The World of Arith (Codren & Attari)

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    • The World of Arith (Codren & Attari)

      Das Ende der Zeit ist für viele das Ende des Lebens und für viele andere der Anfang einer neuen Zeit, ein neuer Beginn, nachdem das Alte erloschen war. Aber für genauso viele ist das Ende der Zeit auch nichts anderes: Das Ende. Es ist keine Erlösung, kein Tod und kein Neuanfang. Es bleibt einfach immer das, woraus es geworden ist: Das Ende.
      Zeit ist irrelevant, wenn man nicht weiß, woran man sie messen soll. Am Sonnenauf- und untergang? Am Wetter? Am Blühen der Pflanzen? Am Jahreszeitenwechsel? Aber was fängt man dann mit dieser Information an? Welche Veränderung bringt es, dass Zeit vergangen ist? Neues Leben wird geboren, altes verendet, aber das hat es schon immer, es ist Teil der Natur. Pflanzen blühen und verwelken wieder, aber das ist Teil der Natur. Woran wird Zeit gemessen?
      An Fortschritt. Damit Zeit gemessen werden kann, muss eine alte Zeit enden und eine neue Zeit beginnen.
      Aber ohne Fortschritt endet nichts und beginnt nichts. Alles bleibt so, wie es schon immer gewesen war, und damit ist Zeit vollkommen irrelevant.

      Auf der Oberfläche von Arith hatte man schon lange aufgehört, sich Gedanken um die Zeit zu machen. Es war ein Luxusproblem, eine Sache all jener, die genug Freiheit hatten, um sich um das Verstreichen von Zeit Gedanken zu machen. Aber auch das war auf der Oberfläche eingeschränkt: Freiheit. Wenn man dort leben wollte, musste man überleben und das brachte bekanntlich keine Freiheit mit sich.
      Also gab es keine Zeit. Man könnte den ganzen, lieben langen Tag auf einer Stelle sitzend verbringen und es würde keinen Unterschied machen - und Jiemxen war verbissen darum, genau das zu tun.
      Er saß auf der Spitze eines Haufens Schrott, ein Wirrwarr aus morschen, vermoosten Holzplanken und Eisenstangen, ein Gebilde, das vor dem Ende der Zeit sicherlich mal einen Nutzen gefunden hatte, von dem jetzt aber nichts mehr übrig war. Seine Gestalt war lang und schmal, ein Strich in der Landschaft, augenscheinlich unauffällig, wäre er nicht der einzige Strich gewesen, der senkrecht in die Höhe stieß. Der Wind zerrte an seinen Kleidern, versuchte ihn umzustoßen, diese Widernatur, die es wagte, mit ihrer Anwesenheit zu implizieren, dass es doch eine Chance auf Fortschritt geben mochte in einer Welt, in der etwas derartiges zum Stillstand gekommen war. Aber Jiemxen hielt verbissen dagegen an, den langen, buschigen Schwanz um seine Knöchel gewickelt, seine Beine gegen den Morgensturm damit abschirmend. Er saß in der Hocke, die Ellbogen auf den Knien abgestützt, und das schon seit einer geraumen Weile, aber er weigerte sich, sich zu bewegen. Nicht, bevor die Jagd nicht beendet war.
      Vor ihm breiteten sich die Überreste einer Stadt aus wie ein Friedhof für ehemalige Architektur. Eingestürzte Häuser, die Dächer zur Unkenntlichkeit zerschlagen, die Wände zerbröckelt, als bestünden sie aus morschem Holz und nicht etwa festem Stein. Gesteinsbrocken neben Gesteinsbrocken, Trümmer neben Trümmer, eine Ruine, die allerhöchstens den Pflanzen des Bodens noch eine Zuflucht bot. Abfallberge, wo einst womöglich Krieger gestanden hatten, wo man vielleicht die Waffen gegeneinander erhoben hatte, oder wo man sich vor dem zu schützen versucht hatte, was aus dem Himmel geflogen kam, einem Engel gleich, oder eher einem Todesengel, der nichts bei sich trug als Verwüstung. Eingestürzte Lager drängten sich in den wenigen Spalten der Trümmerhaufen, Überreste von Plünderern, die schon seit Äonen keinen Ort mehr wie diesen aufgesucht hatten. Heutzutage gab es nichts mehr zu plündern, denn es gab schlicht nichts mehr, was von Wert gewesen wäre. Es gab nur noch das Leben, die Natur und alle Gefahren, die damit einhergingen.
      Ein Schaben und Kratzen ließen Jiemxens Ohren zucken, aber als sein Blick zur Seite flog, dorthin, wo sein Verstand ihm vorgaukelte, seine Beute gefunden zu haben, sah er nur einen schwarzen Schwanz verschwinden, dort, wo gerade eine rostige Eisenplatte über den Untergrund schabte, nachdem das Gewicht auf ihr weitergezogen war.

      Rias Kopf war für einen Moment zu sehen auf dem Ruinenberg, den sie gerade geräuschlos zu erklimmen versuchte, und dann war auch das wieder von ihr verschwunden. Der Wind zog an Jiemxens Haaren und ließ einen nahegelegenen Müllhaufen klimpern.
      Es gab einen feinen, aber deutlichen Unterschied zwischen den Geräuschen, die die Natur selbst verursachte, und den Geräuschen, die das Leben verursachte: Das eine war unberechenbar und unwillkürlich, es kam entweder mit einer Wucht, die alles im Umkreis aufschrecken ließ, oder mit einer Deckung, als wäre es nur für Ohren bestimmt, die fein genug waren, es zu erfassen.
      Und das andere hatte einen Rhythmus.
      Leben brachte Rhythmus mit sich, den es in der Natur nicht aufzufinden galt. Alles im Leben war ein Rhythmus, sei es das Herz, das mit seinen Schlägen das Tempo vorgab oder die Schritte, die einem Ziel entgegen strebten, die Bewegung von Muskeln, die sich nach ihrer Umgebung richteten. Selbst das bewusste Vermeiden eines Rhythmus war noch immer selbst ein Rhythmus, denn man brauchte Anhaltspunkte, nach denen man sich neu ausrichtete, um den alten Rhythmus zu vernichten.
      Nur die Natur, die Natur hatte keinen Rhythmus. In der Natur herrschte das Gesetz des Chaos und wer dieses Gesetz begriffen hatte, der konnte auch den feinen Unterschied zwischen Lebewesen und Natur entdecken.
      Und Jiemxen hatte dieses Gesetz verstanden.
      Er saß auf seinem Schrotthaufen und als er den Rhythmus erkannte - erst ein Klimpern, dann ein Klackern, aber dann wieder ein Klimpern - stieß er sich mit einem Schlag ab. Für etwa eine halbe Sekunde segelte er durch die Luft, die Gliedmaßen lang gestreckt, der Schweif hinter sich durch die Luft zuckend, dann landete er auf einem Trümmerbrocken, stieß das Messer in seiner Rechten durch die Spalte in den Haufen und traf - nichts. Er verfehlte das Leben im Inneren und wurde dadurch bestraft, dass es durch eine andere, ungesehene Spalte entwischte.
      Aber Ria war nicht weit und auch ihre empfindlichen Ohren hatten den Unterschied längst aufgespürt. Die Hareaca erschien auf der Spitze ihres kleinen Berges, erfasste erst Jiemxen mit ihrem Blick und dann sein Ziel und sprang zu Boden. Auch sie verfehlte, eine Laune der Natur mit ihrem Gesetz des Chaos, aber Ria war kleiner und präziser. Sie schoss nach vorne, mitten in den nächsten Haufen hinein und unter dem ganzen Klappern und Scheppern konnte Jiemxen deutlich das Fiepen eines Lebewesens in seinen Todesmomenten hören. Er richtete sich auf, während seine Ohren zuckten und er in die andere Umgebung nach einer Veränderung lauschte. Der Wind nahm zu und war kalt. Er wirbelte den Staub des Bodens auf und fegte geräuschvoll über die raue Oberfläche der Steinwände hinweg. Irgendwo fielen kleine Steinchen zu Boden und in weiterer Entfernung löste sich eine Ranke von ihrer Oberfläche. Jiemxen lauschte darauf und wartete, dass seine Schwester mit ihrem Fang zurückkehren würde.



      @Attari
    • Im Herzen - In Fanaedes

      Ruhig und melodisch erklang die Stimme für gewöhnlich. Schlanke Finger hielten den Einband des Buches fest, während stumpfe Wörter an diesem Tage über seine Lippen drangen. Dennoch hingen die Hörer an jedem der lieblosen Worte. Begierig zu wissen, welch Ende die Geschichte fand.
      „ Er sprach: ‚ Gern wäre ich geflogen, wie ein Vogel. Doch meine Schwingen vermögen es nicht mich weiter zutragen!‘ Tränen rollten aus seinen Augen heraus, während er der Sonne entgegen lachte.“
      Die Kinder kamen näher. Ihre großen Augen bohrten sich förmlich in den vor ihn hockenden Leserling. Sein Blick huschte über den Rand des Buches in ihre Gesichter. Dabei trafen die goldenen Augen auf ein paar Blaue. Im Abseits saß eine weitere Gestalt, welche das Ende ebenso erwartete wie die Kinder.
      „ Er würde sie niemals erreichen… niemals…“
      Fuhr er trocken fort, bevor er das Buch schloss und sich erheben wollte. Doch eines der Kinder krallte sich in seinem Gewand fest, Tränen in den Augen. „ Ds ist alles?!“, weinte es. „ Er kann doch nicht ohne sie leben?!“ Er sah herab auf den kleinen Jungen, wobei ihm ein Seufzer entfloh. „ Das war nicht alles…“, erklärte er dann. „ … Seine Geschichte ist noch nicht zu Ende…“ ein warmes Lächeln zeichnete seine Lippen. „ ich lese euch morgen weiter vor!“, versprach er dann. Das weinen und die enttäuschten Geräusche stoppten kurz. „ Versprochen, Lehrer Taifanya?!“ Sie wollten ihn darauf festnageln. Doch die erpichten Gesichter zauberten ihm nur ein Lächeln auf die Lippen. „ Natürlich, versprochen!“
      Der Taura Alta mit den blauen Augen lachte leise, während er seinen Partner dabei beobachtete, wie er die Kinder besänftige. Darin war er gut. Seine ruhige Miene und das anmutigende Verhalten faszinierten die verzweifelten Seelen hier. In ihren zerbrochenen Welten kam er wie heilender Balsam daher. In seinem Herzen barg er den Wunsch Neid empfinden zu dürfen. Doch nichts würde ihm dies jemals gestatten. Nicht, gegenüber diesen Kindern.
      Taifanya‘de Yueil schickte die Kinder zum spielen fort. Eifrig rannten sie los, sodass sein Blick ihnen folgte. Der Blaue musste die unbeschwerten Tage gerade in solchen Momenten mehr den je. Der Goldene war an ihn heran getreten. In seiner Hand das Buch mit der Geschichte ‚ von der verlorenen Sonne und dem Mann, der sie suchte‘.
      „ Äh hem“, räusperte er sich und wies mit einem Nicken an, er wollte Zugang zu dem Regal haben, auf welchem der andere saß. Er stellte das Buch zurück, würdigte den anderen dabei keines Blickes.
      „ Bist du immer noch wütend?“, fragte jener dann, sichtlich verletzt. „ Es ist über ein halbes Jahr her und du…“ Der goldene sah sich um, bevor er dem anderen seine Krallen in die Kehle drückte. „ Das ist das Problem!“, fauchte er. „ Ein halbes Jahr…!“ er schüttelte dem Kopf und zog seine Hand zurück. „ Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht wieder sehen will! Du bist hier nicht verantwortlich, als lass mich in Frieden!“ Mit Schwung drehte er sich um und verließ den Blauen. Jenes Blick folgte seinem ehemaligen Partner. Die schlanke Gestalt, welche stets in feine Kleider gehüllt war. Die immer wohl zusammen gelegten Flügel auf seinem Rücken, deren feine Membran ein solch wunderbares Lichtspiele erzeugte. Seine ruhiger Natur, die nur so wenigen gegenüber ihr wahres Gesicht zeigte… all das hatte er vermisst!
      Er sprang auf, setzte zum Laufschritt an. „ Yue - Taifanya! Warte, wie müssen darüber reden!“ Der Andere drehte sich um. „ Es gibt nichts zu reden!“, seine Stimme war kühl. Mit diesen Worten ging er und ließ den Blauen stehen.
      Frischer Herbst. Die Nachtblüher sehen ihren letzen Tagen entgegen, welche sie in voller Blüte an den Hängen von Fanaedes verbringen. Die riesigen Wolken, welche für gewöhnlich die Stadt verschlingen, lassen auf sich warten. Ein sanfter Wind trägt die ersten Pollen der tiefblauen Blumen mit sich und ruft die mächtigen Waborca zum Spätsommerfest in die nördlichen Hemisphären. Die Gebäude Fanaedes erheben sich im Antlitz einer senkenden Sonne. Weiße und schlichte Fassaden machen die mächtige Stadt aus. Sie strahlen im goldenen Licht. Lichtersammlungen flackern und erzählen die Geschichte von Zusammenkünften der Taura Alta… Sie feierten die Ankunft der Wolken und den Beginn der Regenzeit. Die weißen Gassen zwischen den Häusern schmückten sie mit bunten Lichtern. Die Taura Alta kamen zusammen, sie teilten Speise und Getränk mit ihren Nachbarn und genossen die letzte Wärme des Sommers. Bald würden die großen Hörner die Ankunft des ersten Waborcas verkünden, welcher dem Wind bis hier hinauf gefolgt war. Von diesem Zeitpunkt an verließ kein Schiff mehr die zahlreichen Häfen von Fanaedes. Die Wolken nahmen den Kapitän die Sicht und auch ein erfahrener wüsste nicht durch die zahllosen Neuankömmlinge zu navigieren. Die Stadt fiel in eine Art Winterschlaf. Leise und heimlich lag sie zwischen den Wolken…
      Wind zauste um die in ihn gespitzten Ohren. Lange Strähnen seines schwarzen Haares tanzten vor seinem Sichtfeld, er fühlte die Winde auch seine Schwingen greifen, welche achtlos herabhingen. Der Wind war kräftig und frisch, blies südlicher Richtung gen Norden, an den Ort von welchem sie sich entfernten - die weiße Stadt…
      Er schloss seine Augen.
      Niewieder…
      Er öffnete sie. Geändert hatte sich nichts. Er stand am oberen Ende einer Treppe, welche die Weiten des offenen Marktes offenbarte. Lichter säumten sein Blickfeld. Trotz der frohen Zeit blieb sein Gemüt matt, erschüttert durch eine schauerliche Nachricht.

      Fallen… Kein Gefühl der Kontrolle über den eigenen Körper. Verzweifelte Versuche eine Höhe zu erwischen und sie zurückzuerlangen. Doch nichts hält einen auf. Die Winde sausen senkrecht gen Himmel vorbei.
      Fallen… Wohin…?

      Hohe Bäume säumen seinen Blick in die Höhe. In großen Abständen stehen sie in den hohen Gras und Farn. Ihr dünnes Blätterdach vermag es nicht den Blick gen Himmel zunehmen. Doch zu sehen ist nicht viel. Wolken… viele Wolken. Er steht an einem dieser Bäume. Unbekannte Klänge erfüllten seine Ohren. Überall hier kommunizierten die unterschiedlichsten Wesen miteinander und über seinen Kopf hinweg. Hier und da raschelten die flachen Sträucher, welche zwischen die hohen Bäumen standen. Die feuchte Luft wiegt schwer in seinen Lungen und zwingt ihm jeden rasselnden Zug ab. Ein metallischer Geschmack lag auf der Zunge, mischte sich gemeinsam mit ihm unbekannten derben Düften in seiner Nase. Am Stamm des Baumes ist Blut…
      Weiter …
      Mit schwankendem Schritt schleppt er sich durch das hohe Gras, an den Bäumen vorbei. Solche Gewächse säumen die Böden von Tarres nicht. Noch niemals in seinem Leben hatte er ein solch obskures Gewächs erblickt. Seine Flanke brennt. Blutige Flecken zeichnen die hellen Gewänder, deren Gewicht und Länge ihn letztlich umwirft.
      Er liegt im Gras. Dieser Tag sollte also auf einem weichen Blätterkissen zu Ende gehen

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    • Sie grillten. Das erbeutete Kaninchen kam auf ein Lagerfeuer, dessen Rauch in den Baumkronen des umstehenden Waldes verschwand. Ria hatte das unglückliche Lebewesen gehäutet, während Jiemxen das Feuer bereitet hatte und dann zwei Keramikteller zu Tage befördert hatte.
      Ihr Lager war klein und überschaubar: Sie hatten eine größere Plane von der Tierhaut eines Griphus, die sie nach Norden hin ausrichteten und die sie größtenteils vor Unwetter schützte. Ihr Schlafplatz bestand aus dem Fell des gleichen Griphus, das sie mit Federn ausgestopft und zusammengenäht hatten, damit man eine weichere Unterlage hatte. Sie hatten selbstgebasteltes Keramikgeschirr, einen kleinen Eisentopf, einen Eimer, Gewürzblätter in kleinen Holzbehältern. Jeder von ihnen hatte ein paar Klamotten, eine Waffe zusätzlich zu den Kochutensilien und einen kleinen Beutel mit Habseligkeiten. Jiemxen bewahrte in seinem hauptsächlich Bandagen auf, von Ria wusste er, dass sie gerne Blumen sammelte, die so aussahen, als könnten sie selten sein. Meistens benutzte sie ihren Beutel dann aber als Kopfkissen.
      Ria teilte das Kaninchen in drei Teile auf: Zwei Teile Fleisch und alle Extremitäten. Das Fleisch würzte sie nach, die Extremitäten schob sie auf einen zusätzlichen Teller und wartete darauf, dass Jiemxen ihr seine Aufmerksamkeit schenken würde, bevor sie ihn in die Luft hielt.
      “Wir danken den Göttern für diesen Tag. Wir danken für ihr Erbarmen und ihre Güte. Wir danken für unser Leben. Esst von diesem Fleisch und verschont das unsere. Wir geloben ewige Treue.”
      “Wir geloben ewige Treue”, murmelte Jiemxen mit dazu und dann verscharrte Ria die Stücke in einem kleinen, gegrabenen Loch neben ihnen. Danach widmeten sie sich ihrem wenigen Essen.
      “Denkst du nicht, wir sollten vielleicht näher an die Küste ran? Alles scheint immer von der Küste zu kommen.”
      Ria musste die Augen vor Anstrengung zusammenkneifen beim Essen. Das Fleisch war zäh.
      “Wir sind in keiner Weise dazu gemacht, in irgendwelcher Nähe zur Küste zu gehen. Was, wenn wir zu nahe kommen? Wir sehen nicht aus wie die Leute da, wo sollen wir uns verstecken?”
      Ria zuckte mit den Schultern, schluckte das fast unzerkaute Stück runter und biss erneut ab.
      “Ich denke nur, vielleicht gehen wir in die falsche Richtung. Vielleicht ist der Norden nicht richtig.”
      Jetzt war es an Jiemxen mit dem Fleisch zu kämpfen und daran zu zerren. Viel war es eh nicht, aber eine alte Weisheit der Hareaca besagte sowieso, dass es ein gutes Zeichen war, Hunger zu verspüren. Wenn der Körper keine anderen Probleme hatte als zu wenig Nahrungszufuhr und man deshalb keine anderen Beschwerden spürte, konnte man guter Dinge sein.
      Er riss sein Stück ein bisschen zu heftig ab und Ria zuckte mit den Ohren.
      “Ich denke, das ist keine gute Idee.”
      “Aber wieso nicht?”
      Jetzt wurde Rias Stimme hoch und fast quengelnd. Ria war fünf Jahre jünger als er und ein bisschen naiv. Sie hatte nicht die Härte des Lebens am eigenen Leib erfahren müssen, für sie war immer jemand dagewesen: Zuerst ihre Eltern und dann später, als sie allein auf sich gestellt waren, Jiemxen. Es war Jiemxen, der sich schon immer darum gekümmert hatte, dass sie einen anständigen Lagerplatz fanden, dass sie genug zu Essen haben würden, dass sie niemandes Aufmerksamkeit erregten, die sie nicht haben wollten. Er versuchte, Ria von den größten Ärgernissen rauszuhalten und was er davon hatte, war eine Schwester, die manchmal vergaß, was auf der Oberfläche alles schief gehen konnte.
      “Weil ich das sage.”
      Rias Ohren schnellten nach hinten, bevor sie sie aufhalten konnte. Sie kaute und weil ihre buschige Schwanzspitze dabei hinter ihrem Rücken kurz hervorzuckte, konnte Jiemxen erkennen, dass sie darüber nachdachte, ob diese Sache es wert war, einen Streit anzufangen.
      “Und ich sage, dass wir näher zur Küste sollten. Nur ein Stück, nur ein bisschen. Nur um zu schauen, ob wir dort vielleicht richtig sind.”
      Jiemxen schluckte runter und besah sich seine Schwester. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er, ähnlich dünn gebaut, dieselben stechend, grünen Augen, die sie beide von ihren Eltern geerbt hatten. Dort, wo Jiemxen Wert auf Geschwindigkeit legte, war ihr Präzision und Feinheit viel wichtiger. Ihr Schwanz war so etwas wie ein eigenes Lebewesen, ständig am Zucken, ständig in dem Versuch, ihre Bewegungen zu verbessern.
      Leider hatten sie beide zu einem gewissen Grad die Sturköpfigkeit ihrer Mutter geerbt.
      “Weißt du, was an der Küste ist, Ri? Mirriads. Und Hareaca, die ins Wasser steigen, und nie wieder davon auftauchen. Und weißt du auch, was beide von denen mit uns machen, die wir so offensichtlich nicht ins Wasser gehen, ohne nicht wieder auftauchen zu müssen? Sie ziehen uns rein, fressen uns entweder oder rauben uns aus. Und du möchtest doch nicht unser wertvolles Bett verlieren, oder?”
      Jetzt legte Ria die Ohren ganz an und holte Luft, um auch ihrer Sturköpfigkeit ein Ventil zu geben. Aber Jiemxen kam ihr zuvor.
      “Weißt du, warum wir aussehen, wie wir aussehen? Weil unsere Eltern und unsere Großeltern und unsere Urgroßeltern und unsere Urur… und so weiter, weil die alle aus diesen Landen kommen, wo es solche Bäume gibt und wo es viel Fläche gibt und wo alles, was wir fangen können, genauso auf dem Land läuft wie wir. Und an der Küste, da sieht man uns an, dass wir nicht gut schwimmen können und das wird man ausnutzen - genau wie wir hier ausnutzen würden, dass jemand herkommt, der laut trampelt und kein Gefühl dafür hat, wie er hier seine Spuren verwischen kann. Verstehst du?”
      Rias Ohren blieben angelegt.
      “Natürlich, ich bin doch kein Kind mehr! Aber ich sage ja auch nicht, dass wir bis zum Wasser müssen, nur, dass wir halt ein bisschen näher gehen. Nur ein bisschen?”
      “Aber wenn wir da was finden, müssen wir doch dann auch da bleiben, oder nicht?”
      “Nein, wir können immernoch weitergehen.”
      “Aber werden wir das? Werden wir wirklich gehen, wenn wir sehen, dass es da Häuser gibt und dass man dort wohnen kann und es dort sicher ist und alles?”
      Rias Lippen wurden schmal und da wusste Jiemxen, dass er diese Diskussion gewonnen hatte. Natürlich würden sie nicht weitergehen, wenn es so einen Ort wirklich gab. Sie würden sich bei der ersten Gelegenheit niederlassen.
      Schon seit Jahren streiften sie durch die Ländereien auf der Suche nach einer von diesen Gemeinschaften, einem Zusammenschluss mehrerer Hareaca, die zusammen an einem Ort wohnten, sich Häuser aufbauten, so wie die Ruinen, und ein ruhiges Leben führten. Sie hatten erst vor einigen Jahren davon gehört, als nicht nur ein Fremder, sondern sogar zwei davon gesprochen hatten, dass es so einen Ort im Norden geben sollte. Es war schon eine Seltenheit, einen Hareaca zu treffen, der sie nicht versuchte auszurauben oder sie sich in irgendeiner anderen Weise für sich zu Nutze zu machen, aber dass es dann zwei Mal passiert war, war eine große Überraschung gewesen. Und deswegen waren sowohl Jiemxen als auch Ria zu dem Entschluss gekommen, dass es irgendwo einen sicheren Ort geben musste, wo man sich nicht fürchten brauchte, wo man in einem richtigen Bett schlafen konnte, wo es immer trocken war. Seit diesem Tag träumte er jede Nacht davon und wäre vermutlich bis ans andere Ende der Welt gezogen, um ihn zu erreichen.
      Nur hatten sie keinerlei Anhaltspunkte. Keine Auskunft bis auf die, dass es irgendwo im Norden sein sollte.
      Und Ria hatte sich irgendwann in den Kopf gesetzt, dass ein solcher Ort näher an der Küste war. Für das Geschwisterpaar gab es wohl auf der ganzen Oberfläche keinen gefährlicheren Ort als die Gewässer, die ihnen den Tod bedeuten konnten. Hoffentlich würde Ria auch irgendwann damit anfangen, das zu begreifen.
      Ria sagte nichts mehr und Jiemxen aß auf und legte dann den Kopf in den Nacken. Er starrte nach oben in einen Himmel, der größtenteils von Wolken bedeckt war; der Wind war aber noch immer frisch und stark und zog an der Wolkendecke, sodass sie in stetiger Bewegung war. Es war grau und es roch nach Regen, außerdem hing einer der Himmelsberge so tief, dass man die steinerne, kluftige Unterseite unter den Wolken erkennen konnte. Er starrte darauf und fragte sich, nicht zum ersten Mal in seinem Leben, ob die Götter nicht eines Tages noch erbarmen mit ihm und seiner Schwester haben und sie auch retten würden.
    • Jeder Fall endet in einem Sturz…

      Als Taifanya‘de Yueil das nächste Mal erwachte, schmückte noch immer keine erwartete Sonne den Himmel. Die Wolken türmten über seinem Kopf, sie hingen tiefer als zuvor. Die dürren und hohen Bäume in seiner Umgebung wirkten noch immer schauerlich in ihrer Gestalt. Die Gewächse von Tarres nahmen niemals eine solche Form an. Sie breiteten sich auf dem Boden aus, zogen sich an den Steinen hoch und formten Meterlange Ranken um jene zu verbinden. Sie kamen in allerlei farblicher Pracht. Mehr als dieses matte grün und dörre braun. Die Helligkeit fehlte hier unten. Die warmen Strahlen der Sonne auf seinem Gesicht. Ihr Licht, welches sich in seinen Schwingen brach…
      Es dauerte, bis er sich auf die zitterigen Beine gehoben hatte. Eine Hilfe war es nicht, dass jene unter dem Sturz gelitten hatten, wie auch der Rest seines Körpers. Der Schmerz war nicht mehr als ein einziges Pochen, welches gleich dem Rhythmus seines Herzen durch seinen Körper fuhr. Er konnte nicht mehr sagen, welche Stellen es genau waren, die ihm dieses Leid bereiteten. Dazu mischte sich der Hunger. Ein brennendes Gefühl in der Kehle, welche sich nach Wasser sehnte…
      Wie lange war ich bewusstlos?
      Ein schockierter Blick sah auf die Stelle im Gras, wo er gelegen hatte. Die Sträucher waren platt, sie hatten sich der Form des Taura Alta angepasst und erzählten nun die Geschichte seiner Schwäche.
      Der Baum…
      Weit gekommen war er nicht! In der Ferne erblickte er ihn. Den Baum, welcher seinen Sturz gefangen hatte. Den Baum, in dessen Ästen er erwacht war. Den Baum, welcher sein Leben gerettet hatte.
      Dieser Baum…
      Seiner Zweige waren abgebrochen. Blut klebte an der Rinde und in den Ästen hing noch etwas anderes. Würde die Sonne scheinen, so würde Yueil es erkennen können. Wie ein einsames Taschentuch hing ein Stück seiner Flugmembran an einem der abgebrochenen Äste… Doch in dem gräulichen Licht erkannte er es nicht. Nur diesen Baum, welchem er sein Leben verdankte. Er drehte sich um.
      Von dem Baum gen Osten. Hier wartete mehr Wald. In der Ferne schien er sich zu verdichten… weiter gen Süden. Wald. Die Bäume standen Lichte zusammen, der Wind kam von dort und trug einen derben Duft mit sich… Gen Westen. Wald…. Gen Norden. Ebenfalls Wald. Der Wind zog in seinem Rücken an ihm vorbei.
      Er schüttelte seinen Körper leicht. Ein Gefühl von Taubheit kehrte ein, wann immer er zu lange verharrte.
      Also Südlich…
      Er begann seinen Weg. Das lange Gewand, welches seinen Fall in das Gras zu verschulden hatte, schleppte noch immer schwer. Es war inzwischen voller Blut und dreck. Der arme Meister, welcher Stunden seines Lebens in den schönen Stoff gesteckt hatte, wäre sicherlich am Boden zerstört es in diesem Zustand zu sehen. Er zog es trotzdem nicht aus.
      „ Er folgt … der Sonne, wo auch… immer ihr Weg ihn führen mag…“, seine Lippe bebte, während er die Geschichte rezitierte. Irgendetwas, um ihn bei Bewusstsein zu halten. Die Geschichte ‚von der verlorenen Sonne und dem mann, der sie suchte‘ handelte von einer fiktiven Welt auf der einstigen Oberfläche des Planeten. Ein phantastisches Werk, welches mit den Gedanken und Ängsten der Taura Alta und ihrer Legenden spielte. Sie erzählte von Monstern noch mächtiger als die Waborca und gemeiner als die Favenae. Da Abenteuer einer verzweifelten Seele auf der Suche nach Erlösung…
      Er sah auf.
      Die Sonne ist nicht da…
      So war es. Nichts als Wolken! Tief hängend und grau.
      Er ging weiter. Wie lange wusste er nicht. Der Wald lichtete sich bald weiter. Die Abstände der Bäume wurden größer und… ein plätscher erfüllte die Luft. Wie von neuem Leben gepackt lief Yueil los.
      Seine Augen füllten sich mit unerkannter Hoffnung, als er den kleinen Flusslauf erblickte. Er stand oben an der Böschung und konnte die Sätze seines Herzen kaum kontrollieren. So stürzte er förmlich in den Schlick am tiefen Ufer, wo das Wasser sich sammelte. Die letzten Meter dort hin kroch er, nur um seine Hände in das kühle Nass zu tauchen und einen Schluck zu nehmen!
      Es dauerte, bis er Klarheit fand. Das Gefühl in seiner Kehle Ruhe gab.
      Kalt
      Dachte er, als er in das Wasser sah. Die feinen Wellen hatten sich beruhigt, sodass er ein fast klares Spiegelbild bekam. Seine Augen waren rot unterlaufen, die Haut blass und voller dunkler Flecken, die die weiße Musterung unterbrachen. Yueil strich mit seiner Hand die Spitzen Ohren entlang. Das eine hatte signifikante Risse erlitten. Der Schmuck, welchen er getragen hatte, hatte sich darum gewickelt und eingeschnitten. Mit zusammen gekniffenen Zähnen löste er die Kette aus dem Schnitt.
      „ Aua!“
      Er atmete durch. Und weiter! Langsam und gemächlich hob er die Schwingen an. Er vermochte kaum den Kopf zu drehen, da Wasser wäre seine einzige Chance den Schaden zu erkennen. Erstaunlicherweise ließen sich jene fast ohne Probleme erheben. Seine Finger waren in Mitleidenschaft gezogen, die Membran beschädigt… minimal und… Er stoppte, als er realisierte, was passiert war. Dem einen Flügel fehlte ein Stück des Schweifs, einfach abgerissen…
      Yueils Lippen bebten, als er vorsichtig seine Hand danach ausstreckte und über die Wunde fuhr. Sie schmerzte nicht, ebenso wenig wie die anderen Wunden an diesen Gliedmaßen. Es glich mehr einem zwickenden Gefühl, welches jene erfüllte.
      „ Es wächst nach!“, ermahnte er sich laut. „ Keine Sorge, es wächst nach!“
      Sein Atem wurde ruhiger, bevor er einen Blick auf seine Hände warf. Jene waren nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Membrane waren unbeschädigt und auch sonst hatten sie kaum etwas abbekommen. Nicht zu letzt weil er jene schützend um sich gelegt hatte. Yueil sah auf das Wasser.
      Wasser bedeutet Leben! Ich sollte…
      Er erhob sich wieder, begann seinen Weg fortzusetzen.

    • Sie packten ein und zogen weiter.
      Ria warf die großen Sachen in die Plane und schnürte sie fest zusammen, während Jiemxen das Lagerfeuer abbaute und die Spuren beseitigte. Sie hatten sich absichtlich keine Lichtung gesucht, wo man ihre Reste hätte entdecken können. Stattdessen hatten sie sich bei einer kleinen Baumgruppe niedergelassen und dort war es auch nicht schwierig, ihre Spuren loszuwerden. Jiemxen warf die Äste des Lagersfeuers in alle Richtungen fort und zertrat dann den Boden nach dem Gesetz das Chaos: Zwei Mal von der linken Seite scharren, einmal von oben, draufstampfen, zweimal von rechts, noch einmal von links. Zum Schluss ging Ria bereits ein paar Schritte weiter, während sich Jiemxen den Schaden ansah, den sie an den Bäumen hinterlassen hatten: Angekratzte Rinde dort, wo sie die Plane aufgehangen hatten, abgebrochene Äste wo sie sich Platz verschafft hatten, plattgedrückter Boden. Er reparierte, was auch immer sich davon reparieren ließ, und zog dann seiner Schwester nach.
      Die Sachen banden sie sich auf den Rücken, fest genug, dass sie nicht herumrutschten und ihnen im Weg waren. Die großen Sachen stopften sie mit ihren Kleidern oder den Fellen aus, damit sie keine Geräusche machten. Es war ein bisschen lästig, dass sie damit auf den erweiteten Umfang ihrer Körper achten mussten, aber es war noch immer wesentlich leiser als ein Griphus - und außerdem war sich Jiemxen unsicher, jemals eigenständig einen zähmen zu wollen. Den letzten Griphus, den sie besessen hatten, hatten ihre Eltern bereits als Baby gefunden und großgezogen. Er hatte ihnen bis zum Lebensende gedient und als seine Eltern gestorben war, hatte er irgendwann angefangen zu lahmen. Da hatten Ria und er ihn geschlachtet, sein Fell, seine Haut, seine Knochen, seine Zähne wiederverwertet und von dem Rest hatten sie eine Woche lang gegessen. Es war eine gute Woche gewesen, auch wenn sie den ruhigen, gemütlichen Begleiter vermissten.
      Jetzt waren sie schonmal einer Herde Griphen begegnet, aber die wilden Griphen mussten erst gezähmt werden, bevor sie sich dazu herabließen, dass man ihnen Beutel und Taschen umband. Und bis das geschehen war, waren sie genauso gefährlich wie ein ganzes Wolfsrudel.
      Also waren sie ohne unterwegs und dafür konnten sie durch die überwucherte Landschaft einer verendeten Welt zum Rhythmus des Chaos wandern.
      Am Nachmittag liefen sie fast in die Falle eines Wilderers, der sich wohl hier in der Nähe niedergelassen zu haben schien. Ria erkannte noch rechtzeitig ein dünnes, fadenscheiniges Seil, das sich an die Rinde eines Baumes schmiegte und so straff gespannt war, dass es nicht unabsichtlich dort hängen konnte. Also blieben sie beide stehen und nachdem sie sich einige Minuten lang in völliger Regungslosigkeit umgesehen hatten, um die Merkmale für alles widernatürliche zu entdecken, setzten sie sich wieder langsam in Bewegung, die Köpfe eingezogen, die Schwänze dicht um ihre Hüften geschlungen. Ihre Schritte waren leicht auf dem weichen Boden, ihre Körper streiften nur das allernötigste an Natur um sie herum. Ihre Ohren zuckten, aber alle Geräusche, die sie wahrnahmen, kamen nicht von ihnen selbst.
      Kaum eine Stunde später kreuzten sich ihre Wege tatsächlich mit dem eines Wolfsrudels, das sie ganz unbewusst in die Bäume jagte. Diesmal war es Jiemxen mit seinem verschärften und aufmerksamen Gehör, der das Rascheln der Blätter vom Wind von dem Rascheln der Blätter von Wild unterschied. Die Tiere waren größer als Füchse, aber kleiner als Rehe und da in dieser Spalte nicht viel übrig blieb, huschten beide Geschwister die Bäume empor, um sich frühzeitig vor ihnen zu verbergen. Sie kletterten nach oben, die Körper dicht an die Rinde gepresst, die Arme kraftvoll in jahrelanger Expertise, und dort knarzten auch die Äste und raschelten die Blätter, denn auch wenn sie sich mit der Verständlichkeit generationenlanger Fortbewegung in der Natur bewegten, waren sie doch weniger die Kletterer als viel eher die Läufer. Sie hatten kein außergewöhnliches Gefühl dafür, welcher Ast stark und gesund war, um unter ihrem Gewicht kein Geräusch von sich zu geben und wie die Blätter hängen mussten, damit sie nicht von den Schwingungen erfasst wurden. Sie wussten nur zu klettern und das sollte ihnen jetzt dennoch zum Vorteil sein, als das Wolfsrudel sich unter ihnen durch das Gebüsch schob, dunkelgraue, sehnige Körper, die kaum mehr Lärm machten als die beiden Hareaca. Die Tiere schnupperten den Waldboden ab, sie erfassten den Geruch von zwei Lebewesen, die sich hier noch vor einer Sekunde aufgehalten hatten, aber dann folgten sie ihrer Fährte, von der sie gekommen waren und nach weiteren zehn Minuten erklärte Jiemxen die Luft für rein. Also stiegen sie wieder hinab und schlichen weiter, zwei Wesen der Natur, die von ihr höchstpersönlich geformt worden waren.

      An einem anderen Ort bahnte sich zur selben Zeit ein ebenso grauer Körper durch das Dickicht eines Waldes, nur, dass er alleine war. Seine dunkle Schnauze schnüffelte über den Boden bei einer Fährte, die er schon längst aufgenommen gehabt zu haben schien, auch wenn er größtenteils im Kreis lief. Geräusche aus dem Dickicht ließen das Tier aufsehen, aber sich nicht rühren. Es starrte und dann schob sich ein anderes Wesen zu ihm nach draußen.

      Es war nicht gerade leise. Seine Hufe waren eher laut auf dem blättrigen Waldboden und dennoch rührte sich der Wolf nicht vom Fleck. Er starrte an dem Mann empor, der herankam und einen Blick über seine Umgebung warf, bevor er das Tier ansah.
      "Was? Hast du etwas entdeckt, Junge? Zeig's mir."
      Und als verstünde der Wolf jedes einzelne Wort, kehrte er auf der Stelle um, trottete mit erhobenem Schwanz in die Büsche hinein und blieb bei einem Baum stehen, der auf die Entfernung vielleicht ganz unscheinbar gewirkt hätte. Aber der Mann, der Hareaca, der ihn begleitete, war ebenfalls in den Feinheiten natürlicher und widernatürlicher Unterschiede geschult und es brauchte nur einen einzigen Blick, um erst das Blut am Stamm zu sehen, die abgebrochenen Äste, die vielen Blätter auf dem Boden - und dann das farbenfrohe, fast schillernde Etwas, das hoch oben hing. Es sah aus wie ein Stück Stoff, ganz feingliedrig und aufwendig gewebt, aber gleichzeitig war es irgendwie zu leicht für Stoff. Der Wind fegte durch die Äste aller Bäume und wenn er es ergriff, dann flatterte das leichte Etwas, als würde es jeden Augenblick in hohem Bogen davongetragen werden.
      Der Hareaca betrachtete beide Dinge für einen Moment, entschied sich dann dagegen sich die Mühe zu machen, hinauf in den Baum zu klettern, um das Stück Stoff zu holen, und blickte wieder auf seinen Begleiter hinab.
      "Na, was ist? Such! Geh suchen!"
      Und der Wolf drehte sich um und trabte zielstrebig in eine Richtung.
    • Von der goldenen Sonne

      Die Hallen der Einrichtung waren ruhig. Kein Lachen von Kindern erfüllte den Flur. Niemand beschlagnahmte Lautstark den Spielplatz im Hofe für sich. Fast schon gespenstisch wirkte es auf die Betreuer, deren nerven sonst so oft an ihre Grenzen kamen. Die sonst ausgelassene Stimmung war verklungen, ohne erkenntlichen Grund. Ein wenig besorgt trafen ihre Blicke einander. In sicherem Schritt traten sie ihren Weg über die Gänge an. Lang, weiß und still.
      Still bis auf…
      „ … Und sie fürchteten sich. Das Monster aus den Tiefen der Erde spieh Feuer in die Lüfte, Kilometer hoch! Und so fürchteten sie sich. Als die Erde brach! Ganze Nationen wurden verschluckt!“
      Die beiden fanden sich im Eingang der Türe zum Unterrichtszimmer wieder. Jene stand offen und legte den Fokus klar auf den Grund für die Stille. Die rasselnde Bande schien wie ausgewechselt. Ganz gebannt saßen sie an ihren Tischen und lauschten ihrem Lehrer.
      „ Die Zeit der Dunkelheit setzte ein. Die Bewohner vermochten nicht mehr länger das Antlitz der Sonne zu sehen. Und sie fragten sich: ‚ Hat Sol Regem uns verlassen? Hat seine unendliche Gnade in uns ein Ende?‘ Unserer Vorfahren verfielen in Angst und Misstrauen…“
      Die Gesichter der Zuhörenden stockten. Ihr aufgeregter Ausdruck wich einem besorgten, während sie weiter lauschten.
      „ In diesen unruhigen und dunklen Zeiten erhob sich eine Person über sie….“
      „ Der Goldene!“, rief eines der Kinder aufgeregt aus. Es war von seinem Stuhl aufgesprungen und blickte gebannt den Jungen Taura Alta an, welcher vorne stand. Schon die ganze Zeit wartete das kleine Mädchen auf diese Gelegenheit. Ihr Lehrer nickte amüsiert.
      „ Genau!“, bestätigte er mit sanfter Stimme. Sie begann zu wippen und triumphierend ihre Freunde anzugucken. Doch jene freuten sich nicht mit ihr. „ Wir wollten die Geschichte hören!“, warf ihr Nachbar ihr an den Kopf. Der freundliche Ausdruck war das des Lehrers Gesicht gewichen. Er klatschte in die Hände und erhob die Stimme.
      „ Ich erzähle ja schon weiter…“, warf er dazwischen, bevor ein Kampf ausbrechen könnte. Er lächelte, als die Kinder wieder zu ihm blickten. Sofort setzten sie sich wieder hin und legten ihre wissbegierigen Blicke auf ihn.
      „ Also… Der Goldene erschien im strahlenden Licht, welches sie so vermissten. Seid langer Zeit war der Himmel dunkel und die Sonne nicht mehr zu erkennen. Nun trat er auf und schlug die Monster der Tiefe in die Flucht!
      Als die Bewohner ihm näher kamen, um ihm zu danken, erkannten sie, wer es wirklich war. Goldenes Haar, wie das endlose Licht der Sonne. Strahlende Augen und mächtige Schwingen in der Farbe des Lichts.
      ‚ Es ist an der Zeit!‘, sprach er. ‚ Sol Regem ruft seine Kinder zu sich!‘
      Am folgenden Tag tat sich der Boden auf und die Landmassen lösten sich von ihren irdischen Fesseln. Sie stiegen auf, weit über die Dunkelheit, welche das Monster in die Höhe gespuckt hatte…“

      „ Eine wundervolle Stunde, Taifanya!“, erklang zum Ende der Geschichte hin die strenge Stimme der Aufseherin. Seine Aufmerksamkeit wanderte zu ihr, während sie durch die Reihen der Schüler schritt. Auch Kinder, welche nicht in dieser Klasse wahren, hatten sich eingefunden. Wahrlich ein außergewöhnliches Ereignis. Sie nahm neben dem jungen Lehrer Stellung ein und klatschte wie er zuvor auch in die Hände. „ Und nun, bedankt euch!“, wieß sie die Klasse an. Zögerlich folgten die Kinder ihrer harten Aufforderung, welcher Yueil kein Ende mehr zu setzen mochte. Er ließ es passieren.
      Die Klasse löste sich auf. Die Kinder liefen hinaus, glücklich endlich den Fängen ihrer Aufseherin entkommen zu sein. Yueil verblieb bei ihr. Sie wandte sich zu ihm.
      „ Ich danke Euch!“, begann sie letztlich. „ Seid Ihr uns mit Eurer Anwesenheit beehrt, ist eine signifikante Ordnung eingetreten!“ Yueil lachte leicht. „ Es sind Kinder…“, entgegnete er. „ … ihr Leben ist noch zu jung, um sich der Ordnung hinzugeben.“ Ihr Blick blieb kühl. „ Es ist nie zu früh für eine strenge Führung. Niemand außer uns wird es diesen Kinder beibringen… “ Sie ging. Ihr starrer Schritt und die Klauen, welche sie bewusst auf den steinernen Boden schlug, erfüllten in dem gefürchteten Takt den Raum, bis sie verschwunden war. Yueil seufzte leicht, bevor er begann seine Sachen zusammen zu suchen. Erst in diesem Moment bemerkte er, das zwei Kinder verblieben waren und ihm näher kamen.
      „ Lehrer Taifanya…“, begann die eine zögerlich. Yueil blickte zu ihr herab und setzte einmal mehr ein Lächeln auf. „ Warum seid ihr nicht spielen gegangen? Braucht ihr noch etwas von mir?“, fragte er sie mit einer signifikanten Wärme in der Stimme.
      Die beiden senkten ihren Blick ab. Die eine trat nervös auf der Stelle, während die andere an ihren Fingern spielte. Yueil kniete sich zu ihnen herab. „ Was ist los?“, fragte er die beiden. Nun wo er sich auf Augenhöhe befand, brach die eine aus. Ihr plötzliches nach vorne kommen erschreckte den Jungen Taura Alta ein wenig. „ Seid Ihr der Goldene?!“ Sie atmete schwer, nachdem sie ihm diese Frage förmlich ins Gesicht gebrüllt hatte. Yueil blinzelte. Er brauchte ein paar Momente, bevor er zu Lachen begann. Das Mädchen schien verunsichert, bis er eine Hand auf ihre Schulter legte und zu sprechen begann. „ Nein, bin ich nicht. Der Goldene ist vor langer Zeit von dieser Welt gegangen, zurück zu Sol Regem!“, erklärte er.
      „ Aber…“
      „ .. Eure Augen!“, warf die andere ein.
      Yueils Blick wurde ein wenig enger.
      Darum geht es also…
      Man nannte es Apasolar, die Berührung der Sonne. Diese Kinder waren zu jung, um zu verstehen. Die Hepoaltares sagten den Apasolar nach, sie seihen eine potenzielle Inkarnationen des Goldenen. Jeder mit einer ‚echten‘ goldenen Verfärbung kam in ihre Obhut…
      „ Es ist eine Erinnerung an ihn…“, begann er also. „… manche von uns werden mit goldenen Augen oder Haar geboren. Das soll uns an unseren Held erinnern und daran, dass wir Sol Regems Kinder sind!“
      Die Kinder nickte eifrig, bevor sie mit einem leichten Kichern gingen.
      Yueil richtete sich wieder auf, sein Blick wanderte auf das Relief an der Wand hinter dem Pult. Es zeigte die Szenerie des ersten Tages. Jenem Tag, an welchem Sol Regem seine Kinder zurück zu sich holte.
      Apasolar waren selten. Nicht viele trugen die Markierungen ihres Gottes auf ihrem Körper. Ein Faktor mehr, welcher auch ihre Existenz zu einer Legende machte…
      Der Taura Alta seufzte und packte seine Sachen zusammen.
      Als er auf der Einrichtung trat, erwartete ihn ein seltener Anblick. Es regnete. Feine Tropfen säumten den Himmel. Dünne Wolken hatten sie über Fanaedes gebracht. Eine wahre Seltenheit… Mit einem Satz nahm der den Rest der Stufen, damit der Schatten des Gebäudes ihn nicht mehr verdeckte. Viele lockte ein solches Phänomen vor ihre Türen. So stand er nicht allein da und genoss die Tropfen auf seiner Haut…
      Feine Tropfen. Ein ständiges Stippeln, welches sein Bewusstsein hielt. Es regnete… Es regnete…
      Er sah hinauf in das endlose Grau. Ihm kamen Tränen bei dem Anblick. Keine Sonne… nur Wolken und ihre Tränen…
      Zu seiner Linken plätscherte das Wasser gemächlich dem Laufe des Baches nach. Unaufhörlich kam neues… Egal um welche Ecke einer Böschung Taifanya‘de Yueil sich bewegte, der Lauf des Baches stoppte nicht. Sein Atem ging ihm schwer über die Lippen.
      Wie lange laufe ich schon?
      Der Taura Alta stoppte.
      Wohin soll ich?
      Er sah sich um. Ein ungutes Gefühl machte sich breit…
      Yueils Ohren richteten sich den unbekannten Geräuschen nach, welche er schon die ganzen Tag vernahm. Das hohe Gras über der Böschung wog sich im Wind. Ihm war noch kein Lebewesen begegnet, obwohl er schon länger dieses unwohlige Gefühl mit sich trug….

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    • Der Hareaca ging auf Abstand, aber dieser Abstand war schon ausreichend genug. Zuerst war der Wolf voran geschritten, aber dann, als er ihn zurückgezischt hatte, war er zurückgekommen und trabte jetzt neben seinem Herrchen her.
      Sein Ziel war ein anderer Hareaca, aber keiner von einer Abstammung, die ihm je unter die Augen gekommen wäre. Und der ziegenartige Mann war schließlich schon an der Küste gewesen, er hatte schon alle Arten von unterschiedlichen Auswüchsen gesehen, die die Oberfläche hervorbrachte. Nur dieser Mann vor ihm, der in einiger Entfernung lief, dass man gerade so seinen Schemen erkennen konnte, und der doch noch kein einziges Mal zurück geblickt hatte; dieser Mann war von einer gänzlich anderen Art. Er hatte keine Auswüchse an den Gliedmaßen, er hatte kein Fell, keine Schuppen, keine Kiemen, keine Schwimmhäute, keine Ohren, keinen Schwanz - er hatte Flügel. Große, filigrane Flügel wie ein sehr missratener, aber farbenfroher Schmetterling. Sie kamen aus seinem Rücken und so wie der Ziegenmann es erkennen konnte, führten sie ein Eigenleben.
      Dann war das schillernde Etwas in den Bäumen ein Stück von einem Flügel gewesen. Jetzt musste er sich fast darüber ärgern, es nicht doch mitgenommen zu haben - aber letzten Endes hatte er hier schließlich den Ursprung davon. Er könnte so viel haben, wie er nur wollte, und wer wusste schließlich schon, was diese dünne Membran alles bezwecken konnte; vielleicht war sie ja zu etwas zu gebrauchen? Vielleicht könnte er sich daraus ein Gewand nähen oder er könnte behaupten, dass es Edelmaterial sei und es zu einem horrenden Preis an den nächsten Händler verkaufen.
      Vielleicht war es auch essbar? So wie die Flossen eines Wasserbewohners durchaus eine angenehme Würze hatten, könnte auch dieses feine, schillernde Gewebe ein wahrer Gaumenschmaus sein. Der Ziegenmann grinste und leckte sich die Lippen.
      Vorerst musste er aber herausfinden, ob der Flügelmann alleine war. Es war kaum denkbar, dass irgendjemand in diesen Wäldern alleine herum streifte, wo es doch von Wölfen und Bären - und Ziegenmännern wie ihm? - nur so wimmelte, aber manchmal hatte man vielleicht auch einfach Glück, manchmal verirrte sich ein armer Schmetterling hier hinein, weggeblasen von einer zu starken Windböe, die ihm bei diesem Wetter den Garaus gemacht hatte, und dann konnte sich ein anderer an dem Glück laben. Schnell genug, bevor es vorbei sein würde.
      Ganz anscheinend war der Flügelmann aber alleine und außerdem hatte er keine Ahnung, wie er sich in einem Wald zu verhalten hatte. Seine Schritte waren laut, seine Klamotten - weiß und lang und merkwürdig - raschelten durch das Gebüsch, als wüsste er gar nicht, dass hier Blätter waren. Er sah sich um, aber nie vollständig und er hatte auch noch nicht begriffen, dass ihm nicht nur ein, sondern gleich zwei Lebewesen folgten. Dieser Mann gehörte ganz offensichtlich nicht hierher und der Hareaca würde sich das zunutze machen.
      Er blieb stehen und der Wolf hob seinen Kopf, um sein Herrchen anzusehen. Da deutete der Ziegenmann auf den Flügelmann in der Entfernung und zischte seinem Begleiter zu: "Fass, Junge!"
      Und der Wolf gehorchte, ohne darüber nachzudenken. Er wirbelte herum, machte einen langen Satz nach vorne und preschte durch das Dickicht, geradewegs auf den blonden Haarschopf zu, der sich in der Ferne abhob. Der Ziegenmann lauschte dem Lärm eines herannahenden Raubtieres und grinste, während er sich selbst wieder langsam in Bewegung setzte. Schließlich musste er sich jetzt seine Beute holen.
      Der Wolf stürmte voran und auch, wenn selbst der blonde Flügelmann ihn irgendwann hörte und auch erkannte, gab es keinerlei Ausweg für dieses Wesen, das noch nicht einmal wusste, wie die Wälder durchschritten werden mussten. Das Raubtier sprang vom Boden, warf seinen sehnigen, struppigen Körper gegen den des Flügelmannes und riss ihn mit sich zu Boden, den fleischlichen Leib unter spitzen Krallen und schnappenden Zähnen gefangen. Er zerfleischte ihn nicht, das wäre ein anderer Befehl gewesen und immerhin wollte der Ziegenmann noch seinen Profit aus diesem Kerl schlagen, aber er hielt ihn an Ort und Stelle und knurrte sich die Seele aus dem Leib, während sein Herrchen im Hintergrund erst langsam herangeschritten kam. Ein zufriedenes, genügsames Lächeln spielte sich auf seine Lippen und entblößte Zähne, die wohl dem seines Tieres nicht ganz unähnlich waren.
      "Was haben wir hier? Hast du dich etwa verlaufen, Schmetterlingsmann?"
      Er stellte sich neben seinen Wolf, neben das Raubtier, das noch immer knurrte und die Zähne fletschte. Die Augen des Ziegenmannes waren dunkel und spiegelten einen Hunger wieder, der wohl nie gesättigt werden würde.
      "Was bringen dir deine Flügelchen, wenn du nicht wegfliegen kannst, hm? Sag mir, ob du alleine hier bist, und ich sage meinem Freund hier, dass er dich loslassen kann."
    • Das Geräusch des Regen glich dem der endlosen Strömen der hohen Berge. Die feinen Wasser Quellen durchbrachen die Steine über Jahrtausende hinweg. Zuvor sammelten sich in den riesigen Becken der Regen an. Die Taura Alta errichteten an solchen Stellen Thermen und Bäder. Mit ausgeklügelter Technologie bezwangen sie die Mächte des Wassers und nutzen das wenige, was ihnen geblieben war. Regen war eine Seltenheit. Die Bewohner über den Wolken feierten jeden Tropfen, den sie auf ihrer Haut spürten. Die Bürger von Fanaedes sprachen weniger von solch seltenen Ereignissen. Die Trauer des Himmels suchte die weiße Stadt mit dem eintreten der Wolken häufiger heim. So das die Sol Regem gewidmete Stadt von jenem Abschied nahm, sobald die Waborca und Wolken eintrafen.
      Taifanya‘de Yueil kannte aber solchen Regen nicht. In seiner Heimat regnete es wenig aber beständig. Es glich einem fisseln, welches konstant die Luft erfüllte.
      „ Ugh!“
      Eine unbekannte Wucht traf ihn von hinten, während er so da stand und seinen Blick auf dem Fluss liegen hatte. Das Gewicht brachte ihn zum Taumeln und riss ihn zu Boden. Schwerer Atem lag in seinen Ohren, während irgendwelche Krallen sich durch sein Gewand bohrten. Er spürte sie auf der Haut. Dem Geräuschen der Lunge des struppigen Wesens gesellten sich Schritte hinzu. Schwer und mächtig in der Natur.
      Yueil bekam im Augenwinkel ein seltsames Geschöpf zu sehen. Im Gegensatz zu seiner Art war dieses Wesen bullig, lief auf den Hinterbeinen, aber bestimmt ebenso groß, wenn nicht sogar höher gewachsen, als er selbst. Runde Hörner thronten auf seinem Kopf, darunter spitze Ohren, die seinen ähnelten. Yueil regte sich unter dem Viech. Jenes lief auf allen Vieren, hatte eine lange Schnauze und war überzogen von einem stickenden und dreckigen Pelz. Ein fauler Gestank drang aus dem Maul des Wesens, welches keinem der ihm bekannten glich. Er hatte über sie gelesen. Von den mächtigen Waborcas bishin zu den flinken Fanevae, welche im Himmel ihre Beute jagten.
      Er biss die Zähne zusammen. Seine Gedanken kreisten…
      "Was haben wir hier? Hast du dich etwa verlaufen, Schmetterlingsmann?"
      Sein Blick weitete sich. Er sprach? Der Klotz von einem Wesen hatte soeben gesprochen?! Seine goldenen Augen verengten sich ein wenig.
      Idiot!
      „ Ich bin allein!“, druckste er hervor. Während seinen Bewegungen zuvor hatte er seine Krallen unter seine Gewand gezogen, sodass der andere nicht sehen konnte, mit was er bewaffnet war. Yueil machte sich instinktiv klein, zog die Flügel an, welche an Farbe verloren hatten. Die glitzernde Membran hatte sich gräulich gefärbt und verblieb gespickt mit dunklen Adern. Auch die kräftige Farbe seiner Augen blasste ab. Sein schwarzes Haar hing teils davor. Es klebte förmlich auf seiner Stirn. „ Was wollt ihr?!“

    • Ah, welch ein Fang. Zufriedenheit machte sich gänzlich in dem Ziegenmann breit, als er auf den geduckten Schmetterlingsmann hinabsah. Ein Fremder, durch und durch, ein Wesen, das weder wusste in der Natur zu wandeln, noch mit den Einheimischen umzugehen. Welche unnachsichtigen Eltern hatten ihn darin erzogen, die Wahrheit zu sagen? Wie kam diese Kreatur nur darauf zu sagen, sie wäre alleine? Genauso gut hätte sie wohl sagen können "nimm mich, bring mich fort, niemand wird nach mir suchen, niemand wird Vergeltung verlangen". Und das brachte den Ziegenmann wahrlich zum Grinsen.
      Aber, eins nach dem anderen. Mit einer herrischen Geste bedeutete er dem Wolf, sich fortzuziehen.
      "Fuß, Junge. Weg da."
      Das Tier gehorchte prompt. Es schloss das Maul, kletterte hinab und leckte sich die Schnauze, bevor es damit anfing, den Boden um den Schmetterlingsmann herum abzuschnüffeln. Dieser beugte sich über das Wesen mit den Flügeln und ging in die Hocke, ein wuchtiger, aufragender Mann über einem schlanken, fragil wirkenden Geschöpf, das sich auf den Boden kauerte.
      "Was ich möchte? Da scheint wohl nicht viel in deiner Birne zu sein, was? Dann weiß ich ja, wo ich gar nicht erst suchen brauche."
      Eine Hand griff zu dem Geschöpf hinab, groß und rau und von Narben versetzt. Dicke, schwielige Finger schlossen sich um den Oberarm und dann drückte der Ziegenmann den Schmetterlingsmann auf den Bauch, um seine Flügel besehen zu können. Neugierig fuhr er erst über die dünnen Ärmchen der Membran hinweg, dann rieb er die Spannhaut probeweise zwischen zwei Fingern.
      "Deine Auswüchse möchte ich. Du warst ehrlich zu mir und deswegen will ich auch ehrlich zu dir sein: Ich habe noch nie so einen Hareaca wie dich gesehen. Woher kommst du? Doch nicht etwa von der Küste - vielleicht von den Bergen?"
      Dann wurde er ärgerlich; seine Augenbrauen verengten sich und er zog an einem der Flügel.
      "Vorhin waren sie noch voller Farbe, was hast du mit ihnen gemacht? Lass sie wieder funkeln, Schmetterlingsmann, und ich verspreche dir, ich werde es nicht ganz so schmerzhaft machen."
    • „Fuß, Junge. Weg da."
      Das struppigere Wesen stieg endlich von seinem Rücken und dessen ekelhaften Gestank nahm es mit sich. Nur eine leise Note verblieb in der Nase des Taura Alta. Das Tier war kleiner als er, aber besaß mehr Masse, wie es ihm schien. Die Wucht, die ihn zu Boden gerissen hatte, war immerhin genug gewesen. Für seine Artgenossen war Taifanya’de Yueil nichts besonderes - durchschnittlich groß und schwer. Wenn nicht sogar eher auf der kleinen Seite.
      Dieses sprechende Monstrum war ein anderes Kaliber. Er stank anders als der Vierbeiner. Derber, mehr nach Schweiß und abgestandenen Essen. Als er sich beugte, vermochte Yueil einen Blick auf sein Haar zu werfen. Der knotige Zopf hatte vermutlich noch niemals einen Kamm gesehen. Er sprach grob, wie er auch zupackte. Der Taura Alta versuchte ruhig zu bleiben, ließ sich wenden und den anderen seine Schwingen begrabschen. Es gäbe kein entkommen… dem war er sich sicher!
      Sein Herz bebte, schlimmer als die Schmerzen in seinem Körper. Er versuchte seinen Atem zu kontrollieren und dem anderen keinen Hauch von Furcht entgegen zu bringen.
      Ein unangenehmes Gefühl! Unter seinem Volk galt es als taktloses Verhalten einen Genossen derart zu packen. Es war den Liebenden vorbehalten für ein stilles Kämmerlein. Ein leises wimmern entfloh ihm, als der andere die Membran zwischen seinen Fingern rieb. Die feine Haut war stabiler, als sie schien. Immerhin hatte der Sturz in den Baum Jene nicht gänzlich zerfetzt. Als der andere verkündete er wolle das paar Gliedmaßen von Yueil haben, entfloh ihm ein erschrockener Stoß. Es wäre wie Beine abzuhacken?!
      Kleinere Stücke wuchsen nach, aber die ganzen Schwingen…?
      Ein Gefühl der Angst nahm ihn ein. Yueil krampfte.
      Alles hier… Alles hier?!
      Ihm stiegen Tränen in die Augen. Ein Fall hinab in die Tiefe, Tage in einer fremden Umgebung… Er…
      Er biss die Zähne zusammen. Sein Blick huschte zu dem Tier, welches im Abseits seine Schnauze in den dreck wühlte. Dieses hatte Klauen, der andere war nur kräftig. Yueil legte die Ohren an und öffnete den Mund. Ihm entfloh ein heller Schrei, als der andere an seiner Schwinge zog. Es knackte leise unter der Stimme des Taura Alta hinweg. Der Kumpane der Ziege ging wimmernd zu Boden. Yueil keuchte zwischen seinen Zähnen her. „ Sie sterben!“, fauchte er hoch. „ Wenn du sie weiter so grob anpackst, kommt die Farbe nicht wieder!“ Der Schrei hatte auch den Griff gelockert, sodass er sich hate loswinden können. Er hielt dem anderen das Stück unter die Nase, welches er beim Fall verloren hatte. Die Ränder waren weiß geworden und zogen sich den Teil des Flügels hoch. „ Da! Das passiert dann!“ Er legte einen Finger darauf. Wie Staub fiel das weiße ab…

    • Der Ziegenmann zuckte, als das Wesen laut und hell aufschrie und die Vögel auch in den weiter weg gelegenen Baumkronen aufscheuchte. Was für ein Trampel! Wo kam er nur her, dass er so wenig Gefühl für seine Umgebung hatte? Wie hatte er überhaupt überleben können, ganz alleine, wo er alles in seiner Umgebung anzuziehen schien? Der Ziegenmann selbst hatte ihn ja gefunden, nachdem er so achtlos seine Blutspur hinterlassen hatte und dann auch noch diesen Fetzen im Baum, einen Teil seines abgerissenen Flügels. Aber jetzt musste er sich selbst der Gefahr gegenüber sehen, die diese Unachtsamkeit mit sich brachte.
      Sein Kopf sprang zur Seite, mit einem Mal aufmerksam gegenüber ihrer unmittelbaren Umgebung und darüber, dass auch niemand ungewolltes diesen Schrei gehört haben mochte. So kam es, dass das Wesen sich unter seinem Griff befreite; gerade so weit, um ihm seinen Verfall zu präsentieren. Jetzt war die Stimmung des Ziegenmannes deutlich ernüchtert und er zog seine Lippen zurück, was fast so aussehen mochte wie die knurrende Grimasse seines vierbeinigen Begleiters.
      "Ruhig! Bist du wahnsinnig? Hier gibt es noch mehr Wölfe in der Nähe, willst du sie alle auf uns aufmerksam machen?"
      Seine Hand schoss wieder nach vorne und dieses Mal packte er das dünne Handgelenk des Flügelmannes, bevor er ihn mit sich nach oben riss. Erstaunlicherweise war er ein Fliegengewicht, vermutlich kaum schwerer als der Wolf selbst und so hätte er ihn beinahe in die Luft gehoben, wenn er sich nicht in letzter Sekunde darauf beschränkt hätte, ihn nur gepackt zu halten. Was für ein Hareaca war er, dass er so leicht war?
      "Du wirst jetzt keinen Ton mehr von dir geben, hast du mich verstanden? Wenn du möchtest, dass ich dir nicht noch viel mehr abschneide als deine hässlichen Flügel, wirst du so still sein wie der Wind einer Wiese, verstanden?"
      Alle vorgetäuschte Freundlichkeit und Heiterkeit war jetzt definitiv verschwunden; dieser Mann war zornig, wütend darüber, dass sein so leichter Fang sich als völliger Dummkopf entpuppte. Wenn diese Flügel nicht bald ihre Farbe zurück bekommen würden, würde er erst recht wütend werden.
      "Komm jetzt. Kein Ton mehr."
      Und er begann, den Schmetterlingsmann mit sich zu ziehen, nur immer weiter ins Dickicht hinein, durch Gestrüpp und Geäst, über verwurzelten, hügeligen Boden hinweg, den seine großen Hufe ohne Schwierigkeiten überquerten. Er achtete dabei auch nicht darauf, ob sein unfreiwilliger Begleiter sich auch an das Tempo halten konnte, er zog ihn nur einfach mit sich, einen eisernen Griff um sein Handgelenk gelegt. Der Wolf folgte dicht hinter ihnen, Schwanz und Kopf hoch erhoben, fröhlicher Dinge, so wie es schien.
      Sie marschierten so lange und in solch verschlungenen Pfaden durch das Unterholz, dass es unmöglich gewesen wäre, allein durch die Erinnerung wieder zurückzukommen, bevor sich die Bäume etwas lichteten und den Blick auf ein Lager freigaben: Ein hölzerner Tisch mit hölzernen Stühlen, ein Lagerfeuer mit Kochtopf, ein kleiner Bau aus weiteren Holzbrettern, dessen Innerstes mit Fellhäuten ausgestattet war. Jetzt hatte der Wind auch wieder aufgefrischt und brachte den ersten, zögerlichen Anfang des Regens mit sich.
      Der Ziegenmann gab ein ungemütliches Brummen von sich, dann schleifte er seinen Fund über die kleine Richtung hinweg, schubste ihn gegen einen dickeren Stamm und fuhr ihn barsch mit "Bleib" an, bevor er zu der winzigen Hütte ging und sich hineinduckte. Keine fünf Sekunden später kam er mit einem Seil wieder heraus und stapfte zurück zu dem Flügelmann, um ihm erst die Handgelenke zu verschüren und das andere Ende dann um einen höher gelegenen Ast zu binden. Das Wesen musste die Arme über den Kopf strecken, damit er ihn festknoten konnte, bevor er vor ihm zum Stehen kam.
      "Das ist schon besser. Und jetzt wirst du mir sagen, wie die Farbe in deinen Flügeln zurückkommen wird."

      An einem anderen Ort blieb Ria unvermittelt stehen. Sie war ein Stück vor Jiemxen hergelaufen, weil er es gerne hatte, wenn er seine Schwester im Blick behalten konnte, und für einen Moment dachte er, sie wollte nur darauf aufmerksam machen, dass es langsam anfing zu regnen. Aber ihre Ohren waren nach vorne gerichtet und ganz steif und zuckten nicht herum, so wie sie es getan hätten, wenn sie ihrer Umgebung gelauscht hätte. Nein, Ria hatte etwas entdeckt und im Gegenzug zuckten Jiemxens Ohren.
      Sie wies ihm mit einer Bewegung ihres Schwanzes an ihr zu folgen und ging dann ein bisschen versetzt zu ihrem eigentlichen Pfad, bis sie schließlich vor einem Baum zum Stehen kam. Sie musste gar nicht erst etwas sagen, Jiemxen war schon von weitem die abgebrochenen Äste, die heruntergefallenen Blätter und vor allem das Blut aufgefallen. Aber als er sich dem Stamm näherte, sah sie zu ihm und hob die Hand.
      "Nein. Da, schau mal."
      Und ihrer Geste folgend entdeckte auch er was aussah wie ein grauer Streifen Stoff, direkt oben in der Baumkrone.
      Bevor er es aber hätte kommentieren können, sprang Ria bereits nach oben, bekam den ersten Ast zu greifen und zog sich daran weiter nach oben. Jiemxen legte die Ohren halb an und sah sich dann um; eigentlich hatte er nicht vorgehabt, dass sie hier eine Pause einrichteten. Der Wilderer mit seinen Fallen, der hier irgendwo wohnen musste, machte ihn ganz nervös.
      "Ri."
      Von oben kam das Rascheln von Blättern hinab und dann war es still. Seine Schwester hatte das merkwürdige Etwas erreicht und hielt es fasziniert zwischen ihren Händen.
      "Komm runter, Ri. Lass uns weitergehen."
      Sie gehorchte, aber nur, um Jiemxen das Ding vors Gesicht zu halten, kaum als sie den Waldboden erreicht hatte.
      "Fühl mal, das ist ganz weich."
      Skeptisch betrachtete er es, befühlte es und tatsächlich, es war unnatürlich weich und schien irgendwie zerbrechlich. Es war kein normaler Stoff - vielleicht Haut? Aber es gab kein Lebewesen, das eine solche dünne Haut hatte.
      "Was soll das sein?"
      "Weiß ich nicht. Vielleicht ein Vogel?"
      "Vögel haben Federn."
      "Aber auch eine Haut."
      "Aber keine solche Haut."
      "Vielleicht ist es ein exotischer Vogel."
      Jiemxen brummte, dann sah er den Baum wieder nach oben, folgte der Blutspur. Es war unübersehbar, dass etwas dort herabgefallen, auf dem Boden gelandet war und von dort aus dann weitergegangen war - weiter in die Richtung, in der die Blätter auf dem Boden platt gedrückt und die Ästchen der umstehenden Sträucher abgebrochen waren. Aber was? Ein Vogel fiel nicht herab und ging dann zu Fuß weiter.
      Ria besah sich weiterhin den merkwürdigen Fetzen, während Jiemxen um den Baum schlich und die Spuren untersuchte, die dort so arglos hinterlassen worden waren. Ihm fiel kein einziges Tier ein, das eine derartige Spur hinterlassen hätte und das war ihm gar nicht recht. Es stimmte ihn nervös, denn aus Unbekanntem konnten sich unerwartete Dinge ergeben.
      "Es ist jedenfalls verletzt. Und die Spur ist auch nicht alt, allerhöchstens einen Tag, vielleicht sogar weniger."
      Als wären seine Worte bestätigt worden, stoben in der Ferne in dem Moment plötzlich Vögel aus dem Wald auf, zu viele, als dass es ein Zufall hätte sein können. Auch Ria sah auf und grinste triumphierend.
      "Da vorne wird es wohl sein. Ohh, können wir? Können wir es finden? Ich will wissen, was es ist!"
      Rias Augen leuchteten, als sie zu Jiemxen sah. Und der wollte wirklich, wirklich weiterziehen, weg von diesem Fallensteller, der dieses Gebiet zu seinem erklärt zu haben schien, aber er hatte Hunger und Ria musste es ähnlich gehen. Außerdem wäre es gelogen, wenn er nicht auch ein bisschen neugierig gewesen wäre, welches Tier eine derartige Spur hinterließ.
      "Nagut. Aber wenn es zu lange dauert, brechen wir ab. Ich möchte trotzdem nicht in diesen Gegenden sein."
      Ria grinste ihn breit an, dann stopfte sie den Fetzen in ihren Beutel und kurz darauf entledigten sich beide ihrer Last, um sie neben diesem Baum zu verscharren und nur mit ihren Waffen bewaffnet weiterzuziehen. Auf eine neue Jagd.
    • Der helle Schrei des Taura Alta schien dem Mann nicht zu gefallen, welcher ihn gepackt hatte. Das klare Geräusch scheuchte die Lebewesen der Umgebung in die Höhe und zog mit Sicherheit unerwartete Aufmerksamkeit auf die beiden seltsamen Gesellen. Taifanya’de Yueil war es egal, ebenso wie es diesem Barbaren egal war ihn derart angefasst zu haben. Ein Gefühl von Ekel mischte sich der Angst bei, welche sein Haar aufgestellt hatte. Er keuchte. Die Kraft hatte ihn längst verlassen und sich in diesem Moment als wertlos für den anderen aufzuzeigen, ließ dessen Laune in unbekannte Tiefen sinken.
      Er fuhr den Taura Alta an, mahnte zur Ruhe und sprach von anderen Raubtieren. Wölfe…? Was soll das sein?! Yueils Blick blieb starr und fest. Auch als er an dem verletzten Arm in die Höhe gezogen wurde. Sein Gewicht war nichts gegen diesen Klotz von Muskeln. Er wog das dreifache oder sogar vierfache von dem Gefallenen. Yueil kam auf seine zitterigen Beine. Weder antwortete er, noch reagierte er fortan auf irgendeine der Anweisungen.
      Mit einem festen Ruck zog der Wilde ihn die Böschung hinauf im stetigen Begleiter von diesem Wolf. Der goldene Blick betrachtete das Spiel der Muskeln des anderen. Kein Wesen seines Volkes erreichte einen solchen Tonus, selbst jene Hepoaltares, die das Training zu sehr liebten. Sie blieben stets dem Wind gleich; schlank und Licht in ihrer Gestalt.
      Das Gras wurde dichter und höher um sie herum. Sträucher mischten sich dazwischen und neue Düfte erreichten die Nase des Taura Alta. Eine wilde Mischung aus ihm unbekannten. Alles hier war unbekannt…
      Die Sträucher wurden dichter, Bäume säumten sich dazwischen und sie betraten den tiefen Wald, welchen Yueil am ersten Tag gemieden hatte. Eine unmögliche Gegend für einen seiner Klasse. Aber sicherlich auch faszinierend, wäre er nicht mit anderen Dingen in seinem Kopf beschäftigt. Tarres kannte solch ein Wachstum der Natur nicht. Die Pflanzen hier kamen zwar in vielerlei Form und Farbe, aber sie säumten sich stets am Boden und an den Hängen der Felsen. Hier ging alles gen Himmel. Ganz als würden sie sich nach der Sonne sehnen, die auch Yueil vermisste.
      „ Bleib!“
      Er schlug mit dem Gesicht gegen einen dickeren Baum. Sein förmlich ausgerenkter Arm und der müde andere vermochten nicht den Fall zu halten. Er stand da. Seine Ohren am Klingeln… Die Sinne gänzlich überladen und trotzdem klaren Verstandes. Er dachte nicht viel, nur pragmatisch in diesem Moment. Die Fesseln zogen seine Arme in die Höhe.
      Nach vollbrachter Tat blickte der andere stolz drein und nickte lediglich kurz. Ganz als wäre es sein Lebenswerk einen anderen zu fesseln…
      Yueil sah ihn an. Insgeheim hängte er sich in das Seil, welches ohne Probleme sein Gewicht trug. Gut… dachte er sich still. „ Weiß ich nicht…“, sagte er dann. Er log nicht. Seine Schwingen waren niemals in einen solch horrenden Zustand gekommen, wie den, in welchem sie sich gerade befanden. Fruchtbar!
      „ Mit etwas Glück am nächsten morgen…“, er hustete leicht. Oder sie fallen ab… dichtete er in Gedanken dazu. Der Ziegenmann begann etwas unverständliches zu fluchen. Doch letztlich musste er einsehen, dass nur das warten auf den Morgen blieb. Zumindest für ihn. Der Wolf ließ er da, er selbst quetschte sich in die Hütte zurück und tauchte nicht wieder auf.
      Yueil wartete. Doch nichts geschah. Der Ziegenmann blieb fern und der Wolf legte sich unweit von ihm in das Gras.
      Ein gutes Raubtier versteckt seine Krallen… er dachte an den Spruch seines Partners, als Jene die Vögel beobachteten, welche einander jagten. Einige von ihnen taten freundlich und packten dann zu, wenn die Beute sich in Sicherheit wog.
      Es war dem Ziegenmann nicht eingefallen sich näher mit dem Körperbau des Taura Alta zu beschäftigen.
      Ein weiteres Mal bis Yueil die Zähne zusammen. Er hob die Schwingen an, legte den abstehenden Daumen jener mit um das Seil. Die Kralle an diesem war leider nicht scharf genug, um jenes zu lösen. Doch die Kraft des zweiten paar Armes genügte schon für den Moment. Mit wenig Schwung stieß er sich vom Boden ab, sodass nur das Seil sein Gewicht hielt. Tatsächlich war es stark genug dafür. Vermutlich gemacht um wesentlich stärkeres zu halten. Yueils Gewand rutsche herab und offenbarte das, was er versteckt hatte. Die Klauen an seinen Füßen glichen eher denen eines Raubtieres. Lange scharfe Krallen säumten die abgespreizten Zehen. Perfekt zum Greifen und schneiden…
      Mit dem einen packte er den Ast, nur damit der zweite das Seil durchschnitt. Dank dem Halt fiel er nicht herab und zog ungewollte Aufmerksamkeit auf sich. Sein Blick wanderte zu dem Hund, welcher im Gras lag. Die Hände waren noch immer zusammengebunden…
      Was jetzt?
      Yueil versuchte irgendwie den knoten an seiner Hand zu lösen, doch die aktuelle Position erlaubte ihm dies nicht.
      Verdammt!
      Es blieb nur eines. Prompt lies er von dem Ast ab und ließ sich fallen. Das Geräusch alarmierte den Wolf. Jener hob den Kopf und blickte in die Richtung ihres Gastes, bevor er zu bellen und Knurren begann. Es ließ Yueil genügend Zeit auch den Rest des Seiles seiner Kralle zu opfern. Dann sprang er auf. Der Hund war gekommen und auch die Geräusche des Ziegenmannes waren ertönt.
      Hoch…
      Er sah ein Baum an, dann den Wolf, welcher näher gekommen war. Yueil zuckte gegen die mächtige Pflanze in seinen Rücken. Das einzige, was ihm einfiel, wäre erneut zu schreien. Das Tied hatte beim ersten Mal schon nicht gut auf den Ton reagiert. Er schloss die Augen, holte Luft und tat es.
      All die Schmerzen, all das leid und die Verwirrung in sich. Die ganze Verzweiflung in einem Schrei. Jener übertönte das winseln des Wolfes und für einen Moment auch den Ärger der Ziege, dessen Ruhemahnung gebrochen war.
      Ohne einen weiteren Blick auf das Geschehen zu werfen, packte er einen tiefen Ast und begann zu klettern. Der Himmel schien seine einzige Chance…

    • Ria kauerte auf dem Boden, Jiemxen stand hinter ihr und besah sich ihre nähere Umgebung. Sie hatte einen Finger in die Mulde einer Spur auf dem Boden gesteckt und erfühlte jetzt, wie festgetreten die Erde war und entsprechend wie schwer das Tier gewesen sein mochte.
      "Das ist zu leicht für einen Hirsch. Aber die Größe der Hufte passt - aber die Spuren sind zu unregelmäßig für vier Beine. Vielleicht sind es zwei?"
      "Zwei Beine? Ein zweibeiniger Hirsch?"
      Ria zuckte mit den Schultern.
      "Ein Hareaca vielleicht."
      Der Wilderer, schoss es Jiemxen gleich durch den Kopf und seine Ohren schnellten nach hinten. Es wäre nicht allzu außergewöhnlich, wenn ein Hareaca in diesen Teilen des Landes Hufe besaß, aber ganz anscheinend war er auf das getroffen, was auch immer durch den Baum gefallen war. Dann kamen sie also schon zu spät? Jiemxens Hunger meldete sich bei dem Gedanken und ganz anscheinend musste es Ria auch so gehen, denn seine Schwester imitierte die Mimik seiner halb angelegten Ohren. Sie stand auf und peitschte mit dem Schwanz durch die Luft.
      "Wir können ja der Spur folgen. Und wenn er das Ding hat - vielleicht hat er ja noch mehr zu essen?"
      "Und wie wollen wir es ihm abkaufen? Wir werden kaum etwas haben, was er nicht schon hat. Und Wilderer haben in der Regel keinen Bedarf an Blumen."
      Wieder ein Peitschen mit ihrem Schwanz.
      "Wir können es ihm stehlen."
      "Du willst nicht wirklich einen Wilderer ausrauben."
      "Doch, eigentlich schon. Genau das will ich."
      "Denselben Kerl, der hier alle seine Fallen verteilt hat? Den willst du ausrauben?"
      "Jap."
      "Und der hier vermutlich weiß, wo alles ist? Wo alle Fallen sind, in die er uns scheuchen kann?"
      "Ja."
      "Und der den lieben langen Tag nichts anderes macht als zu jagen? Der uns ganz zum Spaß jagen würde, nur weil er gerade Lust dazu hat?"
      "Genau den mein ich."
      Jetzt legte Jiemxen die Ohren ganz an.
      "Wir folgen der Spur. Wenn sie zu dem Wilderer führt, dann werden wir wieder gehen und uns was anderes suchen. Dann gehen wir weiter und suchen uns ein paar Pilze zusammen."
      "... Nagut. Dann komm aber auch, wenn wir schnell genug sind, haben wir vielleicht ein Abendessen."
      Rias Miene hellte sich für einen Moment auf, dann fügte sie sich ihrem unausweichlichen Schicksal und nahm die Fährte auf.
      Sie schlichen tiefer ins Unterholz hinein, nahezu geräuschlos in ihren Bewegungen, immer einen Blick auf den Boden und in den Himmel gerichtet. Aber der Wilderer musste schon gewusst haben, wo seine Fallen aufgestellt waren, und daher waren sie ungestört, wenn sie nur den Hufspuren folgten.
      Zumindest bis ein gellender, lauter Schrei die Luft zerschnitt.
      Beide Hareaca erfroren in ihren Bewegungen, die Köpfe in den Nacken geworfen, die Ohren fest angelegt, das Fell ihrer Schwänze in instinktivem Grauen aufgeplustert. Das war kein Schrei eines Tieres gewesen, oder zumindest keines, das ihnen bekannt gewesen wäre. Das war ein hareacischer Schrei und er war so durchtrieben von Entsetzen und Angst, dass es ihnen bis in die Knochen fuhr.
      Panik machte sich in Jiemxen breit, ganz grundlegende, tierische Panik. Kämpfen oder fliehen, seine Muskeln brauchten eine solche Antwort, als sie sich anspannten, als er sich auf den Boden duckte, bereit dazu, entweder sein Messer zu benutzen oder in den nächsten Baum zu springen. Wer hatte so geschrien, etwa der Wilderer? Und warum? Was konnte es geben, das einen Hareaca einen derartigen Schrei entfahren ließ?
      Ein Blick zu seiner Schwester zeigte ihm, dass sie dieselben Gedanken durchmachte. Ihre Gestalt kauerte tief auf dem Boden, ihr aufgeplusterter Schwanz stach hinter ihr in die Höhe wie ein Schutzschild, das sie vor Projektilen zu schützen versuchte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Blick zuckte zwischen den Bäumen hindurch auf der Suche nach Anhaltspunkten. Der Schrei war von weiter östlich gekommen als der Pfad führte. Vermutlich wären sie schneller, wenn sie geradeaus durch das Dickicht pflügten, aber nachdem der Wilderer nicht so gegangen war, war es unverkennbar, dass dort Fallen auf sie warteten. Sie müssten schon den Umweg nehmen.
      Beide Geschwister kauerten und starrten, in Erwartung eines weiteren Geräuschs oder irgendetwas, das sie bei ihrer Entscheidung geholfen hätte, ob sie kämpfen oder fliehen sollten.

      Im Lager desselben Wilderers stieß eben jener einen erzürnten Ruf aus als Antwort auf den Schrei, den sein Fang losgelassen hatte. Hatte er ihm nicht ganz deutlich gesagt, bloß still zu sein? War er lebensmüde, dieser Schmetterlingsmann? Wollte er ihn wirklich so böse machen, dass er gar nicht erst bis zum Morgen wartete?
      Aber als der Ziegenmann den Blick hob, nachdem das Geräusch verebbt war, sah er gerade noch die letzten Fetzen dieses weißen Stoffes und wie er in der Baumkrone desselben Baumes verschwand.
      Jetzt packte ihn eindeutig der Zorn. Der Mann hatte es wirklich geschafft sich loszumachen und dachte jetzt, dass er ihm so einfach entkommen würde? In seinem eigenen Lager?
      "Komm sofort wieder runter!", polterte er, aber das war auch nur eine Warnung gewesen. So höflich war er schließlich noch, um Warnungen auszusprechen. Jetzt ging er aber auf den Baum zu, richtete sich seitlich aus - und donnerte seinen Huf gegen den Stamm. Der Baum wurde geschüttelt von der ungebändigten Kraft des tierischen Beins, das soeben recht anschaulich aufzeigte, was diese Auswüchse so besonders machte: Es steckte protzende Kraft in der gesamten Länge der Beine, zusätzlich zu den wuchtigen Hufen, die diese ganze Kraft entladen konnten. Ein Tritt von ihm entsprach der dreifachen Kraft eines gewöhnlichen Hareacas.
      Er trat noch einmal und wieder wurde der ganze Baum von der Wucht durchgeschüttelt. Die Blätter raschelten und irgendwo zwischen ihnen musste ein verzweifelter Flügelmann versuchen, sich festzuhalten.
      "Komm runter!!"

      Jiemxen huschte dicht über dem Waldboden hinweg, schnell genug, dass es sein Adrenalin besänftigte, aber noch immer langsam genug, um nach allen Fallen Ausschau zu halten. Diesmal war Ria direkt hinter ihm und folgte in seinen Spuren. Er hätte sie in einer solchen Lage nicht voran laufen lassen.
      Er hatte sich zu kämpfen entschieden. Er wollte sehen, was beim Wilderer vor sich ging, und vielleicht - vielleicht wären sie von Glück gesegnet und dem Wilderer war etwas zugestoßen. Es war kaum ein Geheimnis, dass Hareaca wie dieser irgendwo ihr ganzes Essen verstaut hatten und Jiemxen lief förmlich das Wasser im Mund zusammen.
      Das war das Risiko wert, ganz sicher. Wenn sie hier genug zu Essen fanden, dann könnten sie viel schneller vorankommen, sie könnten sich die nächsten Tage die Jagd sparen und einfach nur wandern. Sie wären viel schneller dort, wo es ein geschütztes Zuhause gab.
      Aber zuerst der Wilderer. Jiemxen rannte und sprang schließlich in die Bäume hinauf, als er die ersten Anzeichen eines Lagers erkennen konnte. Dort kletterte er weiter, bis er die Lichtung irgendwann zwischen den Blättern hindurch sehen konnte.
      Der Wilderer war ein hochgewachsener, strammer Hareaca mit ziegenartigen Auswüchsen. Es war gleich ersichtlich, dass er ein Wilderer war: Die muskelbepackten Arme, der kräftige Oberkörper zeugten von harter Arbeit und unterschieden sich deutlich von den geschmeidigen Muskeln, die das Geschwisterpaar aufzuweisen hatte und die größtenteils von ihrer Wendigkeit kamen. Die Geschwister waren Füchse, aber dieser Wilderer war ein Stier.
      Und er trat mit aller Wucht gegen den Stamm eines Baumes.
      Jiemxen runzelte die Stirn, verblieb aber, wo er war, im Schutz der Äste, wo er einen Überblick hatte. Da war auch ein Wolf, ein struppiges, kräftiges Tier, das um denselben Baum herumschlich und immerzu nach oben starrte, als warte es darauf, dass etwas herunterfallen würde. Und ganz anscheinend sollte es das auch, denn der Wilderer brüllte wieder:
      "Komm sofort runter oder ich werde dich bei lebendigem Leib häuten!!"
      Hinter Jiemxen raschelte es und Ria tauchte im Baum auf, aber der Wilderer und sein Begleiter waren zu abgelenkt, um ihre Geräusche zu hören. Gemeinsam beobachteten sie, unschlüssig über die Situation, was dort unten vor sich ging.
    • „ Du bist wie ein Hanglar…“, rief sein Partner ihm nach, seinem Ruf folgte ein Keuchen. Er hatte sichtlich Schwierigkeiten dem Jungen Taura Alta mit den goldenen Augen zu folgen, doch ihn mit einem solch primitiven Tier zu vergleichen ließ den Anderen in Empörung versinken. „ Ach ja?!“, rief er zurück. Der Goldene zückte seine Schwingen und stieß sich kräftig von dem Hang ab in die aufkommenden Winde. So vermochten die Alta‘as die Hänge entlang zu kommen. Eine Mischung aus nutzen ihrer Gliedmaßen für ihren vorgesehenen Zweck. Den Geflügelten fiel das klettern leichter, als jenen ohne. So wie sein Partner einer war. Dessen Blick bewunderte das Lichtspiel der feinen Membran zwischen den dunklen Finger. Er folgte dem ungewöhnlichen Schatten, welche Taifanya’de Yueil an die Felswand warf. Ihm entfloh ein glückliches Lachen. Es war immer wieder ein anderer Blick den Goldenen fliegen zu sehen. Yueil hatte ein ungewöhnliches Talent dafür entwickelt sich an einer Stelle in der Luft zu halten. Ein ganz simpler Grund hatte dazu beigetragen. Der Goldene genoss es unheimlich den Blauen zu ärgern, während dieser wie ein Hanglar den Fels entlang kroch.
      „ Warte!“, rief er ihm nach. Dieses Mal war er voran geschossen. Hinauf in die Höhlen unter der Stadt, in welchen sie gern ihre Ruhe suchten. „ Du bist zu schnell!“
      Schneller!
      In diesem Moment machte er alles wie ein Hanglar. Mit einer ihm unbekannten Geschwindigkeit zog er sich selbst den Baum hoch, dessen unnatürliche Struktur es ihm nicht leichter machte sich zurechtzufinden. Zwischen den dicken Blättern fühlte er sich sicherer, als am Boden. Yueil keuchte. Sein Körper fest an den dünner werdenende Stamm gepresst und stark am zittern. Mit Händen und Füßen hielt er sich fest. Sein Blick huschte nach unten. Die Pupillen zu fast dünnen Schlitzen geworden. Ein solch schmales Fenster für all die Angst, die er angestaut hatte. Sein Atem ging schwer den wütenden Rufen seines Peinigers entgegen. Als dieser keine Reaktion aus dem Baum erhielt, begann er dagegen zu treten. Alles erschütterte sich. Auch durch den feinen Körper des Taura Alta.
      Er beschloss weiter zu klettern, so hoch wie es ging. Winde zogen durch das dichte Grün. Sie fingen das grausige Haar des Taura Alta auf.
      Wind?
      Er blickte in die Richtung, als welcher jener kam. Durch die Blätter vermochte er nicht zu sagen, ob jene stark genug war. Aber es wäre eine Option. Yueil sah an sich herab. Das Gewand war schwerer geworden, voll von Erde und Wasser. Seinen ehemaligen Glanz hatte der Stoff verloren. Eifrig zog er die äußerste Schicht von sich und hing sie in den Ast. Die äußerste Schicht legte nun auch seinen Schweif frei. Das Outfit war nie dafür gemacht geworden sich damit in die Lüfte zu schwingen. Sein Blick wurde enger.
      Der Rock muss gehen!
      Er zog auch diesen aus. Nun, in seinem Untergewand, sollte ihn ein Gefühl von Scham einnehmen. Doch er empfand nichts, als Frucht!
      „ Oh Sol Regem steh mir bei!“, flüsterte er in die Umarmung des Astes hinein, bevor er alles zusammen nahm und in die nächste starke Böe sprang. Er fiel ein Stück durch das laue Grün, bevor er die Schwingen von sich streckte. Seine Augen zusammen gekniffen, unsicher ob jenes funktionieren würde. Es gab sicherlich ein besseres Umfeld!
      Der abgerissene Teil der einen Schwinge sorgte für erwartetes Ungleichgewicht, weshalb er nach links abdrehte. Yueil segelte das kurze Stück über die Lichtung und fing sich im nächsten größeren Baum wieder ab. Er war nicht weit gekommen. Die Landung war nicht sanft. Das abgerissene Stück seiner Schwinge sorgte eigentlich dafür, dass er vermochte präzise zu steuern, wohin es gehen sollte. So schlug er mit dem Kopf erneut gegen den Ast.
      Yueil atmete ein wenig erleichtert auf. Sein Blick huschte hinab. Die Ziege sah er nicht, hörte nur seine Laute und empörte Stimme. In ihr lag ein Hauch von Überraschung mit.
      In die Enge getrieben, bleckte er die Zähne hinab. Ein leises Knurren drang aus seiner Kehle. Alles, was er hatte stand zu bergen ab - Pelz und Haare. Seine Schwingen ebenso. Die Membran war noch dunkler geworden. Gelbe und rote Adern zogen sich durch das dunkle Feld zwischen den dünnen Fingern. Yueils Augen tränten, während sein Blick sich von unten auf seinem Umgebung richtete. Er war höher als in den anderen Baum…
      Angriff?
      In dieser Position hatte er einen Vorteil. Von oben könnte die Ziege sich schlecht verteidigen. Aber Yueil würde Schweirigkeiten haben wieder hoch zu kommen.
      Flucht!
      Er streckte die Arme von sich und zog sich einmal mehr in die Höchsten des Baumes hinauf. Von hier aus suchte er das nächste Ziel. Doch der Wind ließ auf sich warten… so verblieb er im sicheren Schutz der Äste.

    • Der Wilderer wütete und trampelte gegen den Stamm und das Geschwisterpaar kauerte auf ihren Ästen auf der anderen Seite der Lichtung und beobachtete. Doch dann sprang etwas aus der Baumkrone heraus und warf sich in die Luft.
      Beide Hareaca erstarrten und beobachteten mit weit aufgerissenen Augen das Wesen, das in einer gänzlich widernatürlichen Anmut aus dem Geäst des Baumes stob und die zusammengeklappten Flügel auf seinem Rücken weiteten. Geschwungene, kompliziert wirkende Schwingen breiteten sich gegen den grauen Regenhimmel aus, schwarz auf grau, ein wenig durchsichtig, genug, um Licht hindurchzulassen. Das Wesen hatte einen hareacischen Körper, lange Gliedmaßen mit Krallen an ihren Enden, ein Schwanz ohne Fell, der hinter ihm durch die Luft zog, eine Haut, in einem dunkel werdenden Muster, das nicht von der Natur bestimmt zu sein schien. Es war völlig widernatürlich und gleichzeitig hätte es eine Laune der Natur sein können wie alle anderen Hareaca auch.
      Jiemxen dachte, dass es ein Gott sei.
      Hinter ihm zog Ria so scharf die Luft ein, dass es ein Geräusch machte, und schlug sich kurz darauf die Hand auf den Mund. Das Wesen glitt durch die Luft, eine lange Gestalt tänzerischer Anmut, bevor entweder der Wind zu stark wurde oder etwas anderes die Kontrolle von ihm nahm. Es schien zu straucheln, auch wenn man in der Luft doch wohl kaum straucheln konnte, und dann fegte es direkt in den nächsten Baum hinein, nicht unweit von ihrem eigenen Baum entfernt. Blätter raschelten, Zweige brachen hörbar und dann wurde es still - zumindest still genug, wenn man von dem noch immer wütenden Wilderer absehen wollte.
      Jiemxen presste die Ohren so fest an den Kopf, dass sie fast verschwanden. Sein Schweif war so sehr aufgeplustert und verkrampft, dass es sich anfühlte, als würden seine Haare sich jeden Moment selbst ausreißen. Eine Gänsehaut überzog ihn, so intensiv, dass es ihn fast schüttelte.
      Ein Gott, daran bestand kaum ein Zweifel. Das Wesen war dunkel und anmutig gewesen und es hatte die Lüfte beherrscht, das Gebiet der Götter, das war ganz klar, denn weshalb sonst hatten sie die Himmelsberge geschaffen. Sie hatten einen Gott gefunden.
      Und der Wilderer ganz offenbar auch, aber er schien das noch nicht begriffen zu haben. Er wütete noch immer dort unten und jetzt stampfte er über die Lichtung hinweg zu dem anderen Baum, um dort ganz offensichtlich mit seinen Drohungen wieder zu beginnen.
      Der Wilderer hatte nicht geschrien, es war der Gott gewesen. Der Gott war in Schwierigkeiten.
      Jiemxen drehte seinen Kopf zu Ria um, er musste sich vergewissern, dass seine Schwester noch hier war. Aber die Hareaca kauerte dicht hinter ihm, ähnlich an den Ast gepresst wie er selbst und ihre Augen waren vor Angst so weit aufgerissen, dass er sogar ihre Pupillen darin gut erkennen konnte. Sie starrte ihn an und in ihrem Gesicht konnte er die gleichen Gedanken ablesen, die er auch selbst hatte: Sie hatten einen Gott gefunden.
      Ein Ruf des Wilderers ließ sie beide wieder herumfahren. Ganz anscheinend hatte der neue Baum, in dem der Gott jetzt saß, ein Geräusch von sich gegeben, so als würde er gleich unter den vielen Tritten zu Boden gehen. Und ganz anscheinend spornte das den Wilderer nur noch mehr dazu an, sein ganzes Gewicht hineinzulegen.
      Jiemxen sah wieder zu seiner Schwester zurück und sein Schweif zuckte. Rias Schweif gab ihm seine Antwort, dann packte er sein Messer fest in der Hand und sprang von dem Ast herab.
      Das Gebüsch raschelte. Es war jetzt auch definitiv laut genug, um nicht nur den Wolf, sondern auch den Wilderer zu alarmieren. Beide fuhren herum und Jiemxen gab ihnen keine Zeit, darüber zu spekulieren, wer oder was sich zu ihrem Lager verirrt hatte. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, ein hoher, geschmeidiger Hareaca mit sehnigen Muskeln, das Messer in seiner Hand deutlich sichtbar, und trat aus dem Gebüsch heraus.
      Der Wolf knurrte augenblicklich. Er reagierte auf Jiemxens angelegte Ohren wie jedes Raubtier reagierte, wenn es der Täuschung unterlag, dass Jiemxen nicht mehr als ein Beutetier war. Nur der Wilderer, der hatte genug Verstand, um Jiemxens ganzen Körper zu sehen, um die fein definierten Muskeln zuzuordnen, die sich unter seiner Kleidung abzeichneten und die von Kampferfahrung zeugten. Er kniff die Augen zusammen und wandte sich ihm mit seinem ganzen Körper zu.
      "Wer bist du? Was hast du hier verloren, Fuchsmann?"
      Jiemxen stand aufrecht, erhobenen Hauptes, angelegten Ohren. Er war ein bisschen kleiner als der Wilderer, deswegen musste er diesen Defizit mit Selbstbewusstsein ausgleichen, auch wenn ihm eigentlich ängstlich zumute war. Sie hatten zu zweit keine Chance, gegen diesen Hareaca von einem Wilderer anzukommen und erst recht nicht gegen seinen wölfischen Begleiter. Aber da war ein Gott in den Bäumen und wenn der starb - bei allen lebenden Insekten, Jiemxen wollte nicht herausfinden was geschah, wenn ein Gott verendete und dazu noch von der Hand eines Hareaca. Er würde keinen von ihnen verschonen, er würde sie alle in Verderbnis stürzen.
      Also stand er aufrecht und stolz und ging einen langsamen, bedachten Schritt auf den Wilderer zu.
      "Weißt du etwa nicht, was du dort in deinen Bäumen hast?"
      Hinter Jiemxen raschelte es; Ria hatte soeben absichtlich an ein paar Ästen gerüttelt. Sie selbst war noch versteckt vom Blätterdach, aber dem Wilderer teilte sie damit mit, dass Jiemxen nicht alleine war, dass es hier mehr von seiner Art gab, eine unbekannte Menge sogar. Der Wilderer könnte das Risiko eingehen es mit ihm aufzunehmen, er lief dann aber die Gefahr, dass er deutlich in der Unterzahl sein könnte.
      Und diesen Schluss schien auch der Wilderer zu ziehen, denn sein Blick schoss in die Baumkrone hinauf und wieder zu Jiemxen hinab. Seine Augen verengten sich und er wandte sich ihm mit seinem vollen Körper zu.
      "Was geht es dich an? Das ist mein Lager und meine Beute. Ihr habt genau drei Sekunden von hier zu verschwinden, bevor ich euch bereuen lasse, hergekommen zu sein."
      "Das denke ich nicht."
      Jiemxen trat noch einen Schritt näher, hinter ihm raschelte es erneut, diesmal an einer leicht versetzten Stelle. Ria hatte sich bewegt und dieses Mal schüttelte sie nicht nur die Äste, sie warf auch etwas auf den Boden hinab, damit die Sträucher und das Gebüsch ein Geräusch von sich gaben. Der Wilderer ließ sich, wieder, von beidem ablenken, eine Unsicherheit, die er nicht vertuschen konnte. Der Wolf knurrte.
      "Deine "Beute" gehört zu uns. Du wirst sie freilassen."
      "Ach. Werde ich das? Und was, wenn nicht?"
      Jiemxen kam noch einen Schritt näher. Er hatte Angst, aber seine Stimme war davon unberührt.
      "Wenn nicht, bist du eigens verantwortlich für das Unglück, das du über dich selbst gebracht hast."
      Und er hob sein Messer an.

      In den Bäumen bewegte sich Ria, nach ihrem letzten Geraschel, ganz gezielt auf den Baum des Gottes zu. Diesmal war sie so leise, wie sie es nur konnte, aber selbst, wenn sie Geräusche gemacht hätte, wäre es vermutlich zum Vorteil für ihren Bruder gewesen. Ihr Herz pochte in ihrer Brust, so laut, dass sie glaubte, nichts anderes hören zu können.
      Sie sah ihn von weitem, den Gott, der in der Baumkrone viel höher als sie saß und sich mit den Ästen verheddert zu haben schien. Seine dunkle Haut war schwierig zu erkennen in dem allgemein wenigen Licht, das von dem wolkigen Himmel kam. Ria duckte sich auf ihren Ast und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu ihm empor.
      "En... Entschuldigung...!"
      Der Gott sah sie. Er sah sie und Ria kauerte sich vor Angst noch mehr auf dem Ast zusammen. Ihr aufgeplusterter Schwanz lief ihr den Rücken hinauf nach oben.
      "Wir... Ich... Braucht Ihr Hilfe? Ich kann Euch helfen, wenn Ihr, wenn Ihr unser Leben verschont...! Okay? Okay...?"
    • Obwohl der Baum ihn in seinem Schutz umzingelte, erkannte Taifanya‘de Yueil das Gespiel der seltsamen Kreaturen auf dem Boden. Sanft wog der Wind die Blätter um ihn herum. In ihrem Rauschen glaubte er die Töne der Windspiele zu hören, welche die Straßen seiner Heimat säumten. Eine zwarte Melodie, welche ihn Heim rief…
      Er versank in diesen Geräuschen, flehte seinen Gott einmal mehr an.
      Steh mir bei, Sol Regem.
      Jeder gezerrte Muskel in seinem Körper stand alarmiert dar. In dieser Situation Ruhe zu finden, war unmöglich. Der Ziegenmann rief wieder in die Bäume hoch, ohne Yueil sehen zu können. Sein struppiger Gefährte bellte und knurrte ebenfalls die entwischte Beute an. Fast mehr erzürnt als sein Besitzer darüber, dass jener entkommen war. Die Lungen des Taura Alta brannten. Sein Atem kam stoßweisen hervor, doch mehr als einen zischenden Ton brachte er nicht hervor. Die Stimme war fort, einen weiteren Schrei würde er nicht über die Lippen bekommen.
      Auf einmal wurde es leise. Die Melodie des Waldes mischte sich nicht länger mit den wütenden Schreien gen Himmel. Sie richteten sich auf etwas am Boden. Eindringlich sah er herab.
      Noch einer?!
      Yueils Herz sackte, als die letzte Hoffnung dahin wich. Dem einen zu entkommen mochte er gerade vollbringen. Aber zwei Leute, die seine Flügel ausreißen wollten?
      Von dem Streit der beiden verstand er nicht alles. Der konstante Wind schluckte die Wörter und spuckte ihm lediglich Fetzen jener in die Ohren. Fast als würden sie in einer anderen Sprache sprechen. Er mischte auch die Geräusche auf, welche ihm seid dem Sturz begleiteten. Sich wiegendes Gras, rauschende Blötter und die Stimme so vieler Tiere.
      Ihm war warm. Das Herz raste und schien das Blut in seinen Adern förmlich zu erhitzen. Die Gedanken kreisten jedoch nicht. Ihm fiel kein Weg hinaus ein…
      „ Entschuldigung…!“
      Sein Blick raste Abwärts. Die goldenen Augen brannten unaufhaltsam die Angst und Verzweiflung in seinem Herzen auf. Sie glühten den Neuankömmling förmlich aus dem Schatten heraus an. Gepaart mit dem dünnen Licht, welches durch seine dunklen Flügel drang, ein fürchterlicher Anblick. Yueil zeigte seine Zähne und zog sein hängendes Bein auf ein Ast. Nicht dass dieses Wesen jenes Griff. Sie wirkte kleiner als die Ziege am Boden. Ihr schlanker Körper glich mehr der eines Taura Alta, wenn sie auch flauschiger war. Ihr Fell war der schlaggebende Punkt, der es unmöglich machte, dass sie zum Himmelsvolk gehörte. Jene trugen höchsten Haare am Kopf und in kleinen Stücken am Schweif wie Yueil selbst. Doch viel mehr schmückten Federn in allerlei Farben das Volk des Himmels.
      Yueil wurde ein seltsames Verhalten zu Teil. Sie machte sich klein, als ihre Blicke einander trafen. Ihr Haar stand ebenso zu bergen wie das eigene. Langsam ließ Yueil seinen Schweif hängen, bevor er sich herabbeugte.
      Hilfe… Leben verschonen…?
      Er blinzelte ein wenig beirrt. Die andere Kreatur, die gekommen war, sah ihr ähnlich und… Sein Blick verengte sich. Das stück, welches der Baum von seiner Schwinge gerissen hatte, sie trug es bei sich. Die einst helle Membran war auch hier dunkel geworden, trug schon weiße Stellen auf sich. Er streckte die Hand nach unten. „ Gib mir das!“, fauchte er ihr ins Gesicht.

    • Der Gott in den Bäumen war dunkel und verhängnisvoll, aber seine Augen waren die eines bernsteinfarbenen Feuers, das sich geradewegs in Rias Seele bohrte. Die Hareaca fürchtete sich so sehr, dass sie ihren Bruder beneidete, darum, dass er sich mit einem weltlichen Wesen herumschlagen durfte und nicht diesem Anblick ausgesetzt war, dieser Gottheit, die sich wohl noch nicht ganz dazu entschlossen hatte, ob sie Ria verschonen sollte oder nicht. Und was, wenn sie sich dagegen entschied? Wenn ihr Versuch, in die Dienste des Gottes zu treten, damit er erbarmen zeigen würde, fehl schlug? Was würde dann aus ihnen allen werden?
      Sie machte sich noch kleiner, als er sie so eindringlich anstarrte, und dann, als er so plötzlich zu ihr hinab fauchte, machte sie einen Satz und wäre fast vom Ast gefallen. Mit jetzt bebenden Fingern griff sie so schnell, wie es ihr nur möglich war, zu dem dunklen Fetzen Etwas, das wohl zu den Flügeln des Gottes gehören musste, und reichte es ihm so ungestüm, dass sie auch das beinahe fallen gelassen hätte. Aber der Gott schnappte es und so zuckte sie genauso schnell wieder zurück, bevor sie ihren Schweif schützend um ihren Körper schlang.
      "Verzeihung! Verzeiht mir! Ich wusste nicht - habt Erbarmen! Wir dachten nicht - wir wollten nicht - bitte verzeiht!"
      Jetzt war Ria den Tränen nahe. Sie hatte keine Ahnung, wie man mit einer Gottheit umzugehen hatte und Jiemxen war nicht hier, um die Sache zu regeln. Von unten hörte sie die knurrende Stimme des Ziegenmannes und während der Gott dem wenig Beachtung schenkte, konnte Ria doch das Gespräch im Detail mitverfolgen.
      "Wir wollten nicht - wir wollten nur helfen! Helfen! Aber - aber wenn Ihr unsere Dienste nicht benötigt, dann sagt es, wir werden weiterziehen, wir werden Euch nicht weiter behelligen, wir wollten uns nicht einmischen, wir haben nur - wir haben Euren Schrei gehört - er war doch von Euch, nicht wahr? - und wir dachten, also, wir wollten nicht, wir wollten sehen und, und Hilfe anbieten - wenn Ihr sie braucht!"
      Von unten konnte Ria Schritte vernehmen, zu schnelle Schritte. Jiemxen hatte angegriffen und wenn sie sich nicht jetzt entschieden, würde das alles umsonst sein.
      "Aber Ihr - Ihr solltet Euch entscheiden, weil, mein Bruder, er versucht sie wegzulocken, aber das ist noch immer ein Lager, er wird wiederkommen, der Wilderer, und Ihr solltet, also, ich dachte nur, Ihr wärt vielleicht woanders besser aufgehoben als hier, weil, hier sind Fallen und außerdem Wölfe und Wilderer, so wie er, und ich glaube, ich glaube sie erkennen nicht, was Ihr seid. Aber ich, ich kann Euch helfen zu entkommen, wirklich!"
    • Sie reichte ihm das Stück seiner Haut hoch. Es war fader und gräulicher als seine von Leben pulsierenden Schwingen. Jene rote und goldene Farbe in denen, welche der letzte Schrei zum umkehren zu sein schien. Ganz als wollte er sagen, er sei keine angenehme Beute. Noch einmal sah er in die grünen Augen unter sich. Sie standen voller Tränen, Furcht in sie geschrieben. In Yueils Eigenen lag neben der Angst eine Härte. Der Sturz von diesem Baum wäre nichts, als den, den er überlebt hatte… so könnte er denken.
      Doch er tat es nicht. Stattdessen inspirierte er vorsichtig die Membran, welche sie ihm gegeben hatte. Zu seinem Erstaunen war sie eben so sauber an der Schnittstelle, wie auch seine Schwinge es war. Um so besser. Wenn sie intakt war! Er sah sich um.
      Da!
      Yueil kletterte auf die Hinterläufe und streckte seine Hand nach einem filigranen Ast aus. Er trug einen Abzweig an sich, welcher ihm für den Job gut erschien. Ohne ein weiteres Wort von sich zu geben, begann er sein Werk der Erfindung. Nicht bewundernswert, hätte ein alter Meister ihm gesagt, aber der Situation entsprechend! Er nahm eine der dünnen Schnüre von seiner Kleidung, wickelte damit den Ast und die daran gebundene Haut zurück an das Ende seiner Schwinge. Der tote Teil müsste nur als Ausgleich Ruder dienen… Yueil bemerkte, dass das Stück sich nicht ganz benahm. So stach er den abstehenden Ast durch die tote Haut des Stückes und streckte die Schwingen ab.
      Sein Gehör galt dem sanften Wind, welcher sie umgab. Wie er mit den Blättern spielte, so spielte er auch mit den Schwingen. Sanfte Bewegungen gaben ihm genug Vertrauen in seine Konstruktion um einen gelenkten Flug aus dieser Spitze zu vollbringen!
      Er hörte dem endlosen gebrabbel der Fremden nicht zu. Je mehr Worte über ihren Mund kamen, desto weniger Angst hatte der Taura Alta vor ihr. Sie schien selbst von dieser zerfressen zu sein, obwohl sie einer in der Ecke sitzenden Kreatur gegenüber saß…
      Das kind sah ihn mit großen, traurigen Augen an. Die kalte Realisation, dass seine Eltern nicht wiederkommen würden, hatten es gerade heimgesucht… Angst. Yueil streckte seine Hand herab und erreichte die Wange der Fremden. Ein Hauch von Freundlichkeit kehrte in diesem Moment, in welchem er glaubte einen seiner Schützlinge unter sich zu haben, zurück. „ Hab keine Angst…“, sprach er. „ … Sol Regem wachendes Auge verlässt niemanden!“ Er nahm die Hand wieder hoch, sah in den Wind.
      Steh auch mir bei…
      Yueil trat auf den Ast, hinaus aus seinem guten Versteck und stürzte sich einmal mehr in die Griffe des Windes. Doch als er dieses Mal die Schwingen in jenen streckte, bemerkte er die erlangte Kontrolle. Bei weitem nicht in bester Leistung, aber genug!
      Trotz seines leichten Gewichtes fiel er. Von hinten an die Ziege heran, die seine Klauen schon einmal unterschätzt hatte. Den Hareaca, welcher so eben von einem Angriff dieses Klotzes weggeschleudert wurde, beachtete er nicht. Yueils Krallen legten sich unter den Hörnern um den Kopf und das Gesicht des Mannes. Er wusste nicht, wo er sie gerade hereinbohrte, nur das es weich war!
      Ein Flügelschlag. Gleichgewicht. Er streckte die Schwingen wieder in die Höhe, entließ den kräftigen Griff. Warmes Blut umspülte seine schwarzen Greiffüße, als er den wankenden Körper seines Gegners nutze, sich wieder in die Lüfte zu befördern. Doch er kam nicht so hoch, wie er erwartet hatte. Die Bäume schatteten den Wind zu sehr ab. Der Wolf, welcher den Angriff beobachtete hatte, kam kläffend an.
      Da oder da…
      Sein Blick huschte zwischen der Wahl seiner Ziele hin und her, während er den Höhepunkt seines letzten Sprunges erreichte.
      Da!
      Erneut landete er auf der Ziege. Alles passierte schnell genug, dass sie sich gerade umzudrehen vermochte und schützend den Arm halb vor das blutende Gesicht hob. Yueil packte jenen mit links und rechts fuhr vom Ansatz der Haare hinab zum Kinn. Zu lange brauchte er diesmal. Die Ziege packte sein Bein und schmetterte das leichte Gewicht unachtsam von sich. Einmal mehr fand er sich auf dem Boden. Überzogen von Blut und Gestank. Er keuchte auf. Die Ziege schrie und fluchte. Bei dem Fall brach der kleine Ast an seiner Schwinge. Doch die Zeit erneut die Höhe zusichern, hatte er nicht.
      Yueils helles Knurren verstummte nicht, als er sich wieder auf die Beine rappelte und sein Werk mit neutralem Ausdruck betrachtete.

    • Unbeweglich wie eine Statue kauerte Ria auf ihrem Ast und beobachtete, wie der Gott mit dem Fetzen herumhantierte. Sie wusste nicht, welches Ziel er verfolgte oder was er allgemein mit diesem Stück anfangen wollte, das so offensichtlich von seinen eigenen Schwingen gekommen war. Sie wusste aber, dass er auf keine ihrer Vorschläge reagierte und um ihn daher nicht noch mehr zu erzürnen, verfiel sie irgendwann in Schweigen.
      Er bastelte, die Blätter um ihn herum raschelten dabei leise. Von unten ertönten die Stimmen der beiden Männer und das Knurren des Wolfes. Mit jeder weiteren verstreichenden Sekunde war Ria sich deutlicher bewusst, dass auch das Geschwisterpaar zu nahe an dem Lager war und sich entfernen musste. Auch sie konnten nicht bleiben, denn sie glaubte nicht, dass Jiemxen es mit einem Wolf aufnehmen könnte, egal wie wendig und schnell er war. Es war nicht nur der Gott, den sie in Sicherheit zu bringen versuchten, sondern auch sich selbst.
      Allerdings wagte sie es auch nicht, ihn in seiner Arbeit zu unterbrechen. Und als er sich schließlich zu ihr hinab beugte und seine erstaunlich kalte Hand an ihre Wange legte, konnte sie sich vor Angst gar nicht mehr rühren.
      Sol Regem. War das sein Name? Aber was davon war der Name, Sol oder Regem? Immerhin machte es keinen Sinn, dass der Gott zwei Namen getragen hätte, was nützte einem das schon? Das wäre eine Verschwendung von Namen und so konnte Ria nur vermuten, dass es entweder Sol oder Regem war.
      Zum Nachfragen kam sie auch gar nicht erst, zu sehr versperrten sich ihre Glieder vor Furcht und zu schnell richtete sich der Gott wieder auf. Er war etwa so groß wie ihr Bruder, fiel ihr auf, nur irgendwie dünner, schlanker - anmutiger. Sein entblößter Körper wies Schrammen auf, dort, wo er vermutlich durch die Baumkrone gestürzt war, und dennoch war seine dunkler werdende Haut unheimlich. Ria starrte darauf und dann sprang der Gott vor ihren Augen von seinem Ast ab.

      Unten hatte sich Jiemxen soeben voller Inbrunst dem ungleichen Paar entgegen geworfen. Er hatte nicht ernsthaft vor zu kämpfen, schließlich war das wirklich eine aussichtslose Sache, aber er musste sie nur ein bisschen weiter bei Laune halten, bis Ria - und vielleicht auch der Gott - verschwunden wären. Sie mussten die Ablenkung nutzen, die Jiemxen bot, um das Weite zu suchen, und im Gegenzug musste Jiemxen lange genug dort verbringen, um ihnen genau das zu gewährleisten und hinterher immer noch selbst die Flucht ergreifen zu können.
      Also konzentrierte er sich hauptsächlich auf den Wilderer, der schließlich auch die Kontrolle über den Wolf hatte. Wie erwartet hetzte er sofort seinen tierischen Begleiter auf Jiemxen, nur, dass der Wolf vom Boden sprang, um seine Klauen und Fangzähne in den Hareaca zu schlagen. Der ließ sich aber zu Boden fallen und duckte sich mit einer Wendung seines Körpers und einem Wirbel seines Schweifes unter dem Wolf hinweg. Das Tier landete hinter ihm, Jiemxen kam hervorgeschossen und ließ sein Messer durch die Luft sausen. Leider schien aber diese Wendigkeit auch für den Wilderer nichts Neues zu sein und so war er auf Jiemxens schnelle Stiche vorbereitet. Für den einen sprang er zurück, den anderen ließ er an seinem Gürtel abprallen, der aus Eisen bestehen mochte. Jiemxen war gleich wieder abgelenkt, um dem Wolf ein weiteres Mal auszuweichen.
      "Hah! Soll das alles sein? Wo ist deine Meute, werden sie etwa zusehen, wie dich mein Junge zerfleischt?"
      Die Fangzähne des Wolfes schnappten in die Luft, dorthin, wo vor einem Moment noch Jiemxens Arm gewesen war, aber dafür drehte er sich in die falsche Richtung. Der Wilderer holte mit einem Bein aus und donnerte seinen Huf in Jiemxens Magengrube, so fest, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Schmerzen in Form eines Hufes entflammten in seinem Oberkörper, dann hatten seine Instinkte übernommen und er drehte sich in der Luft, gerade noch rechtzeitig, um zumindest halbwegs ausbalanciert auf beiden Beinen aufzukommen. Scharf sog er die Luft ein; der Tritt hatte gesessen.
      Noch bevor er sich aber darum hätte Gedanken machen können, ob der Wolf - oder auch der Ziegenmann - ihm nachsetzten, flog ein Schatten über ihn hinweg und der Gott - der Gott höchstpersönlich! - fiel aus dem Himmel und den Wilderer an. Seine Flügel waren ausgebreitet, groß und breit und mächtig, und seine Klauen wickelten sich ganz gezielt um das bullige Gesicht des Hareaca, der erschrocken nach den Beinen zu greifen versuchte. Überwältigt von dem Anblick der kämpfenden Gottheit, dem Jiemxen hier ausgesetzt war, fror er auf der Stelle und auch der Wolf verlor augenblicklich das Interesse an ihm, als sein Herrchen ein wutentbranntes - oder vielleicht auch schmerzerfülltes - Brüllen von sich gab. Er kam angelaufen und wollte sich jetzt selbst die Gottheit vornehmen, nur dass das Geschöpf in dem Moment von seinem Opfer abließ und wieder in die Lüfte aufsprang, die Schwingen noch immer in überirdischer Anmut hinter sich entfaltet. Es wirkte etwas holprig und strauchelnd, so wie er sich nicht bis ganz nach oben erheben zu können schien, so wie seine wedelnden Flügel es vermuten ließen, aber es war trotz allem ein beeindruckender Anblick. Der Wilderer hatte definitiv den Zorn des Gottes erweckt.
      Jiemxen blieb auch dann an Ort und Stelle, als das Geschöpf ein weiteres Mal nach unten stieß und den Wilderer mit einer nächsten Attacke malträtierte. Nur dieses Mal war der andere darauf vorbereitet, bekam sein Bein wieder zu fassen und schleuderte ihn von sich, weit genug, dass der Gott hart auf dem Boden aufkam. Da zuckte Jiemxen selbst, auch wenn er gar nicht betroffen war. Was wäre nur, wenn dieser Gott tatsächlich verletzt würde? Würde er dieses kleine Spielchen beenden und sie alle dem Untergang weihen? Würde er nicht davor unterscheiden, wer ihm die Verletzung zugefügt hatte und wer eigentlich nur helfen wollte?
      Jiemxen wollte es gar nicht erst darauf ankommen lassen. Er riss sich zusammen, blendete den Schmerz in seiner Magengegend aus und stürmte wieder nach vorne, in dem Moment, in dem der Ziegenmann zu abgelenkt von dem Gott war, um ihn zu beachten.
      Aber der Wolf war es nicht. Bevor der Hareaca auch nur nahe genug gekommen war, stand das Vieh plötzlich wieder vor ihm, gebleckte Zähne und ausgefahrene Krallen, und schoss selbst auf ihn zu. Wieder wich Jiemxen aus, nur dass seine Bewegungen dieses Mal etwas schwerfälliger ausfielen. Der Schmerz in seinem Bauch war trotz allem noch immer zutage und ließ ihn zucken, wann auch immer er den Oberkörper zu weit drehte.
      Dennoch versuchte er den Wolf zu überlisten. Er wich haarscharf seinen Zähnen aus und stieß zur gleichen Zeit mit dem Messer zu.
      Der Wilderer hatte derweil den Gott fixiert, das Gesicht blutüberströmt, die Augen wie zwei brennende Klüfte, die die Seele des Gottes aufzusaugen schienen. Es war leicht zu erkennen, dass der Ziegenmann wütend war, noch bevor er seine brüllende Stimme erhob.
      "Was fällt dir ein, du lästiges Vieh! Ich werde dir die Gliedmaßen einzeln herausreißen! Ich wäre ja noch freundlich mit deinen Flügeln umgegangen, aber damit ist definitiv Schluss!"
      Und er machte ein paar riesige, mit den Hufen donnernde Schritte auf den Gott zu.
      In diesem Moment kam Ria aus dem Gebüsch gefegt. Sie hielt nicht ganz direkt auf den Wilderer und den Gott zu, sondern viel eher in die Mitte des Geschehens, wo jeder sie sehen konnte - wo vor allem der Ziegenmann sie erblicken konnte. Dort stellte sie sich auf, mit einem Mal tapfer und unerschrocken angesichts der Tatsache, dass auch ihr Bruder wieder bei ihr war, und reckte dem Wilderer ihr eigenes Messer entgegen.
      "Einen Schritt weiter und wir werden diesen Kampf beenden!"
      Der Hareaca wandte seinen blutigen Kopf zu ihr herum. Hinter ihm mühte sich Jiemxen noch immer damit ab, den Wolf zu umgehen. Scharfe Klauen streiften ihn, als er die Entfernung falsch eingeschätzt hatte, und rissen ihm längs die Seite seines Beines auf. Jiemxen strauchelte für einen Moment, sein Schweif fuhr in die andere Richtung und dann hatte er sich wieder gefangen.
      "Ruf deinen Wolf zurück!"
      Rias Stimme war laut und kräftig, gebieterisch fast. Sie war nicht sehr groß, aber das tat in diesem Umfeld auch nichts zur Sache. Sie war bewaffnet und das war alles, auf was es für den Ziegenmann ankommen musste.
      Der starrte sie noch immer finster an. Sein Kopf blutete, stark, und seine Brust hob sich weit für einen tiefen Atemzug. Er starrte erst von Ria zu dem Gott, dann wieder zurück und wandte sich schließlich seinem Begleiter zu.
      "Junge! Fuß!"
      An dieser Stelle hätte es wohl beeindruckend sein können, dass der Wolf so gut trainiert war, dass er selbst in seinem Jagdtrieb noch auf sein Herrchen hörte, aber das war es für keinen der Anwesenden. Das Tier zog sich zu dem Wilderer zurück und Jiemxen richtete sein Messer jetzt wieder auf den Ziegenmann.
      Der sah mit grimmigem, furchteinflößenden Gesicht von einem zum anderen.
      "Ihr habt genau fünf Sekunden von hier zu verschwinden, jeder von euch. Ansonsten werden hier Köpfe rollen."
    • Hätte Taifanya’de Yueil sich selbst in dieser Situation gesehen, so wäre er erschrocken. Eine derart animalische Art behauptete sein Volk von sich selbst nicht zu besitzen. Und dennoch kontrollierten ihn diese Gefühle in jenem Moment. Leicht bekleidet saß er im Dreck. Die Zähne gebleckt, seine Klauen voller Blut. Sein Instinkt hatte ihm gesagt, dass sie zur Jagd taugten. Kräftige füße, die aus der Luft alles packen könnten.
      Würde man ihm später von seinem Verhalten berichten, so würde er vermutlich in Grund und Boden versinken. Ungläubig den eigenen Taten gegenüber. Sich mit zerfetzen Flügeln von einem Baum stürzen und seinen Peiniger angreifen…
      Keuchend hievte er sich hinauf. Seine Attacken hatte gesessen. Das ganze Blut machte es zwar schwer die genauen Wunden zuerkennen, aber der Ziegenmann würde mit ein paar hässlichen Narben verbleiben, dass wäre sicher! Sein Brüllen zitterte noch immer durch den schlanken Körper Yueils. Er streckte die Schwingen von sich. Ganz als wollte er sich so groß wie möglich machen. Es kam ihm nicht in den Sinn sich vor diesen Wesen als Gott zu inszenieren, auch wenn der Ziegenmann zum ersten Mal nicht direkt wieder Angriff. Er musste auch langsam festgestellt haben, dass er kein dummes Wesen vor sich hatte.
      Sie färben ihre Flügel bei Bedrohung rot. So wirken sie abschreckender auf ihren Angreifer… Die Worte seines Mentors halten durch seinen Kopf, als jener ihm die faszinierende Biologie der Käfer beibrachte. Wer hätte erwartet, dass auch die Taura Alta über diesen Mechanismus verfügten? Ihre gewöhnliche Umgebung verlangte für gewöhnlich nicht danach…
      Yueil entfloh ein Lachen, als der Ziegenmann ihm einmal näher kam. „ ‚Und sie werden zu Schlangen‘, sprach Sol Regem…“, brachte er leise über die Lippen, kaum verständlich. Er zuckte nicht, als die Ziege ihm entgegen kam und auch nicht, als die Fremde aus dem Baum zwischen sie sprang und ein Ende in den Wahnsinn brachte.
      Ihr Wortgefecht war allein durch ihren Größenunterschied eindrucksvoll...
      Der Himmel hatte aufgehört zu weinen. Sein dichter Behang tat sich leicht auf, doch nur dünne Strahlen drangen durch die Löcher in der Wolkendecke. Auf der weiten Ebene mit Sicherheit ein wünderschöner Anblick. Doch hier im Wald…?
      Der Taura Alta widmete sich diesem nicht. Er hielt die Schwingen hoch, als er sich in Bewegung setzte. Für den Zustand seines Körpers ein durchaus sicherer Gang. Seine brennenden Augen folgten für ein paar Sekunden den anwesenden Fremden. Bei Ria zu letzt blieb er hängen. Seine Lippen formten ein wortloses ‚ Danke, d… Sol Regem‘ bevor er jenen nach vorn richtete, auf das Loch in den Bäumen durch welches sie gekommen waren.