Aerigil ist ein zum größtenteil mittelständisches Königreich, obwohl es Ressourcen im Überfluss gab. Dies war jedoch ein Segen und Fluch zugleich, denn andere Königreiche waren neidisch und wollten an unserem Reichtum teilhaben. Um einen Krieg zu vermeiden, entschied der König vor vielen Generationen schon, dass wir unsere Handelsgüter unter ihrem Wert verkauften. Das bedeutete zwar, dass die anderen bevorzugt mit uns handelten, aber auch, dass es weniger einbrachte, als es könnte. Dem König - und allen folgenden Königen - war der Frieden im Reich jedoch wichtiger. Unsere Armeen waren nicht stark genug, um es mit allen anderen Reichen aufzunehmen, sollten tatsächlich mehrere von ihnen einmarschieren. Auch ich, der Thronfolger, stand hinter dieser Entscheidung und wollte das Werk meiner Vorfahren fortführen. Die Bürger standen hinter uns, auch wenn ein paar Adlige uneinsichtig waren. Ich fragte mich immer, warum sie noch mehr Gold brauchten, als sie hatten. Mir waren materielle Dinge überhaupt nicht wichtig. Mit der Weisheit meiner Vorfahren, die uns also seit Generationen gelehrt wurden, gab ich voller Hingabe mein Bestes, um meinen Vater eines Tages abzulösen. Das Wohl meines Volkes über meines zu stellen und der Gier keine Chance zu geben.
Etwas außer Atem senkte ich mein Holzschwert und wischte mir mit meinem Ärmel die von Schweiß getränkten Haare von der Stirn. Als Ausgleich für das ganze Bücher wälzen, bewegte ich mich gerne etwas. Dafür war die Einführung in die Schwertkunst wie geschaffen, denn ich finde, dass ich mich nicht wehrlos hinter den Rittern verstecken sollte. Ich würde ihr Können wohl niemals übertreffen - dafür fehlte mir die Zeit und die Kraft - aber ich wollte mich nicht verkriechen.
Der Grund, warum ich silbernes Haar hatte - hatten meine Eltern doch goldblondes Haar - soll der Umstand meiner Geburt gewesen sein. In einer magischen Vollmondnacht kam ich wohl etwas zu früh auf die Welt. Deshalb war meine Kondition geschwächt. Das Geschenk, das ich in jener Nacht jedoch erhielt, faszinierte die Kirche und so sollte ich - wenn ich noch einen jüngeren Bruder bekäme - zum Hohepriester werden, anstatt den Thron zu besteigen. Ich hatte heilende Fähigkeiten. Magie war in dieser Welt nur äußerst selten und daher konnte mich auch niemand darin schulen. Sie war schwach, aber ausreichend beeindruckend, dass die Kirche mich verehrte. Man sagte, ich würde sicher unter dem Namen Aydemir, der Erleuchtete bekannt werden.
Einen Bruder bekam ich allerdings nie. Auch keine Schwester. Selbst des Königs zweite und dritte Frau, gebar ihm kein weiteres Kind. Als hätte uns jemand verflucht. Die größte Sorge war also, ob auch ich unter diesem Fluch litt und unsere Blutlinie mit mir sein Ende finden würde.
"Prinz Aydemir, geht es Euch gut?", fragte mich ein Dienstmädchen besorgt, als sie mich so keuchend sah. Meine blassen Wangen waren rosa gefärbt und ein paar Strähnen klebten mir noch immer auf der Stirn. "Ja.. alles in Ordnung..", beteuerte ich mit einem Lächeln und reichte meinem Leibwächter das Schwert, um das Training zu beenden. Es machte mir sehr viel Freude mit ihm zu trainieren. Anfangs war mein Vater dagegen, aber als ich immer wieder versicherte, dass ich es nicht übertreiben würde und es mir gut tat, akzeptierte er meine Entscheidung. Sie starrte einen Moment gebannt in meine strahlend blauen Auge, die meine Mutter liebevoll als ebenso magisch wie mich bezeichnete. Das.. passierte mir leider oft bei den Damen. "Hast du mich gesucht, Myriam?", fragte ich, woraufhin sie vor Scham errötete. "V-verzeiht... Euer Vater ließ Euch suchen." Sie machte einen Knicks und verschwand darauf beschämt.
Etwas unbeholfen sah ich ihr nach, da mir diese Reaktionen immer sehr unangenehm waren. Dann blickte ich jedoch zu meiner Leibwache, die mir stets zur Seite stand. Wir gingen also in das Arbeitszimmer meines Vaters, der mich bedenklich musterte. "Hast du wieder trainiert?", fragte er mit tiefer Stimme und blickte zu meinem Leibwächter, als ob er ihm dafür die Schuld gäbe. "Hast du vergessen, was für ein Tag heute ist?" "Nein, Vater. Ich wollte mich gerade zurecht machen." "Gut, dann geh." Nickend verabschiedete ich mich und kehrte in meine Gemächer zurück, wo ich mich bei meinem Leibwächter entschuldigte. "Es tut mir leid." Das tat ich immer. Ich wollte nicht, das er den Ärger bekam, für den ich verantwortlich war. Nun aber musste ich mich verabschieden und ging in das Bad, wo mich zwei Dienstmädchen entkleideten. Da die jüngeren dabei immer sehr rot wurden, war es die Aufgabe der erfahreneren Dienstmädchen mich zu entkleiden und zu waschen. Das war ich gewohnt, auch wenn ich meinte, dass ich dazu durchaus selbst imstande wäre.
Nach dem Bad kehrte ich zu meinem Leibwächter zurück, um mich wieder in dessen Schutz zu begeben. Heute kamen unsere Gäste aus Derodan an, die ihr Bündnis mit uns vertiefen wollten. Prinzessin Beatrice machte uns ihre Aufwartung, da ich sie schon bald heiraten sollte. Sie war eine wunderschöne junge Frau und diese Heirat offenbarte uns neue Möglichkeiten. Das Interesse an Mädchen hatte ich bisher jedoch noch nicht verspürt. Dennoch nahm ich mein Schicksal an und wenn ich sie erst besser kannte, würde ich hoffentlich gut mit ihr zurechtkommen.
Ich trug also mein edles, graues Hemd und eine feine, weiße Hose. Damit war ich bereit, unsere Gäste zu begrüßen. Mit einem Lächeln im Gesicht nahm ich die Hand der Prinzessin und hauchte ihr einen Kuss auf die Finger, wobei sie die andere Hand an ihre rosa Wange hielt und mich anlächelte. Bei meinem Vater zeigte sie diese Reaktion zu vor nicht. Ich denke, das konnte ich so deuten, dass ich ihr gefiel, aber sicher war ich nicht. In diesen Dingen war ich nicht sehr gut. Meine Mutter sagte allerdings immer, dass ich die Herzen aller Mädchen stehlen würde mit meinem Antlitz. "Herzlich willkommen, Lady Beatrice", begrüßte mein Vater sie. "Es ehrt uns, dass Ihr hier seid."
"Die Ehre ist ganz meinerseits", antwortete sie und machte einen leichten Knicks. Sie war anmutig und genau so, wie man sich eine Prinzessin vorstellte. In Begleitung eines Vertrauten ihres Vaters, machten wir uns auf den Weg, um zu speisen. Unsere Gäste schienen etwas verwundert über die Anwesenheit meines treuen Leibwächters zu sein, auch wenn dieser nicht das Recht dazu hatte, mit uns zu speisen. Ich fand es albern.. Er war von früh bis spät an meiner Seite, da mein Vater mich als seinen einzigen - und auch noch gebrechlichen - Sohn wie einen Schatz behütete. Ich war ihm kostbarer als alles Gold, denn ich war die Hoffnung unserer Blutlinie. Das er mit uns speisen durfte, wenn wir keine Gäste hatten, musste ich auch erst erkämpfen.
"Findet Ihr es nicht unangebracht, dass ein Ritter bei unseren Besprechungen anwesend ist? Und dann auch noch einen Elf..", fragte der Berater und klang am Ende etwas abschätzig. Das Königreich Derodan und manch andere, waren den Elfen gegenüber nicht sehr wohl gesonnen. "Er ist der fähigste Mann meiner Armee und Aydemir's Leibwächter", erklärte Vater, womit er wohl diese Geringschätzung abwehren wollte. Vater - und ganz Aerigil - hatte nichts gegen die Elfen und pflegte starke Beziehungen mit ihnen. Sogar im Schloss gab es ein paar Dienstmädchen aus diesem Volk. Ebenso Ritter. Auch in der Hauptstadt leben Elfen und Menschen miteinander. Da kam es gelegentlich auch mal vor, dass sich die beiden Rassen wie in Lifaen's Fall vermischten. Dennoch konnte man den Halbelfen ihr menschliches Blut nur sehr schwer ansehen. Wenn ich es nicht wüsste, würde ich ihn auch für einen Elfen halten.
Diese Antwort stellte ihn jedoch nicht zufrieden und auch die Prinzessin hatte etwas in ihrem Blick, das mir nicht gefiel. Ich hatte schon oft gehört, dass Adlige, vor allem königlicher Abstammung, sehr eitel sein sollten. Dies schien wohl auch bei ihr zu sein, wobei die betroffenen Personen es als Selbstbewusstsein umschrieben. Sie wusste um ihre Schönheit und ihre Bedeutung, aber das gab ihr nicht das Recht, so mit anderen umzugehen..
"Warum braucht Ihr denn einen Leibwächter? Traut Ihr uns etwa nicht?", fragte die Prinzessin ein wenig bestürzt. "Aydemir ist.. manchmal nicht in der besten körperlichen Verfassung. Lifaen ist dazu ausgebildet, sich um ihn zu kümmern." Ihm schien es etwas unangenehm zu sein, dass zu offenbaren, doch unsere Gäste gaben Ruhe. Er tat ja so, als könnte ich spontan zusammenbrechen.. Das befürchtete er wohl auch, doch das letzte Mal war... schon 8 Monate her!
Lifaen war schon an meiner Seite, als ich noch ein kleiner Junge war. Auch wenn er nur zur Hälfte Elf war, alterte er viel langsamer als Menschen und lebte auch länger. Ich fühlte mich bei ihm stets geborgen und wenn wir allein waren, unterhielten wir uns viel und hatten ein enges, freundschaftliches Verhältnis. Ein Leben ohne ihn konnte ich mir gar nicht vorstellen. Auch wenn er um mein Wohl besorgt war, behandelte er mich nicht so zimperlich wie mein Vater. Gerade seine elfische Abstammung machte ihn wohl zur besten Besetzung dieses Postens. Er war von Anfang an der beste Kandidat und würde uns lange Dienste erweisen können, sodass ich nicht alle paar Jahre einen neuen Leibwächter brauchte, weil der vorherige zu alt geworden war und der neue musste erst ausreichend Erfahrung haben.
Wir verabschiedeten uns von unseren Gästen, die nun ihre Zimmer bezogen. Morgen Abend sollte ein Ball stattfinden, um den Anlass unserer Verlobung zu feiern. Darauf hatte der König Derodan's bestanden. Man sagte über ihn, dass er Feste sehr liebte und jeden Monat mindestens eines stattfand.
Seufzend betrat ich mein Zimmer und blickte entschuldigend zu meinem Leibwächter. "Es tut mir leid.." Ich sagte schon lange nicht mehr, was genau mir leid tat, denn dafür gab es viel zu viele Momente, in denen ich mich entschuldigte und er wüsste auch so, dass es bei dieser Entschuldigung um das Verhalten unserer Gäste ging, die ihn aufgrund seiner Abstammung verurteilten. Ein Dienstmädchen hatte das Mahl und etwas zu trinken auf einem kleinen Tisch für ihn bereitgestellt, da ich wollte, dass er auch etwas zu essen bekam, ohne dabei bei den Bediensteten zu speisen. Mein Vater hatte erstaunlicherweise eingewilligt, aber vermutlich nur, weil er mir dann nicht von der Seite weichen musste, denn er sah es nicht gerne, wenn ich mich ebenfalls dort aufhielt, als hätte ich nichts besseres zutun. Ich setzte mich immer zu ihm an den Tisch, damit wir uns unterhalten konnten. "Was hältst du von Lady Beatrice?", fragte ich und sah ihm in die Augen. Er hatte eindrucksvolle Augen. Sie strahlten immer so viel Ehrgeiz und Selbstbewusstsein aus, ohne dabei in irgendeiner Weise überheblich zu wirken. Außerdem eine gewisse Sanftheit, sodass ich mich immer sicher fühlte. Ich wollte seine ehrliche Meinung. Seine persönliche Meinung und keine objektive Meinung, die ich mir selbst über sie bilden konnte.
~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche, sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
- Eugene Ionesco
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