, Rosie. Das wird das reinste Kinderspiel. Ich will mich doch nur kurz umsehen und komme sofort wieder zurück. Easy peasy", kam die Antwort von oben.
      "Hör auf 'easy peasy' zu sagen. Das letzte Mal, als Du das gesagt hast, haben wir eine ganze Nacht in einem stinkenden Müllcontainer verbracht", grummelte Rosie.
      "Weniger jammern, mehr drücken", antwortete Tessa.
      Rosalie verdrehte dermaßen stark die Augen, dass sie davon Kopfschmerzen bekam. Sonderlich verwundert, war sie allerdings nicht. Theresa hatte ein ausgesprochen gutes Händchen für kühne Manöver und auf ein unbekanntes Zirkusgelände einzubrechen, auf dem kurz vor Beginn der Vorstellung noch Hochbetrieb herrschte, passte perfekt ins Schema. Das Argument, das alle Angestellten des Zirkus ausschließlich Augen für die zahlende Kundschaft und ihre Vorbereitungen hatten, beruhigte den Rotschopf nicht. Sobald die ansässige Miliz die dreisten Eindringlinge entdeckte, hieß es für die nächsten Monate die tristen Innenwände einer Zelle zu bewundern. Rosie legte ihre letzten Kraftreserven in die Räuberleiter und ein Knie drückte sich dabei unangenehm in ihre Schulter. Wenn Tessa es nicht bald über den Zaun schaffte, würden sie beide auf ihrem Hintern im Matsch landen. Der Druck auf ihren Händen ließ plötzlich nach und sie geriet für eine Sekunde ins Straucheln. Mit rudernden Armen fand Rosalie halt an den kalten Metallstangen und klammerte sich regelrecht daran fest. Besorgt sah sie nach oben. Die geschmiedeten Zierelemente auf der Umzäunung hatten in der Dunkelheit und im dichten Nebel verdächtig spitze ausgesehen. Fröstelnd zog Rosie die alte Jacke fester um den Körper. Es war ungemütlich und unheimlich und selbst die fröhliche Melodie, die vom imposanten Zirkuszelt ausging, konnte sie über die feuchte Kälte nicht hinweg trösten. Sie wollte nach Hause.
      "Tess?", flüsterte sie beunruhigt.
      Über der besorgten Rosalie hatte Theresa Penhallow nur Augen für das märchenhafte Bild, das sich ihr eröffnete.
      Vom Boden aus war es nicht gut genug zu erkennen gewesen, aber das Gelände des Wanderzirkus schien endlos groß zu sein. Überall verstreut standen bunte Zelte und hölzerne Wohnwagen, bei denen die Farbe bereit von Wind und Wetter gepeinigt abblätterte. Wiederum sahen andere Behausungen fast brandneu aus. Aus winzigen Schornsteinen waberte dichter Qualm empor und vermischte sich mit dem allgegenwärtigen Nebel, der alles zu umgeben schien. Überall erhellten altmodische Gaslämpchen die Pfade zwischen den Zelten und flackerten in der späten Abenddämmerung wie ein Schwarm verirrter Glühwürmchen. Es war bereits zu spät und das Licht zu schwach, um wirkliche viele Einzelheiten erkennen zu können, aber der Zirkus wirkte fast ein wenig aus der Zeit gefallen. Oder aus verschiedenen Zeiten zusammen gesetzt wie ein eigenartiges Puzzle.
      Die Neugierde war entfacht und Tessa schwang voller Tatendrang erst ein Bein dann das andere über die scharfkantigen Eisenverzierungen. Mit den Händen umklammerte sie die oberste Zaunstrebe und ließ die Beine für einen flüchtigen Augenblick in der Luft baumeln. Als sie sich abstieß, fühlte sie sich kurz schwerelos. Es waren die wenigen Sekunden zwischen Loslassen und Fallen. Sie liebte das Gefühl, wie sich ihr Kopf kurzzeitig wunderbar leer und frei anfühlte. Dann berührten ihre Stiefel den Boden und der Zauber war vorbei. Triumphierend und mit einem strahlenden Lächeln, das vom linken bis zum rechten Ohr reichte, wirbelte sie zu Rosie herum.
      "Siehst du? Kinderleicht", raunte sie und trat kurz näher an den Zaun heran. "Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, verschwindest du. Verstanden? Ich find schon irgendwie einen Weg raus, wenn etwas schief läuft."
      "Ich verstehe immer noch nicht, warum du unbedingt da rein willst", murrte Rosie.
      "Denk mal nach, Rosie. Hast du nicht gehört, welche Geschichten sich die Besucher vor dem Eingang erzählt haben?", fragte Tessa und verschränkte trotzig die Arme.
      "Von wertvollen Schätzen und seltenen Schmuckstücken aus purem Gold und Edelsteinen? Das glaubt Du doch nicht wirklich?", antwortete Rosie skeptisch. "Das sind Märchen!"
      "Dieselben Märchen, die mir meine Mutter erzählt hat! Außerdem ist es die perfekte Gelegenheit, um unsere Kasse ein wenig aufzubessern. Wenn alle gebannt in die Manege starren, achtet keiner auf seinen Geldbeutel", verteidigte sie ihre Idee.
      "Schon gut, schon gut. Versprich mir nur, dass du vorsichtig bist.", verlangte der Rotschopf.
      "Bin ich doch immer", zwinkerte Tessa und machte auf dem Absatz kehrt um zwischen den Zelten zu verschwinden.
      Die verschlungenen Pfade, die sie nun betrat, glichen einem eigenartigen Labyrinth aus wehenden Zeltplanen und verblassten Farben. Die Öllampen warfen abstrakte Schattenkreaturen an die Zeltwände, die Theresa auf ihrem Weg zu verfolgen schienen. Hin und wieder schnaubte ein Tier hinter den Stoffbahnen, doch Tessa hatte keine Zeit einen genauen Blick durch die Lücken in den Zeltwänden zu werfen. Ihr Ziel war der Hauptplatz vor dem großen Zelt, dort ließ sich reichlich Beute ergattern und vor allem hoffte sie dort auch eine bessere Orientierung zu bekommen. Obwohl sie erst wenige Minuten zwischen den Zelten und Wohnwagen umher schlich, fühlte es sich wie Stunden an und sie schien ihrem Ziel kein Stückchen näher zu kommen. Frustriert stopfte Tessa die eiskalten Hände in die Taschen der abgetragenen Lederjacke, die viel zu groß und unförmig an ihr herabhing und sie beinahe komplett verschluckte. Es war das wärmste Kleidungsstück, dass sie besaß und viel eigenen Besitz hatte Tessa nicht. Mit Taschendiebstählen ließ sich gerade so das Nötigste finanzieren, vor allem Essen und warme Kleidung für die jüngeren Kinder.
      Kurz schloss Theresa die Augen und lauschte.
      Ihre Mutter hatte früher wunderschöne Gute-Nacht-Geschichten erzählt, bevor die Gier größer wurde als die Liebe. Als kleines Kind war ihre Lieblingsgeschichte das Märchen über einen verzauberten Zirkus voller Wunder und dem zauberhaften Klang silberner Glöckchen gewesen. Tessa wusste, dass Isadora Penhallow ihre Tochter geliebt hatte, aber das machte sie rückblickend nicht zu einer guten Mutter.
      Als sie die Auge öffnete beschloss sie der Melodie der Glöckchen zu folgen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Die Lichter waren an, die Fahnen gehisst, die Sonne untergegangen und die Nacht erwachte zu einem Leben, das nur die Begrenzung der Zelte einschließen konnte. Die Farben der Zelte strahlten, reflektierten das Licht, als würden sie es aufnehmen und eigenhändig zurückgeben, sie ließen die Luft flirren und die Atmosphäre tanzen, ein einzigartiges Spektakel, dessen Magie nur vom Zirkus zustande gebracht werden konnte. Der Nebel ließ sich davon zwar nicht beirren, ein konstanter Schleier, der die Gesamtheit des Zirkusplatzes bedeckte, aber wenn, zauberte er nur noch mehr das Gefühl von Abenteuer und Geheimnis hervor. In der Mitte ragte die eigentliche Attraktion auf, das Showzelt, hoch und imposant und ausladend, eine Augenweide selbst für all jene, die den Anblick schon längst gewohnt waren.
      Es war alles perfekt. Das einzige, was noch fehlte, waren die wenigen, schleichenden Minuten, die sie vor der Erstaufführung trennten.
      Entsprechend belebt marschierte Chester durch die Gänge hinter der Kulisse der Manege, bereits in vollem Kostüm, den übergroßen Hut funkelnd auf seinem Kopf. Seine Uhr hing an seiner Hüfte herab, genau so, dass sie auf ein kleines Eisenstück daran prallte, wann immer er einen Schritt unternahm. Schritt, klirr. Schritt, klirr. Selbst in dem Gedränge der bevorstehenden Aufführung war sie noch immer deutlich zu hören.
      Artisten hatten sich hier schon zu hauft versammelt, etwa die Hälfte der Besatzung, die den ersten Grande Entrance vorführen würden, Männer und Frauen in schillernden, lebensfrohen Kostümen, Clowns mit ihren zu großen Schuhen und zu großen Händen, Tiere an der Leine, Pferde vorne und Elefanten hinten, Leben, wohin das Auge nur reichte. Sie quetschten sich in den engen Zwischenräumen der Requisiten, drängten sich vor dem doppellagigen Vorhang, der sie noch von der Manege trennte, saßen hoch oben in Gerüsten, die eigene Ausgänge zu den Zuschauerreihen hatten. Sie tuschelten und lachten und wisperten und an diesem Abend, zu dieser neuen Zeit einer neuen Aufführung und einer neuen Stadt, vereinigte sie alle nur die Euphorie, der Rausch und das Hochgefühl für den Zauber, den sie selbst an diesem Abend entwickeln würden.
      Chester ging mit raschen Schritten nach vorne zum Vorhang, ein Grinsen auf den Lippen, das sich anfühlte, als würde es jeden Augenblick sein Gesicht in zwei spalten. Für diesen Moment lebte er, das war es, wofür er all die Jahre, tagein tagaus, immer wieder arbeitete. Das und nichts anderes.
      "Alle mal herhören!"
      Er machte einen Satz, erst auf die Kisten, die für den Akt mit den Löwen bereitstanden, und dann auf den nächstbesten Pferderücken, worauf er sich balancierte. Die Tiere waren je zu viert eingespannt und in genauso schillernde und ausladende Kostüme gekleidet wie auch ihre Artisten.
      Die Menge der Darsteller und der Arbeiter wurde mit einem Schlag ruhiger, allesamt die Augen auf Chester gerichtet. Auch daran sonnte er sich, an diesem einzigen Moment im Leben des Zirkusses, in dem es keine Aber und keine Vielleichts gab, in der es keine Diskussionen und keine Forderungen gab, nur die Show und alles, was damit zusammenhing. In diesem einen, kurzen Augenblick, war die Familie des Zirkusses vereint wie zu keiner anderen Zeit.
      Sein Grinsen weitete sich noch mehr aus.
      "Ich weiß, dass ich immer das gleiche sage, aber ich werde nicht müde damit werden! Wir haben großartige Arbeit geleistet - ihr habt großartige hierfür Arbeit geleistet! Das hier ist unser Finale, unser Belohnung für die Mühe der letzten Wochen, in denen wir alles aufgebaut und vorbereitet haben, damit die nächsten Tage hier von Wunder und Magie sprühen werden! Und trotz aller Hindernisse, trotz aller Probleme, denen wir uns gestellt haben, sind wir trotzdem hier gelandet, in all der Pracht und Herrlichkeit! Dafür könnt ihr euch selbst loben - die Vorbereitung ist schon der halbe Weg zum Erfolg!"
      Allgemeine Zustimmung tönte ihm entgegen, hauptsächlich die eigene Anspannung darüber, dass jeden Augenblick die Vorhänge aufgehen und die Musik erschallen würden. Für die meisten hier war es bei weitem nicht die erste Vorführung, die sie beschritten, aber so wie Chester sehr wohl wusste, war das kein Grund, nicht doch Aufregung zu verspüren. Er selbst verspürte noch immer die gleiche Leidenschaft wie zu seiner allerersten Premiere.
      Er wartete, bis es wieder leise genug für ihn war.
      "Dafür bin ich stolz auf euch - so unendlich stolz! Ihr macht den Zirkus zu dem, was er sein sollte! Und jetzt...!"
      Er griff mit einer ausladenden Geste zu seiner Uhr; auch das ein Ritual, das sie nicht wegdenken konnten. Jeder wusste, was es bedeutete und jeder verstummte vollkommen, während er auf das Ziffernblatt starrte und voller Anspannung darauf wartete, dass die letzten Sekunden verstreichen würden. Die letzten Schritte verklungen, die letzten Kostüme raschelten. Nichts rührte sich mehr.
      Tick. Tick. Tick.
      Hinter dem Vorhang, in der bereits prall gefüllten Manege, flackerten jetzt die Lichter wie von Geisterhand und die letzten Besucher wurden auf ihre Plätze gescheucht, während der Haupteingang geschlossen wurde. Die Tickets waren auch an diesem Abend restlos ausverkauft und in jedem Eck wimmelte es von glänzenden Augen und strahlenden Gesichtern.
      Tick. Tick.
      Tick.
      Die allgemeinen Lichter gingen aus und das große ging an, dasjenige, das den Eingang zu den Kulissen beleuchtete. Im Orchestergraben ertönten die Fanfaren, hell und schallend und dröhnend. Hinter dem Vorhang ließ Chester seine Uhr wieder an seine Seite fallen.
      "Showtime!"
      Er sprang von den Pferden, stellte sich direkt vor dem Schlitz auf, strich noch einmal über sein Kostüm und fing an, den Takt für seinen Einsatz zu zählen. 1... 2... 3... 4... 5... 6... 7...
      Ein Seitenblick zu den beiden Helfern am Rande des Vorhangs.
      8.
      Der Vorhang sprang auf und die Musik schaltete um, ein fetziger Marsch voller Hochmut und Schwingung, der durch das ganze Zelt donnerte. Farbenfrohes Konfetti sprang aus den vier versteckten Kanonen zum Fuß der Tribünen heraus und regnete durch die Luft, begleitet von den fröhlichen und vergnügten Rufen der Darsteller, die gleich hinter Chester herausströmten - auch an den zuvor versteckten Eingängen bei den Zuschauerreihen. Akrobaten sprangen mit federleichten Sprüngen über den Sand hinweg auf erhöhte Platformen hinaus, die Pferde tänzelten mit erhobenen und gefiederten Tänzen zu beiden Seiten hinweg, Tauben flatterten aus dem dunklen Raum hinter dem geöffneten Vorhang hervor, ein ganzer Schwarm, der erst auf die Zuschauerreihen zuhielt und dann unter viel Getöse und viel Geschrei hinauf durch ein Loch in der Mitte des Zeltes hin verschwand. Für viele, lange Takte lang ergoss sich der ganze Zauber des Zirkusses auf die Manege und zu den Zuschauern, alles, bis Chester die Mitte des Kreises erreicht hatte und dort grinsend stehenblieb.
      1... 2... 3... 4...
      Die Musik wurde ein ganzes Stück leiser, wenn auch nicht weniger fröhlich und verlockend und Ruhe kam in die Bewegung sämtlicher Darsteller ein. Hinter Chester waren die beiden Elefanten stehengeblieben, gekleidet in lange, schillernde Gewänder, die mit ihren Bewegungen klingelten und raschelten.
      1... 2...
      "MEINE DAMEN UND HERREN, LADYS AND GENTLEMEN - W I L L K O M M E N!"
      Seine Stimme war laut und allesergreifend, eine kleine Trickserei seines Arsenals. Er grinste das breite, strahlende, fantastische Grinsen, von dem er wusste, dass es das Licht in genau der perfekten Weise reflektierte.
      "LASSEN SIE SICH BEGEISTERN! LASSEN SIE SICH VERZAUBERN! LASSEN SIE IHREN KOPF DRAUSSEN, DENN DEN WERDEN SIE HEUTE NICHT BRAUCHEN!"
      Pause für lachen. Allgemeines Gelächter erklang, das sich aber auch gleich wieder der Musik unterordnete.
      "LASSEN SIE SICH HINREISSEN VON DEM EINZIGARTIGEN..."
      Pause für Trommelwirbel eins. Trommelwirbel erklang. 1...
      "DEM FANTASTISCHEN..."
      Pause für Trommelwirbel zwei. Trommelwirbel erklang. 1...
      "DEM UNGLAUBLICHEN...."
      Pause für Trommelwirbel drei. Trommelwirbel erklang. 1...
      Chester breitete die Arme in einer ausholenden, übertriebenen Geste zu beiden Seiten aus.
      2...
      Die Elefanten hinter ihm raschelten, als sie ihre Rüssel nach vorne und unter seine Arme schoben.
      3 und...
      Sie hoben gleichzeitig an und beförderten Chester in die Luft hinauf, begleitet von noch eindringlicherem Trommelwirbel und einem Moment der Schwerelosigkeit, in dem er sich ganz genau jedes einzelnen Zentimeters der ganzen Manege bewusst war. Alles war perfekt. Er machte seinen Rückwärtssalto, die Gliedmaßen ausgestreckt, der Salto langsam, als hätte er das Gewicht einer Feder. Er verdunkelte für einen Moment das große Licht, denn selbst das war perfekt ausgerichtet; er war ja so stolz, dass alles so tadellos funktioniert hatte. Dann landete er auf den Köpfen beider Elefanten, die ihre Köpfe aneinander gesteckt hatten, je ein Bein auf einem von ihnen, und warf seine Arme in einer großen, feierlichen Geste in die Luft.
      "ZIRKUS M A G I C A!"
      Sein Ruf wurde untermalt von einer weiteren Ladung Konfetti, von dem Crescendo der Musiker und dieses Mal auch von dem Tröten der Elefanten, von dem euphorischen Gejohle der Menge und dem anstachelnden Gelächter der Darsteller.
      Es war Musik in seinen Ohren, alles davon. Jedes einzelne Geräusch, jedes einzelne Rascheln und Klatschen und Lachen, alles. Der Ausblick auf die Zuschauer, auf die glänzenden Gesichter in den dunklen Tribünen, auf die aufgerissenen, fröhlichen Münder, die Begeisterung, die ihm entgegenströmte, war sein Lebenselixier. Uhr hin oder her, das hier war, wofür er lebte. Das hier war, was er nie müde werden würde.
      Er sprang ab und beide Elefanten hielten ihre Rüssel in einer Kurve, damit er an ihnen herabschlittern und sich von ihnen erneut in die Lüfte werfen lassen konnte, sehr zur Begeisterung und auch Überraschung des Publikums, als er sich mitten zwischen die Reihen damit katapultierte. Er grinste noch immer, als er sich der einzig weniger angenehmen Beschäftigung hingab, die er heute wieder erledigen müsste, nachdem die Uhr ihn gewarnt hatte: Sich sein nächstes Ziel suchen. Er zauberte einen Strauß Blumen aus seinem Ärmel hervor und reichte ihm der nächstbesten Frau, eine Dame mittleren Alters mit kurzen, schwarzen Haaren. Sie wollte seine Hand ergreifen, strahlend und überschwenglich vor Glück, aber er wand sich heraus wie ein Aal, sprang in hohen Bögen weiter, beförderte sich mit akrobatischen Bewegungen flüchtig durch die Reihen hindurch. Eine Rose für eine Frau mit glitzerndem Kleid, eine Schleife für einen Mann mit ansehnlichen Muskeln, ein winziges Plüschtier für einen Glatzkopf. Eine Lilie für eine Frau in schmuddelig wirkenden Klamotten. Er zwinkerte ihr zu und beförderte sich dann mit einem einzigen Satz zurück auf den Rand der Tribüne, von wo aus zwei Akrobatinnen die Aufgabe übernahmen, auf ihren Trapezen aufeinander zuzuschwingen, bis sie gerade nah genug für Chester wären. Er zählte den Schwung mit: 1 und 2 und 3 und -
      Er sprang, beide Damen fingen je eine ausgestreckte Hand ein und gaben ihm genug Schwung, dass er sich zurück auf die Elefanten katapultieren konnte. Er landete gerade noch so, versteckte sein Straucheln in einer majestätischen Umdrehung und grinste dann sein perfektes Grinsen, bei dem all seine Gesichtsmuskeln auf genau die richtige Weise zusammenarbeiteten. Die Musik dröhnte und die Artisten wirbelten durch die Luft und die Kostüme der Pferde schillerten. Alles war wirklich und wahrhaftig perfekt.
      "MACHEN SIE SICH GEFASST AUF EINEN ZAUBERHAFTEN ABEND!"
      Dann nahm die Musik zu, wurde lauter und übertönte wieder das Geschrei, mit dem die Darsteller seinen akrobatischen Abgang untermalten. Die Elefanten marschierten rückwärts wieder zurück hinter den Vorhang, die Rüssel hoch erhoben, die Pferde gleich hinter ihnen und umrundet von all jenen, die im ersten Akt nicht draußen sein würden. Sie verschwanden im Schutz der Dunkelheit und sofort erhob sich der versteckte Lärm der nächsten Vorbereitung, die Eile und die Hast, um alles rechtzeitig zu platzieren und anzubringen. Für Chester war es hier vorbei, er würde die Pause einleiten und er würde das Publikum verabschieden, aber bis dahin würde er hier in diesen dunklen Gängen leben und überwachen, dass alle Aufgaben richtig umgesetzt wurden. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der er selbst aufgetreten war, aber das tat er heutzutage nur noch, wenn er für jemand anderen einspringen musste.
      "Allemann auf die Plätze, bereitmachen für den ersten Akt! Jeder, der nicht draußen ist, geht in seine Ecke! Keine Gespräche mehr! Zweiter Akt kann die Kostüme schon anlegen! Elefanten nach draußen! Kein Essen hier drin!"
      Er bekam keine verbale Antwort, sondern die Geschäftigkeit, mit der die Darsteller herumflitzten. Chester selbst setzte sich auch in Bewegung, kurz bevor sich eine der Akrobatinnen zu ihm gesellte: Malia, eine hochgewachsene, schlanke Frau mit adelig wirkenden Gesichtszügen. Sie kam mit den Elefanten dran.
      "Wirklich? Es ist wieder soweit?"
      Seine Miene verdunkelte sich etwas bei dem Tonfall, den sie an den Tag legte und der ganz eindeutig bezeugte, dass ihre Gedanken definitiv nicht bei der Vorstellung selbst waren. Chester gefiel das nicht. Er musste sowieso noch mit den beiden anderen Akrobatinnen reden, die ihn gerade auf den Elefanten befördert hatten, weil die Landung nicht ganz gesessen hatte. Dieser Abend hatte das Potential, wahrhaftig perfekt zu werden, und das wollte er sich nicht aktiv versauen lassen. Nicht auch von Malia.
      "Du kennst meine Antwort, ich werde dir keine neue geben. Wir werden jetzt auch nicht darüber diskutieren, weil das hier nichts zu suchen hat. Wir sind in der Manege, liebe Malia, und da zählt nichts anderes als die Show. Nichts."
      Er ließ sie zurück und peilte schnurstracks seinen Assistenten an, um ihn darauf hinzuweisen, dass wieder Geschenke verteilt worden waren. Jedem, der ein Geschenk von ihm bekommen hatte, wäre es gestattet, ihn aufzusuchen, sollte er den Wunsch haben. Wenn nicht, würde er besagte Personen auch selbst im Verlauf des Abends noch orten können.

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    • Die liebliche Melodie der Glöckchen verblasste mit jedem Schritt durch die verschlungenen Gassen zwischen Wohnwagen und Zelten ein wenig mehr. An ihrer Stelle erklang die beschwingte und einladende Musik des gefüllten Vorplatzes. Die Stimmung in der Luft veränderte sich schlagartig. Die gespenstische Atmosphäre im dämmrigen Zwielicht und das Gefühl, sich auf dem Weg irgendwo verloren zu haben, wich einer energiegeladenen Erwartung. Der klebrig süße Geruch von Zuckerwatte und Karamelläpfeln schwängerte die Luft und ließ sicherlich jedes Kinderherz höherschlagen. Der verlockende Duft von gebrannten Mandeln und anderen Leckereien ließ sogar Theresa das Wasser im Mund zusammenlaufen.
      Süßigkeiten waren ein Luxus, den sie schon als Kind äußerst selten genossen hatte. Der zuckersüße Duft förderte leider auch Erinnerungen zu Tage, die Tessa allzu gerne vergaß. Er erinnerte sie an die frühen Kindheitstage auf überfüllten Rummelplätzen und Jahrmärkten und daran, wie Isadora Penhallow ihrer kleinen Tochter in den Oberarm gekniffen hatte damit die Tränen auf den rosigen Wangen des Mädchens überzeugend aussahen. Während besorgte Passanten versuchten das weinende Kind zu beruhigen, das aus voller Kehle nach seiner Mutter verlangte, erleichterte der Rest der Familie die hilfsbereiten Bürger um ihre Brieftaschen. Zuckerwatte hatte die kleine Tessa trotzdem nie bekommen. Dafür lernte sie bereits im Kindesalter ihre niedlichen Pausbäckchen und den kindlichen Schmollmund geschickt einzusetzen, um zu bekommen, was sie wollte. Wahrscheinlich eher, damit ihre Eltern das bekamen, was sie wollten. Und während andere Kinder wichtige Dinge wie Lesen und Schreiben lernten, ebnete Isadora ihrer jüngsten Tochter den Weg in eine viel versprechende Zukunft als Kleinkriminelle.
      Die Welt schenkt Dir nichts‘, hatte sie immer gesagt, ‚also musst Du es dir nehmen.‘
      Unmittelbar vor Theresa schwoll das Stimmengewirr an und endlich entdeckte sie eine Lücke zwischen zwei Holzbuden, die groß genug war, damit sie sich hindurchzwängen konnte. Vorsichtig steckte sie zunächst den Kopf durch den Spalt um sich einen Überblick zu verschaffen. Der Anblick verschlug der Diebin glatt die Sprache. Auf dem Vorplatz des imposanten Showzeltes pulsierte das Leben in all seinen Facetten.
      Leuchtende Kinderaugen klebten an dem unendlichen Angebot von Leckereien der bunt bemalten Holzbuden, die den Vorplatz säumten. Fluffige Zuckerwatte fand den Weg in kleine Hände. Glänzende, rote Äpfel wurden in süßes Karamell getunkt. Nüsse aller Art rösteten herrlich duftend über den Flammen. Auch die erwachsene Kundschaft kam zweifellos auf ihre Kosten. Für jeden war etwas dabei. Kleine Verkaufswagen boten Spielzeuge und Mitbringsel für die Familien und Freunde zu Hause an. Einzigartige Souvenirs, um die Erinnerung mitzunehmen. Fröhliches Gelächter und staunende Ahs und Ohs erfüllten die vor Spannung elektrisierte Luft. Das Lichtspiel der unzähligen Lichtergirlanden, die über den gesamten Vorplatz gespannt waren, funkelte mit dem Sternenhimmel um die Wette. Am Haupteingang des großen Zeltes war das Gedränge am größten. Neugierig versuchten die ersten Besucher einen Blick in das Innere zu erhaschen und verrenkten sich dabei beinahe die Hälse. Tessa hatte das Gefühl durch den Spalt in eine fremde Welt fernab des eintönigen Graus der Stadt zu blicken. Magisch von dem Spektakel – und die eigentliche Show hatte noch nicht einmal begonnen – angezogen, quetschte sich Tessa die letzten Zentimeter durch den Spalt. Sie betrat eine Welt zauberhafter Illusionen und magischer Wunder, wobei sie fast vergaß, warum sie eigentlich hergekommen war.
      Sie war Alice, die gerade durch den Kaninchenbau gefallen war.
      Theresa zog die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf und mischte sich unter die Leute. Es war tatsächlich so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatten. Spielend leicht glitten ihre geschickten Finger in Handtaschen und fischten Wertvolles heraus. Geldbörsen verschwanden unbemerkt aus den Jackentaschen. Bargeld war das einfachste Diebesgut. Es erforderte schon mehr Geschick hier und da eine Armbanduhr oder ein silbernes Armband vom Handgelenk zu lösen. Bis die Bestohlenen den Verlust bemerkten, war Tessa längst in Rest der Menge abgetaucht. Dabei machte sie sich einen entscheidenden Vorteil zunutze. Ihr ganzes Auftreten war so unscheinbar, dass niemand einen Blick an das Mädchen verschwendete. Der Vorplatz leerte sich langsam, als die sehnsüchtig erwartete Stunde stetig näher rückte. Eigentlich sollte sie zu Rosie zurückkehren, denn das Diebesgut in den Innentaschen ihrer Lederjacke war mehr als üppig. Mit jeder verstreichenden Minute wuchs die Gefahr, erwischt zu werden. Es wäre eine wirklich, wirklich leichtsinnige Idee den fadenscheinigen Gerüchten nachzugehen.
      Tessa drehte sich um und ließ sich mit der Menge in Richtung des Showzeltes treiben.
      Die Anziehungskraft war einfach unwiderstehlich. Kurz vor dem Einlass und der Kartenkontrolle löste sich das Mädchen aus der Menschentraube und huschte ungesehen hinter ein paar unscheinbare Holzkisten. Mit geschultem Auge suchte Tessa nach einer vorteilhaften Schwachstelle großen Zelt und lächelte triumphierend, als sie eine Stelle fand, an der sich die Zeltplane ein wenig vom Boden löste. Sie zögerte nicht und schob sich bäuchlings durch den niedrigen Spalt. Dass sie dabei dreckig wurde, störte nicht weiter. Mit schmutzigen Fingern wischte sich Tess über den Staub auf den Wangen und machte es damit eigentlich noch schlimmer. Zum Glück war es hier wenigstens nicht matschig und der Boden unter ihren Füßen fest und trocken. Der Nervenkitzel saß ihr im Nacken, doch Tessa genoss das Gefühl in vollen Zügen.
      Die Lichter erloschen und ein Raunen ging durch die Manege. Eine erwartungsvolle Spannung erfüllte das Showzelt und die Luft schien elektrisiert zu knistern. Niemand wagte zu atmen. Die Fanfaren aus dem Orchestergraben ließen Tessa zusammenzucken. Sie hatte die Musikanten nicht einmal gesehen, da sie in der Menge dank ihrer Körpergröße verschwand. Rosie würde ihr dafür persönlich in den Hintern treten, wenn sie davon erfuhr, aber sie konnte nicht anders. Die Brünette suchte nach einem erhöhten Punkt und fand einen kleinen Vorsprung, an der Stelle, wo ein Bein der Zeltkonstruktion den sandigen Untergrund durchbohrte. Sie kletterte gerade noch rechtzeitig auf das kleine Podest und legte einen Arm haltsuchend um die massive Stütze.
      Eine Marschmelodie donnerte durch die Manege und sie wusste nicht, wohin sie als Erstes sehen sollte. Sie war schlichtweg überfordert mit der prächtigen Farbvielfalt und der Fülle an Artisten und exotischen Tieren. Die Elefanten allein beeindruckten mit ihrer schieren Masse, die tänzelnden Schimmel mit Stolz erhobenen Köpfen und elegant gebogenen Hälsen. Die waghalsigen Sprünge und Kunststücke hielten das Publikum in Atem und es war lediglich die Eröffnungsnummer des Abends, eine Präsentation davon, welche exquisiten Wunder sie an diesem Abend erwarteten.
      Jedoch erntete keines dargebotenes Kunststücke so viel Aufmerksamkeit, wie der Mann in dem adretten Kostüm und dem übergoßen Zylinder. Allein mit seiner Stimme nahm er binnen Sekunden das ganze Publikum für sich ein, das förmlich an seinen Lippen hing und jedes Wort begierig aufsog. Tessa hielt den Atem an, als er sich von den sanftmütigen Dickhäutern in luftige Höhen katapultieren ließ. Ah, dachte sie, als mit volltöniger Stimme der Name des Zirkus durch die Manege schallte. Das stand also auf den vielen Plakaten vor dem Haupteingang, deren Buchstabensalat für Tessa keinerlei Sinn ergaben. Bisher hatte die Unfähigkeit, weder lesen noch schreiben zu können, kein Hindernis dargestellt. Sie hatte beeindruckende Vorbilder gehabt wie man sich erfolgreich durchs Leben mogelte. Tessa runzelte verwundert die Stirn, als der Mann, der für einen Zirkusdirektor recht jung wirkte und keinen klischeebehafteten und gezwirbelten Schnurbart trug, Geschenke an das freudig erregte Publikum verteilte. Es gab kein erkennbares Muster, wie er die Glücklichen auswählte.
      Umso perplexer war Tessa, als sich der Mann in ihre unmittelbare Nähe begab. Die aufgeheizte Kulisse drängte sich in den Hintergrund und die Geräusche verhallten dumpf, als hätte ihr jemand Watte in die Ohren gestopft. Der zarte Blütenstiel einer weißen Lilie fand den Weg zwischen ihre Finger. Sie hatte die Hand ausgestreckt bevor ihr Verstand aufgeschlossen hatte. Sein Gesicht konnte sie das erste Mal klar erkennen, aber ihr gesamter Fokus landete in den ausdrucksstarken Augen in einem strahlenden Hellblau. Es war der Teil, an den sie sich später am meisten erinnern würde. Für eine Sekunde spürte sie die Scham in ihr Gesicht kriechen. Unter all den gut gekleideten Besuchern war sie sich der verlotterten Kleidung und dem Staub auf ihren Wangen deutlicher bewusst als je zuvor.
      So schnell er gekommen war, so schnell war der Moment auch wieder vorbei.
      Der Lärm der tobenden Menge, die mit Begeisterung applaudierte, prasselte mit voller Wucht wieder auf sie ein. Auf einmal wurde es ihr zu stickig in dem Showzelt, das mit all seinen Besuchern aus den Nähten zu platzen drohte. Tessa beschloss, dass es Zeit war zu verschwinden. Klammheimlich versuchte sich die Taschendiebin davon zu schleichen. Behutsam steckte Tessa die Lilie in der innenliegende Brusttasche und achtete darauf, keines der zerbrechlichen Blütenblätter zu zerquetschen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was es mit den Geschenken auf sich hatte, außer die Stimmung des Publikums zu heben. Ihr blieb auch keine Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen.
      Ein entrüsteter Aufschrei in ihrem Rücken, ließ das Mädchen zusammenfahren.
      „Meine Brieftasche! Dreiste Diebe! HIer sind Diebe am Werk!“, empörte sich ein älterer Herr mit Halbglatze, dem sie das Gestohlene aus der Jacke stibitzt hatte. Als er einen der Platzanweiser darauf ansprach, wurde Tessa ganz flau im Magen.
      „Mist…“, murmelte Tessa. „Ganz großer Mist…“
      Die Diebin nahm die Beine in die Hand und huschte durch das dicht gedrängte Publikum zurück zum Spalt in der Außenwand des Zeltes. Sie musste weg. Sofort. Ein zweites Mal kroch Tessa durch den Dreck und schlüpfte durch den schmalen Fluchtweg nach draußen. Bevor sich einer der Platzanweiser oder der Bestohlene selbst durch den Haupteingang gequetscht hatten, war sie längst über alle Berge. Sie musste nur den Weg zurück zu Rosie finden.
      Mit keiner anderen Wahl stürzte sich Tessa wieder in den Irrgarten aus kunterbunten Zelten.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Chester eilte weiter den Gang entlang, um nach dem rechten zu sehen. Hier hinten, hinter der Manege, gab es keine Räume mehr, sondern nur verschachtelte, in sich überlaufende Gänge, die dafür gedacht waren, den Fluss der Requisiten aufrecht zu erhalten. Alles andere kam von den nebenan aufgebauten Nachbarzelten, wurde zur richtigen Zeit herübergebracht und dann in die Warteschlange eingereiht.
      Er überprüfte, ob alles dort war, wo es sein sollte, ob alle Darsteller da waren, wo sie sein sollten, ob ihre Kostüme saßen, ob ihre Frisuren und Makeups saßen, ob die Tiere noch draußen, aber die Gestelle drinnen waren. Er überprüfte dann alles - und hörte dann von dem hintergründlichen Lärm des Publikums ein paar Geräusche, die nicht zu der allgemeinen Fröhlichkeit des Zeltes passten. Für Chester waren das wie Alarmglocken, die in seinem Kopf angingen.
      "Liam!"
      Sein Assistent war gerade dabei, die Tänzer aufzureihen. Liam war jung, erst 36. Chester hatte ihn vor zehn Jahren akquiriert.
      "Chester?"
      "Was war das?"
      "Weiß ich nicht genau; Unruhen."
      "Dann finde es heraus. Unruhen gibt's heute nicht!"
      Liam ließ seine Arbeit gleich zurück und verschwand, weil er schon lange genug seinen Posten innehatte um zu wissen, dass er Chesters Befehlen nicht widersprechen sollte. Kaum 30 Sekunden später kam er wieder.
      "Nur Taschendiebe."
      "Nur! Und wer kümmert sich darum?"
      "Die Wachen haben sich schon organisiert."
      "Dann schick noch mehr hinterher! Keine Diebe heute Abend! Man soll unseren Zirkus doch für keine Betrügerversammlung halten!"
      "Ja, Chester."
      Liam duckte sich weg, um seinen Befehl vor allem anderen zu priorisieren und überließ es Chester, sich um die Tänzer zu kümmern.

      So kam es, dass der Diebin nicht nur die die Aufpasser beim Hauptzelt nachzustellen versuchten, sondern eine ganze Truppe entsandt wurde, um sich um die Sicherheit zu kümmern. Am Haupteingang, dem Spalt im schützenden Zaun, an dem die Tickets kontrolliert wurden, standen sowieso ein paar Posten; jetzt zogen sie aber auch den breiten Pfad entlang, der die Besucher an allen größeren Ständen vorbeibringen sollte, und schwärmten auch hinter den Zelten und Karren aus. Für manch einer mochte die Aufstellung und Anordnung der dutzenden Stände, Zelte und Wagen etwas willkürliches und gar irreführendes sein, aber Chester hatte eine Struktur darin erstellt, die er vor keinem seiner Angestellten geheim hielt. Ganz besonders die Wachen wussten, wie sie sich zwischen den Gebilden bewegen mussten, um möglichst effektiv möglichst viel Boden abzusuchen. Entsprechend schnell waren sie dabei, in alle Richtungen auszuschwärmen und nach einem Dieb zu suchen, der mittlerweile wohl längst die Lichter und Offenheit des Hauptweges zu vermeiden versuchte.
    • Die Verfolger waren ihr nah auf den Fersen.
      Tessa spürte es wie einen eiskalten Hauch im Nacken und bemühte sich, das Brennen ihrer protestierenden Lungen zu ignorieren. Wie ein Hase schlug sie keine geradlinige Richtung an und wechselte in unregelmäßigen Abständen die Wege zwischen den Zelten. Sie wich suchenden Blicken aus und bog erst rechts ab, dann wieder links. Links. Rechts. Rechts. Geradeaus. Links. Rechts.
      Hin und wieder kreuzte Tessa ihre eigenen Spuren und hinterließ ein undurchsichtiges Chaos aus Fußabdrücken. Bei dem schwummrigen Licht der Öllampen war es ohnehin schwer etwas am Boden zu erkennen. Trotzdem, sicher war sicher. Sie hatte sich ablenken lassen wie eine blutige Anfängerin und das machte das Ganze noch viel ärgerlicher. Jetzt klebte der Diebin nicht nur die Angestellten des Zirkus im Nacken sondern auch die Offiziellen der ortsansässigen Miliz. Der uniformierten Männern waren die Straßendiebe und Banden schon seit einiger Zeit ein Dorn im Auge, doch bisher war kein Unterfangen, den langfingrigen Unruhestiftern das Handwerk zu legen, von Erfolg gekrönt gewesen.
      Tessa schlitterte regelrecht um die nächste Kurve und entdeckte in nicht allzu weiter Entfernung die spitzen Verzierungen des Eisenzaunes, die bedrohlich im flackernden Lichtschein glänzten wie die Zähne einer hungrigen Bestie. Dort im Dämmerlicht leuchtete ihr der Rotschopf von Rosalie entgegen. Erleichterung erfasste Tessa und sie zwang sich zu einem waghalsigen Sprint, bei dem sie eine Reihe von Kisten übersprang. Die letzten Meter führten über ein offenes Gelände und die junge Frau bildete sich ein, die Schatten ihrer Verfolger griffen bereits nach ihr. Sie schlug die Fersen in den Boden und stoppte haarscharf vor dem massiven Metallstäben bevor ihre Stirn schmerzhafte Bekanntschaft mit ihnen machte.
      "Meine Güte! Was hast du angestellt!?", fragte Rosie beunruhigt.
      "Keine Zeit für Erklärungen. Hier nimm das", zischte Tessa. "Und jetzt hau ab. Ich komm schon klar."
      Sie klaubte hektisch alle sorgfältig erbeuteten Wertgegenstände aus den vielen Taschen ihrer Lederjacke. Sie drückte Rosie eilig das Diebesgut, alles bis auf die durch die Flucht leicht ramponierte Lilie, in die Hand und klopfte sicherheitshalber die Jacke ein letztes Mal ab. Wenn es keine Beweise zu finden gab, konnte ihr auch kein Diebstahl angehängt werden. Damit hatte sie sich nur unrechtmäßig Zutritt auf Privatgelände verschafft. Die Strafe konnte unmöglich härter ausfallen, aber dafür, mussten sie ihre Verfolger erst erwischen.
      "Aber...", protestierte der Rotschopf.
      "HEY! STEHEN BLEIBEN!", donnerte es in ihrem Rücken.
      "Oh, scheiße!", quiekte Rosie panisch und stopfte Münzen, Geldbörsen, Uhren und Schmuck in ihren Mantel.
      "Verschwinde endlich!", keifte Tessa.
      Um die Aufforderung zu verdeutlichen, zwänge sie ihre Arme durch die Gitterstäbe und versetzte Rosalie einen kräftigen Stoß. Das Mädchen japste überrascht nach Luft und mit einem letzten Blick über die Schulter verschwand Rosies wirbelnder Haarschopf im dichten Nebel.
      "Schöne Scheiße...", seufzte die Taschendiebin. Wohin?
      Tessa wirbelte herum und rannte den ewig langen Zaun entlang. Nirgendwo erkannte sie eine Lücke, keine die breit genug gewesen wäre, um hindurch zu passen. Es gab keine Klettermöglichkeiten und keine Schwachstellen. Kurzentschlossen änderte die Brünette die Richtung und hechtete zurück in den Schatten zwischen den Zelten und Karren. Sie brauchte ein Versteck!
      Die Muskeln in ihren Beinen brannten und sie bekam kaum noch Luft. Lange konnte sie das Tempo nicht mehr durchhalten. Die perfekte Chance ergab sich an der nächsten Ecke. Tessa hechtete todesmutig in den erstbesten Zelteingang und versteckte sich hinter gestapelten Heuballen. Es war zwar kein muffiger Müllcontainer aber Stallgeruch hielt sich in gleichem Maße hartnäckig an der Kleidung fest. Im schlimmsten Fall verströmte sie für die nächsten Tage den eingängigen Geruch eines Viehstalls. Atemlos drückte Tessa ihren Rücken gegen die Heuballen und versuchte den holprigen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihre Gesicht glühte von der Anstrengung.
      Zittrige Finger glitten in den Stiefelschaft an ihrem rechten Fuß und zogen ein lächerlich winziges Taschenmesser hervor. Sie hatte es zur Selbstverteidigung, aber bis auf ein paar passable Wurfversuche aus Langeweile hatte sie bisher nie Gebrauch davon machen müssen. Darüber war sie nicht sonderlich traurig. Sie wollte niemanden verletzen, aber die grimmige Miliz war nicht dafür bekannt, ihre Gefangenen mit Samthandschuhen anzufassen. Nicht, das sie wirklich vorhatte das Messer zu benutzen, aber für eine erste Abschreckung dürfte es reichen.Mit ganz viel Glück entdeckte niemand ihr Versteck und sie konnte sich heimlich hinausschleichen, wenn die Vorstellung vorbei war und der Zirkus für die Nacht zur Ruhe kam.
      Als sich Schritte dem Zelt näherten, presste sie eine Hand vor Mund und Nase um die Atemgeräusche zu unterdrücken.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • So schnell, wie die Wachen die Spuren und auch den Täter gefunden hatten, so schnell waren sie aber auch wieder verloren, als besagter Täter höchstes Geschick darin aufwies, sich mit den Schatten zu verschmelzen. Es mochte vermutlich an der sowieso schon dreckigen Kleidung liegen, die auch noch trübe, dunkle Farben hatte, dass die Gestalt in einem Moment noch am Zaun und im nächsten schon wieder verschwunden war. Aber immerhin hatten sie jetzt das Gebiet eingegrenzt und das hatte nur zur Folge, dass gleich noch mehr Wachen hier auftauchen würden, um der ganzen Verfolgungsjagd ein Ende zu setzen.
      Bis dahin ließ sich der Rest aber in den Schatten der Zelte in die Irre führen.
      Laufschritte führten am Zelt vorbei, teilten sich dort auf, verschwanden in verschiedene Richtungen, um sich ganz sicher wieder woanders zusammenzufügen. Ein paar Sekunden der Stille vergingen, dann ertönten wieder Schritte auf dem weichen Erdboden, diesmal hinter dem Zelt und daran vorbei. Wieder ein paar Sekunden Pause, wieder Schritte. Es war wohl kein Wunder, dass selbst die Zeit der Aufführung nicht sonderlich geeignet war, sich in dem Meer der Zelte zurechtfinden zu wollen.
      Dann schließlich erklangen Stimmen, denen auch bald die zugehörigen Schritte folgten.
      "... schnell, dann können wir auch wieder zurück."
      "Das ist trotzdem nicht unsere scheiß Aufgabe. Wurde ich zum Elefanten-Pfleger ausgebildet? Ganz sicher nicht."
      "Du wurdest zu gar nichts ausgebildet."
      "Ja - und erst recht nicht zum Elefanten-Pfleger!"
      "Lass deine scheiß Laune nicht an mir aus, ich muss das hier genauso machen wie du."
      "Wenn wir keine Elefanten hätten, müssten wir sowas nicht machen."
      "Dann würde aber auch keiner kommen. Wer kommt denn schon her, um ein paar Pferde anzuglotzen? Oder Tiger?"
      "Die Tiger sind schon cool. Sowas will ich füttern."
      "Wie willst du das machen, Spatzenhirn?"
      Der Zelteingang wurde aufgeschlagen und an den Seiten befestigt, damit er offen blieb. Zwei Männer kamen herein, beide Anfang 30 und in Arbeitskleidung, die sie definitiv von Darstellern unterschied. Der größere der beiden hatte einen leichten Buckel und der kleinere trug einen Schnurrbart, der ihn ein Stück dicker machte, als er ohne vermutlich wäre. Sie krempelten sich beide die Ärmel hoch und kamen auf die Heuballen zu.
      "Etwa auch mit Heu? Und vielleicht deine Hand als Nachspeise?"
      "Irgendwie werden sie ja wohl gefüttert - wie machen das denn die anderen?"
      "Woher soll ich das wissen?"
      "Du weißt doch immer alles besser."
      "Nur, weil du so dumm bist, heißt das nicht, dass andere das gleiche Schicksal mit dir teilen müssen."
      "Leck mich."
      "Du mich auch."
      Der Stapel an Heuballen erzitterte, die ersten wurden heruntergezogen und dann -
      "Hey. Ist da was?"
      "Wo?"
      "Da."
      Der kleinere von beiden deutete mit einem Finger auf die dunkle Stelle, in die sich die Diebin zurückgezogen hatte. Es mochte Zufall sein, dass er zielgenau auf sie deutete; aber als er die Augen zusammenkniff, schien er nach und nach zu erkennen.
      "Hey! Wer ist da? Wer bist du?"
      Er zwängte sich zwischen den Haufen vorbei auf die Gestalt zu und als das Licht von dem geöffneten Eingang für einen Moment zielgenau hereinflackerte -
      "Eine Frau?"
      Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, das dem seines angesprochenen Raubtiers von vorhin nicht unähnlich war. Die Zähne blitzten nicht auf, weil eine ungesunde, gelbliche Schicht auf ihnen lag.
      "Hast du dich verlaufen, Süße? Soll ich dir den Weg zeigen? Ich kenn mich hier aus, kannst mir schon vertrauen..."
      Er streckte seine Finger nach ihr aus.
    • Die Warterei stellte sich als eine einzige Achterbahn der Emotionen heraus. Die Skala reichte dabei von blanker Panik bis Euphorie, sobald sich Schritte suchend näherten und in der Entfernung wieder verstummten. Die Möglichkeit bis zum Morgengrauen an einem Herzinfakt zu sterben, wurde mit den verstreichenden Minute realistischer. Tessa glaubte das Herz könnte ihr jeden Augenblick aus der Brust springen. Die Gedanken durchliefen die reinste Berg- und Talfahrt und arbeiteten ohne Pause an einem Notfallplan. In der Dunkelheit des Zeltes, das offensichtlich als Lagerraum für die Verpflegung der Tiere genutzt wurde, konnte sie kaum etwas erkennen. Sie spähte in die Schatten, doch der Weg, der sie hinein geführt hatte, war auch der einzige Weg wieder hinaus. Mit den Fingerspitzen tastete sie über die Zeltplane. Das verwendete Material war dick und unnachgiebig und kein Gegner, mit dem es ihr winziges, rostiges Taschenmesser aufnehmen konnte. Sich einen Weg frei zu schneiden, war demnach keine Option. Es war schlichtweg unmöglich oder würde zu lange dauern.
      Wortfetzen drangen gedämpft durch die Zeltwände und Tessa versteifte in der Bewegung. Angespannt lauschte sie in die Dunkelheit und stellte erschrocken fest, dass die Schritte und Stimmen dieses Mal nicht abdrehten. Im Gegenteil, sie näherten sich ihrem Versteck. Sand knirschte, Gras raschelte und schließlich fiel sanftes Licht in das Zelt als die Stoffbahnen am Eingang zurückgeschlagen wurden.
      Tessa hielt den Atem an und drückte sich noch weiter in die dunkle Nische zwischen den Heuballen.
      Durch eine kleine Lücke zwischen den Heuballen erkannte sie die schemenhaften Gestalten der beiden Männer, die sich meckernd dem Zelt genähert hatten. Sie hoffte inständig, dass sie einfach schnell fanden, was sie benötigten und wieder verschwanden.
      Das Glück war an diesem Abend nicht auf ihrer Seite.
      "Hey. Ist da was?", sagte einer der Männer.
      Tessa erstarrte zur Salzsäule.
      Sie war nie ein besonders gläubiger Mensch gewesen, aber jetzt betetete sie zu jeder Relegion und Gottheit, die ihr einfiel.
      Das Heu raschelte und es war eindeutig viel zu nah. Sie bewegte sich nicht, aber die Täuschung überzeugte nicht. Sie hatte sich bereits so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass selbst das wenige Licht in den Augen stach. Blinzelnd wich Tessa zurück, als der Mann sie direkt ansprach. Als ihr Blick sich endlich klärte, begrüßte sie eine Reihe geblich verfärbter Zähne. Bei dem Grinsen drehte sich der Diebin der Magen um. Vertrauen? Am liebsten hätte sie lauthals und panisch los gelacht. Sie würde dem Kerl auch nicht mehr trauen, als dem besagten Tiger. Der Mann sah sie an, als wollte er sie zum Abendessen verspeisen.
      Flink duckte sich Tessa unter der Hand weg und flüchtete vor dem grapschenden Fingern in die nächste Ecke.
      "Griffel weg!", presste sie zähneknirschend hervor.
      Dabei hielt sie das ausgeklappte Taschenmesser vor sich und ärgerte sich darüber, dass ihre Hand zitterte. Ihre Augen zuckten fieberhaft, nach einer Lösung suchend, hin und her. Tessas Blick flog zurück zu den Männern, die sich vor ihr aufbauten. Was folgte, war eine pure Kurzschlussreaktion. Ohne einen Weg zurück, gab es nur noch eine Möglichkeit: Die Flucht nach vorne.
      Ruckartig sprang Tessa aus der Hocke nach vorne und damit direkt auf den schmierigen Kerl zu, der versucht hatte, nach ihr zu greifen. Sie musste aussehen wie eine wild gewordene Furie mit verzerrtem Gesicht und Stroh in den zerzausten Haaren.
      Das Taschenmesser richtete im Ernstfall wahrscheinlich so viel Schaden an wie ein stumpfes Buttermesser. Wirklich verletzen, konnte sie damit niemanden, aber das war auch nicht ihr Ziel. Während die Augen der Männer sich hoffentlich auf die unscheinbare Klinge richteten, griff Tessa in einen Heuballen, der durch die Aufruhe bereits gefährlich kippelte. Die dünnen Fäden, die den Ballen in Form schnürten, schnitten ihr unangenehm in die Haut. Mit einem Ruck zog sie den Heuballen herunter und brachte damit den ganzen Stapel aus dem Gleichgewicht. Sie hätte fast hysterisch losgelacht, weil ein Plan tatsächlich mal zu funktionieren schien.
      Sie verschwendete keine Zeit, um sich das Endergebnis anzusehen, sondern hechtete an den Männern vorbei, die gerade ihr eigenes Heu zu fressen bekamen.
      "Au Revior, mes ami!", grinste Tessa übermütig, während das Adrenalin durch ihre Adern rauschte und sie auf die Zeltöffnung zu stürmte.
      “We all change, when you think about it.
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    • Die offensichtliche Erheiterung des Mannes darüber, wie schnell die junge Frau vor ihm wegzuckte, hielt in etwa drei Sekunden an, bevor sie ganz schnell der Überraschung wich. Keiner der beiden hatte wohl gerechnet, dass sie sich von deren Auftreten nicht einschüchtern lassen würde; ganz im Gegenteil, dass sie sogar so schnell Eigeninitiative ergreifen würde. Auch wenn das Messer klein und sicher kaum brauchbar war, blitzte die Klinge im fahlen Licht des hereinfallenden Laternenscheins gefährlich auf. Beide Männer zuckten zurück. Entweder, sie hatten Respekt vor der plötzlich wild gewordenen Furie, oder sie hatten schon Erfahrung damit gemacht, eine Klinge nicht zu unterschätzen.
      Was es auch war, es gab der Diebin die benötigte Lücke, um die Hand in die aufgetürmten Heuballen zu schieben und daran zu reißen, so stark, dass der ganze Turm einbrach. Das ganze Stroh war nicht unbedingt laut, eigentlich fiel es sogar mit einem recht dumpfen Plumps zu Boden, aber die Warnungen des einen und die Flüche des anderen Mannes waren durchaus laut und alarmierend. Sie schallten der Diebin nach, die wieder in die Freiheit entschlüpfte, nur um sich dort den Konsequenzen gegenüber zu sehen, die der ganze, unmittelbare Lärm mit sich brachte: Die Wachen. Angelockt wie Motten vom Licht schwärmten sie herbei, überzeugt, hier den rechtmäßigen Sinn ihrer Arbeit vertreten zu können. Es mochten dieselben sein, die die Diebin schon durch den halben Zirkus verfolgt hatten oder auch andere, aber letzten Endes machte das keinen Unterschied, weil sie eine verdreckte, schmuddelige Gestalt erblickten, die aus dem Zelt gerast kam und bei ihrem Anblick gleich in die andere Richtung davonstob. Genauso gut hätte sie auch laut verkünden können, dass sie sich hereingeschmuggelt hatte und eigentlich gar nicht hierher gehörte.
      Die Verfolgung wurde deswegen aber noch lange nicht einfacher, weil die Frau noch immer glitschig war wie ein Aal. Aufruhr folgte ihr zwischen weiteren Reihen an Zelten vorbei, an Elefanten vorbei, die mit ihren Ohren flatterten und in ihre Richtung stierten, an Personal vorbei, das zur Seite sprang, weil es sich sicherlich nicht einmischen wollte, was auch immer hier vor sich ging. Dann geschah aber bald das Unausweichliche und ein uniformierter Posten schnitt ihr den Weg ab. Körper stießen aneinander, die Diebin fiel und leistete den letztmöglichen Widerstand, um sich unter Händen hervorzuwinden, die sie festzuhalten versuchten. Der Aufstand war noch lange nicht vorbei, wurde aber schlagartig leiser, als eine Stimme rief:
      "Ruhe! Um Himmels Willen!"
      Die Uniformierten gehorchten bei dem Blondschopf, der ihnen entgegen gelaufen kam. Er hatte ein Klemmbrett in der Hand und wirkte gestresst.
      "Man hört euch fast bis nach drinnen! Was ist hier los?"
      "Wir haben den Täter."
      Sie schafften es, die Diebin einigermaßen festzuhalten. Erst da fielen wohl die langen Haare auf.
      " - die Täterin."
      "Ganz hervorragend; und dafür habt ihr zehn Leute gebraucht?"
      Demonstrativ sah der Blondschopf sich um und musterte alle zehn versammelten Wachen, die außer Puste waren und wohl einen letzten Beitrag zur Festnahme leisten wollten. Jetzt sahen sie beschämt zur Seite weg.
      "Nein, Liam."
      "Dann zurück auf die Posten! Und übergebt sie der Stadt, ich will damit nichts mehr zu tun haben!"
      Allgemeine Zustimmung ertönte, während die meisten sich aufmachten, der Aufforderung Folge zu leisten. Nur diejenigen, die die Diebin unmittelbar festhielten, begannen zuerst, ihre Taschen zu durchsuchen. Liam war schon wieder auf dem Weg zurück, als einer ihm nachrief und er sich umdrehte.
      "Was ist denn -"
      Er verstummte, als sein Blick auf die weiße Lilie fiel, die die Wache hochhielt. Für einen Moment herrschte Schweigen.
      "Oh. Wirklich?"
      Er kam zurück. Er nahm die Lilie entgegen und sah dann die Diebin an, sah sie genauer an. Er musterte ihre Gestalt und überhaupt schien er sie jetzt erst richtig wahrzunehmen. In seinem Gehirn schien es ganz deutlich zu rattern, gut sichtbar an den Falten, die sich über seine Stirn hinwegzogen. Stressfalten, ziemlich sicher.
      Er schien mit sich zu hadern. Er schien seine nächsten Schritte abzuwägen. Wüsste man bereits, so wie er es wusste, was demnächst folgen würde, könnte man abschätzen, dass er darüber nachdachte, eine von zwei recht banalen Handlungen zu vollführen: Die Lilie zu behalten oder sie zurückzugeben. Sie wegzuwerfen und den möglichen Zorn ihres Eigentümers auf sich zu ziehen, oder sie ihrer Besitzerin zurückzugeben und möglicherweise ein Schicksal zu besiegeln. Recht weitgreifende Folgen für eine so einfache Tat.
      Aber Liam war kein Revolutionär oder Rebell, Liam war ein Mann, der es schätzte, Struktur und Ordnung in seinem Leben zu haben. Der schon seit vielen Jahren aufgehört hatte, sich Gedanken über sein eigenes Schicksal zu machen und damit tunlichst vermeiden wollte, das Chaos an Gefühlen wieder aufleben zu lassen. Liam war niemand, der den Zorn seines Chefs auf sich ziehen wollte, sicher nicht für eine Frau, die er nicht kannte und die ganz eindeutig selbst daran Schuld war, dass sie hier gelandet war.
      Also gab er die Lilie zurück - nicht an die Wache, aber an die Diebin selbst. Dann drehte er sich wieder um.
      "Chester soll entscheiden, was passieren soll. Sie soll in seinem Zelt warten."
      Damit ging er und drehte sich nicht ein weiteres Mal zu ihr um.
    • Tessa wehrte sich mit Händen und Füßen. Sie schlug um sich, trat auf Füße und verpasste mit den Fingernägeln sicherlich dem ein oder anderen uniformierten Wachmann ein hübsches Souvenir. Der heftige Tumult und die wüsten Beschimpfungen seitens der dreisten Taschendiebin zogen die Schaulustigen an wie das Licht die Motten. Fast ein Dutzend gut ausgebildeter Männer hatte die junge Frau bis zu diesem Moment erfolgreich an der Nase herumgeführt. Dieselben erwachsenen Männer, die nun sichtlich Mühe hatten ein zierliches Persönchen wie Tessa zu bändigen. Bis zur Erschöpfung wehrte sich Theresa hartnäckig gegen die Festnahme. Nur weil es keinen Ausweg mehr gab, hieß es nicht, dass sie einfach kampflos aufgab. Allmählich schwanden ihre letzten Kraftreserven. Jemand zerrte ihre Hände auf den Rücken und verhinderte damit weitere ungewollte Kratzer. Sie spielte gerade mit dem Gedanken in den Unterarm zu beißen, der sich von hinten um ihren Hals geschlungen hatte, als eine fremde und genervte Stimme eine Erklärung forderte. Die Wachmänner nahmen augenblicklich Haltung an und zupften die ramponierten Uniformen zurecht.
      Zornig funkelte Tessa den heraneilenden Blondschopf mit dem Klemmbrett durch den unordentlichen Schleier aus braunen Haaren an, die ihr Gesicht beinahe vollkommen verdeckten. Strohhalme stachen aus dem Vogelnest hervor, das von ihrerem geflochtenen Zopf übrig geblieben war. Dieser arrogante Wichtigtuer...Tessa stellte sich vor ihm das Klemmbrett über den Kopf zu ziehen. Die Vorstellung verpuffte als erneut ihre Taschen durchsucht wurden. Sie zuckte vor den Händen zurück, die sich an der Jacke zuschaffen machten.
      "Das gefällt euch, hm?", meckerte Tess. "Eigentlich lädt man eine Dame zuerst zum Essen ein bevor man ihr an die Wäsche geht. Hat euch eure Mama keine Manieren beigebracht?"
      "Halt endlich deine verdammte Klappe!", knurrte es links von ihr.
      "Also ich hätte da eine Idee, wie...Oh! Was haben wir denn da. Liam!? Sieh dir das mal an."
      Verwirrt runzelte die Diebin die Stirn. Sie konnte sich nicht erklären, warum eine simple Blume alle Umstehenden in gebanntes Schweigen versetzte. Zumindest weckte die weiße Lilie gerade bei dem getressten Klemmbrettträger, Liam, großes Intresse, was Tessa wiederum gar nicht gefiel. Noch weniger behagte ihr die Art und Weise wie der Kerl sie ansah. Etwas an dieser Lilie musste ihm große Kopfschmerzen bereiten, so angespannt sah er aus. Von allem erbeuteten Diebesgut, von dem es natürlich keine Spur gab, war es ausgerechnet eine zarte Blume, die alle ansahen wie ein bedeutsames Relikt. Die Verwirrung steigerte sich noch einmal, als ihr die Lilie zurück gegeben wurde. Sie steckte jetzt gut sichtbar in der äußeren Brusttasche der Lederjacke.
      Tessa horchte auf. Wer zum Teufel war Chester?
      Als einer der Männer sie ruppig auf die Füße zog, begann das Spiel von vorne und die wehrhafte Diebin begann erneut heftig zu strampeln. Mit einem letzten, verzweifelten Versuch der misslichen Lage zu entkommen, trat sie einem der Wachmänner mit voller Wucht gegen das Schienbein.

      Theresa ließ den Blick durch das Zelt wandern.
      Beiläufig leckte sie sich mit der Zunge über die Unterlippe und zuckte leicht zusammen. Die aufgeplatzte Unterlippe pochte fürchterlich, aber wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie das für den schmerzhaften Tritt irgendwie verdient. Unschuldig war sie jedenfalls nicht. Die Männer hatten auf dem Weg die Geduld verloren und die zappelnde Diebin zumindest die Hände auf dem Rücken gefesselt. Neumodische Handschellen ließen sich mit einer Haarnadel öffnen, aber diese schweren Fesseln aus Eisen wirkten schon antik. Es gab kein Schloss zu knacken, sondern einen massiven Eisenbolzen. Tessa bließ sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht und lehnte sich in das weiche Sofa zurück. Wie alles im Inneren des großzügigen Zeltes wirkte es geradezu luxuriös und war mit weichem Samt überzogen. Die verdreckte Kleidung hinterließ bestimmt hässliche Flecken auf dem kostspieligen Überzug.
      Die ganze Einrichtung erinnerte Tessa an einen überteuerten Antiquitätenladen. Epochen und Stile, Farben und Formen willkürlich zusammen gewürfelt und in einen einzigen Raum gestopft. Schwere Regele aus dunklem Holz gefüllt mit Büchern und Vitrinen mit unbekanntem Inhalt säumten eine Seite des Zeltes. Allein die Goldbeschläge auf einem Teil der Möbel mussten ein kleines Vermögen wert sein. Im gedimmten Licht der großen Lampenschirme, die mit schwerem Stoff bezogen waren und altmodische Troddeln besaßen, strahlte alles trotzdem eine gewisse Behaglichkeit aus. Dieser Chester, dem das Zelt gehörte, musste ja einiges zusagen haben, wenn ihm dieser Luxus zustand.
      Die stimmungsvolle Musik und geämpfter Applaus drangen durch die Zeltwände und verrieten ihr, dass die Show noch in vollem Gange war. Das Taubheitsgefühl in den Armen nahm langsam zu und sie dachte an Rosie, die besorgt im Versteck im Herzen der Stadt kauerte und darauf wartete, dass Tessa an einem Stück zurückkam.
      Tessa wartete. Schon wieder.
      “We all change, when you think about it.
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    • Liam kam zurück und wirkte gestresster als jemals zuvor, als er Chester knapp darüber in Kenntnis setzte, dass die Täterin gefasst worden sei. Kleinlaut fügte er auch hinzu, dass sie in seinem Zelt warten würde.
      "Wieso das?"
      Chester war sich durchaus des sengenden Blicks bewusst, mit dem er seinen Assistenten bedachte, den er aber nicht einzuschränken versuchte. Die ganze Mannschaft wusste, wie wichtig ihm die erste Aufführung in einer neuen Stadt war, weil sie schließlich den Weg dafür ebnen würde, wie viele weitere Besucher die nächsten Wochen kommen würden. Er hatte grundsätzlich die Anforderung, das bestmögliche aus jeder Vorstellung zu holen, aber heute, ganz besonders heute, musste einfach alles perfekt sein. Es gab keinen Platz für Patzer und Ausfälle.
      Oder für Kriminelle, die hier Trubel verursachten.
      Daran erinnerte er seinen Assistenten durch die Macht eines Blickes, den er länger perfektioniert hatte, als Liam überhaupt auf der Erde weilte. Der war zwar gegen die meisten von Chesters Eigenheiten abgehärtet, aber nicht gegen die Folgen, die diese Nachricht bringen würde: Entweder, Chester würde es auf die leichte Schulter nehmen, oder seine Stimmung würde kippen. Und der Teufel würde die Zirkusleute eher holen, bevor sie provozierten, dass Chesters Stimmung kippen würde.
      "Weil sie deine Lilie hatte."
      Die Lilie. Die weiße Lilie. Chester ging gedanklich die Reihen an Publikum durch, den Mann, der seine Schleife erhalten hatte, die Frau mit der Rose und - die junge Frau in ihren abgetragenen Klamotten. Mit ihren großen Augen, die ihn hinter einer Schmutzschicht heraus anstarrten, ungläubig darüber, was in diesem Augenblick geschehen war. Ihr abseits gelegener Platz, eine Stelle, in der sie sich mehrere Fluchtmöglichkeiten gleichzeitig offen ließ, wie ein sehr erfahrenes, aufmerksames Beutetier. Ihre kalten Hände.
      Chester blinzelte und neigte den Kopf ein wenig schief. Nun, wenn er ehrlich war, war das irgendwie zu erwarten gewesen.
      "Okay."
      Liam scheiterte beim Versuch, seine Erleichterung zu unterdrücken.
      "Halte trotzdem auch nach den anderen Ausschau."
      "Natürlich."
      Chester wollte weitergehen, kam dann aber doch wieder zurück.
      "Liam, sag mir eins, glaubst du an das Schicksal?"
      Sein Assistent starrte ihn an, jetzt wieder professioneller in seinem Auftreten, definitiv von der Nachricht eben noch aus der Bahn geworfen. Er schien sich die Frage zu überlegen und Chester entging nicht der Schatten, der ihm dabei übers Gesicht huschte.
      "Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Kommt ganz auf den Zusammenhang an, schätze ich."
      Chester dachte einen Augenblick darüber nach, tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn und nickte dann.
      "Ja. Ja, das macht Sinn."
      Dann ging er davon und Liam stob in die andere Richtung.

      Eigentlich wollte er bis zum Ende der Aufführung warten, aber das war noch zwei Stunden entfernt und danach wollte er zeitig noch die Nachbesprechung halten, daher konnte er wirklich nicht so lange ausharren. Stattdessen verabschiedete er das Publikum eine Stunde später in die Pause und machte sich - nachdem er die nachfolgenden Akte mit organisiert hatte - auf den raschen Weg zu seinem Zelt. Die Uhr klirrte an seinem Bein, wie eine kleine Glocke, die seine Umgebung darauf aufmerksam machte, dass er in der Nähe war.
      Er schlug die Zeltplane beiseite und trat mit dem freundlichsten Lächeln, das sein Gesicht nur hergeben konnte, ein.
      Lilie - so taufte er sie aus Ermangelung anderer Alternativen kurzerhand - saß auf seinem Sofa, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die Wachen hatten wohl das Licht angelassen, oder absichtlich entzündet, wie um ihm mitzuteilen "sieh dir genau an, was du dir da angelacht hast". Und Chester sah es sich genau an.
      Ihre Kleidung war zu groß für einen offensichtlich schmaleren Körper und sie war ziemlich sicher noch dreckiger als schon im Zelt. Die Haare standen ihr teilweise zu Berge und hatten sich mit Stroh verknotet, von welchem Tierzelt sie das auch immer herhatte. Ihre Augen versprühten Mord und Totschlag, als sie ihn ansah.
      "Oh, Liebes. Haben sie dir nichts zum abwischen gegeben? Du siehst aus, als hättest du dich in ein Tierzelt verirrt. Hoffentlich nicht zu den Raubtieren - die armen Löwen. Habe ich recht?"
      Sein Lächeln verwandelte sich in ein nicht minder charmantes Grinsen, während er sich den schillernden Hut abnahm und hinüber zur Garderobe warf. Er landete perfekt auf seinem vorgesehenen Ständer.
      "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Warte einen Moment."
      Er verschwand im Nebenbereich seines pompösen Zeltes, nur um einen Moment später mit einem feuchten Handtuch wieder aufzutauchen und es Lilie zu reichen - nur, dass sie sich nicht rührte, nachdem ihre Hände noch gefesselt waren.
      "Grundgütiger, das gibt es ja nicht. Wie lange sitzt du schon hier? Ich glaube es ja nicht."
      Er nötigte sie, sich ein Stück vorzulehnen, damit er die Fesseln erreichen konnte. Zum Glück waren es welche, mit denen er sich auskannte. Ein Ruck und er zog die Kette von ihren Armen, bevor er sie auf den Tisch fallen ließ. Seine Stimmung kippte, aber er bemühte sich darum, sie wieder aufzurichten. Immerhin war das hier Lilie, um die es ging.
      "Entschuldige vielmals. Hätte ich das früher gewusst - Herrgott. Es gibt einfach kein gutes Personal heutzutage."
      Frustriert schüttelte er den Kopf und steuerte einen Nebentisch an, auf dem ein Teeservice wartete, bevor er sich daran erinnerte, dass momentan nur Pause war und er bald wieder zurück müsste. Vorher musste er das mit Lilie irgendwie klären.
      "Egal, ganz egal. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, richtig? Ich bin der große Chester des Zirkus Magica, aber du kannst mich gerne nur Chester nennen."
      Ein Grinsen, seine Zähne blitzten weiß auf.
      "Und du bist?"
      Er ging zurück zur Mitte des Zeltes und musterte Lilie, die sich als Theresa herausstellte. Ein Schritt näher zu einem möglichen Erfolg.
      "Lass es uns doch gleich hinter uns bringen, Theresa: Was hast du angestellt? Weshalb bist du hier?"
    • Isadora Penhallow hatte sich in einem Punkt geirrt. Der geheimnisvolle Zirkus voller magischer Wunder und fantastischer Kreaturen besaß keine silbernen Glöckchen, die eine liebliche aber einprägsame Melodie in die Nacht schickten. Den Irrtum begriff Tessa als die Zeltplane zurück geschlagen wurde und ein vertrautes Gesicht das Zelt betrat. Der glänzende Zylinder war ebenso unverwechselbar wie die alles einnehmende Präsenz seines Trägers. Besagter Chester entpuppte sich als Zirkusdirektor, der dem Publikum zu Beginn der Show einen Vorgeschmack auf die spektakuläre Show geliefert hatte. An seinem Gürtel klimperte taktvoll wie ein Uhrwerk eine goldene Taschenuhr. Der Rhythmus war eingehend, gar hypnotisch und das kostspielige Schmuckstück strahlte eine unheimliche Anziehungskraft aus. Das Klirren von Metall auf Metall flirrte durch die Luft wie ein Flüstern. Tessa schüttelte den Kopf und bedachte den Mann mit dem finstersten Blick, den sie aufbringen konnte.
      Merklich verwirrt starrte die Diebin ihren unfreiwilligen Gastgeber an, als dieser zu sprechen begann. Mit einer freundlichen Begrüßung wie dieser, hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Darüber war sie beinahe mehr geschockt, als über die Tatsache, wer sich ihr gerade zuwandte. Tessa bekam kein einziges Wort heraus, während Silbe um Silbe auf sie einprasselte und ihre Wut mehr und mehr der Verwunderung wich. Ein paar Mal öffnete sie den Mund, nur um ihn gleich darauf wieder zu schließen.
      Liebes? Tessa spürte ihre Augenwinkel erbost zucken. Sie saß mit Handschellen gefesselt auf seinem Sofa und er besaß Frechheit sie Liebes zu nennen. Argwöhnisch schnaubte die junge Frau. Niemand war ohne Hintergedanken dermaßen freundlich. Er war so nett und so zuvorkommend, dass es bereits nach wenigen Minuten unheimlich wurde und trotzdem beruhigte sich der schnelle Herzschlag in ihrer Brust langsam. Die Freundlichkeit machte keinen Sinn, wenn er vorhatte sie eiskalt den Offiziellen der städtischen Miliz auszuliefern.
      Tessa presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, als er ihr fürsorglich ein Handtuch anbot.
      Die linke Augenbraue wanderte dabei in die Höhe, was die Narbe merklich betonte, und sie ruckte zur Verdeutlichung mit den Handgelenken. Das durchdringende und metallische Klirren erklang gedämpft in ihrem Rücken. Obwohl sie seine Absicht, sie von den Handschellen zu befreien verstand, zuckte sie leicht vor der Berührung zurück.
      Sie hatte noch immer kein Wort gesprochen, als die Fesseln geräuschvoll auf dem Tisch landeten. Gleich daneben lag das Taschenmesser, das die Wachleute ihr abgenommen hatten. Kurz flackerte ihr Blick in diese Richtung, aber sie als sie die Hand hob, schlossen sich ihre Finger um das weiche Handtuch.
      Während sich Chester über sein Personal empörte, wischte Tessa sich den Staub und Dreck aus dem Gesicht. Beschämt starrte sie auf das befleckte Handtuch und knüllte es so zusammen, dass sie eine saubere Ecke gegen die pochende Unterlippe drücken konnte. Neben dreckigen Flecken ruinierte jetzt auch noch Blut das Handtuch. Tessa betrachtete die gereizte Haut ihrer Handgelenk und hielt den Blick konzentriert gesenkt. Umgeben von all dem Prunk fühlte sie sich unendlich klein und fehl am Platz. Es war einschüchternd. Er war einschüchternd trotz der Freundlichkeit. Nach all dem Bravado hatte die Diebin wohl ihre Sprache verloren. Sie hatte hier gesamtes Pulver verschossen und mit dem ruhigen Herzschlag verebbte auch der Höhenflug des Adrenalins. Sie stieß ein tiefes Seufzen aus und schrumpfte dabei ein wenig in sich zusammen.
      Als er nach ihrem Namen fragte, sah sie auf.
      "Theresa...", antwortete sie leise.
      Was hast du angestellt? Weshalb bist du hier?
      Stirnrunzelnd sah sie den Mann vor sich an. Hatte niemand ihm erzählt, was sie verbrochen hatte? War dieser Liam mit seinem hochwichtigen Klemmbrett nicht gleich zu ihm gelaufen? Vielleicht war das auch gar nicht die Antwort, die er suchte.
      Tessa senkte das Handtuch und zog die weiße Lilie aus der Brusttasche. Nachdenklich drehte sie den zarten Blütenstil zwischen ihren Fingern. Die hübschen Blütenblätter hatte etwas Staub abbekommen und zeigten sich vereinzelt in einem blassen Rosa, wo das Blut auf die Blätter getröpfelt war.
      Dann sah sie Chester wieder aus blassgrünen Augen an.
      Beim Sprechen brannte der Riss in ihrer Unterlippe.
      "Neugierde", antwortete sie. "Ich wollte wissen, was hinter dem Zaun ist."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Nach und nach kam unter dem Schmutz - und auch dem Blut, wie Chester an den roten Schlieren säuerlich feststellte - eine Frau zum Vorschein. Eine hübsche Frau, wie ihm auffiel, deren ausdrucksstarke Augen nur einen Teil eines Gesichts darstellten, das Geheimnisse zu verbergen versuchte. Sie war jung, wie ihm auch auffiel, mit einem leichten Stich der Besorgnis in der Brust. Vielleicht ein Stück zu jung für seine Pläne.
      Er hatte noch nie Probleme damit gehabt, junge Leute von seiner "Sache" zu "überzeugen", aber er wollte niemanden gewalttätig aus einem Leben reißen, das sich zu leben lohnte. Er wollte keine Familien entzwei reißen und er wollte keine Karrieren zerstören, er wollte nicht der Ursprung für Unglück und Trauer sein, wenn die ganze Sache darauf aufbaute, dass sie die nächsten Jahrzehnte miteinander verbrachten. Er wollte den Schaden so gering wie möglich halten.
      Deswegen suchte er sich seine Opfer immer gründlich aus. Deswegen wollte er sie immer kennenlernen, bevor er mit irgendetwas fortfuhr. Deswegen wollte er sicherstellen, dass sie ihn hinterher nicht mehr hassen würden, als sie es sowieso schon taten.
      Und Theresa - im gefiel der Name nicht besonders, es hatte mal eine andere Theresa hier gegeben - war definitiv jung genug, dass sie noch ein erfüllendes Leben vor sich haben könnte. Aber sie war auch in Schwierigkeiten geraten, die implizierten, dass sie genau das nicht hatte. Ihre Kleidung vermittelte schon den Eindruck, dass sie kein sehr erfüllendes Leben hinter den Zäunen des Zirkus' hatte.
      Er wollte herausfinden, wie alt sie war. Wenn er könnte, hätte er sie gleich danach gefragt.
      Stattdessen packte er seinen vollen Charme aus, als sie die Lilie herausholte. Die Blüte schien ein bisschen mitgenommen, genauso wie ihre Besitzerin.
      Wie passend.
      "Neugierde."
      Er legte den Kopf schief, lächelte. Dann trat er einen Schritt nach vorne, nur einen einzigen, und streckte die Hand nach Theresa aus. Sie schien nicht zu verstehen, dann schien sie sehr wohl zu verstehen aber nicht zu wollen und dann fügte sie sich doch und legte die Lilie in seine offenbarte Handfläche.
      Er stellte sicher, dass ihre Finger sich streiften, als sie die Hand wieder zurückzog.
      "Neugierde ist der Wissensdurst nach Erkenntnis, darum sollte man sie fördern und ermutigen."
      Er trat wieder einen Schritt zurück, exakt dieselbe Länge wie zuvor. Die Uhr an seinem Bein klirrte.
      Er krempelte sich die Ärmel hoch, weit genug, dass seine Handgelenke freilagen, strich vorsichtig etwas von dem Staub und dem leichten Blut von den Blättern der Blüte und hielt sie dann etwa auf Theresas Augenhöhe. Er schloss die Finger darum, ballte die Faust mit der Lilie darin, vollzog seine kleinen Ablenkungsmanöver mit der anderen Hand und öffnete sie wieder, um zu entblößen, dass die Blume verschwunden war. Er drehte beide Hände, präsentierte sie, ballte dann wieder die Faust und als er sie dieses Mal öffnete, blies er weißen, glitzernden Staub in die Luft, der sich wie eine winzige Wolke über dem Tisch sammelte, bevor er langsam hinabfiel. Das Glitzern erstarb bis zuletzt nicht.
      "Sag mir, Theresa", er neigte wieder den Kopf, lächelte. "Ist deine Neugierde befriedigt?"
    • Das Lächeln wirkte auf Theresa befremdlich. Hatte sie etwas gesagt, das ihn amüsierte?
      Während er einen Schritt auf sie zuging, lehnte sich Tessa ein winziges Stückchen zurück, doch er blieb stehen und näherte sich nicht weiter. Stattdessen streckte er auffordernd die Hand aus. Fragend sah sie von seiner Hand in sein Gesicht und wieder zurück. Tessa legte nachdenklich den Kopf schief und hinter ihrer Stirn arbeitete es eifrig. Grübelnd zogen sich ihre Augenbrauen zusammen und ihre Nasenwurzel kräuselte sich dabei, während sie versuchte zu begreifen, was Chester von ihr wollte.
      Die Lilie.
      Tessa senkte den Blick auf die weiße Blume und zögerlich legte sie das zerbrechliche Kleinod in seine Hand. Warum sie zögerte, wusste sie selbst nicht. Vielleicht sträubte sie sich vor dem Gedanken etwas herzugeben, das sie gerade erst bekommen hatte. Als sie die Hand zurückzog, berührten sich ihre Fingerspitzen für einen flüchtigen Augenblick. Ihre Finger zuckten obgleich der Berührung und sie spürte die Wärme unter ihnen. Die Hand fand den Weg zurück auf ihr Knie und selbst als Chester einen Schritt zurück trat, fühlte sie die Wärme noch immer kribbelnd unter ihren Fingerspitzen. Das Gefühl breitete sich über ihr Handgelenk und dem Arm aus, wie eine emsige Schar von Ameisen unmittelbar unter ihrer Haut. Tessa krümmte die Finger um das Gefühl abzuschütteln.
      Behutsam berührte Chester die Blütenblätter der Lilie und sie folgte der Bewegung mit den Augen bis er die Blume auf ihre Augenhöhe führte. Der gesamte Fokus schrumpfte in diesem Moment auf seine Hand und die Lilie zusammen. Tessa spürte das Zucken ihrer Mundwinkel, als sich seine Faust um den Blütenkopf schloss. Sie verspürte den unmissverständlichen Drang die Blume zurück zu fordern, bevor er sie vollständig zerdrückte. In der nächsten Sekunde eröffnete sich der erste Höhepunkt des kleinen Tricks und die Blume war wie von Zauberhand verschwunden. Ähnliche Zauberkunststücke hatte sie als kleines Mädchen unzählige Male beobachtet. Die Trickbetrüger in ihrer wenig fürsorglichen Verwandtschaft hatten solche Zaubertricks genutzt um arglose Passanten auszunehmen wie Weihnachtsgänse. Solange die Schaulustigen auf die Hände des Künstlers sahen, vergaßen sie auf ihre Taschen zu achten.
      Aber Chester vollführte das zauberhafte Kunststück mit solchem Geschick und Hingabe, dass selbst Tessa das Lächeln auf ihren Lippen nicht unterdrücken konnte.
      Statt die Lilie einfach wieder erscheinen zu lassen, zerstob sie in einer schimmernden Staubwolke, die das sanfte Licht der Lampenschirme glitzernd und funkelnd reflektierte. Manchmal waren die simpelsten Dinge, wie etwas Glitzerstaub im richtigen Augenblick, auch die Schönsten. Sie hätte die Lilie trotzdem gerne behalten.
      Er neigte den Kopf und ihre Hände schlossen sich um das zerknitterte Handtuch in ihrem Schoß.
      Sie wusste auf die Frage keine zufriedenstellende Antwort.
      Und eigentlich war das Antwort genug.
      Sie lächelte nicht mehr und stellte stattdessen eine Gegenfrage, die ihr wie ein Stein im Magen lag.
      "Was passiert jetzt mit mir?", fragte sie.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Wie die glitzernde Wolke hing das Schweigen zwischen ihnen in der Luft, spürbar anwesend in der sonstigen Abwesenheit, ein unbekannter Dritter, der die Konversation nicht zu füllen vermochte. Blaue Augen lagen auf eindringlich grünen, Geduld war ihrer beider Begleiter. Aber nur einer von ihnen hatte die Erfahrung damit, diesen Begleiter eine Ewigkeit lang zu versorgen.
      Ein Lächeln war auf ihrem Gesicht erschienen. Chester konnte seinen Nachhall noch sehen, auch als ihre Gesichtsmuskeln längst wieder zusammengefallen waren.
      Als Theresa das Wort schließlich wieder erhob, hatte sie keine Antwort parat. Chester richtete daraufhin den Kopf wieder auf, versorgte seine Lippen aber weiterhin mit einem weiten Lächeln.
      "Jetzt wirst du dein Diebesgut zurückgeben, das du gestohlen hast. Ich kann in meinem Zirkus nämlich nicht den Ruf entstehen lassen, dass hier während der Aufführungen Gegenstände verschwinden. Zumindest nicht auf diese Art. Das verstehst du doch, oder?"
      Er sprach im Plauderton, als führten sie ein Gespräch über das Wetter und nicht unbedingt darüber, dass Theresa vor einer Stunde noch beim Klauen erwischt worden war. Aber schließlich ging es Chester hier auch gar nicht darum. Diebstahl war nun wirklich das letzte, worüber er sich in irgendeiner Weise den Kopf zerbrach.
      "Und dann wirst du von mir aus meinem Zelt begleitet, weil ich zurück in die Manege muss. In zwei Akten kommen die Löwen und das muss gut vorbereitet sein."
      Er spazierte zur Garderobe hinüber, schnappte sich seinen pompösen Hut und setzte ihn wieder auf, ehe er mit einer genauso leichtfertigen Schritten zum Zelteingang ging und Theresa mit einer Armbewegung dazu einlud, sich ihm anzuschließen. Auch darüber schien sie zu zögern, wobei er diesmal nun wirklich nicht erraten konnte, weshalb. Vielleicht lag es in ihrer Natur, die Dinge erst einmal skeptisch zu betrachten.
      Aber auch hier siegte seine Geduld über ihre und sie verließ mit ihm schließlich das Zelt. Die Wachen waren verschwunden, zurück auf ihren Posten. Chester zog an einer Leine und die Zeltplane schloss sich hinter ihnen.
      "Und zuletzt wirst du mir drei Versprechen geben."
      Er blieb neben ihr stehen und wandte sich ihr mit seinem ganzen Körper zu. Sie war ein Stück kleiner als er, aber das schien kaum einen Unterschied zu machen. Theresa war selbstbewusst genug, sich nicht allein durch Körpergröße einschüchtern zu lassen.
      Er lächelte trotzdem ein warmes Lächeln, von dem er wusste, dass es durch seinen schrillen Hut nur noch verstärkt wurde.
      "Zum einen wirst du mir versprechen, dass du auf dem Weg gehen wirst, auf dem du gekommen bist. Ich möchte nämlich nicht noch einen Aufstand hier haben, das macht schlechte Stimmung. Zum zweiten wirst du mir versprechen, dass du dich nicht noch einmal erwischen lässt. Okay? Das war nämlich das eigentliche Problem an der ganzen Sache, wie du sicher selbst weißt."
      Genau wie in der Manege zwinkerte er ihr auch jetzt zu. Sein Lächeln wurde für einen Moment größer und einladender.
      Chester wusste genau, wie er seine Mimik zu wählen hatte, um den gewünschten Effekt zu erreichen.
      "Und zum dritten wirst du mir versprechen, dass du beim nächsten Mal, solltest du wieder neugierig darüber werden, was hinter dem Zaun ist, du herüberkommst und dir von mir dabei helfen lässt, diese Neugier zu befriedigen."
      Er neigte wieder den Kopf.
      "Wir sind schließlich nicht nur ein Zirkus, wir sind der Zirkus Magica. Unsere Magie ist hier überall. Du musst nur die Augen danach öffnen."
      Er zog sich den Hut vom Kopf, drehte ihn um, griff hinein und zog dann die Lilie hervor, exakt jene, die Theresa bei sich gehabt hatte. Die Blutspuren waren noch an Ort und Stelle, jetzt ein wenig verwischt, nachdem Chester sie vorhin etwas geputzt hatte. Wie ein Antrag hielt er sie ihr entgegen und wie ein Ritual berührten sich ihre Fingerspitzen, als sie sie entgegen nahm. Mit diesem Auftritt war Chester deutlich zufrieden.
      "Das hier ist dein Ticket herein - nur deines. Ich werde meinem Personal sagen, dass sie einer hübschen, jungen Frau mit braunen Haaren und etwa... wie alt bist du? ... 24 Jahren die Pforten öffnen sollen, wenn sie ihnen die Lilie vorzeigt. Es gibt nicht sehr viele weiße Lilien, weißt du? Sie ist sogar sehr selten - sehr selten und einzigartig."
      Er wusste, dass seine Augen auf genau die richtige Weise aufblitzten. Er wusste, dass sein Lächeln dazu passte, ein einvernehmliches Lächeln, als würde er etwas betrachten, das er genießen würde. Er wusste, dass sein Zauber auch an Theresa nicht vollkommen abprallte.
      "Versprochen?"
    • Die Zurückhaltung beruhte auf dem festen Glauben, dass niemand Freundlichkeit verschenkte ohne dafür eine entsprechende Gegenleistung zu erwarten. Allein die Vorstellung, dass Chester ihr aus reiner Gutherzigkeit ein Schlupfloch bot, das sie nicht direkt in eine Zelle führte, klang zu schön um wahr zu sein. Die Forderung, das Diebesgut ohne weitere Konsequenzen einfach zurück zu geben, schürte ihr Misstrauen. Es spiegelte sich in der erneuten Anspannung ihrer Körperhaltung wider. Es blitzte in ihren Augen auf, als er sie auffordernd zum Zelteingang winkte. Bevor sie das Zelt verließ, steckte sie ihr Taschenmesser zurück in den Stiefel.
      Theresa öffnete den Mund zum Protest und klappte in in derselben Sekunde wieder zu. Die Selbstverständlichkeit, mit der Chester durch das Zelt marschierte und sprach, ließ keinen Widerspruch zu. Sie war in ihrem Leben noch nie freundlicher zurecht gewiesen worden. Für den Bruchteil einer Sekunde rechnete Tessa felsenfest damit, dass sich draußen bereits Mitglieder der Miliz tummelten, um die Diebin ganz offiziell in Gewahrsam zu nehmen. Nichts dergleichen passierte, als sie in die kühle Nacht hinaus trat.
      Stattdessen machte ihr Chester ein wirklich überraschendes Angebot.
      Mit gerunzelter Stirn blieb Tessa stehen und legte den Kopf schief als Chester sich ihr gänzlich zuwandte. Das Lächeln auf seinen Lippen wackelte für keine Sekunde und es wurde sogar noch breiter, noch strahlender. Es war unglaublich schwer, sich dem intensiven aber nicht aufdringlichen Blick zu entziehen. Niemand hatte sie je so angesehen.
      Tessa war noch keinem einem Menschen begegnet, der so lange und anhaltend lächelte. Beschämt stellte sie fest, dass sie ein befremdliches Gefühl der Sicherheit verspürte. Ein trügerisches Gefühl, das sämtliche Alarmglocken in ihrem Kopf läuten ließ.
      'Die Welt schenkt dir nichts', flüsterte Isadora in ihrem Kopf.
      Die Stimme verstummte als Chester sich vorneigte und den lächerlich großen Zylinder vom Kopf zog. Ein eigenes, vorsichtiges Lächeln zupfte an ihren Mundwinkeln und ihre Augen richtete sich auf die augenscheinlich leere Kopfbedeckung. Ein Ausdruck unschuldiger und reinster kindlicher Freude funkelte in den grünen Augen, als er eine weiße Lilie aus dem Hut hervor zauberte. Für einen charmanten Zaubertrick war niemand zu alt. Und es war nicht irgendeine Linie. Es war ihre Lilie.
      Tessa fühlte die unzähligen Fragen, die sich auf ihrer Zunge auftürmten, doch als sie die Blume entgegen nahm und sich ihre Fingerspitzen zum zweiten Mal in dieser Nacht berührten, vergaß die erwischte Diebin die Worte, die sich ihr aufdrängten.
      Die Neugierde siegte. Tessa nickte.
      "Versprochen", antwortete sie und zögerte kurz. "Chester?"
      Die Silben seines Namens zu formen, fühlte sich merkwürdig an und fast ein wenig zu vertraut. Sie sah auf ihre verdreckten Stiefel hinab und biss sich auf die bereits malträtierte Unterlippe.
      "Da gibt es nur ein Problem", murmelte sie. "Das Diebesgut... Ich habe es nicht mehr bei mir, aber ich bringe alles zurück. Ich mag vieles sein, aber ich bin nicht undankbar und ich halte meine Versprechen. Deshalb... Danke dafür, dass du mich nicht ausgeliefert hast. Ich werde alles zurückgeben, versprochen."
      Es war das Letzte, das Tessa sagte, bevor sie wie versprochen, auf demselben Weg verschwand wie sie gekommen war.

      [2 Tage später]

      "Du willst Was?", sagte Rosalie und sah ihre Freundin mit großen Augen an.
      "Alles zurück bringen", wiederholte Tessa.
      Beiläufig zuckte sie mit den Schultern und streckte fordernd die Hand aus. Widerwillig legte der Rotschopf das hübsche, silberne Armband in die Hand ihrer Freundin und schien dazu einiges an Überwindung zu brauchen. Tessa stopfte das gesamte Diebesgut von ihrem Raubzug auf dem Zirkusgelände in einen alten, zerfledderten Rucksack.
      "Hätte nicht gedacht, dass das schon reicht", schnaubte Jacob.
      Jacob lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, von der bereits der Putz abbröckelte, und sah Tessa skeptisch an. Er war gerade 18 Jahre alt geworden und damit jünger als Rosalie und Theresa. Eine große Klappe hatte er allerdings für Zwei.
      "Willst du mir irgendetwas sagen, Jacob?"
      Jacob stieß sich von der Wand ab und schnappte sich die weiße Lilie, die Tessa zu den anderen Dingen auf den Tisch gelegt hatte. Die kleine Dachwohnung in dem leerstehenden Gebäude war zugig und feucht. Sie besaßen kaum Möbel und schliefen auf behelfsmäßigen Schlaflagern auf dem Boden. Wütend marschierte Tessa auf den Jüngeren zu, der die Lilie spielerisch durch die Finger gleiten ließ.
      "Du lässt dich mit einem Lächeln und einer Blume von diesem eilten Gockel um den Finger wickeln. Predigst du uns nicht immer, dass wir niemandem außer uns vertrauen können?", bohrte Jacob nach.
      "Er hätte mich ausliefern können und hat es nicht getan. Ich werde ihm diese Freundlichkeit nicht zurückzahlen indem ich mein Wort breche", erklärte die Brünette und stahl die Lilie mit grimmiger Miene zurück.
      "Niemand ist so freundlich ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen!", knurrte der Junge.
      "Jacob hat recht, Tess", mischte sich Rosalie kleinlaut ein. "Das ist gefährlich. Du weißt nicht, was er von dir will."
      Ruckartig versteigfe die Diebin. Die Finger gruben sich fest in den Rucksack bis das rissige Leder knirschte. Sie wusste selbst wie absurd und lächerlich das Alles klang. Aber sie verlangte auch nicht, dass die anderen sie verstanden. Sie verstand es ja selbst kaum. Tessa atmete tief ein und aus, ehe sie sich umwandte. Das Thema war für sie beendet.
      "Geht zu Miles. Ich habe gehört, dass er noch ein paar kleine Jobs für uns hat", sagte Tessa. "Ich komme später nach."
      "Tess..."

      Den Zirkus Magica bei Tageslicht zu sehen, war seltsam.
      Die Ansammlung von farbenfrohen Zelten und Verkaufsbuden wirkte am Tag beinahe normal. Geschäftig eilten die Angestellten hinter dem Zaun umher und erledigten die täglichen Pflichten. Tiere musste versorgt, Kostüme geflickt und alle mit Essen versorgt werden. Sorgfältig angelegte Gehege hinter dem großen Eisentor des Zaunes beherbergten die sanftmütigen Tiere des Zirkus. Pferde grasten entspannt und genossen dabei die Fürsorge ihrer Pfleger, die das Fell striegelten bis es im Sonnenlicht glänzte. Elefanten wackelten aufmerksam mit den großen Ohren und ließen sich zur Mittagsstunde eine Dusche verpassen. Einfache Arbeiter schleppte schwere Wassereimer durch die gewundenen Wege, schoben Schubkarren mit Futter oder Mist vor sich her. Hier zeigte sich die harte Arbeit hinter dem Prunk und Glanz der abendlichen Vorstellung. Obwohl es mitten am Tag war, waberte ein seichter Nebel um das Gelände, nur war er um diese Tageszeit weniger auffällig.
      Tessa wechselte den Rucksack auf die andere Schulter und suchte in ihrer Lederjacke nach der Lilie.
      Vor dem Verkaufshäuschen am Eingang blieb sie stehen und klopfte einmal sachte gegen die geschlossenen, in rot bepinselten Fensterläden. Sie fragte sich einen Moment, was sie hier eigentlich machte, dann schwangen die Fenster auf.
      "Huch! Hast du dich etwas verlaufen, Liebes?", ertönte die rauchige Stimme einer älteren Dame.
      Neugierig streckte die Frau den Kopf durch das Fenster und musterte Tessa von oben bis unten. Das Auffälligste an der alten Frau waren die ungebändigten, grauen Locken, die ihr bis zum Kinn reichten und in alle Himmelsrichtungen abstanden. Tiefe Lachfalten hatten sich in ihr Gesicht gegraben.
      "Wir öffnen erst zur Abendstunde, Kindchen. Du wirst dich leider noch ein wenig gedulden müssen, wenn du aber...Oh!", staunte sie und schob sich mit einem langen, knöchrigen Zeigefinger die goldene Metallbrille mit den wahnsinnig großen, runden Gläsern höher auf die Nase. Sie blinzelte verwundert beim Anblick der Lilie.
      "Du bist junge Dame, Theresa, die hier vor einigen Tagen für ganz schön Unruhe gesorgt hat, hm?", fragte sie. "Unser lieber Chester muss einen wirklich guten Tag gehabt haben, wenn er dich so leicht vom Haken gelassen hat. Und wie ich sehe, hast du deine Eintrittskarte dabei, die übrigens nicht an die Uhrzeit gebunden ist."
      Sie zwinkerte Tessa zu.
      "Komm nur herein, Kindchen. Am besten gehst du hinter der Bude mit den Karamelläpfeln links, dann bei der dritten Abzweigung nochmal links und dann immer schnurstracks geradeaus. Wenn du die Elefanten gefunden hast, findest du dort ein paar gemütliche Bänke. Warte dort. Da stehst du niemandem im Weg."
      "Ähm..."
      "Nun, husch.", mit einer wedelnden Handbewegung scheuchte die Dame Tessa auf das Gelände. "Oh, wie unhöflich. Du darfst mich Eleonore nennen, Theresa. Und jetzt, ab mit dir, ohne mein Mittagsschläfchen bin ich nicht zu gebrauchen."
      Geräuschvoll schlugen die Fensterläden des Eintrittskartenhäuschens wieder zu.
      Das war...merkwürdig gewesen. Tessa folgte den Anweisungen von Eleonore und suchte sich einen Pfad durch die Zelte und vorbei huschenden Angestellten. Niemand schien wirklich Notiz von ihr zu nehmen. Der Gedanke veränderte sich, als die Blicke immer öfter auf die Lilie in ihrer Brusttasche fielen. Es war eine gewöhnliche, weiße Lilie. Obwohl Chester selbst etwas anderes behauptet und sie es als charmante Floskel abgetan hatte. Die Bänke am Ziel ignorierte Tessa, denn sie entdeckte etwas viel Interessanteres. Hinter einem viel zu niedrigen Zaun standen die sanftmütigen, grauen Riesen und drehte aufmerksam die großen Köpfe in Richtung des Neuankömmlings. Theresa sah sich zu allen Seiten um ehe sie mit dem nötigen Respekt an den Zaun trat. Mutig streckte sie eine Hand aus und wurde sogleich mit einem neugierigen Rüssel begrüßt. Der geschnaubte Atem kitzelte auf ihrer Hand. Die dicke Haut fühlte sich ledrig und die wenigen borstigen Haare piekten ihr in die Handfläche.
      "Na...?", begrüßte sie den Dickhäuter lachend und zeigte sich dabei fruchtlos aber respektvoll vor dem beeindruckenden Tier.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Es war ziemlich einfach Theresa zu faszinieren - eine Tatsache, die Chester sich merken würde. Es ging nichts über eine gut durchdachte Überzeugungstaktik und das war schließlich erst der Anfang, das Einfühlen in Theresas Charakter. Er wollte alles aus ihr herausholen, was auch immer ihm nur dazu helfen würde, seine Uhr mit einem neuen Rot zu bedecken.
      Sein Lächeln sackte nicht ein, selbst bei diesem Gedanken nicht. Er konzentrierte sich viel eher darauf, dass Theresa seinen Namen nannte, ganz zögerlich, als müsste sie erst ausprobieren, wie er aus ihrem Mund klang. Chester fand, dass er ganz fantastisch klang.
      "Danke, dass du alles zurückbringen wirst. Damit sind wir quitt, hm?"
      Ein erneutes Zwinkern, dann setzte er sich den Hut wieder auf, während Theresa bereits abdrehte, um wohl so schnell wie möglich die Gefahr hinter sich zu bringen. Er sah ihr nach, wie sie zuerst zum Rande des nächsten Lichtscheins schlich und dann eins mit den Schatten wurde, eine dreckige, verfilzte Gestalt, die sich sehr natürlich an das anpasste, worin die Dunkelheit sie verschluckte. Er hob die Hand zu einem letzten Abschiedsgruß.
      "Bis bald, Theresa!"
      Er konnte sie nicht mehr sehen, aber er blieb selbst noch einen Moment länger im Licht stehen, den Schatten ein Lächeln präsentierend, das die Kraft hatte, selbst die stärkste Finsternis zu vertreiben. Und als nichts mehr kam, als er sich ziemlich sicher sein musste, dass Theresa vollends verschwunden war, kehrte er um und eilte zum Hauptzelt zurück.

      Die Premiere war ein voller Erfolg, unabhängig von kleinen Patzern hier und da und einem Chaos in der Organisation. Die Löwen waren gut gefüttert, der Feuerspucker setzte Chesters neueste Verbesserungsvorschläge grandios um, die Tänzer lenkten ausreichend ab, während die Manege umgebaut wurde. Chester war wirklich zufrieden mit ihrem Erfolg, wenn man von den Kleinigkeiten absah. Er hätte es sich fast nicht besser vorstellen können.
      Die Nachbesprechung fiel entsprechend kurz aus, die ganze Mannschaft bereits erschöpft und zerschlagen von dem langen Abend. Chester entließ sie frühzeitig und beschloss zur Feier des Tages, dass die Aufräumarbeiten auch bis zum Morgen warten könnten.
      Umso entzückter war er zu erfahren, dass die Dame mit seiner Rose aufkreuzt war - man hatte sie wie angeheißen hinter die Manege gelassen, als sie sich neugierig dort herumgetrieben hatte. Chester empfing sie, wickelte sie in Smalltalk ein, fragte nach ihrem Namen, ihrem Alter, führte sein Programm mit glänzendem Lächeln, wortgewandten Komplimenten und kleinen Berührungen durch, dem sie völlig und unwiderruflich verfiel. Er lud sie in sein Zelt ein, bot ihr Tee an und nach einer weiteren halben Stunde voller flirtender Gespräche, küsste er sie auf den Mund. Sie quietschte immer beim Lachen, was ihn irgendwie störte. Es war ein ganz hohes Geräusch, von dem er sich sicher war, dass es nicht von alleine kam, sie musste es sich antrainiert haben. Trotzdem brachte er sie in sein Bett und verbrachte die Nacht mit ihr.
      Er war sich nicht zu schade seinen Körper zu benutzen, nicht nach mindestens 100 Angestellten, die er auf die eine oder andere Weise ergattert hatte. Er hatte Prinzipien, nach denen er seine nächsten Opfer auswählte, aber früher hatte es mal wesentlich mehr gegeben. Sein Körper gehörte nicht mehr dazu, weil er wusste, dass seine Arme nicht zu breit aber auch nicht zu dünn, seine Beine stark und nicht zu knochig und seine Bauchmuskeln wohldefiniert, aber nicht steinhart waren. Er entsprach der gängigen Vorstellung des Traumkörpers für eine Frau und ganz besonders einer wie dieser, die wohl mit ihrem Mann nicht mehr viel anfangen konnte. Aber an diesem speziellen Abend verspürte er wenig Lust darin, sich in seinem Bett zu wälzen und dem Quietschen ihrer Stimme zuzuhören. Er konnte nicht ganz den Finger darauflegen, vielleicht hatte er heute einfach keine Lust für sowas. Er brachte sie frühzeitig zum Kommen, täuschte seinen eigenen Orgasmus vor und ließ sie dann auf seiner Brust einschlafen, weil er schließlich kein Unmensch war. Vom Nachttisch neben seinem Bett erklang das Ticken seiner Uhr und erfüllte das Zelt zu jeder Sekunde.
      Am Morgen schlich er sich aus seinem Zelt, schnappte sich eine Wache vom Eingang und wies sie an, die Dame nach draußen zu begleiten, wenn sie herauskommen würde. Kurzerhand hatte er beschlossen, dass sie nicht in die engere Auswahl jener fiel, die er für den Rest ihres jeweiligen Lebens an sich binden würde.
      Bis Mittag half er mit den Aufräumarbeiten, dann ging er hinüber ins Verpflegungszelt, wo lange Tische aufgestellt waren, um das Essen aus der Küche zu verteilen. Er setzte sich zu Liam, Malia und Roy, den Feuerspucker von letzter Nacht, an den Tisch und plauderte über Sinnlosigkeiten: Ob das Wetter halten würde, ob es in der nahegelegenen Stadt interessante Geschäfte geben könnte, dass das Publikum auch jedes Jahr frecher würde. In einer ruhigen Minute sah Malia Chester direkt an.
      "Hast du dich schon für jemanden entschieden?"
      "Ich habe bisher nur zwei kennengelernt."
      "Ja - und?"
      "Ich glaube, Theresa ist vielversprechend. Wenn sie wiederkommt."
      Alle drei sahen ihn aufmerksam an, nur Roy sah etwas außenvorgelassen aus.
      "Theresa?"
      "Die Lilie."
      Er zuckte mit den Schultern.
      "Nicht gesehen."
      "Theresa..." Malia stocherte unzufrieden in ihrem Essen herum. "Die junge?"
      "So jung ist sie gar nicht. Sie ist 24."
      "Das ist verdammt jung, Chester. Was ist mit deinem Vorsatz, keine junge zu nehmen? Sie hat noch ihr ganzes Leben vor sich."
      Ein bisschen ärgerte ihn der Ausdruck jetzt, auch wenn er ihn selbst verwendete. Sein natürliches Lächeln verschwand.
      "Ihr Leben ist nicht vorbei, wenn sie bei uns bleibt."
      "Aber es fängt auch nicht an. Du wirst sie entführen und sie aus ihrem Leben reißen."
      "Sie wird freiwillig mitkommen. Das ist -"
      Malia donnerte ihr Besteck auf den Tisch.
      "Das ist genau dasselbe, Chester!"
      In ihrer unmittelbaren Umgebung wurde es ruhig.
      "Da ist kein Unterschied! Ob du sie gegen ihren Willen mitnimmst oder sie erst anlügst und dann mitnimmst ist ein und dasselbe!"
      Chester starrte perplex bei dem plötzlichen Ausbruch. Malia war schon sechs Jahre bei ihnen, aber schien vor kurzem erst angefangen zu haben, sich regelrecht querzustellen. Er hatte sie damals überredet mitzukommen, damit sie nicht bei ihrem missbräuchlichen Mann bleiben musste und sie hatte zugestimmt, wohlwissend, was sie erwarten würde. Er wusste nicht, was jetzt in sie gefahren war.
      Beide starrten sich für einen Augenblick an, dann schnappte Malia sich ihren Teller, sprang auf und stampfte davon.
      Die Gespräche um sie herum liefen langsam wieder an, aber Chester hatte keinen Hunger mehr. Er sah zu Liam, der nur mit den Schultern zuckte.
      "Sie hat ja nicht unrecht."
      Roy schloss sich der Meinung wohl an, indem er seinen Teller studierte. Chester starrte beide für einen Moment an, dann aß er schweigend weiter und stand frühzeitig auf, um wieder zu gehen.
      Am Nachmittag sah er nach dem Rechten für die Vorbereitung der abendlichen Show und kümmerte sich um sämtliche Anlegenheiten, die bei ihm landeten. Er machte knappe Inventur, sah sich einen der Stände an, dessen Holzgestell wohl an der Seite schwächelte, half der Wahrsagerin, die Pflanzen in ihrem Zelt an der Decke richtig zu befestigen, besuchte einen der Akrobaten, der wohl Kopfschmerzen hatte und vom Arzt Bettruhe verschrieben bekommen hatte. Er plauderte mit ihm für eine halbe Stunde, bevor er den Dienstplan umstellte, damit der Mann seine Ruhe bekäme. Er sah nach den Tieren, besonders aber nach der Dompteurin und dem Tierarzt, der die Gesundheit der Tiere im Blick behielt. Er schlichtete einen Streit zwischen zwei Tänzern, die wohl beide eigene Vorstellungen von Perfektion hatten. Er half dabei Geschirr zu waschen, weil die Küchenhilfe sich beim Kartoffeln schälen in die Hand geschnitten hatte. Er legte die Mausefallen in ihrem Lager neu aus, damit die Netzsäcke nicht angegriffen würden. Er streute frischen Sand in der Manege aus. Er genehmigte einen gewissen Geldbetrag aus der Kasse, um ihre Plakate auffrischen zu lassen. Er half dabei, ein Kostüm zu nähen, das während dem Aufwärmen gerissen war.
      Am Abend, eine halbe Stunde, nachdem die Tore geöffnet wurden, tauchte der Mann mit der Schleife auf. Chester verwickelte ihn in ein Gespräch, Name, Alter, immer lächeln, komplimentieren, und fand heraus, dass er nur alleine hier war, weil seine Frau krank Zuhause lag und sie die Tickets nicht verfallen lassen wollten. Chester unterhielt sich weiter freundlich mit ihm und verabschiedete sich dann von ihm, weil er keine Familien auseinander riss.
      Bei der Aufführung verteilte er seine Geschenke, wieder fünf. Zwei von ihnen suchten ihn direkt nach der Vorstellung; mit der Frau tauschte er einige feurige Küsse in den Schatten zwischen den Zelten aus, weil es offenbar erregend für sie war, sich vorzustellen, dass sie den Zirkusdirektor erfolgreich verführt hätte. Sie ließ ihn aber stehen, denn die Erregung war wohl dann vorbei, als er eigenes Interesse an ihr zeigte. Den Mann lud er zu seinem Zelt ein, servierte ihm Tee, unterhielt sich mit ihm, entlockte ihm die Informationen, die er wissen wollte und griff auf eine gespielte, schüchterne Weise nach seiner Hand. Sie küssten sich. Er versuchte, den Mann weiterzulocken, aber der schien mit einem Mal panisch zu werden, sprang auf und türmte aus seinem Zelt. Chester sollte ihn nie wieder zu Gesicht bekommen, was durchaus auch nicht ungewöhnlich war.
      Aus Ermangelung einer Alternative verbrachte er die Nacht alleine, lauschte dem beständigen Ticken seiner Uhr und starrte auf die Muster seiner Zeltdecke.

      Am Tag darauf war er wieder mit Aufräumarbeiten beschäftigt, als ihn die unverhoffte Nachricht erreichte, dass Theresa - Lilie - gekommen wäre. Es überraschte ihn, weil er ehrlicherweise nicht sehr damit gerechnet hatte, dass sie wiederkommen würde. Nach dem Zusammenprall mit Malia am gestrigen Tag, hatte er es sogar fast gehofft, um weiteren Konflikten zu ergehen. Aber jetzt war sie trotzdem hier und er verspürte eine ungeahnte Freude dabei, dass sie zurückgekommen war.
      Sie wartete bei den Elefanten auf ihn. Er beeilte sich damit, die letzten Kisten zu verschließen, bevor er sich eilig auf dem Weg machte.
      Sie war nicht mehr so schmutzig wie vor zwei Tagen. Eigentlich war sie sogar recht sauber, wenn man davon absehen wollte, dass ihr Haar noch immer recht verfilzt war und sicherlich nicht allzu häufig mit Waschmittel gereinigt wurde. Auch ihre Klamotten schienen eine von Grund auf trübe Farbe zu haben, die sicher von zu viel benutzen, zu viel beschmutzen und zu wenig waschen kam. Auch dieses Mal waren sie ihr zu groß.
      Sie stand bei dem Elefanten-Gehege und reckte sich, um dem Dickhäuter die Hand entgegen zu strecken. Der Elefant imitierte die Geste, wobei sie nicht davor zurückschreckte, dass der riesige Rüssel ihre Hand und ihren Arm entlang schnupperte. Eigentlich wirkte sie sogar ziemlich glücklich, was sich auch gleich darauf bestätigte, als sie die Berührung lachend begrüßte.
      Das Lächeln, das sich auf Chesters Gesicht einnistete, kam ganz von alleine.
      "Theresa! Hallo!"
      Er schlenderte zu ihr, als sie sich zu ihm umdrehte, sehr zu ihrem Nachteil, weil der Elefant jetzt nach ihren Haaren schnupperte. Chester war gleich bei ihr und schnappte sich den langen Rüssel.
      "Lass das sein, Hector! So begrüßt man keine Dame."
      Grinsend wandte er sich ihr zu.
      "Besonders keine so hübsche."
      Er zwinkerte. Er beobachtete ihre Reaktion. Er war zufrieden damit, dass er auch jetzt noch erfolgreich war.
      "Ich wette, er hat sich nichtmal ordentlich vorgestellt, oder? Das ist Hector. Hector, das ist Theresa."
      Er hob den Rüssel an, dessen Ende ein wenig hin und her zuckte, richtete ihn nach Theresa aus und drückte das Ende ein bisschen zusammen, damit es sich wie ein Mund bewegte. Dann verstellte er seine Stimme zu einem tieferen Grummeln.
      "Hallo, Theresa."
      Hector beschwerte sich, indem sein Rüssel zur Seite zuckte, aus Chesters Griff glitt und ihm gegen die Brust schlug. Chester stolperte einen Schritt nach hinten.
      "Au! Sei auch nett zu mir, nicht nur zu ihr, ich bezahle immerhin dein Essen!"
      Hector flappte zur Antwort mit den Ohren.
      Chester strich sich über die Arbeitskleidung, die er heute trug, damit seine Kostüme nicht dreckig wurden. Gewinnbringend lächelte er Theresa an.
      "Möchtest du ihn mal füttern? Er ist ganz zahm - normalerweise. Wenigstens bei Frauen."
    • Vollkommen eingenommen von dem exotischen, grauen Dickhäuter und dem vorwitzigen Rüssel, der in ihrer Hand ganz eindeutig nach einer Leckerei suchte, bemerkte Tessa die herannahenden Schritte nicht. Suchend stieß der Elefant mit seinem Rüssel gegen ihren Ellbogen, als wollte er sie dazu bringen, sich umzudrehen, damit er auch ihren Rucksack gründlich abschnuppern konnte. Halbherzig wehrte sich Theresa gegen die Annäherungsversuche und konnte sich dabei das Lachen nicht verkneifen. Eigentlich verhielt sich das imposante Tier auch nicht anders als ein Hund, der die Gelegenheit für eine Belohnung witterte. Der Unterschied war, das ein Hund nicht mehrere Tonnen an Gewicht auf die Waage brachte.
      Chesters Stimme in ihrem Rücken kam daher völlig unerwartet, obwohl sie eigentlich auf ihn gewartet hatte. Ein peinlich hohes Quietschen löste sich aus ihrer Kehle, als sie erschrocken und ertappt herumfuhr. Das Herz wäre ihr vor Schreck beinahe geradewegs aus der Brust gesprungen. Zur Verdeutlichung des Gefühl presste sie eine Hand gegen ihr Herz und bemühte sich, die aufgeregte Atmung unter Kontrolle zu bekommen.
      Bevor Tessa eine anständige Begrüßung verlauten ließ, so wie es sich für gute Manieren gehörte, schlenderte Chester zielstrebig in ihre Richtung. Sie rechnete mit einem Tadel, da sie sich diesen seltenen Tieren ohne Erlaubnis näherte. Anstatt belehrend den Zeigefinger in ihre Richtung zu erheben, richtete sich die Rüge an den Elefanten, der unbeeindruckt mit den riesigen Ohren flappte und munter an ihrem Haarschopf schnupperte.
      "H...hallo", stotterte Tessa.
      Die Verlegenheit glühte auf ihren Wangen. Sie war froh, sich an diesem Morgen für die Kleidungsstücke mit den wenigsten Löchern entschieden zu haben. Hauptsache sie waren sauber gewesen. Der Elefant, Hektor, konnte das Vogelnest auf ihrem Kopf auch nicht schlimmer machen. Sie hatte die stumpfen und verflitzen Strähnen in einem losen, geflochtenen Zopf gebändigt. Über den katastrophalen Zustand täuschte der Versuch leider nicht hinweg. Jedenfalls hatte sie peinlich genau darauf geachtet, sämtliche Flecken von Staub und Dreck aus ihrem Gesicht zu waschen. Dass Chester sie selbst bei Tageslicht als hübsch bezeichnete, kaufte sie ihm nicht hundertprozentig ab. Sie hatte gut funktionierende Augen und wusste, wie ihr Spiegelbild aussah. Das Grinsen erweichte den Widerstand der ertappten Diebin ein wenig. Sie nahm sich einen Augenblick, den Mann vor sich mit dem Mann in Verbindung zu bringen, der vor zwei Nächten in dem großen Zelt vor ihr gestanden war. Chester wirkte bei Tageslicht...greifbarer. Ohne die prächtige und edle Kostümierung und den pompösen Hut, hätte er jemand sein können, der jeden Tag auf der Straße ihren Weg kreuzte. Was ihn nicht weniger attraktiv machte, dachte Tessa und spürte, wie sich der zarte Rosaschimmer auf ihren Wangen in ein tiefes Dunkelrot verwanderlte. Sie musste verlegen den Blick von den ausdrucksstarken Augen abwenden, die im Sonnenlicht warm leuchteten.
      Da schnappte sich Chester den Rüssel des Elefanten, sehr zu dessen Missfallen.
      Tessa drückte die Fingerspitzen von Zeige- und Mittelfinger gegen ihre Lippen und versuchte krampfhaft, das breite Grinsen auf ihren Lippen zu kaschieren. Hektor war offensichtlich kein großer Fan von Chesters Bemühungen, wobei Letzterer umgehend die Quittung kassierte.
      "Unhöflich", lachte Tessa.
      Damit meinte sie nicht Hektor, sondern Chester, der sich getroffen über die Brust rieb. Sie wandte sich zu dem Elefanten um, der sie mit intelligenten Augen musterte. Wenn Elefanten dazu in der Lage waren selbstzufrieden auszusehen, war Hektor gerade das Paradebeispiel dafür. Tessa streckte die Hand aus, etwas mutiger als zuvor, und Hekor neigte den gewaltigen Kopf etwas herunter bis sie ihre kleine Hand auf die ledrige Haut zwischen seine Augen legen konnte.
      "War er gemein zur dir, Hektor?", fragte sie. Ein zustimmendes Schnauben war die Antwort. "Also, dann ganz offiziell: Hallo Hektor. Ich bin Theresa, aber meine Freunde nennen mich Tessa."
      Sie drehte sich halb zu Chester um.
      "Ich darf ihn füttern?", fragte Tessa verblüfft.
      Eigentlich sollte es ein Ding der Unmöglichkeit sein, dass die Augen der 24-jähirigen, erwachsenen Diebin noch größer wurden, als sie eh schon waren. Hektor zupfte ungeduldig an ihrem Rucksack. Das dezente Klimpern darin erinnerte Tessa kurzzeitig daran, warum sie hergekommen war und dämpfte den Höhenflug der kindlichen Begeisterung ein wenig. Sie ließ den Rucksack von der Schulter rutschten und hielt Chester das alte, zefledderte Ding hin.
      "Bevor ich es vergesse", murmelte sie. "Wie versprochen. Es ist alles da. Der Schmuck, die Uhr und die Brieftaschen. Naja, fast alles. Für das Kleingeld habe ich den anderen etwas zu Essen besorgt, aber es ist nur eine winzigkleine Summe gewesen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Das Tageslicht brachte eine ganz neue Färbung auf Theresas Gesicht. Wo es gestern noch halb von einer Schmutzschicht verdeckt war, legte sich jetzt eine rötliche Färbung auf ihre Wangen, die im hellen Kontrast zu ihrem dunkleren Haar standen.
      Chester fand es ehrlich süß. Es gab Frauen, die auch mit den lieblichsten Schmeicheleien und hübschesten Körpern keine Regung in ihm verursachten, und dann gab es Frauen wie Theresa, die es nicht einmal versuchten und schon zum Anbeißen aussahen. Und Chester hatte wirklich Appetit auf so etwas.
      Sowohl sein Kompliment, als auch seine kleine Narrenaufführung kamen bei Theresa ganz hervorragend an, die kicherte und gerade versuchte, eben nicht so auszusehen, als würde ihr beides gefallen. Vielleicht hätte er ihr das auch durchgehen lassen, wäre da nicht dieses Aufblitzen in ihren grünen Augen gewesen, das ihm wie eine Belohnung für seine Mühen schien. Er fühlte sich gleich selbst viel zufriedener, als wäre nicht sie es gewesen, die sich umschmeicheln ließ, sondern er.
      Bei Hector stellte sie sich mit Tessa vor. Vielleicht war es beabsichtigt, vielleicht interpretierte Chester auch etwas hinein, aber er nahm sich dennoch als nächstes Ziel, sie auch Tessa nennen zu dürfen. Immerhin war dieses Ziel unausweichlich, wenn er weiterhin dabei bleiben würde, sie in seine Sache einzubinden.
      Er grinste noch mehr bei dem erstaunten Gesichtsausdruck, den sie ihm präsentierte, kaum als er ihr das Angebot machte. Jetzt gab es davor ganz sicher kein Zurück - wie könnte er schon so ein Gesicht sehen und sie nicht dazu überreden, genau das zu tun? Es freute ihn fast selbst genauso sehr wie sie sich fühlen mochte.
      Bevor er aber weiter darauf hätte eingehen können, zog sie sich den Rucksack und hielt ihn ihm hin. Das Leder war abgewetzt, die Farbe abgeblättert, der Stoff wies Löcher auf und zusammengehalten wurde das ganze Ding mehr von einer Schnur als von irgendetwas anderem. Chester verkniff sich ein Stirnrunzeln, rein aus Höflichkeit heraus, und nahm es trotzdem entgegen. Grundgütiger, jetzt tat es ihm sogar leid, sie danach angesprochen zu haben! Hätte sie doch ihr Diebesgut behalten, es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass der ZIrkus für so etwas ausgenutzt wurde. Aber Chester hatte nicht gelogen damit, dass dieser Ort ein sicherer Ort sein sollte und wenn er jetzt anfing, seine nächsten Opfer ihre Schandtaten durchgehen zu lassen, würde er irgendwann keine Grenze mehr ziehen können.
      Also nahm er das Ding entgegen und nickte, jetzt mit einem feineren, fast entschuldigenden Lächeln auf den Lippen.
      "Danke. Das ist wirklich sehr vorbildlich von dir, Theresa. Warte hier einen kleinen Moment, in Ordnung? Ganz kurz. Hector, pass auf die Dame auf!"
      Dann eilte er davon, tatsächlich darum bemüht, möglichst schnell zum Fundbüro zu gelangen, um dort den Rucksack auszuleeren. Eigentlich hätte er das ganze Ding hier behalten können, denn wirklich, es war nicht mehr als ein Sack und würde sicher jeden Augenblick auseinanderfallen, aber er hatte seine sehr starke Vermutung, dass es der einzige war, den Theresa besaß - Theresa und die anderen. Die anderen? Familie? Verwandte? Freunde? Kollegen?
      Er kam keine drei Minuten später zurück, den leeren Rucksack im einen Arm und in der anderen Hand einen Büschel Möhren. Beides überreichte er in angemessener Feierlichkeit an Theresa zurück.
      "Hier - und danke nochmal. Die Betroffenen werden sich freuen; und Kleingeld fällt schließlich auch nicht auf."
      Er zwinkerte kurz, nur für den Abschluss. Dann lenkte er ihre Aufmerksamkeit zurück auf Hector, weil sie schließlich nicht hergekommen war, um sich von ihm belehren zu lassen.
      "Gib mir deine Hand."
      Theresa streckte ihre Hand mit dem Büschel Möhren zu ihm aus und er ergriff sie - ihre Hand war wesentlich kleiner, die perfekte Hand eines Taschendiebs; daher sorgte er dafür, dass sie mitten in seiner größeren lag - und legte ihr die Möhren richtig rein.
      "Jetzt greifen."
      Sie schloss die Finger um die Blätter und er schob ihr unnötigerweise die Finger zurecht, als gäbe es eine ganze Wissenschaft dahinter, wie man einen Elefanten fütterte.
      Aber Theresa schien es zu gefallen und es gab Chester die Ausrede, sie weiter zu berühren, um sie noch tiefer in seinen Zauber zu ziehen.
      "Und jetzt hältst du sie ihm hin. Ruhig halten, sonst denkt er, du willst ihn ärgern."
      Schmunzelnd beobachtete dabei, wie Theresa sich voller Faszination daran hielt und Hector sein Leckerlie präsentierte. Der Dickhäuter neigte sich herab, ließ seinen Rüssel hin und her baumeln, schnupperte ein wenig und streckte ihn dann zu ihrer Hand aus. Er griff die Möhren, zog sie vorsichtig zwischen Theresas Fingern hervor und beförderte sie dann mit Schwung in seinen Mund hinein.
      Chester hatte ehrlicherweise nicht damit gerechnet, von einem Elefanten dabei geholfen zu bekommen, eine Frau zu verführen.
      "Nochmal?"
      Er beförderte noch ein paar Möhren hervor und reichte sie wieder an eine begeisterte Theresa, die sich gleich wieder zu dem Elefanten streckte.
      "... Sind die anderen, die du erwähnt hattest, deine Familie?"
    • Das mühselig erbeutete Diebesgut entglitt Theresas Fingern und verschwand samt zufriedenem Chester zwischen den aufgebrauten Zelten. Von der Beute hätten die heimatlose Bande eine ganze Weile gut leben können. Obwohl die Bezeichnung gut hier wohl eher im Auge des Betrachters lag. Tessa verstand, warum Rosalie und Jacob nicht vor Begeisterung in die Luft gesprungen waren, als sie ihre Freunde vor vollendete Tatsachen gestellt hatte.
      Aus völlig anderen Gründen war es ihr fast unangenehm gewesen, ihm die traurigen Überbleibsel eines Rucksackes zu übergeben und die geschickte Diebin schämte sich nicht oft. Bei Tageslicht ließen sich ihre Unzulänglichkeiten kaum verstecken. Von den verfilzten Haaren auf ihrem Kopf und die alten blassrosa Narben in ihrem Gesicht über die löchrige, abgetragene Kleidung, die an ihr herabhing wie ein Sack, bis zu den abgewetzten Stiefeln. Eigentlich war sie ein wenig wie dieser armselige Rucksack, der trotz seiner ramponierten Hülle einfach nicht kaputtgehen wollte. Nicht hübsch anzusehen, unscheinbar aber zur hartnäckig um aufzugeben.
      Keine Sekunde hatte sie Chester aus den Augen gelassen, als er ihr den Rucksack behutsam aus der Hand nahm.
      Tessa suchte nach dem üblichen Mitleid in seinem Blick, diesen geheuchelten mitleidigen Ausdruck, hinter dem sich ein Funken von Abneigung versteckte. Die meisten Passanten sahen die Diebin und ihre Freunde auf diese Art an. Der Allgemeinheit spielten sie Verständnis vor und waren sich hinter vor gehaltener Hand doch zu fein dafür um wirklich zu helfen. Falsche Versprechungen und deren Konsequenzen, die sie auf die harte Tour lernen musste, kannte Tessa zu Genüge. Sie war erleichtert nichts davon in den blauen Augen zu sehen.
      Geduldig und mit einer gehörigen Portion an Vorfreude wartete Tessa auf seine Rückkehr. Sie begnügte sich in der Zwischenzeit damit ausgiebig den Elefanten zu streicheln, der die ihm zugeteilte Aufgabe ziemlich ernst nahm und seiner neuen Bekanntschaft nicht von der Seite wich bis Chester zurückkehrte. Er bedankte sich – nochmal, aber die junge Frau schüttelte leicht den Kopf.
      „Schon gut. Wie du gesagt hast: Der Fehler war, sich erwischen zu lassen. Ich mag eine Diebin sein, aber zumindest bin ich eine ehrliche Diebin. Ich halte meine Versprechen“, antwortete Tessa.
      Sie strich sich mit dem Daumen über den verheilenden Riss in ihrer Unterlippe, als müsste sie sich selber an das Missgeschick erinnern. Sie nahm den Rucksack und legte ihm neben einem Zaunpfosten ab, um die Hände frei zu haben. Erwartungsvoll schielte sie auf die Möhren in ihrer anderen Hand hinab und wollte sich schon Hektor zuwenden, der sie aufmerksam beobachtete. Was Chester als Nächstes tat, überrasche sie.
      „Gibt mir deine Hand.“
      Unschlüssig huschte ihr Blick von den Möhren zu seiner ausgestreckten Hand.
      Es war das kurze Abwägen zwischen dem, was sie tun sollte und was sie wollte. Tessa hatte ihr Wort gehalten. Sie hatte die gestohlenen Habseligkeiten zurückgegeben und sollte gehen. Tessa beäugte die dargebotene Hand, als müsste sie ein schwieriges Puzzle lösen, dann streckte sie ihre Hand aus. Die Berührung brachte die Erinnerung an die Nacht vor zwei Tagen zurück und hatte nichts von der Intensität eingebüßt, die sie gefühlt hatte als sich ihre Fingerspitzen beiläufig berührten. Dieses Mal war es kein Versehen, kein Zufall. Bewusst schmiegte sich ihre Handrücken gegen seine seine warme, geöffnete Hand. Die Wärme sickerte durch ihre Haut und breitete sich bis in ihre Fingerspitzen aus. Sie befolgte seine Anweisungen ohne Widerspruch.
      "Okay...", murmelte sie.
      Die Faszination über den sanftmütigen Dickhäuter, der trotz seiner gewaltigen Größe die Leckereien vorsichtig aus ihren Fingern beförderte, blitzte in ihren Augen. Der Ausdruck wurde nur noch von der zarten Röte auf ihren blassen Wangen unterstrichen. Sie spürte Chester überdeutlich an ihrer Seite und drehte stur den Kopf nicht zu ihm herum, als ihr ein weiteres Bündel Möhren anbot. Tessa bemühte sich um Zurückhaltung, nahm jedoch die Leckerchen für Hektor an sich, bevor Chester den Arm ganz gehoben hatte. Mutig beugte sich die junge Frau etwas über den Holzzaun, einen Fuß auf der untersten Sprosse. Hektor angelte sich seine zweite Portion und Tessa beobachtete ihn dabei mit kindlicher Begeisterung.
      "... Sind die anderen, die du erwähnt hattest, deine Familie?"
      Bei der Frage, sah sie Chester aus dem Augewinkel an.
      "Etwas in der Art. Waisenkinder und Ausreißer - Eine Bande aus Langfingern und Straßenkindern, die kein zu Hause haben oder zu Hause nicht gewollt waren. Rosalie, Jacob und ich sind mittlerweile die Ältesten. Wir haben ein Auge auf die Jüngeren. Ich bin mit Siebzehn zu ihnen gestoßen. Meine Famile...war nicht sehr fürsorglich. Trickbetrüger, Diebe, falsche Wahrsager...ich bin sozusagen mit dem Langfinger-Gen geboren", scherzte Tessa.
      Nachdem Hektor auch die zweite Portion genüsslich verputzt hatte, drehte sich die Brünette um und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Zaun. Für einen Augenblick zuckte Tessa kaum merklich aber überrascht zurück. Sie hatte vergessen, dass Chester unmittelbar neben ihr stand und widerstand dem Drang mit einem Schnuppern zu überprüfen, ob sie merkwürdig roch. Den Gedanken, wann sie das letzte Mal ausgiebig geduscht oder gebadet hatte, verdrängte sie rigoros. Sie wandte den Blick zur Seite und strich sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht, zuckte dann mit den Achseln.
      "Wir passen aufeinander auf...", sagte Tessa. "Es gibt niemanden sonst, der das tut."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Chester wurde gleich hellhörig, als Theresa von den anderen sprach, aber genauso schnell, wie er neugierig geworden war, setzte auch gleich Enttäuschung ein. Sie hatte zwar scheins keine Familie, zumindest keine richtige, blutsverwandte Familie, aber sie hatte doch immerhin einen Ersatz dafür - und nicht nur das, sie hatte wohl auch noch Kinder, um die sie sich kümmern müsste, wenn man davon ausging, dass sie mit 24 eine der ältesten war. Das war zwar ein Grund für Chester, sie bei sich aufnehmen zu wollen, um ihr ein anständiges Leben, ein festes - wenn auch wanderndes - Zuhause und Einkommen zu ermöglichen, aber es entsprach gleichzeitig gegen seine Prinzipien, Familien nicht auseinanderzureißen.
      Irgendwie wunderte ihn, dass ihn das so sehr enttäuschte. Vielleicht, weil er in Theresa einen leichten Fang mit ihren schäbigen Klamotten gesehen hatte? Oder weil er durchaus nicht abgeneigt dazu wäre, sie in sein Bett einzuladen, würde er es soweit schaffen? Beides war doch in gewisser Weise ein Teil der Wahrheit, aber noch nicht alles. Noch längst nicht alles.
      Er nickte, auch wenn ihre Aufmerksamkeit gerade auf Hector lag. Falsche Wahrsager... oh, es gab überall falsche Wahrsager, nur nicht im Zirkus Magica. Davon konnte er wohl ein ganzes Lied singen.
      "Mein Beileid. Es muss schwierig sein, sich auf der Straße zurechtfinden zu müssen."
      Hector ließ die Möhren in seinem Schlund verschwinden und Theresa lehnte sich wieder zurück, um sich Chester wieder zuzuwenden. Der nutzte die kleine Verzögerung aus, um sich mit einer geschmeidigen Bewegung neben sie zu stellen und den Zaun dazu auszunutzen, sich seitlich an ihn zu lehnen. So konnte er auch scheinheilig ein Stück Distanz vernichten und ganz elegant und unbewusst in Theresas Privatsphäre eintauchen. Es wäre ja nicht so, dass sie nicht zur anderen Seite ausweichen könnte, wenn ihr danach wäre.
      Aber Theresa rührte sich nicht und sah ihn nur kurz an, die grünen, aufmerksamen Augen weit geöffnet. Er zauberte ein klitzekleines Lächeln auf sein Gesicht, von dem er wusste, dass es genau die richtigen Falten zum Ausdruck brachte und im Gegenzug wandte sie fast schamhaft ihren Blick von ihm ab und beschäftigte ihre Finger.
      Ein Teil von ihm jubelierte, dabei wusste er gar nicht, wieso. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass er eine Frau verführt hatte. Aber etwas dabei, wie viel Zeit er Theresa zurechnete und wie vorsichtig er dabei vorging, sie nicht noch zu verscheuchen, reizte ihn. Dabei war er noch zu gar keinem Schluss gekommen, ob er sie nun weiter anwerben sollte oder nicht. Dafür war es vielleicht auch einfach viel zu früh.
      "Es ist immer besser, sich auf sich selbst zu verlassen, als auf andere. Dir selbst kannst du immer vertrauen."
      Diesmal lächelte er, um seinen Worten die Ernsthaftigkeit etwas zu nehmen und sie stattdessen aufzulockern. Es kam ganz automatisch, er musste gar nicht darüber nachdenken, wie er seinen Zauber auf die richtige Weise entfaltete.
      "Kommen daher die Narben? Von deinem Leben auf der Straße?"
      Er neigte den Kopf.