The Hero and the Thief [Nao & Stiftchen]

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    • Ezra

      "Jeder Name funktioniert, solange du daran denkst, auf ihn zu reagieren." Ezra zuckte kurz mit den Schultern. Er sprach hier immerhin aus Erfahrung. Er zückte sein Handy und scrollte durch seine Kontakte, bis er den richtigen fand. Er kannte nicht viele Leute, die geübt darin waren, Dokumente zu fälschen und noch weniger, die wirklich gut dabei waren. "Ich hoffe, du hast noch ein Passfoto übrig", merkte er an, während er das Handy wieder wegpackte und realisierte, dass das bedeutete, dass er seinen eigenen Ausweis raussuchen musste. Er wusste noch grob, wo er ihn das letzte mal gesehen hatte. Im Schrank. Irgendwo. Da war er sich halb-sicher.
      "Ich glaube nicht, dass das mit dem Flug heute noch was wird, wenn ich ehrlich bin. Morgen früh klingt realistischer. Sorry." Er warf Andrew ein kleines Lächeln zu. "Aber ich kann dir Arbeit geben, wenn dich das ablenkt. Ich würde gerne nochmal zu Henry und ihn fragen, ob er irgendwas über den Stein weiß." Er hatte die letzten Tage immer wieder mit diesem Gedanken gespielt, Henry aber dann doch nie darauf angesprochen, weil er Angst gehabt hatte, dass ihn das wieder zu tief in den Fall hineinziehen würde. Aber jetzt würde jedes bisschen an zusätzlicher Info ihnen weiterhelfen. "Soll ich die Adresse ins Navi eingeben?"

      Es war Ewigkeiten her, dass Ezra das letzte mal an Henrys Tür gestanden hatte. Mittlerweile hatte das geräumige Haus einen neuen Anstrich bekommen. Er hatte nie ganz rausbekommen, womit Henry eigentlich sein Geld verdiente, aber er hatte eindeutig zu viel davon. Ezra hob die Hand und drückte zweimal auf die Haustürklingel. Für einen kurzen Moment war es still, dann konnte er Bewegung im Haus hören.
      Henry begrüßte ihn mit einem Lächeln und einem "Weißt du eigentlich, dass du immer genau gleich klingelst?", bevor er kurz zu Andrew sah und ihn ebenfalls - deutlich netter - begrüßte.
      "Du kannst froh sein, dass ich überhaupt geklingelt habe", merkte Ezra an, bevor er den Blumentopf neben der Tür anhob und auf den Schlüssel darunter deutete. "Selbst wenn ich meinen Schlüssel nicht mehr hätte, ist es nicht sonderlich schwer, bei dir einzusteigen."
      "Und doch hat es noch niemand versucht", konterte Henry, während er zur Seite trat, um die beiden rein zu lassen. Ezra zog Andrew mit sich, vorbei an Wänden aus Bücherregalen und Vitrinen mit diversen Artefakten. Wenn man nicht aufpasste, konnte man Henrys Haus manchmal leicht mit einem Museum verwechseln. "Was führt euch zu mir?", fragte Henry, während er sie ins Wohnzimmer führte. "Der Anschlag?"
      "Fast." Ezra setzte sich vorsichtig auf das alte Sofa, während Henry Platz in einem Sessel nahm. Das Wohnzimmer war ähnlich vollgestellt, wie der Rest des Hauses. Jedes bisschen Ablagefläche war entweder mit einem Buch, einem Pergament oder einem Stein belegt. "Wir haben von einem zweiten Stein gehört und wollten wissen, ob er dir vielleicht bekannt vorkommt." Ezra drehte sich wieder zu Andrew. "Hast du die Akte bei?" Das wäre kürzer, als alles wieder von vorne zu erzählen und dabei eventuell Details zu vergessen.
    • Andrew

      Naja, zumindest verging die Zeit etwas schneller, wenn sie noch einige Abstecher machen mussten. Andrew konnte nicht behaupten, etwas dagegen zu haben, die Gefahren ein wenig heraus zu zögern, wenn das überhaupt noch möglich war. Doch er sprach gerne noch einmal mit Henry. Der Mann hatte irgendwie eine beruhigende Wirkung… oder sollte man es eher einschläfernd nennen?
      Dass dieser in so einer riesigen Hütte lebte, damit hatte aber keiner rechnen können. Beim Eintreten sah Andrew sich etwas entgeistert um und fragte sich, wo er im Leben falsch abgebogen war, dass nicht ihm dieses Haus gehörte. Und wieso hatte Ezra überhaupt Schlüssel zu Henrys Haus? Dass die beiden sich so gut kannten, war beim letzten Gespräch auch nicht herausgekommen. Er ließ sich langsam neben dem Blonden auf dem Sofa nieder und hielt legte die Akten vor sich auf den Tisch, damit Henry diese durchblättern konnte.
      "Wir sind ehrlich gesagt schon so gut wie auf dem Weg nach Warschau, damit wir den Stein dort sicherstellen können", erklärte er. Nachdem Henry nicht einmal wusste, dass Andrew ein Ex-Held war, musste das für ihn noch überraschender klingen. Zudem klang diese Aussage so selbstbewusst, dass es beinahe zum lachen war. Am Ende war es doch alles eher ein Glücksspiel.
      Andrew sah sich ein wenig im Raum um, während der Mann ihre Dokumente überflog. Es war interessant… als wäre das gesamte Haus sein Büro. Zumindest standen überall Artefakte herum, die bestimmt nicht billig waren. Ob Ezra jemals darüber nachgedacht hatte, ihn zu beklauen? Naja, allein die Tatsache, dass dieser Gedanke durch Andrews Kopf schoss, bewies, was Geldprobleme mit einem anstellen konnten. Übel würde er es dem Dieb jedenfalls nicht nehmen.
      "Es wäre toll, wenn Sie irgendetwas über den Stein wüssten. Vielleicht die Fähigkeiten… oder etwas anderes, dass uns vorbereiten könnte", merkte Andrew an, als Henry die Papiere gelesen hatte. "Wir stehen ein bisschen im Blauen. Aber irgendjemand muss sich um die Angelegenheit kümmern" Er lächelte verlegen. Und natürlich, wie konnte es sonst auch sein, waren die beiden dieser "irgendjemand", der sich um fremde Angelegenheiten kümmerte.
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    • Ezra

      Henry sah kurz zu den Akten, dann wieder zurück zu ihnen. "Muss ich mir Sorgen machen?"
      "Nicht mehr, als sonst auch." Ezra warf ihm ein gespielt fröhliches Lächeln zu im vollen Bewusstsein, dass sie beide wahrscheinlich absolut durchgeknallt klingen mussten. Es musste absolut manisch klingen, dass sie beiden einen Stein sicherstellen wollten. Einfach so. Mal eben. Ezra hoffte nur, dass Henry keinen Kontext benötigte - nicht, weil er ihn nicht mit ihm teilen würde, sondern schlicht und einfach aus dem Grund, dass jeglicher Kontext die Situation wahrscheinlich noch schlimmer klingen lassen würde.
      Henry seufzte kurz und blätterte durch die Akte. "Ich hab tatsächlich von dem Stein gehört. Nicht in dem Detail, versteht sich. Es gibt kaum Berichte zu den Fall. Alles ist furchtbar schnell unter den Teppich gekehrt worden", erklärte er schließlich. "Ich hab mal das Gerücht gehört, dass er psychische Kräfte hat, aber man scheint sich nicht ganz einig darüber zu sein, welche. Ab und an heißt es Gedankenkontrolle, dann Gedanken lesen." Er zuckte kurz mit den Schultern. "Ich habe immer zu ersterer Lösung tendiert. Warum sonst sollte der Stein noch nicht gestohlen worden sein? Oder zumindest irgendwo sicher verwahrt? Einen so außergewöhnlichen Stein einfach offen zuhause rumliegen zu haben kann man sich nur leisten, wenn man ihn irgendwie auch verteidigen kann."
      Vermutungen. Hoffentlich waren sie wenigstens ansatzweise richtig. Es wäre fatal, wenn sie sich auf einen Stein mit psychischen Fähigkeiten vorbereiteten, nur, um am Ende doch gegen irgendein Element antreten zu müssen - vorausgesetzt, Brown wäre ihnen tatsächlich feindlich gesinnt. Ezra seufzte, während Henry aufstand und kurz durch den Raum ging, rüber zu einem der Regale.
      "Was ihr vorhabt klingt nach einer glatten Selbstmordmission", kommentierte Henry, während er etwas aus dem Regal fischte und Andrew zuwarf. Ein Anhänger mit einem Stein. "Ich hatte noch keine Zeit, mich damit auseinander zu setzen, was der Stein kann, aber vielleicht hilft er euch ja. Pass auf ihn auf", erklärte Henry Andrew und deutete anschließend kurz von dem Stein zu Ezra "Und auf ihn auch. Es hat schon einen Grund, warum du den Stein bekommst und nicht er."
      "Ich kann dich übrigens wunderbar hören", merkte Ezra spitz an und wurde prompt ignoriert.
      "Kann ich mir die Akte ausleihen? Oder braucht ihr die noch. Ich bin mir sicher, dass ich Teile davon noch wunderbar in meine Theorien einfließen lassen könnte."
    • Andrew

      Gedankenkontrolle… Da wäre ihm jegliche andere Fähigkeit definitiv lieber. Keine Kontrolle über die eigenen Gedanken zu haben klang so ungefähr wie Andrews schlimmster Alptraum. Als Henry ihm jedoch einen kleinen Stein zuwarf und meinte, er dürfe ihm behalten, wurde er schnell aus den negativen Gedanken gezogen. Er grinste Ezra verschmitzt an. Ihn beschützen? Schön, dass zumindest Henry Vertrauen in Andrew zu haben schien. Fast war er so weit, vor dem Blonden die Zunge herauszustrecken, wie ein kleines Kind, das beim Memory gewonnen hatte, aber er ließ es dann doch bleiben und freute sich nur innerlich. Trotzdem fragte er sich, warum er nicht einen der etlichen Steine bekommen konnte, deren Fähigkeiten keine Überraschung sein würden. Immerhin musste er erst einmal herausfinden, auf was er sich konzentrieren musste, damit der Stein auch funktionierte und wenn man im Vorhinein rein garnichts darüber wusste, konnte das eine recht lange trial-and-error Phase werden.
      "Danke. Ich werde auf Ezra aufpassen wie auf meinen Augapfel!", gab er freudig zurück und fand sich einfach mit seinem Schicksal ab. Ein unbekannter Stein war immer noch besser als keiner.
      Bezüglich der Akte zögerte Andrew einen Moment. Immerhin hatte er sie selbst ausgeliehen. Er brauchte sie vermutlich nicht mehr… Aber Thomas wäre nicht erfreut darüber, dass er sie um Ecken weiter verlieh. Auf der anderen Seite waren Henrys Nachforschungen vielleicht bahnbrechend, also was soll's.
      "Klar", meinte er und zog schnell sein Handy aus der Tasche, um sicherheitshalber Fotos von jeder Seite zu machen, sollte sie doch noch irgendetwas wichtiges vergessen und nachlesen wollen. "Irgendwann müssten Sie sie nur zurück ins Stadtarchiv bringen. Und wenn Sie das tun, würde ich schleunigst wieder aus dem Gebäude verschwinden. Die Archivarin kann mich nicht besonders leiden und lässt den Hass sonst an Ihnen aus", gab er dem Alten noch als Tipp und schmunzelte.

      Als sie wieder im Auto saßen, war es bereits dämmrig. Verdammte kalte Jahreszeit. Und jetzt noch einen Abstecher in eine Bar zu machen war wohl nicht das Richtige, wenn sie spätestens morgen Früh im Flugzeug saßen… Wobei es doch seltsam verlockend war, wenn er so seinem Beifahrer hinüber linste. "Soll ich dich irgendwo absetzen?", fragte er, als er das Auto anstarrte und sich erstmal zurück auf die Highstreet begab. Er würde bestimmt bereuen, was er gleich sagen wollte. "Vielleicht… wäre es keine schlechte Idee, bis zum Flug zusammen zu bleiben. Nur… um sicherzugehen, dass nichts passiert. Wer weiß, vielleicht hat schon längst wer mitbekommen, was wir vor haben. Nicht, dass einer von uns abgeknallt wird und der andere dann unpraktischerweise stundenlang am Flughafen wartet"
      Der Humor überdeckte nur ungeschickt seine wahren Absichten, doch er verkaufte das Ganze, seiner Meinung nach, ganz gut. Vor allem, da es tatsächlich sinnvoll sein könnte, sich erstmal nicht mehr zu trennen. Außerdem wollte er Ezras Haus sehen. Aber das war… total nebensächlich.
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    • Ezra

      Und plötzlich wusste Ezra wieder, warum er Henry die letzten zehn Jahre über nicht besucht hatte. Nicht, dass er es ihm verübeln konnte, wenn er ehrlich war. Er war immerhin für das ein oder andere umgestoßene Regal verantwortlich. Nicht absichtlich, aber das rettete die Situation auch nicht mehr. Mit dem Image musste er jetzt wohl leben.
      Umso erleichterter war er, als sie wieder zurück im Auto waren und Andrews Kommentar ihn sofort ein kleines bisschen besser gelaunt stimmte. "Andrew...ist das deine Art mir mitzuteilen, dass du aus deiner Wohnung geflogen bist und die letzten Nächte im Auto verbracht hast?", fragte er mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen. Es war ziemlich offensichtlich, dass es nicht so war - dafür war Andrews Auto eindeutig zu leer - aber wenn sie nach den ganzen Sentimentalitäten nicht langsam zurück zu ihren üblichen Gesprächen kehren würden, würde Ezra durchdrehen. "Ich hab immer noch eine Couch für dich frei. Musst du noch packen, oder warst du so sehr von der Idee überzeugt, dass du deinen Koffer schon dabei hast?" Es war als Scherz gemeint, aber sobald er die Worte ausgesprochen hatte, realisierte Ezra, dass diese Vermutung tatsächlich gar nicht so sehr aus der Luft gegriffen war. Irgendwie würde es zumindest zu Andrew passen.
      "Du...hast keinen Koffer bei. Oder?", fragte er ein bisschen misstrauisch, bevor er langsam auf Andrews Navi tippte, um seine Adresse einzugeben.
      Gott, fühlte sich das falsch an. Er hatte so viel Zeit damit verbracht, so höllisch aufzupassen, dass Andrew nicht rausbekam, wo er wohnte und jetzt führte er ihn freiwillig dort hin. Er würde sich nie an diese neue, merkwürdige Dynamik zwischen ihnen gewöhnen können.

      Ezras Haus war deutlich kleiner und schmuckloser, als das von Henry. Ein kleines Reihenhaus, das eigentlich die ein oder andere Reparatur nötig hatte, aber weder Ezra, noch Ada waren handwerklich begabt, dafür meisterlich im vor sich herschieben. Ezra schloss die Tür auf - das Holz war ein wenig verzogen, weshalb man die Tür zum öffnen immer leicht anheben musste - und winkte Andrew herein.
      Der Flur war chaotisch. Eine Seite wurde komplett von einer Garderobe eingenommen, die man unter den ganzen Jacken, Schals und Mänteln kaum noch sehen konnte. Liz hielt nicht viel davon, ihre Schuhe zu sortieren und Ada hatte es aufgegeben, ihr das Konzept von Ordnung beibringen zu wollen.
      "Ich wohne oben. Fühl dich wie zuhause", merkte er an Andrew gewandt an, bevor er selbst kurz an der Tür zu Adas Wohnung zwischenstoppte. Er klopfte zweimal - fuck, Henry hatte tatsächlich recht, dass er immer genau gleich klingelte. Wie sollte er diesen Fakt je wieder aus seinem Kopf bekommen? - und wartete kurz.
      "Ich hab Notizen ge- Oh." Ada stockte, die Türklinke noch in der Hand, als ihr Blick von Ezra auf Andrew fiel. "Hi?"
      "Ada, das ist Andrew. Andrew, Adeline", stellte Ezra die beiden im Schnellverfahren vor, bevor er sich an seine Freundin wandte. "Du hast morgen nicht zufälligerweise Zeit und Lust, uns zum Flughafen zu fahren?"
      Ada blinzelte, bevor sie eher zu Andrew, als zu Ezra sah. "Muss ich mir Sorgen machen?"
    • Andrew

      "Ich… bin nicht obdachlos, nein", erklärte er ein wenig beleidigt. Allerdings… lag Ezra mit seinen Vermutungen gar nicht so weit daneben. "Wofür hältst du mich? Natürlich hab ich keinen Koffer dabei", meinte er leicht nervös. Nein, er keinen dabei, aber vielleicht lag da ein gewisser Koffer auf seinem Bett und gestapelte Kleidung, sowie umgefüllte Duschgels und Haarshampoos in kleinen Tuben daneben in einer Toilette-Tasche. Andrew nahm es mit Reisen sehr genau. Man musste auf alles vorbereitet sein!
      Somit fuhr er sie beide noch für einen kleinen Abstecher in seine eigene Wohnung. Es war merkwürdig, die Tür im 3. Stock aufzuschließen, während ihm jemand über die Schulter sah, der nicht gerade sein letztes Date war. Wobei…
      "Willkommen in meinem bescheidenen Heim", kündigte er leise an, als er hineinging und das überschaulich kleine Ein-Zimmer-Apartment präsentierte. Nicht einmal die Küche war mit einer Türe abgetrennt, bloß mit einer verlängerten Theke. Das Badezimmer befand sich so knapp neben dem Eingang, das immer nur eine der beiden Türen geöffnet sein konnte. Platz für ein Sofa gab es nicht… stattdessen stand da ein riesiges Doppelbett aus Altholz, das der Vorbesitzer hier gelassen hatte. Ebenso wie alle anderen dunklen Möbelstücke. Letztendlich war die Wohnung mit ein paar halb-lebendigen Pflanzen aufgehübscht, doch die dunklen Töne kombiniert mit den hunderten Büchern, die auf kleinen Wandregalen und überall anders im Raum platziert waren, machten den Opa-Flair auch nicht besser. Dennoch unterstrich es auf skurrile Art Andrews Stil und Persönlichkeit. Alles war recht ordentlich und passte zusammen.
      Er begann schnell die Stapel auf seinem Bett in den Koffer einzuräumen, wobei er etliches Kleinzeug einpackte, das er wohl nie brauchen würde, aber man konnte ja nie wissen.

      Das erste, das Andrew in Ezras Haus auffiel, waren die verschiedenen Schuhe und Jacken im Eingang. Er musste sofort lächeln. Es war ein belebtes Haus, das merkte man gleich. Als er seinen Mantel ablegte, ging auf einmal die untere Wohnungstür hinter ihm auf und er hörte die Frauenstimme, die zu Adeline gehören musste. Dass diese verwirrt schien war nicht verwunderlich, doch irgendwie bekam Andrew Mitleid mit ihr, weil sie absolut im Dunkeln stand aber doch Teil von Ezras Leben war, also sprach er sie zumindest selbst an.
      "Bitte keine Sorgen machen", meinte er und lächelte. Er schüttelte sanft ihre Hand. Leider hatte er keine Ahnung, wieviel die Rothaarige überhaupt über wissen sollte. "Wir… machen einen kleinen Ausflug", versuchte er unbeholfen zu erklären, sollte dann aber vielleicht doch lieber Ezra das Reden überlassen. Zumindest sollte sie wissen, dass Andrew kein Verbrecher war, den Ezra hier angeschleppt hatte, sondern eher das Gegenteil. Auch wenn die Grenzen zu verschwimmen begannen.
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    • Ezra

      "Ah. Das klingt absolut nicht ominös", kommentierte Ada, bevor sie die Hand hob, um Ezras Antwort zu stoppen. "Aber ich glaube, ich will gar nichts weiteres dazu wissen. Manchmal ist es ganz gut, unwissend zu sein, glaube ich. Gib mir einfach eine Uhrzeit und ich rede mir ein, dass ihr aus irgendeinem Grund zusammen einen netten Strandurlaub macht, oder so." Sie fing wieder damit an, mit ihren Haaren zu spielen.
      Ezra lächelte knapp, bevor er wieder nach seinem Handy griff, um die Flugverbindung aufzurufen, die er eben im Auto rausgesucht hatte, während sie auf dem Weg zu Andrews Wohnung gewesen waren - welche übrigens weitaus kleiner war, als er es sich vorgestellt hatte und irgendwie verdammt gut zu Andrew passte. "Klappt 8 Uhr bei dir?"
      "Halb 8, dann werfe ich Liz erst noch in der Schule raus."
      "Du hast was gut bei mir."
      Ada stieß ein nervöses Lachen aus, bevor sie sich durch die Haare fuhr. "Wundervoll. Ich glaube, ich geh kurz mein Leben überdenken." Sie sah kurz wieder zu Andrew, dann zurück zu Ezra. "Würde dir vielleicht auch ganz gut tun, wenn ich ehrlich bin."
      Mit diesen Worten zog sie ihre Wohnungstür wieder ins Schloss und ließ die beiden alleine im Flur zurück. "Ich hab langsam das Gefühl, dass außer uns niemand so wirklich von unserer Idee überzeugt ist", kommentierte Ezra, bemüht, es möglichst leicht klingen zu lassen. Mit mäßigem Erfolg. Er seufzte kurz, bevor er Andrew die Treppe herauf führte.
      Seine eigene Wohnung war deutlich aufgeräumter, als der Hausflur. Was vielleicht an den schlaflosen Nächten liegen mochte, die er zum sortieren genutzt hatte. Seine Wohnungstür führte in einen weiteren kleinen Flur, von dem vier Zimmer abgingen. Der Durchgang nach rechts, in sein Wohnzimmer, war offen. Er deutete kurz auf die Tür gerade aus, dann die beiden Türen links. "Bad, mein Schlafzimmer und die Küche", erklärte er. "Erwarte von der Küche nicht zu viel, ich esse normalerweise mit Ada zusammen", fügte er noch hinzu, bevor er Andrew ins Wohnzimmer führte. Der Raum war nicht sonderlich voll. Ein Sofa, mit einem kleinen Tisch, ein Sessel, ein Fernseher auf einem niedrigen Regal und ein schmales Bücherregal, alles in hellem Holz gehalten. An einer Wand hing eine Kork-Wand, gefüllt mit einem Misch-Masch aus Bildern, die Liz gemalt hatte, Fotos und der Liste, die Ezra genutzt hatte um sich zu merken, wann er wo eingebrochen war. Liz' Hausaufgaben lagen immer noch auf dem Wohnzimmertisch, daneben ein Zettel mit Adas Notizen und eine halbleere Tüte Gummibärchen. Ein halb-gehäkelter Schal lag auf dem Sessel. "Kann ich dir was anbieten? Wasser? Tee?"
    • Andrew

      "Ich hab das Gefühl, sie kann mich nicht leiden", erklärte Andrew, als sie die Treppe nach oben gingen. Irgendwie war es ihm vorgekommen, als solle Ezra seinetwegen sein Leben überdenken. Dabei war er doch derjenige, der regelmäßig in die Häuser fremder Leute einbrach, nicht Andrew! Wenn schon, dann konnte er nur einen guten Einfluss auf ihn haben. Bei diesem Gedanken ignorierte er stur die Tatsache, dass sowohl der Deal als auch ihre Polenreise seine Ideen waren. Dass tatsächlich jeder nun zu denken schien, dass die beiden verrückt waren, sollte sie vielleicht sowieso an den Plänen zweifeln lassen.
      Es war schrecklich, dass die menschliche Neugierde einen immer als erstes ins Schlafzimmer anderer Leute locken wollte. Oder vielleicht war nur Andrew so eigenartig, aber im Schlafzimmer konnte man doch immer das meiste über andere Menschen herausfinden. Dennoch würde er heute nicht beginnen, alle Schubladen in Ezras Haus zu durchstöbern, so durchgeknallt war er noch nicht. Nachdem dieser aber scheinbar äußerst viel Zeit mit der Dame von unten verbrachte, flogen Andrew gewisse Vermutungen durch den Kopf. Ob vielleicht etwas zwischen den beiden lief? Was interessierte ihn das eigentlich?
      Ezras Wohnzimmer sah jedenfalls aus wie eine säuberliche Ausstattung aus Ikea, direkt in diesen Raum hier hineinkopiert. Dass da auch noch ein halb fertig gehäkelter Schal herumlag, zog den ungläubigen Andrew wie eine Motte zum Licht. Bevor er sich versah hielt er das Ding in den Händen und warf Ezra fragende Blicke zu. "Also… entweder hast du hier irgendwo deine Oma weggesperrt, oder dir ist viel zu langweilig", sagte er und begann zu grinsen. Eigentlich fände er es absolut genial, wenn Ezra tatsächlich häkeln konnte. Welcher Einbrecher konnte schon von sich behaupten, handwerklich auf mehreren Ebenen als dem Schlösser knacken begabt zu sein?
      "Äh… ein Kaffee wäre schön", meinte er dann und nahm auf dem Sofa Platz. Er musste sich erstmal durch den Kopf gehen lassen, was für eine hundertachtzig-Grad-Wendung sein Leben innerhalb der letzten Woche gemacht hatte. Die Beziehung zu Ezra wurde tagtäglich merkwürdiger. Und er genoss es.

      "Bist du ein Morgenmensch?", fragte er den Blonden neugierig, als dieser zurückkam. Andrew selbst hatte ehrlicherweise keine Ahnung, ob er ein Morgenmensch war, denn es war ihm nie etwas anderes übrig geblieben, als früh aufzustehen. Sogar am Wochenende musste er konstant abrufbereit sein, daher war ausschlafen nie eine Option gewesen. Morgen würden sie doch für seine Verhältnisse recht spät aufstehen… Und wenn er sich einige Baldrian Tabletten einschmiss war er vielleicht sogar entspannt genug, am Flug noch etwas Schlaf nachzuholen. War das vielleicht die Chance, die zehnjährigen Augenringe loszuwerden?
      Aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen war Andrew äußerst gut gelaunt. Fast als hätte er mitten im Entzug aufgegeben und wäre zu seiner Droge zurückgekehrt, die nun seelenruhig weiter seinen Körper zersetzen konnte, während er zufrieden vor sich hin träumte.
      "Ist vielleicht ne blöde Idee… Aber wie wärs später mit nem Glas Wein?", fragte er er den Blonden und fühlte sich dabei frech wie ein Jugendlicher, der heimlich seine Eltern hintergehen wollte. "Ihr habt doch gegenüber einen Supermarkt. Falls du nichts hier hast, laufe ich schnell runter" Er zuckte mit den Schultern und lächelte leicht.
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    • Ezra

      Langsam leuchtete ihn Adas Kommentar ein. Vielleicht sollte er wirklich sein Leben überdenken. "Die selbe Omi, die deine Wohnung eingerichtet hat", antwortete er knapp, während er Andrew den halbfertigen Schal abnahm. "Ich fang an, mit allem herumzuspielen, was ich in die Finger bekomme, wenn ich nervös bin. Nach dem dritten zerbrochenen Glas hat Henry mir Häkeln nahegelegt - mit Wolle kann man schwer irgendwas kaputtmachen." Und es ärgerte ihn zugeben zu müssen, dass das ganze absolut fantastisch funktionierte.
      Er warf den Schal im Vorbeigehen in sein Schlafzimmer, bevor er die Kaffeemaschine in der Küche anschaltete.

      "Oh, ich bin absolut kein Morgenmensch. Ich entschuldige mich jetzt schon mal für alles, was ich dir morgen an den Kopf werfen werde", erklärte Ezra, während er einen Moment später eine Tasse Kaffee vor Andrew auf den Tisch stellte. Er selbst hielt seine eigene Tasse direkt fest, während er sich in den Sessel setzte. Das schien ihm irgendwie sicherer, als das Sofa. "Ich schlafe ganz gerne aus." Es dauerte morgens zumindest immer etwas, bis er sich aus dem Bett quälen konnte und nur weil er das schaffte hieß es nicht, dass er sofort ansprechbar war. Was Andrew in den nächsten Tagen wahrscheinlich selbst merken würde. Ugh, war das alles seltsam. Wie verdammt schnell sich das Leben ändern konnte. Wenn er seinem jüngeren selbst vor zwei Wochen erzählt hätte, dass er mit Andrew nach Polen reisen würde, hätte er sich selbst ausgelacht und jetzt fand er die Idee irgendwie seltsam charmant.
      "Ich hab Weißwein da. Lieblich, falls dir das zusagt. Sonst musst du wirklich noch in den Supermarkt." Auch wenn es wahrscheinlich keine gute Idee wäre, sich heute noch zu betrinken. Aber gute Ideen schienen ja eh gerade nicht so ihr Fall zu sein. Ein bisschen Alkohol könnte da auch nichts mehr schlimmer machen. Obwohl bekanntlich ja immer Platz nach unten war.
      Ezra trank einen Schluck von seinem Kaffee. "Wann war das letzte mal, dass du England verlassen hast? Falls du überhaupt schon mal weg warst?", fragte er schließlich. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Andrew je Urlaub erwähnt hatte. Es hatte eigentlich kaum eine Woche, in der er den Dunkelhaarigen nicht gesehen hatte. Ezra selbst hatte zwischendurch vor ein paar Jahren mal eine kurze Zwangspause gemacht, als er es geschafft hatte, sich auf einer der Verfolgungsjagden den Arm zu brechen, aber er konnte sich irgendwie nicht vorstellen, dass Andrew diesen Moment sofort für Urlaub genutzt hatte und sonst konnte er sich nicht daran erinnern, irgendwann mal irgendwo eingebrochen zu sein, ohne danach den Helden - naja, Ex-Helden jetzt - an den Fersen gehabt zu haben.

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    • Andrew

      Andrew nahm einen Schluck vom Kaffee. "Mh… der ist gut. Wenn wir in Warschau sind, müssen wir in irgendein Café gehen. Damit ich weiß, ob der anders ist, als in England"
      Diese Erklärung war zwar keine richtige Erklärung, aber Andrew war ganz fanatisch, wenn es um Kaffee ging, und wenn sie schon nach Polen flogen, konnte er das ein bisschen ausnutzen. Klar, eigentlich war die Reise für den Zweck eine Apokalypse zu verhindern, aber es gab auch beim Welt-retten Klo-Pausen und essen oder schlafen würden sie auch mal müssen. Also konnte man eben auch einen Stop im Café einbauen.
      Warum hatte Andrew ahnen können, dass Ezra nicht gerne den frühen Vogel fing? Vielleicht, weil sie sich in der Regel mitten in der Nacht sahen. Eine Weile hätte man denken können, der Dieb existierte nur, wenn es dunkel war, denn sie waren sich in all den Jahren nie tagsüber über den Weg gelaufen. Ohne seines besten Freunds und Helfers, Koffein, wäre er wohl selbst auch nicht arbeitsfähig um 8 Uhr morgens, ebenso wie 2 Uhr nachts. 18-Stunden-Arbeitstage gehörten zu den Dingen, die er auch nur mitmachte, weil er in der Zeit nichts anderes zu tun hätte und dafür war seine Chefin ihm zwar immer äußerst dankbar gewesen, sein eigener Körper aber weniger.
      "Weißwein klingt gut. Ich mag's süß", erwiderte er. "Hey, hast du jemals Harry Potter geguckt?", fragte er dann aus dem Nichts, denn wenn jetzt nicht die Zeit für Smalltalk war, wann dann? Sie hatten bis morgen Früh nur noch Zeit zu überbrücken. Da sie mehr oder weniger im Dunkeln standen, bezogen darauf was sie erwarten würde, gab es kaum etwas, das man noch zur Vorbereitung tun konnte, außer zu hoffen, dass mit den Fake-Ausweisen alles glatt lief. Es war vielleicht das erste Mal in Andrews Leben, dass er Freizeit hatte und es nicht abgrundtief hasste. "Ich hab mir die letzten Tage einige Filme angeschaut… Aber ich hab noch nie Harry Potter gesehen. Ich war mir nicht sicher… Ich dachte, das sind Kinderfilme, aber im Internet ist diese Reihe überall"
      Das Internet. Ein Ort, der Andrew relativ befremdlich war. Alles, was er mit seinem Handy tat, war Kollegen anzurufen und höchstens mal eine Adresse zu googeln. Nicht einmal als Jugendlicher, so sehr er auch in das Nerd Schema gepasst hatte, hatte er sich damit großartig auseinander gesetzt.
      "Ich war als Kind hin und wieder mit meinen Eltern in Irland. Wir hatten dort… eine Art Wochenendhaus", überlegte er. "Aber ich war nie so begeistert vom Reisen, wie sie. Ich hab ja erwähnt… dass sie den Jakobsweg gegangen sind. Von Anfang bis Ende, aber da hab ich mich geweigert mitzukommen" Er lächelte. Ja, im Endeffekt war es doch ganz gut, dass er sich nicht hatte überreden lassen, oder? Das hätte immerhin auch sein Ende sein können.
      "Und du? Ich nehme an, mit der ganzen Verbrechergeschichte stellt sich das als schwierig heraus? Nachdem du meintest, es sei dir zu anstrengend, immer wieder die Papiere zu ändern"
      Irgendwie wäre es doch lustig, wenn sie beide keinen blassen Schimmer von der Welt draußen hatten und mal eben spontan zusammen verreisten, als wäre es letzte Woche nicht noch Andrews Aufgabe gewesen, Ezra hinter Gitter zu bringen. Sie hatten wirklich beide einen schlechten Einfluss aufeinander.
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    • Ezra

      "Ich schätze, da haben wir etwas gemeinsam. Ich war als Kind mal mit meiner Familie in Dublin. War kein sonderlich guter Ausflug. Meine Eltern waren der Ansicht, dass wir Kinder keine getrennten Zimmer brauchen, also gab es sehr wenig Schlaf und sehr viele Tränen." Mal davon abgesehen, dass die ganze Reise eigentlich nur Teil eines Einbruchs gewesen war. Ezra nippte gedankenverloren an seinem Kaffee. "Und Henry hat mich mal ein Wochenende lang nach Frankreich mitgenommen. Das war fast noch schlimmer." Statt Sightseeing und Flirts hatten Arbeit und staubige Archive auf ihn gewartet. Alles, was man sich als Teenager nur wünschen konnte, also. Urlaub war einfach wirklich nicht sein Ding.
      "Sonst hatte- warte." Ezra blinzelte, als Andrews vorheriger Kommentar endlich zu ihn durchzudringen schien. "Du hast noch nie Harry Potter gesehen?" Er setzte sich automatisch ein bisschen aufrechter hin, während er Andrew einen fassungslosen Blick zuwarf. "Ich wusste gar nicht, dass das möglich ist."
      Er stellte seinen Kaffee auf den Sofatisch, während er nach seiner Fernbedienung griff. Wenigstens würde ihnen das etwas zu tun geben. "Die Filme sind Kult!" Was wahrscheinlich erklärte, wieso Andrew sie nicht kannte. Alles Moderne schien ja irgendwie an ihm vorbei zu gehen. Obwohl Ezra sich wohl nicht beschweren durfte - er war derjenige, der regelmäßig sein Handy liegen ließ. "Ich meine, die Bücher sind natürlich besser, aber die Umsetzung als Filmreihe ist wirklich gut gelungen. Außerdem ist es irgendwie niedlich, die Schauspieler mit jedem Film ein bisschen wachsen zu sehen." Als Kind war ihm dieser Punkt nie so aufgefallen - damals war er immerhin mit den Schauspielern mitgewachsen, aber im Nachhinein war es immer wieder schön, die ersten Filme zu sehen, wenn man wusste, wie alle in den letzten Filmen aussehen würden. "Was kommt als nächstes?", fragte er, während er den Fernseher anschaltete und kurz überlegte, welcher Streaminganbieter Harry Potter im Programm hatte. "Erzählst du mir gleich noch, dass du nie Star Wars gesehen hast? Indiana Jones? Herr der Ringe?" Ezra würde es schon als kleinen Erfolg verbuchen, wenn Andrew auch nur eine dieser Reihen kennen würde. Vielleicht würde sie das auch vor den seltsam emotionalen Gesprächen retten, zu denen der Alkohol sie das letzte mal verleitet hatte. Film FunFacts waren immerhin unverbindlicher, als die eigene Familiengeschichte.
    • Andrew

      Andrew musste lachen, als Ezra zur Fernbedienung griff. Scheinbar ging der Filmmarathon auch heute weiter. Er trank schnell den letzten Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. „Nö“, sagte er glatt. „Ich kenn das alles nicht. Ich guck keine Filme. Naja, die letzten paar Tage hab ich ein bisschen etwas aufgeholt“
      Dass der Blonde offensichtlich wie alle anderen verrückt nach dem Zeug war, das im Internet kursierte, gab Andrew einen kleinen Schub des Alien-Gefühls, das er in seiner Schulzeit oft gehabt hatte. Auch damals waren seine Hobbies eher… karg und äußerst eigen gewesen. Frösche zu fangen, das hatte für ihn als Hobby gezählt. Und sie dann natürlich wieder frei lassen. Außerdem war er sehr gut in Schach, denn sein Vater hatte sich auf kaum eine andere Art mit ihm beschäftigt, als er jung war. Da fiel ihm plötzlich etwas ein.
      „Oh, aber ich habe als Jugendlicher die Sherlock Holmes Romane von A.C. Doyle gelesen“, warf er ein. Das hatte ihn damals auch nicht beliebter gemacht. Und am Ende hatte ihn sogar das Hobby Lesen verlassen, nur die Bücher waren geblieben, von denen ein riesiger Teil ebenfalls… von seinem Vater stammte.
      Über so belanglose Dinge sprach er kaum mit jemandem, daher war ihm wohl nie aufgefallen, was für ein seltsam langweiliger er Mensch für andere sein mochte. Und dann auch noch… erschreckend ähnlich seinem Erzeuger. War er überhaupt eine eigene Person? Na schön, wenn sein Vater an Männern interessiert gewesen wäre, hätte er das vielleicht mitbekommen.
      Andrew presste die Lippen zusammen und musste das kurz verdauen, dann sagte er: „Bitte… zeig mir die Welt, Aladdin“ Er schmunzelte. Da gab es ja doch noch einen Film, den er in Erinnerung hatte.

      Harry Potter war tatsächlich gar nicht schlecht. Während des Films begann Andrew sich langsam wieder wie ein Highschooler zu fühlen, der noch alle Möglichkeiten offen hatte, wie die Kinder im Film. Er fragte sich, warum es in ihrer Welt nicht so etwas Cooles wie „Hogwarts“ gab, denn „Magie“ hatten sie ja reichlich. Es könnte nicht schaden, den Menschen auch ein bisschen den Umgang damit beizubringen. Vielleicht gäbe es weniger Terroranschläge wie heute Mittag.
      Nach dem ersten Teil der Reihe bekam Andrew den Wein nicht mehr aus dem Kopf. „Wie wärs jetzt mit einem Gläschen? Nur nicht zu viel, damit ich nicht anfange, Zaubersprüche aufzusagen und den mysteriösen Stein in deinem Wohnzimmer ausprobiere“ Er lachte leicht und stand auf. „Ich geh nur mal eben ins Bad“, kündigte er an und bahnte sich seinen Weg durch den Raum, während er noch einmal angestrengt überlegen musste, hinter welcher Tür das Badezimmer lag. Vielleicht war es Andrews Unterbewusstsein, das ihn die Schlafzimmertüre öffnen ließ, aber es gab keine Ausrede für die interessierten Blicke die er hinein warf, um so viel wie möglich in dem Raum zu scannen, bevor er wieder die Tür schloss.
      Er fand das Bad, aber bevor er zurück ging erwischte er sich dabei, wie er seine Haare ein wenig zurecht zupfte und das Hemd, das er trug, einige Knöpfe weit öffnete und bevor er die Türklinke wieder bewegte, erstarrte er und fragte sich, was zur Hölle er da tat. Er drehte sich zum Spiegel und schloss die Knöpfe.
      Das hier. War kein. Date.
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    • Ezra

      Irgendwie war es seltsam unterhaltsam, Harry Potter mit jemandem zu schauen, der keine Ahnung von der Story hatte. Ezra erwischte sich selbst dabei, manchmal mehr zu Andrew zu sehen, als auf den Bildschirm. Nur, um seine Reaktionen zu sehen, natürlich. Aus keinem anderen, seltsam verwirrenden Grund, den er nicht einordnen konnte. Vielleicht war es auch einfach nett, Andrew mal glücklich zu erleben. In letzter Zeit hatte er ihn viel zu oft Niedergeschlagen gesehen.
      Er gab dem Dunkelhaarigen einen kleinen Vorsprung, ehe er die beiden Kaffeetassen einsammelte und in die Küche ging, um sie gegen Wein einzutauschen. Er entkorkte die Flasche, schnappte sich zwei Gläser und ging ins Wohnzimmer zurück. Auf dem Weg stoppte er kurz an dem kleinen Regal, zog nach kurzen Suchen ein Buch raus und warf es in Andrews ungefähre Richtung, in der Hoffnung, dass er besser im Fangen war, als Ezra im Werfen. "Eine Studie in Scharlachrot", kommentierte er. "Das einzige Buch, was ich von Sherlock Holmes habe. Ich tendiere dann wohl doch eher zu Kitsch, muss ich zugeben." Vielleicht wäre er länger drangeblieben, wenn die homoerotische Spannung zwischen Watson und Holmes mehr als bloßes Wunschdenken gewesen wäre. Obwohl es ihn in den letzten Tagen generell schwer gefallen war, sich auf irgendein Buch zu konzentrieren. Er hatte sich viel zu oft dabei erwischt, wie er einfach nur auf die Seiten gestarrt hatte, mit den Gedanken vollkommen woanders.
      "Aber ich hab ein paar der Verfilmungen und Serien geschaut." Um ein paar davon kam man ja nicht drum rum. Außer man war Andrew und kannte nicht mal Harry Potter. "Warst du schon in dem Museum in der Baker Street?" Er warf Andrew einen kurzen, fragenden Blick zu, während er die Gläser auf den Tisch stellte und ihnen Wein eingoss. Falls Andrew noch nicht dort gewesen war, sollte er sich besser beeilen. Wer wusste schon, wie lange London noch stehen würde. Ezra nahm sich sein Glas und ließ sich neben Andrew auf das Sofa fallen. Aus reiner Gewohnheit. Aber jetzt aufstehen und zurück zum Sessel zu gehen wäre definitiv auffälliger, als einfach sitzen zu bleiben.
      Er hob sein Glas zum Anstoßen in Andrews Richtung. "Darauf, dass wir den Stein finden und beweisen, dass die Idee nicht so dumm ist, wie sie klingt?"
    • Andrew

      Sobald Andrew sich wieder auf dem Sofa niederließ wurde er bereits mit Büchern beschossen. Fast hätte er den Schinken nicht gefangen und es hätte ein blaues Auge gegeben. "Hey! Du musst doch irgendwann mal zielen lernen, nach all den Jahren", murmelte er mehr zu sich selbst, als tatsächlich zu Ezra, während er einen Blick auf das Buch warf.
      "Hm… und was liest du so… für Kitsch?"
      Darunter konnte Andrew sich kaum etwas vorstellen. Die Hälfte der Bücher in seinem Besitz waren Schachnovellen, die andere Hälfte eine Mischung aus Kriminalpsychologie-Sachbüchern und Fantasy, die er nie gelesen hatte. Dass Ezra lieber Romanzen hatte, kam allerdings überraschend. Erst das Häkeln, dann das… Andrew sah auf und musterte den Blonden kurz, der sich neben ihm setzte. Wenn er zurück dachte, hatte Ezra immer recht viel über die Inneneinrichtungen anderer Leute zu sagen. Und er achtete ganz… offensichtlich… auf sein Äußeres… Aber das sollte eigentlich jeder tun. Leider war es aber nicht so.
      Andrew stieß schnell mit ihm an und wandte den Blick ab. "Auf… den Urlaub, der hoffentlich kein Selbstmordkommando ist", murmelte er.
      Es war eigentlich lächerlich, hier mit irgendwelchen Schwulen Stereotypen anzukommen. Doch wenn er so an die Männer dachte, mit denen er ausgegangen war… sie hatten doch irgendwie alle etwas Ähnliches an sich, was bestimmt einfach Andrews Typ entsprach. Dass Ezra da gar nicht so sehr aus dem Rahmen fiel, bemerkte er langsam aber sicher und es bereitete ihm… keine Freude. Wenn er ihm jetzt noch erzählte, dass er ein riesiger Musical Fan war, gingen die Alarmglocken endgültig los. Geschweige denn von den Flashbacks an Momenten, in denen Andrew diesen Satz gehört hatte und nicht darauf reagieren konnte, weil er im Leben noch kein einziges Musical gesehen hatte.
      "Ja. Tatsächlich war ich… in dem Museum", meinte er, nachdem er das Glas Wein mit einem Schluck fast geleert hatte. So viel dazu, die Panik nicht zu offensichtlich werden zu lassen. "Aber nicht als Besucher. Jemand wollte die Hausnummer stehlen" Einer der dämlichsten Räube, die er je erlebt hatte. Eine Frau in ihren Zwanzigern, die am Ende ihres Besuchs gerade mal die Dämmerung abgewartet hatte. Es waren dutzende Menschen auf der Straße gewesen und vorhersehbarerweise hatte jemand den Vorfall gemeldet. Wer dachte bloß, man konnte mit so etwas durchkommen? Klarerweise war sie keine Verbrecherin gewesen und nachdem sie mit der ganzen Sache sowieso kaum durchgekommen war, hatte man ihr bloß ein paar Stunden Sozialdienst aufgetragen.
      Andrew schenkte sich ein weiteres Glas ein, das er auffällig schnell geleert hatte. "Wir sollten den 2. Teil schauen. Wie viele gibt es nochmal? Denkst du, wir schaffen alle?" Er lehnte sich wieder zurück und trank einen Schluck. Dass Ezra jetzt neben ihm auf dem Sofa saß würde ihn zumindest davon abhalten, einzuschlafen. Trotzdem sollten sie es vielleicht nicht zu spät werden lassen… Morgen nicht fit zu sein war nicht gerade ratsam. Dennoch… wäre da nicht der ganze Tumult auf der Welt konnte der Abend nach Andrew ewig so weitergehen. So sorgenfrei und entspannt war er lange nicht mehr gewesen, so eigenartig es unter gerade diesen Umständen auch war.
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    • Ezra

      “Oh, ich lese…nichts sonderlich Tiefgründiges.” Ezra bemühte sich bewusst darum, keinen Blick auf sein Bücherregal zu werfen, damit Andrew sich nicht dazu motiviert fühlte, seine Bücher durchzugehen. Die meisten davon folgten dem einfachen ‘Chosen One mit zu viel Auswahl an Love Interests’ Schema. Ein großer Teil davon war im LGBT+ Spektrum angesiedelt. Nichts davon war plottechnisch auch nur ansatzweise kulturell wertvoll.
      Zum Glück hielten sie sich nicht weiter an dem Thema auf.
      Ezra trank von seinem Wein, während er Andrew erzählen ließ, was ein ziemlich großer Fehler war. Er verschluckte sich prompt, als der Ex-Held ihm die Story mit der Hausnummer erzählte. Es dauerte einen Moment, bevor Ezra zwischen dem Husten und Lachen wieder in der Lage war, ordentlich zu atmen. “Das war sehr ambitioniert von ihr.” Leider reichte Ambition nur nicht immer aus. Obwohl er es ihr irgendwie gegönnt hätte, die Hausnummern zu bekommen. Es wäre auf jeden Fall eine nette Story für Partys.
      “Es gibt acht Filme. Wenn wir heute noch einen schaffen und uns dann ranhalten, müssen wir also noch ungefähr eine Woche am Leben bleiben, wenn wir die Reihe abschließen wollen.” Es war irgendwie beängstigend, wie unrealistisch sich das anfühlte. Er wusste nicht mal, was seltsamer war - der Fakt, dass er tatsächlich einfach so locker plante, eine Filmreihe mit Andrew zu schauen, oder die Tatsache, dass sie wirklich tot sein könnten, bevor sie durch waren. Wann war sein Leben dermaßen aus den Fugen geraten, dass er seine Lebenszeit in Harry Potter Filmen messen konnte? Ezra trank den Rest seines Weins und füllte sein Glas nach.
      “Obwohl das eh nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Sollten wir es schaffen, mehr als eine Woche durchzuhalten, hast du echt viel nachzuholen.” Wenigstens konnte Andrew ohne seinen Job endlich so etwas wie ein Sozialleben entwickeln. “Wie kann man Herr der Ringe nicht kennen?” Er lehnte sich mit einem dramatischen Seufzen auf dem Sofa zurück, während er erneut nach der Fernbedienung griff. “Oder war Fantasy einfach nicht dein Genre? Warst du eher in Richtung ‘Catch me if you can’, ‘Now you see me’ und ‘Ocean’s Eleven’ unterwegs? ‘Der rosarote Panther’?" Er grinste Andrew frech entgegen. Vielleicht stand der Dunkelhaarige ja eher auf Filme, die relevanter für sein eigenes Leben waren. Oder er war jemand, der sich stundenlang darüber aufregen würde, wie unrealistisch alles im Film war. War es schräg, wenn Ezra es sich gar nicht so furchtbar vorstellte, ihm dabei zuzuhören?
    • Andrew

      Andrew nickte langsam. Wenn Ezra das so sagte, wurde das Akzeptieren ihres Schicksals immer unumgänglicher. Ja, vielleicht würden sie die kommende Woche gar nicht mehr erleben. Vielleicht kam man am Flughafen hinter die falschen Pässe und nahm sie fest. Vielleicht verfolgte sie jemand und ermordete sie am Flug, wo es kaum Möglichkeiten gab sich zu verstecken oder zu wehren. Von jetzt an waren sie überall, wo sie hingingen, in Gefahr. Dieser Lebensstil sollte sogar für den Dieb eine neue Erfahrung darstellen, denn bisher war kaum die Mafia hinter ihm her gewesen. Dass er das Thema wechselte, kam Andrew zugute. Er wollte nicht, dass seine Gedanken jetzt schon allzu sehr ins Negative kippten. Immerhin würde er in Polen noch genug Zeit haben Panik zu schieben, vor allem wenn er sich seinen neuen Namen ins Gehirn brennen musste um verdeckt zu bleiben.
      „Schön. Ich bin ehrlich, ich hab kaum jemals Zeit gehabt, fernzusehen. Ich weiß nicht einmal, warum ich einen Fernseher besitze. Aber es gibt da etwas, das dich vielleicht beruhigt“ Andrew pausierte. Er machte es spannend.
      „Gilmore Girls“, sagte er dann und trank einen Schluck Wein, bevor er zur Erklärung ansetzte. „Meine Mutter hat diese Serie geliebt wie nichts anderes auf der Welt. Sie lief ganz oft, wenn ich nebenbei Hausaufgaben gemacht habe und jetzt, wenn ich… tatsächlich Zeit zu überbrücken habe, dann guck ich mir ne Folge auf meinem PC im Büro an. Naja, hab ich zumindest“ Das war definitiv eines der Dinge, die keiner je hätte erfahren müssen, aber wenn Ezra weiter Filme aufzählte, die er nicht kannte, würde es peinlicher werden als die Tatsache, dass er jeden von Rory‘s Lovern mit ganzem Namen aufzählen konnte. Nicht, dass es tatsächlich oft vorkam, dass er sich die Serie ansah. Höchstens mal alle paar Wochen oder Monate. Aber leider merkte man sich unnötige Dinge am besten.
      Er schmunzelte und versuchte das Thema zu wechseln. „Na, jedenfalls sollten wir den zweiten Teil-„ Andrew‘s Handy klingelte und brachte ihn von der Rolle. „Ah… Moment“, sagte er und holte das Smartphone aus seiner hinteren Hosentasche. Unbekannte Nummer?
      Er warf Ezra einen kurzen Blick zu, murmelte: „Warte kurz“, und stand auf um sich im Flur vor der Wohnzimmertür an die Wand zu lehnen, bevor er dran ging. Eine eher symbolische Privatsphäre, aber was soll‘s. Ein bisschen nervös wurde er doch, als er das Telefon an sein Ohr hielt. Vielleicht wieder eine Drohung…
      „Heeey, Andy! Ich bin‘s, Dan. Sorry, stör ich dich gerade?“, kam es aus dem Gerät und Andrew brauchte einen Moment um diese Information zu verarbeiten. Dan? Wer zum Teufel- Ohhhh… Dan wie Daniel…
      „H-hi, nein. Ich bin gerade nicht zuhause… Kann ich… dir irgendwie helfen?“, fragte er und runzelte die Stirn. Ja, vielleicht mit einer Therapeuten Empfehlung? Nur weil Andrew ihm damals aus Nettigkeit seine Nummer gegeben hatte, hieß das nicht, dass er zwei Jahre später von dem Kerl angerufen werden wollte, als wäre er ein Callgirl.
      „Tut mir leid, ich wollte nur mal eben fragen, ob du morgen Abend Zeit hast? Aber ich kann später noch einmal anrufen, wenn es gerade schlecht ist“
      Um Himmels Willen. Ruf nie wieder an, Dan! „Morgen? Nein, äh… Ich fliege in den Urlaub“, murmelte Andrew und sah etwas nervös zurück in den Raum, in dem Ezra saß. Nicht nur war ihm dieser Anruf unangenehm, es machte alles noch viel schlimmer, dass es gerade jetzt sein musste.
      „Ach was? Bist du nicht der totale Workaholic? Ich weiß noch, dass wir nie ein zweites Date hatten, weil du so beschäftigt warst!“
      Wie konnte ein Mensch nur so stur alle Zeichen ignorieren? „Hör mal… Daniel… ich fühle mich geschmeichelt, dass du anrufst, aber… ich hab viel zu tun. Koffer packen und sowas“, versuchte er ihn abzuwürgen.
      „Sagtest du nicht gerade, du bist nicht zuhause?“
      … „Ich fliege mit meiner Familie weg“ Warum suchte er eigentlich noch nach Ausreden? „Mach‘s gut, Dan“, sagte er schnell und legte sofort auf. Er schloss die Augen und schüttelte kurz ungläubig den Kopf. Verrückte Welt. Mit einem lauten Räuspern kam er zurück ins Wohnzimmer, ließ sich wieder auf die Couch fallen und sagte: „Also… Runde zwei?“
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    • Ezra

      Wenigstens kannte Andrew etwas. Leider nur eine Serie, die an Ezra selbst vollkommen vorbeigegangen war. Wenn sie lange genug leben würden, könnten sie das ganze vielleicht fast als kulturellen Austausch betrachten. Ezra hatte sich nie großartig für Gilmore Girls interessiert, aber irgendwie wollte er wissen, was es für eine Serie war, die es geschafft hatte, bis zu Andrew durchzudringen.
      Er wollte gerade den zweiten Teil von Harry Potter raussuchen, als Andrews Handy klingelte. Ezra klickte schon mal auf den Film und pausierte, während Andrew im Hausflur verschwand. Was vielleicht ein bisschen privater anmuten ließ, allerdings nicht sonderlich viel ausmachte. Ezra versuchte nicht gezielt zu hören, was Andrew sagte, aber es war unvermeidbar, zumindest ein paar Fetzen aufzuschnappen. Fetzen, die durchaus interessant waren. Das Gespräch hörte sich nicht nach einem Arbeitskollegen an und ‘Daniel’ war eindeutig ein Männername. Ezra hatte immer schon vermutet, dass Andrew, naja, nicht ganz straight war - er wusste nicht genau, warum, vielleicht war es die Art, wie er sich kleidete, oder die Tatsache, dass er nicht kommentiert hatte, wie hübsch Ada war - und das Gespräch war eindeutig in diese Richtung interpretierbar, nicht? Oder war es nur Wunschdenken? Nicht, dass es auch nur irgendwie ansatzweise relevant war, weil Andrew sich wahrscheinlich eh nie auf einen Kriminellen einlassen würde - was ebenfalls vollkommen egal war, weil Ezra sich absolut nicht für ihn interessierte und keine Ahnung hatte, woher dieser seltsame Gedanke soeben gekommen war. Vielleicht sollte er wirklich aufhören zu trinken.
      “Es braucht nicht viel, um bei dir zur Familie zu gehören, mhm? Ich fühle mich geehrt.” Sicher, er konnte anstandshalber einfach so tun, als hätte er nichts von dem Gespräch mitbekommen, aber unvorteilhafter Weise schien er zu angetrunken zu sein, um darüber nachzudenken, was er sagte und definitiv noch nicht betrunken genug, um sich ernsthaft damit auseinander zu setzen, wie seine Beziehung zu Andrew aktuell aussah. Er grinste kurz in Andrews Richtung, bevor er einen etwas ernsteren Ton anschlug und ein kleines “Alles okay?” hinterher schob. Immerhin hatte das Gespräch nicht gerade entspannend geklungen. Nicht, dass sie ihre Reise doch noch verschieben mussten. So irre ihr Vorhaben auch war - auf eine seltsame Art und Weise freute sich Ezra fast darauf. Wahrscheinlich lag es am Alkohol, vielleicht auch daran, dass er sich irgendwie mit seinem Schicksal abgefunden hatte, aber abgesehen von seinem drohenden Tod bei der Suche nach dem Stein stellte er sich den kleinen ‘Urlaub’ gar nicht so schlecht vor. Immerhin würden sie mal etwas anderes, als London sehen und er hatte die Chance, noch ein bisschen mehr über Andrew herauszufinden. Wer der mysteriöse Anrufer war, zum Beispiel.
    • Andrew

      "Ja… alles okay. Nur ein… merkwürdiger Anruf. Ist nicht so wichtig", versuchte er möglichst ehrlich zu antworten und dabei doch der Pointe der Geschichte aus dem Weg zu gehen.
      Auch, wenn er wirklich am Film interessiert war, hatte er die ersten zwanzig Minute andere Dinge im Kopf. Es war seltsam. Wieso rief der Typ ihn ausgerechnet heute an? Von allen Tagen? Andrew konnte sich nicht helfen, er war misstrauisch und das mittlerweile zurecht. Aber er hatte die Stimme am Telefon erkannt, es wäre doch unmöglich, dass man das so furchtbar schlecht gefälscht hatte, dass Andrew keine tatsächlichen Informationen über sein Leben herausgegeben hatte, weil die Fragen dumm gestellt waren, sollte da wirklich mehr dahinter stecken. Nach dieser Feststellung beschloss er, die Sache ruhen zu lassen. Dieser Dan war vermutlich wirklich nur… ein äußerst armseliger Mensch, der gerade seine Kontaktliste durch ging, bis er jemanden fand, der Zeit hatte mit ihm ins Bett zu steigen.
      Andrew stellte das dritte leere Glas Wein vor sich auf dem Tisch ab und sank dann tiefer ins Sofa. Er war leicht angetrunken, nichts dramatisches, aber genug, um ein bisschen müde zu sein. Er hatte einen langen Tag, kaum geschlafen und paranoide Gedanken zogen einem effektiv jegliche Energie aus dem Körper. Wenn Harry Potter nicht bald herausfand, warum sich alle in Stein verwandelten, würde es knapp werden, wenn Andrew das Ende noch sehen wollte…

      Wie gedacht war die Willensstärke dann doch zu gering, um wach zu bleiben. Der Dunkelhaarige lag mit verschränkten Armen und auseinander gefallenen Beinen auf dem Sofa, als hätte man ihm eine Pfanne übergezogen. Aber den Schlaf brauchte er vermutlich. Mit dem Kopf war er so zur Seite gekippt, dass die Nackenschmerzen morgen unerträglich sein würden, doch würde er sich selbst sehen können, wäre sein größeres Problem wohl, dass er mit dem ganzen Oberkörper immer weiter in Richtung seines Sitznachbarn rutschte, desto tiefer er in den Schlaf sank.
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    • Ezra

      Ezra entschied sich dagegen, weiter nachzufragen. Andrew schien selbst nicht sonderlich glücklich über den Anruf, aber das war ganz alleine seine Sache. Er ließ den Film laufen und spielte mit dem Weinglas in seiner Hand, froh darüber, dass er den Film kannte - gedanklich war er nämlich vollkommen woanders. Wenigstens musste er sich keine Sorgen machen, morgen nichts mehr über den Film zu wissen, falls Andrew Redebedarf hatte.

      Er spielte immer noch mit dem Glas, als Andrew gegen ihn kippte. Es war purer Zufall, dass er das Glas nicht vor Überraschung fallen ließ. Im Gegenteil, für ein paar Sekunden verharrte er vollkommen regungslos, mit angehaltenem Atem, während er sich aus seiner ganz eigenen Trance herausblinzelte. Dann sah er kurz zu Andrew. Eingeschlafen. Irgendwie war es fast süß. Er fragte sich, was passieren würde, wenn er einfach sitzen blieb, auch einschlief. Was ein Gedanke war, den er definitiv nicht haben sollte und der wahrscheinlich bedeutete, dass er jetzt gehen sollte. Er hatte genug Probleme. Auf körperliche Nähe zu Andrew könnte er vorerst verzichten.
      Vorsichtig stand Ezra auf und stützte Andrew dabei ab, bevor er ihn sanft auf das Sofa kippen ließ. Danach schaltete er den Fernseher aus und konzentrierte sich auf den Stein an seiner Kette. Vollkommen geräuschlos schnappte er sich die - mittlerweile leere - Weinflasche und die Gläser und verschwand aus dem Wohnzimmer, um einen Moment später mit einer Decke zurück zu kommen. Andrew sollte immerhin keinen Grund haben, sich morgen bei ihm zu beschweren. Im Vorbeigehen schnappte er sich noch ein Kissen vom Sessel, welches er vorsichtig unter Andrews Kopf schob. Kurz betrachtete er sein Werk, bevor er das Wohnzimmer erneut verließ und mit einem Glas Wasser und einer Kopfschmerztablette zurückkam. Sicher war sicher. Er legte beides auf den Wohnzimmertisch.
      Er hielt den Effekt seines Steins aufrecht, während er das Licht im Wohnzimmer ausschaltete und einen Blick auf sein Handy warf. Die Ausweise würden wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Genug Zeit, um zwischendurch noch seine eigene Tasche zu packen und sich aus der nächsten drohenden Existenzkrise raus zu reden.

      Es dauerte tatsächlich nicht mehr lange, bis Ezra sich in sein eigenes Bett fallen ließ, im vollen Bewusstsein, dass er sich morgen selbst dafür hassen würde, dass er nicht früher gegangen war, auch, wenn das wahrscheinlich eh nicht geholfen hätte. Über die letzten Jahre hinweg hatte sich sein Schlafrhythmus eh so dermaßen nach hinten verschoben, dass er einfach nicht hätte einschlafen können. Es fiel ihm ja jetzt nicht mal leicht, mit all den tausenden Dingen, die ihm durch den Kopf gingen - hatte er die Ausweise sicher weggesteckt? Hatte er auch alles gepackt, was er brauchen würde? Was, wenn das alles wirklich eine Selbstmordmission war? Und zwischen all diesen Sorgen ploppte immer wieder Andrew auf. Ezra konnte nur hoffen, dass er nicht auch noch von ihm träumen würde, während er langsam einschlief.
    • Andrew

      Als Andrew zum nervtötenden Klingeln seines Weckers wach wurde, den er in weiser Voraussicht auf seinem Handy gestellt hatte, fühlte er sich zum ersten Mal in seinem Leben ausgeschlafen. Es war merkwürdig, erst wusste er gar nicht was los war. Was war das für ein seltsames Gefühl, morgens nicht schon wieder schlafen gehen zu wollen?
      Er musste erst einmal realisieren, wo er gerade aufgewacht und welcher Tag heute war. Mit einem Grummeln streckte er sich und langsam löste sich der verschlafene Schleier in seinem Kopf. Er war in Ezras Haus… und in etwa einer Stunde ging es los zum Flughafen. Ab dann war er nicht mehr Andrew sondern… Jack. Der Name missfiel ihm mehr mit jedem Moment, der verging.
      Ein weiterer Blick durch den Raum und er fiel auf die Decke, die auf seinem Körper lag. Nach einem minimalen Schmunzeln fiel ihm außerdem auf, dass er noch immer die Kleidung von gestern trug. Leicht angeekelt verzog er das Gesicht. Dusche. Sofort.
      Er stand auf, richtete das Sofa und legte die Decke zusammen, bevor er am Schlafzimmer vorbei schlich. Er überlegte kurz, ob er Ezra wecken sollte, aber der hatte doch bestimmt seinen eigenen Wecker, oder?
      Andrew trottete zum Badezimmer und suchte sich eilig ein Handtuch. Bevor er es über sich brachte, in die Dusche zu steigen, musste er aber seiner Stimme im Kopf nachgeben und an der Schlafzimmertüre klopfen.
      „Ezra? Es ist halb 7“, rief er hinein. Nachdem er erst keine Antwort bekam, fügte er etwas unsicher hinzu: „Ich gehe ins Bad, also…“
      Naja, er würde schon merken, dass er nicht hinein konnte, wenn die Tür verschlossen war. Tatsächlich verbrachte Andrew aber ungestörte 20 Minuten im Badezimmer und kam vollends gestyled im Handtuch eingewickelt heraus, nur um zu sehen, dass die Tür zum Schlafzimmer noch immer geschlossen war. Eine Schande, denn Andrew hatte jeden Schrank im Badezimmer durchwühlt, bis er ein Aftershave gefunden und benutzt hatte, dessen Geruch er erkannte, um Ezra zu irritieren. Na schön, vielleicht auch aus anderen Gründen, die er nicht zugeben wollte.
      Er klopfte erneut, diesmal lauter. „Hey! Wir fahren in etwa 30 Minuten“, rief er. Nervös ging er weiter ins Wohnzimmer und zog sich einen frischen Anzug an. Er bereute nun irgendwie die Entscheidung, großteils Arbeitskleidung eingepackt zu haben, aber er hatte ja keinen Plan, was man auf so einem illegalen Trip anziehen musste. Also würde er den Flug eben im Anzug durchstehen müssen; es gab Schlimmeres.
      Nachdem er die Kaffeemaschine startete, obwohl ihm zum ersten Mal tatsächlich gar nicht nach Koffein war, klopfte er wieder an Ezras Tür, diesmal energischer, aber dann riss der Geduldsfaden doch. Er lief hinein, geradewegs auf den Blonden zu und zog ihm die Decke vom Körper. „Sag mal, stehst du irgendwann auf? Lebst du noch?“, fragte er und klopfte ihm leicht mit der Hand auf die Wange, um sicherzugehen, dass er nicht doch im Schlaf gestorben war.
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