PROLOG
Mit großen Augen bewunderte das junge Mädchen die stolzen Ritter des Königreichs, die jedes Jahr in ihr abgeschiedenes Städtchen ritten, um nach neuen Knappen zu suchen. Ihr braunes Haar war zu einem zerzausten Zopf geflochten, der auf ihrem Rücken lag, während sie sich aus dem Fenster lehnte und beobachtete, wie zwei der Ritter in das Waisenhaus traten, in dem sie wohnte. "Ich will auch ein Ritter werden...", murmelte sie leise und ging in die Hocke, sodass sie gerade so noch mit der Nasenspitze über das Fensterbrett ragte und weiter die Ritter bestaunen konnte, die schon ein paar Jungen aufgenommen hatten. Sie fragten auch im Waisenhaus, ob es Jungen gab, die alt genug waren.
"Aber du bist ein Mädchen, Lorae..", erinnerte sie ein Junge in ebenso lumpigen Kleidern, der neben ihr auf einem Bett saß und mit den Beinen wippte. In 4 Jahren wäre er alt genug und müsste seine beste Freundin hier zurücklassen. Die Leiterin des Waisenhauses tadelte sie immer wieder, dass sie nicht damenhaft genug sei und sich mehr Mühe geben sollte, wenn sie eines Tages einen stattlichen Mann heiraten wolle, der sich um sie kümmerte. Deshalb hatte er ihr versprochen, dass er sie nach seiner Ausbildung heiraten würde, um ihr ein Leben in Armut zu ersparen. Doch Lorae hatte große Träume und wollte das alles nicht hören. "Noch 4 Jahre, Baldr. Wir müssen anfangen zu trainieren", antwortete sie lediglich und richtete sich wieder auf, als die Ritter alle 12jährigen Jungen versammelt hatten und sich deren Mütter von ihnen verabschieden. Zwei von ihnen waren Waisenkinder, die still blieben und ihr Schicksal annahmen. Die anderen zwei jammerten leise in den Armen ihrer Mütter, dass sie nicht weg wollten, doch laut Gesetz müssten sich alle kampftauglichen Jungen der Armee verpflichten. "Sieh dir diese Jammerlappen an... Mit einer Armee aus solchen Weicheiern können wir doch nie einen Krieg gewinnen", zischte Lorae und ballte ihre Fäuste auf dem Fensterbrett.
~ 4 Jahre später~
"Beeil dich, Baldr!", hetzte Lorae ihren besten Freund, während sie unruhig auf dem Stuhl saß. "Halt still..", bat er sie und kämpfte sich mit der alten Schere durch ihre zotteligen Haare, die Strähne für Strähne auf dem Boden landeten. "Fertig." Schnell sprang Lorae von dem Stuhl auf und stopfte die Haare in einen Sack. Mit einem breiten Grinsen sah sie ihren Freund an, dessen Kleidung sie sich geliehen hatte, um wie ein Junge auszusehen. Baldr hatte Bedenken, doch er hielt sich an ihren Plan. Er ging zu der Waisenhausleiterin, die bereits im Flur wartete und sagte ihr, dass er zu den Rittern gehen würde.
Währenddessen kletterte Lorae aus einem Fenster in den Hinterhof, um den Sack mit den Haaren ganz tief im Müll zu vergraben und vor dem Haus zu ihrem Freund zu stoßen, wo sie auf eine Kiste kletterten, um die Ritter besser zu sehen. Zuerst begrüßten Ritter und Knappen, die aus dieser Stadt stammten ihre Familien, während der General stolz auf seinem Ross über die Menschenmengen blickte. Lorae's Augen funkelten bei seinem Anblick und glitten zu dem jungen Mann an seiner Seite, der letztes Jahr noch nicht dabei war. Seinem Aussehen nach war es der Sohn des Generals.
Dieser Stolz.. Diese Entschlossenheit in seinen Augen.. Genau so wollte Lorae auch werden! Ein furchtloser Ritter, der alles gibt, um die Schwachen zu beschützen. So wie einst der Ritter, der sie vor 6 Jahren gerettet hatte, als ihr Dorf angegriffen wurde.
Endlich rief der General aus, dass die Jungen näherkommen sollten. Eifrig stieg Lorae von der Kiste runter und drängelte sich durch die Massen, bevor sie vor dem General stehen blieb. Baldr gesellte sich zu ihr, während der General von seinem Pferd stieg und die beiden musterte. "Wir wollen Ritter werden!" Mit geballter Faust und großer Entschlossenheit blickte das Mädchen zu ihm auf und glaubte fest daran, dass ihr Plan perfekt war. Der General lachte kurz erheitert auf und legte seine Hand auf ihren Kopf. Solchen Enthusiasmus sah er selten. "Wie heißt ihr denn?" "Leon. Und das ist Baldr. Wir sind Waisenkinder." Lorae übte schon seit Jahren an ihrer jungenhaften Stimme und der Haarschnitt ließ sie auch wie einer aussehen. Das war jedoch nicht alles, was sie trainiert hatten. Auch ihre Kraft und Ausdauer bauten sie aus, was sich auf ihrem Weg in die Hauptstadt bewies und Anerkennung, sowie Erstaunen der Ritter ernteten. Sie packten voller Eifer mit an und stürzten sich auf jede Aufgabe, die vor ihnen auftauchte.
Der Sohn des Generals, war ein beeindruckender Mann, auch wenn er mit seinen 18 Jahren erst frisch zum Ritter wurde. Allein sein Anblick ließ ihn neben dem General zu Lorae’s Vorbild werden.
In der Kaserne angekommen, bezogen die beiden Waisenkinder ihr gemeinsames Zimmer. Lorae wurde sogar der Knappe des Generals und Baldr kam in die Obhut seines Sohnes. "Wir haben’s geschafft!", jubelte Lorae und sprang ihrem Freund um den Hals. Allerdings machte Baldr sich noch immer Sorgen, dass sie früher oder später auffliegen würde. Sie war so impulsiv und dachte seiner Meinung nach nicht weit genug voraus. Sie würde noch wachsen und so würde es immer schwerer sein ihre Tarnung aufrecht zu erhalten. Schon 2 Jahre später musste Lorae ihre Brust abbinden, auch wenn ihre Brüste durch das Training noch kaum zu sehen waren. Ihr Freund ging lieber sicher, da er schon immer der klügere von ihnen war. Lorae trainierte wie eine Besessene, um ihren Lehrer stolz zu machen und hatte zwar einen Nachteil was ihre reine Körperkraft anging, doch dafür war sie sehr geschickt und besiegte jeden Knappen mit Leichtigkeit.
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Wie jeden Morgen sprang Lorae voller Energie aus dem Bett, holte sich einen frischen Eimer Wasser ins Zimmer und begann sich zu waschen. "Aufstehen, Faulpelz", warf sie ihrem Kameraden an den Kopf, wobei er durch den Aufruhr vermutlich sowieso schon wach war. Lorae hatte das obere Bett bezogen, da es ihr irgendwie sicherer erschien. Allerdings trug sie die Bandagen an ihrer Brust auch nachts unter ihrem Hemd, falls sie spontan antreten mussten. Vor einer Weile hatte ihr Freund ihr aber so ein praktisches Kleidungsstück besorgt, dass wohl durch ein Korsette für Frauen inspiriert war. Somit brauchte sie nicht mehr seine Hilfe beim Einkleiden. In Windeseile hatte sie ihre Kleidung an und stürmte mit ihm zu den Ställen, wo sie wie immer die ersten waren, um die Pferde ihrer Ausbilder zu versorgen. "Bald ist es soweit...", schwärmte sie und konnte ihren Ritterschlag kaum erwarten. Sie hatte sich als würdig erwiesen. Ihr Ehrgeiz und unermüdlicher Einsatz hatten sich bezahlt gemacht. Nach dem Knappentraining trainierte sie immer noch mit Baldr zusammen oder allein, denn ihr Ziel war es, besser als die anderen zu sein. Das tat sie nicht für die Anerkennung an sich, sondern um einfach nicht als Schlusslicht mehr ins Visier zu geraten.
Die 6 Jahre Ausbildung waren beinahe vorbei. Die Hälfte der Knappen schaffte es meist nur zum Stall- oder Laufburschen. Kanonenfutter, wie Marius sagte. Sie taugten nicht zum Schwert, aber immerhin eine Weile als Schild. Lorae konnte diesen Widerling nicht ausstehen. Er war ein Adliger aus der Hauptstadt und im gleichen Alter wie Lorae. Immer mehr Wettkämpfe fanden statt, um die Spreu vom Weizen zu trennen. "Habt ihr die Lippen des Prinzen gesehen? Und seine Wimpern erst. Er sieht aus wie ein Mädchen", machte sich Marius über den Thronfolger lustig und erntete die Lacher seiner Freunde. Die drei waren richtige Hünen und leider auch gute Ritter, auch wenn ihr Charakter alles andere als edel war. "Genau wie Leon", grinste er, als Lorae und Baldr an ihm vorbeigingen. "Lieber wie ein Mädchen aussehen, als wie ein Schwein", konterte Lorae, woraufhin Marius knurrte. Er wollte ihr am liebsten an die Gurgel gehen, doch da trat der General mit seinem Sohn auf den Übungsplatz und musterte die Knappen, die dieses Jahr ihren Titel erhalten würden.
Lorae legte ihre Faust an die Brust und stand stramm, um den beiden ihren Respekt zu zollen. Immerhin hatten auch die anderen 3 Idioten ausreichend Respekt vor ihnen. Ihr Blick glitt zu den kichernden und tuschelnden Damen, die sich heute wieder mal vor dem Tor tummelten, um die Ritter und Knappen zu beobachten. Und so sollte sie sich auch verhalten? Armselig. Vor den Kämpfen, wärmte sie sich noch etwas auf, ehe sie aufgerufen wurde und gegen Marius antreten musste. Als sie sich gegenüberstanden, grinste er triumphierend, als hätte er sich bereits für die Beleidigung gerächt. Er sah nicht wirklich aus wie ein Schwein, aber er hatte schon eine sehr markante Nase, ein breites Kinn und schmale Augen. Sein Dreitagebart ließ sein Gesicht noch dunkler wirken.
Der Kampf begann und Marius stürzte sich brüllend auf sie. Heute wollte er wohl wieder seine Männlichkeit zur Schau stellen. Seine tiefe Stimme hatte durchaus etwas erschütterndes, was so mancher Dame am Tor zu gefallen schien. Selbst Marius hatte also Verehrerinnen. Lorae machte mühelos einen Schritt zur Seite und schlug ihr Holzschwert in seine Flanke. Dafür gab sie kaum Kraft zu, denn sie wollte ihm nur zeigen, dass er jetzt möglicherweise schon die erste Wunde erlitten haben könnte. Auch seine nächsten Angriffe waren viel zu stürmisch. "Viel zu unkontrolliert." Als Lorae seinen Hieb parierte, kam ein Knurren aus Marius' Kehle. Er wurde tatsächlich ein wenig ruhiger und löste sich von ihr, um von neuem zu beginnen. Lorae drehte das Schwert einmal in ihrer Hand und ging in Position. Dieses Mal Griff sie als erstes an, doch ihr Angriff war eine Finte und entlockte ihm einen Schlag zum Parieren, der nun ins Leere ging. Sie huschte an ihm vorbei und trat in seine Kniekehle, woraufhin er auf die Knie sank und sie ihm von hinten das Holzschwert an die Kehle hielt. Damit ging sie als Sieger hervor. Das war noch leichter, als das letzte Mal. Ob ihn die Zuschauer wohl ablenkten?
"Jetzt ist er wahrscheinlich noch wütender..", murmelte sie Baldr zu, als sie sich zu ihm gesellte, damit die nächsten zum Kampf antreten konnten.
~ ♦ ~ Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche, sie ist Kühnheit und Erfindung. ~ ♦ ~
- Eugene Ionesco
- Eugene Ionesco
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