The World of Arith (Codren & Attari)

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    • Ein Moment der Stille trat ein, in dem lediglich der Gott alleine mit seinen Schwingen raschelte, die sich hinter ihm wie ein schlechtes Omen ausbreiteten. Jiemxen hatte noch gar nicht begriffen, wie der Wilderer bei dem Anblick dieser personifizierten Naturgewalt nicht schon längst auf die Knie gefallen war. Blut zeichnete sich auf den Krallen des Gottes ab, aber sein Gesicht war rein, von zarten Gesichtszügen durchzogen, engelsgleich fast. Das und seine schlanke, graziöse Figur stand in einem solch direkten Kontrast zu den grauen Flügeln, der dunklen Haut, den Krallen und dem Blut, dass sich Jiemxens Haare zu Berge stellten, so wie sie es auch bei Ria getan hatten. Er wollte diesen Gott nicht erzürnen, ganz sicher nicht, aber der Ziegenmann stellte sich vor ihm auf, als sei er nichts anderes als ein lästiges Insekt.
      Zumindest hatte dieser wohl eingesehen, dass er jetzt schon in der Unterzahl war, ganz zu schweigen von den möglichen weiteren Artgenossen, die hinter dem Gebüsch lauern mochten. Sie mussten es ausnutzen, solange es noch ungewiss war, wie viele von ihnen wirklich hier waren. Sobald er einen Verdacht schöpfte, würde er seinen Wolf auf sie hetzen.
      Der Gott regte sich zuerst und sein Blick fand Rias. Er formte Worte mit den Lippen, die sich gleich in ihr Gedächtnis einbrannten: Sol Regem. Sol Regem. Sol Regem. Sie musste es ihrem Bruder erzählen, sie mussten ihre nächsten Gebete, ihre nächsten Opfergaben an den Gott Sol Regem widmen, wenn sie eine Chance darauf haben wollten, dass er sie nicht doch noch heimsuchen würde. Für den Moment schien er sich aber allem Anschein nach damit zufrieden zu geben, den angebotenen Rückzug anzunehmen.
      Jiemxen trat einen einzelnen, langsamen Schritt zurück. Der Wolf beobachtete ihn, aber er regte sich nicht. Auch Ria ging rückwärts, ohne ihren Blick von der allgemeinen Situation zu wenden, so wie es ihre Eltern ihnen beigebracht hatten. Auch der Gott setzte sich in Bewegung, er würde wohl mit seinen Flügeln davonfliegen, oder er würde auch durchs Dickicht entkommen müssen. Vage kam Jiemxen in den Sinn, ihn vor den Fallen zu warnen, wenn er sie nicht selbst schon entdeckt hätte.
      Er erreichte den Rand des Gebüschs. Die Blätter raschelten, als er sich rückwärts durch sie hindurch schob. Der Ziegenmann beobachtete sie alle, aber er rührte sich nicht; seine Brust hob sich unter Anstrengung und er blinzelte, weil ihm das Blut in die Augen floss, aber er nicht die Hand zu seinem Gesicht heben wollte, um es wegzuwischen. Seine Augen waren dunkel und versprühten ein Feuer. Man legte sich nicht mit einem Wesen an, das sich inmitten eines von Wölfen und Bären heimgesuchten Gebiets niedergelassen hatte.
      Kaum war er außer Sichtweite, steckte Jiemxen schnell seine Waffe zurück unter seinen Gürtel und lief nach hinten vom Lager weg. In der Nähe konnte er Ria hören, die schnell zu ihm aufholte und dann genauso schnell weiterhuschte. Er folgte ihr, auf den Pfad bedacht, den sie bereits genommen hatten, um den Fallen auszuweichen, die hier überall waren. Hinter sich hörte er Geräusche und auch, wenn er damit bereits gerechnet hatte, verfiel er doch in Panik bei dem Gedanken, dass der Wolf ihnen nachjagen könnte.
      "Der Gott! Wo ist der Gott?"
    • Der ungewohnte Geruch drang einmal mehr in seine Nase ein. Tiefer als zuvor, waren doch all seine Sinne noch durch den Kampf aufgescheucht und er selbst in Alarm Bereitschaft. Es roch feucht, ein wenig gammelig. Die zahlreichen Töne waren nach seinem Schrei weniger geworden. Die Welt um ihn herum verstummt. Taifanya’de Yueil fand es befremdlich. Im Vergleich zu en ständig klingenden Straßen seiner Heimat, das rege treiben seiner Leute oder gar das Lachen der Kinder.
      Sein Körper bebte und zitterte. Jeder einzelne Schritt ließ eine Erschütterung durch seine Glieder fahren. Sollte das jetzt sein Leben sein? Yueil blieb stehen, sah auf und sich dann um. Das Grün schien ihm näher zukommen, ihn fressen zu wollen. Er zuckte zurück.
      Der Wald…
      Der Taura Alta fuhr herum, nahm erneut die Haltung, welche er gegenüber der Ziege hatte ein und zückte die Krallen. Bestimmt käme etwas, gleich. Irgendetwas wollte ihn holen, fressen und ihm die Glieder vom Leibe reißen.
      Doch es kam nichts. Der Wald rauschte mit den Wogen des Windes. Die Blätter knisterten und rauschten. Die Natur trieb ihr Spiel mit ihm. Diese ungewohnte Umgebung machte ihn verrückt. So wie die Lebewesen hier… Sein scharfer Verstand gab der Angst hin, ließ sich im die Ecke treiben und animalisch werden. Er packte sich an den Kopf, raufte seine Finger in das matte Haar.
      Das kann doch alles nicht wahr sein! Was für ein Verbrechen habe ich begangen, um…
      „ Ugh!“
      Etwas sprang ihn von der Seite an riss ihn auf den Boden. Yueil wandte sich. In seinem Gesicht hatte er die gaffende Schnauze des Wolfes. Ein Gestank stieg in seine Nase und raubte ihm das letzte bisschen Vernunft, welches ihn gehalten hatte, als er seine Krallen um das Gesicht dieser Ziege gewickelt hatte. Der Köpfe hätte besser rollen sollen! Ohne zu überlegen packten seine Hände den Kopf des Wolfes. Er keuchte, die Stimme war noch immer weg. Trotzdem schrie er, direkt in das Ohr des struppigen Tieres. So lange er konnte, hielt er den hohen Ton, den sein eigenes Ohr kaum wahrzunehmen vermochte. Wider einmal zeigte das Viech seine Schwäche. Als es taumelte, stieß Yueil es von sich herab. Er knurrte… Der Wolf knurrte ebenfalls, begann zu kläffen, als wollte es seinen dem Augenlicht beraubten Herrn rufen.
      Der wird brauchen!
      Oder?! Die Blätter raschelten, während sie dem Stillstand verfielen.

    • Jiemxens Frage wurde beantwortet von einem dumpfen Geräusch, das genauso gut in dem allgemeinen Rascheln des Windes hätte untergehen können. Nur war seine Aufmerksamkeit in panischer Fixierung so sehr auf den potentiellen Verfolger gerichtet, der sich jeden Augenblick mit fernen, durch die Erde scharrenden Krallen auf sich aufmerksam machen könnte, dass er es gleich erkannte. Und Ria ebenso.
      "Der Gott?"
      Es war eine Frage, die keiner Antwort bedurfte.
      Jiemxen fühlte das eigene Blut in den Adern gefrieren. Sie könnten natürlich weiter fliehen, sich so weit von dem Lager entfernen wie nur möglich und dabei auch ihr Leben schützen - oder sie könnten verhindern, dass einem Gott hier Schaden zugefügt würde. Dass er eines Tages zurückkehren würde, wenn er bei seinem Tod nicht sowieso ihre ganze Welt in Schutt und Asche versenken würde, und sich an allem und jedem dafür rächen würde, was ihm hier zugestoßen war. Würde er unterscheiden, wer dabei verantwortlich und wer ihm hatte helfen wollen? Konnte er überhaupt darunter unterscheiden?
      Ein Blick zu seiner Schwester zeigte ihm, dass Ria dieselben Gedanken durchmachte. Sie blieben stehen, starrten sich an - und dann ertönte ein Ton in der Ferne, ein Geräusch so hell und schrill, dass es in ihren empfindlichen Ohren stach und zuckte. Das Geschwisterpaar zuckte zusammen, legte die Ohren an und weil es der vollständigen Überzeugung war, dass das der Ton des Untergangs war, rannten sie los, andere Richtung, anderes Ziel. Sie mussten einen Gott retten. Sie mussten sich selbst retten, indem sie einen Gott retteten.
      Der Gott war mitten im Dickicht und der Wolf hatte ihn gefunden. Aus der Entfernung knurrte er schon und scharrte mit seinen Krallen und Jiemxen wollte eigentlich schnell wieder auf Abstand gehen. Er lief trotzdem weiter und dicht hinter ihm folgte Ria.
      Sie brachen lärmend durch das Gebüsch, was auch nur deswegen beabsichtigt war, weil es sowieso nichts brachte, sich anschleichen zu wollen. Der Wolf hatte sie sicher schon aus der Entfernung gerochen und auch wenn er gerade nach seinem Herrn zu schreien schien, nahm er doch alle drei Anwesenden mit scharfen Raubtieraugen in den Blick.
      Der Gott stand nur einen Meter weiter. Sein Gewand war noch dreckiger als vorhin, er musste hingefallen sein. Jiemxen zuckte bei dem Gedanken, dass der Gott der Natur unterlegen gewesen war.
      Der Wolf knurrte. Die Geschwister zogen ihre Waffen. In der Nähe raschelte es ihm Gebüsch, was sich anhörte, wie von einem halbgroßen Hirsch, und brachte damit den letzten angespannten Nerv zum reißen.
      "Lauf! Lauflauflauf!"
      Jiemxen machte selbst einen Satz nach vorne, direkt auf den Wolf zu, der in Rias Richtung zuckte, die ebenfalls nach vorne schoss. Er kam weit genug, dass er dem Tier die scharfe Kante seines Messers über die Flanke zog und ihn mit einem Tritt zu Boden beförderte, bevor er selbst nach vorne und auf den Gott zuschoss. Es war ihm jetzt egal, ob er sie alle in Verderbnis stürzen würde, weil Jiemxen es wagte, eine Heiligkeit zu berühren. Der Wolf würde sie gleich zerfetzen und so packte er das Handgelenk des Gottes und zerrte ihn mit sich, zurück ins Dickicht hinein.
      Die Haut des Gottes war kalt, sein Arm dünn, sein ganzer Körper ohne viel Widerstand. Er schien leicht zu sein, so wenig, wie Jiemxen sich bemühen musste, um ihn mit sich zu ziehen. Aber er war auch nicht sonderlich schnell; er fiel zurück, wo Jiemxen noch nicht einmal ernsthaft zu sprinten angefangen hatte. Sie mussten wirklich von dem Wolf weg.
      "Beeilung! Ria!"
      Er konnte den Wolf hinter sich hören, selbst durch seine angelegten Ohren hindurch. Ria hatte ihn dennoch verstanden, denn auch sie konnte er hören, wie sie leicht hinter ihnen zurückfiel, um dem Gott Rückendeckung zu geben. Derweil zerrte Jiemxen ihn unbarmherzig weiter vorwärts, so schnell, wie es ihm nur möglich war. Hauptsache weg von dem Raubtier.
    • Die Welt schien still, als Taifanya’de Yueils letzter Schrei in einem matten Keuchen endete. Wie oft sein Körper es noch zu vollbringen mochte seine Grenzen neu zu erproben, sollte er nicht mehr heraus finden. Zumindest nicht an diesem Tage. Die Töne und Bewegungen wurden zu einer Masse in seinem Kopf, die seine strapazierten Sinne nicht mehr auseinander zu filtern mochten. Sie gedachten dem Fall. Dem Wind, welcher unter seinen Schwingen glitt und sich nicht hatte greifen lassen wollen, den endlosen Gebeten zur Sonne hinauf, dass er überleben mochte…
      Schritte. Die Füße des Taura Alta fielen förmlich voreinander, während eine kräftige Hand um seinen dünnen Arm ihn tiefer in die Wälder schliff. Vor seinen Augen sprang der haarige Schweif eines der Hareaca auf und da. Das aufgestellte Fell sprach von seiner eigenen Angst vor dem Wolf und seinem Besitzer und dennoch zog er Yueil mit sich. Der ruppige Weg durch das Geäst und Holz hinterließ seine Spuren auf der feinen Haut. Zahlreiche dünne Schritte säumten jene, wann immer ein Ast sie streifte. Regelmäßig stolperte er über Wurzel und Unebenheiten im Boden, nur um weiter gezogen zu werden… Der Teil seines Flügels, welchen er bei dem Sturz verloren hatte, fiel ebenfalls wieder ab. Er bemerkte es gar nicht, als jenes Stück hängen lieb.
      Licht… Wo ist die Sonne?
      Er sah auf. Durch das dichte Dach der Bäume, doch auch hier misste er die feinen Strahlen, nach welchen er sich sehnte.
      Der Himmel?
      Mit einem Mal brachte er etwas Kraft auf, die dem stetigen Ruck etwas entgegenzusetzen wusste. Sein mickeriges Gewicht verlangsamte sie ein wenig.
      „ Es ist still…“, brachte er über die Lippen, während er sich nach hinten drehte, wo auch das Mädchen sich befand. Auch der Gestank war fort, diesen widerlichen Duft, welchen der Wolf mit sich trug. Folgte man ihnen nicht mehr?
      Yueil zitterte. Sein Blick fiel auf seine Füße. Die Abwesenheit des langen Gewandes offenbarte seine einzigen biologischen Waffen, welche ihm in dieser Situation keinen Vorteil bringen sollten. Zerpflückte Hosen und ein loses Gewand über seinem Bauch. Die Hand des Hareaca lag noch immer auf seinem Arm…
      Furchterfüllte Goldene Augen blickten nun die die des Fuchses, sich unsicher, was jener von ihm wollte.
      Zu viel…
      Mit der freien Hand fasste er sich an den Kopf. Es schmerzte und pochte. Überall, bis in die Spitzen seiner Finger und Schwingen. Jene sackten ab, sodass die langen Finger auf dem Boden hingen. Letztlich suchte die Ohnmacht ihn heim. Ein schweres Gefühl legte sich auf die zitternden Schultern, die kaum aufrecht zu stehen vermochten. Yueil schwankte, als er versuchte sich selbst zwecklos davon abzuhalten zusammen zusacken. Das Leben schwand aus seinen Augen, wie auch aus den pochenden Adern seiner Schwingen. Sie färbten sich dunkel. Yueil fiel.

    • Jiemxen wollte eigentlich noch viel schneller laufen, noch schneller und außerdem noch länger, aber dann stemmte sich der Gott mit einem Mal gegen seinen Zug. Es wäre kaum genug gewesen, um Jiemxen ernsthaft aufzuhalten, aber er ließ sich dennoch davon abbremsen - immerhin wollte er nicht den Zorn des Gottes auf sich ziehen. Und als er sich umdrehte, erkannte er auch, dass der Gott nicht unbedingt so aussah, als sei er für lange Läufe geschafft.
      "Es ist still", murmelte der Gott, als er sich umsah, aber dem konnte Jiemxen nicht unbedingt zustimmen. Es war nicht still, es war alles andere als still, aber zumindest waren die Geräusche des Wolfes verklungen und das war es wohl, auf was der Gott aufmerksam machen wollte. Das Tier war vermutlich zu seinem Herrchen zurückgekehrt - aber wie lange noch, das war hier die Frage.
      Genau das wollte Jiemxen jetzt auch mitteilen, als der Gott erst auf seine Krallen blickte und dann mit einer unendlichen Sorge in den Augen, die Jiemxen den Atem raubte, zu ihm aufsah. Es waren goldene Augen, golden und göttlich und irgendwie bezaubernd. Mit einem Mal fielen ihm gar keine Worte ein - bis der Gott zu lange blinzelte und seine Augen verschloss.
      "Oh - hey. Hey!"
      Der Gott war bereits gefährlich ins Schwanken geraten, aber jetzt gaben seine Beine unter ihm einfach nach. Er sackte nach unten und Jiemxen hechtete nach vorne, noch bevor sein Oberkörper den Boden berührt hatte, und fing ihn auf.
      Er war unglaublich leicht. Er wog noch nicht einmal so viel wie Ria und sie war schon klein und definitiv leicht. Jiemxen hatte keinerlei Probleme damit, den Arm unter seine Beine zu schieben und seinen federleichten Körper an seine Brust zu ziehen. Der Kopf des Gottes fiel nach hinten weg, das Gesicht bleich, und Jiemxen wackelte herum, bis sein Kopf ihm an die Schulter sackte. Noch immer höchst alarmiert blickte er in das engelsgleiche Gesicht hinab, das jetzt im Schlaf noch viel heiliger wirkte.
      "Eure... Eure Heiligkeit?"
      Sein Blick sprang zu Ria, aber die hatte nicht viel Aufmerksamkeit dafür übrig, nach dem Wolf Ausschau zu halten und sich gleichzeitig um den Gott zu kümmern. Also blickte Jiemxen wieder hinab und ließ sich erst in die Hocke und dann ganz auf den Boden sinken, um den Gott in seinen Schoß zu ziehen. Sobald er ihn nur noch mit einem Arm an seiner Brust halten konnte, ließ er ihn mit dem anderen los und berührte vorsichtig seine Wange, tastete an seinem Hals nach einem Puls. Hatten Götter einen Herzschlag? Der hier hatte es anscheinend, wie er kurz darauf auch schon herausfand.
      "Jiemxen...!"
      Ria kam heran geeilt, die Ungeduld in Person, und warf einen äußerst kritischen Blick auf den bewusstlosen Gott. Sie blieb aber nicht lange, sie sah nur kurz und drehte sich dann schon wieder um, die Ohren hektisch zuckend.
      Jiemxen versuchte dabei herauszufinden, wie man einen Gott wiederbelebte. Wieso war er überhaupt bewusstlos geworden? Vielleicht war er verletzt? Konnten Götter verletzt werden?
      Ratlosigkeit lähmte ihm die Glieder und so tat er letztens nur das, was ihm als erstes in den Sinn kam. Er schob wieder beide Arme unter den Gott, presste ihn fest an seine Brust, richtete sich auf und rollte seinen Schwanz nach vorne und über dessen Hüfte. Wenigstens würde er ihn so etwas warm halten.
      Sie fingen wieder an zu laufen, aber diesmal langsamer als noch vorhin. Jiemxen sorgte dafür, dass der Gott in seinen Armen nicht allzu sehr durchgeschüttelt wurde und Ria hatte dafür wieder die Umgebung im Blick. Sie folgten ihrem Pfad begleitet von riskanter Stille.
      Sie kamen an dem Bach vorbei, den sie auch schon bei der Spurensuche überquert hatten, aber diesmal blieb Jiemxen hier stehen. Er blickte hinab auf die bewusstlose Gestalt des Gottes in seinen Armen und dann auf seine Schwester. Nach einem Moment trat er zu ihr.
      "Geh und hol unsere Taschen. Ich versuche, ihn aufzuwecken."
      Ria schien unsicher, aber sie nickte schließlich und huschte weiter, während er ans Bachufer trat. Nach einem weiteren vorsichtigen Blick in alle Richtungen kniete er sich hin, legte den Gott behutsam auf dem Boden ab, hielt ihn mit einer Hand noch ein wenig aufrecht und schöpfte mit der anderen Hand etwas Wasser. Seinen Schweif hatte er noch immer um ihn geschlungen, teilweise auch, um ihn noch festzuhalten.
      Er träufelte ihm das Wasser über die Stirn und auch auf die Lippen. Er wischte ihm etwas von den Dreckschlieren weg, die seine Wange verdreckten und auch an seinem Hals entlang.
      "Hey... Eure... Heiligkeit, wacht auf, wir müssen noch weiter..."
    • Hell und weit war der Himmel über ihren Köpfen. Die lichte Zeit hatte begonnen, die Wolken um Fanaedes zogen ab und die Sonne badete die fliegenden Inseln in ihrem endlosen Licht. Die Morgenstunden waren frisch gewesen, als zwei Taura Alta sich im Geist der ungestümen Jugend aufgemacht hatten. Sie beide genossen die Zweisamkeit, die ein solcher Ausflug ihnen brachte. Ein warmes necken unter ihnen, bis sie letztlich in den Feldern der Hänge lagen. Der Blaue völlig außer Atem durch ihre stetige Kletterei. Doch es machte sich bewehrt sich zur frühen Stunde herzubegeben. So ging der Blick am weitesten. Die Sonne, welche die in der Ferne liegenden Inseln und Strukturen bemalte, sie sichtbar machte für jedes Auge. Taifanya’de Yueil war geflogen, hatte seine Schwingen in den Wind gestreckt, nur um den Blauen zu ärgern. Von Zeit zu Zeit neidete er nach diesen Schwingen, die auch die letzten redlichen Bindungen zu lösen schienen. Für ihn selbst hatte es allerdings nicht gereicht. Seine Arme säumte zwar ein dichtes Gefieder im Blau des Himmels, aber ihn zu tragen würde es nicht vollbringen.
      So ging sein Blick in die Ferne, unbehelligt durch sie strafende Augen. „ Was meinst du? Lass uns eines Tages auf Reisen gehen, überall hin, weiter als der Horizont!“, rief er fröhlich aus. Sein Blick huschte rüber zu seinem Gefährten, während er die Arme in die Höhe riss. Die Begeisterung belustigte den Goldenen nur ein wenig. „ Sicher… eines Tages sehen wir die Ecken dieser Welt!“, er wurde leiser, als er zum Ende seines Satzes hin die Arme um die Beine schlang.
      Was ein schöner Traum… Was für schöne Zeiten…
      Yueil hatte Fanaedes niemals verlassen. Die Hepoaltares hielten ihn dort, während sie den Blauen raus aus der Stadt zwangen. Die Wege alter Gefährten trennten sich abrupt und zeigten die Regeln für den Goldenen klar auf. Es gäbe kein Entrinnen, nur ein stetiges bewegen innerhalb der weißen Stadt.
      So war es…
      Er glaubte Regen auf der Haut zu spüren. Feine Tropfen, die seine trockenen Lippen säumten und ein sanfter Wind auf der Stirn. Es regnet doch nie… Wo sind die Glocken… Die fröhlichen Stimmen…
      Mit einem Mal schlug der Taura Alta die Augen auf, krümmte sich in die Höhe, sodass sein Kopf fast an den des Fuchses stieß. Sein erschrockener Atem ging schwer. An seinem Arm fühlet er das dichte Fell eines Schweifes. Es war nicht der eigene. Yueils Augen tanzten zwischen dem Fuchs und seiner Umgebung herum. Wasser… Neben ihm plätscherte der Bach seinen gemächlichen Weg. Der Ort, wo dieses Debakel begonnen hatte. Mit einem Mal zog sich seine Brust zusammen, kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinab. Die Ziege und… er fuhr herum. Doch sie waren allein. Keine bedrohlichen Geräusche erreichten seine Ohren. Nur die Töne des Waldes, des Wassers und… er sah zurück zu dem unbekannten Wesen. Es saß dicht bei ihm.
      „ Was…?“
      Die Stimme Yueils kratzte in der Kehle, sodass er seine Frage nicht ausformulierte. Er stoppte, als er sie nicht erkannte. So hörte er sich nicht an… niemals!

    • Der Gott wachte so schnell wieder auf, im einen Moment riss er die Augen auf und im nächsten schoss er schon nach oben. Jiemxen hatte gerade noch Zeit zu zucken, da stießen sie schmerzhaft mit den Köpfen aneinander und er fiel auf den Hintern zurück.
      "Au!"
      Er rieb sich die Stirn, da wandte sich der Gott rasch um und Jiemxen sprang endgültig weg. Was, wenn er jetzt genug von alldem hatte? Wenn er sich jetzt für seine Behandlung rächen würde?
      Aber wenn, sah er eher gehetzt aus. Seine goldenen Augen waren weit aufgerissen, sein Körper angespannt. Seine Flügel waren noch immer dunkel, wirkten irgendwie schwach, oder auch verängstigt, so sehr, wie sie sich an seinen Körper pressten. Dieser Gott sah nicht so aus, als würde er sich so schnell über irgendwas aufbegehren.
      Das war der einzige Grund, weshalb Jiemxen nicht doch endgültig die Flucht ergriff. Er kam wieder näher, ganz vorsichtig, und als der Gott auch noch eine krächzende Frage stellte, die nicht mehr als nur ein Wort war, kniete er sich auch wieder zögerlich zu ihm auf den Boden.
      "Wir müssen weiter, sonst... der Wolf kann uns bestimmt noch riechen."
      Er zögerte. Der Gott wirkte nicht unbedingt, als ob er sehr viel aus seinen Worten holen konnte.
      "Hier, trinkt was."
      Er deutete vage auf den Bach.
      "... Habt Ihr vielleicht, äh, Schmerzen? Oder kann ich Euch irgendwie... helfen, bevor wir weiterziehen?"
    • Er fasste sich an den Hals, auf der Suche nach einer Wunde, die das Versagen seiner Stimme zu verantworten hatte. Doch dort befand sich nichts. Sie war weg… ohne Grund. Ein leichter Schmerz pochte von dem Zusammenstoß mit dem Fuchs noch auf seiner Stirn, als ihre Blicke sich wieder trafen und einmal mehr Ehrfurcht in die Fremde Kreatur drang. Das Verhalten, welches auch der kleinere Hareaca ihm in den Spitzen der Bäume erwiesen hatte.
      Warum nur?
      Ihm wurde versichert, dass sie weiter müssten. Die Gefahr noch nicht gebannt war. Immerhin war ihre Flucht ein halbherziges Unterfangen, eine ergriffene Chance. Nicht mehr. Er wies auf den Bach. Yueils Blick folgte der Weisung. Das Wasser plätscherte unaufhaltsam an dem schlickigen Ufer entlang. Es war bräunlicher Farbe, doch roch es wie Wasser. So schmeckte es ja auch. Das wusste er. So beugte der Taura Alta sich in jene Richtung. Bedacht dabei, nicht hinein zu fallen. Das Gleichgewicht spielte noch immer mit der Klarheit seiner Sinne! Er tauchte die zitterigen Finger in das kalte Nass. Das Gefühl jagte einen Schauder seinen Rücken hoch, welcher bis in die Spitzen seiner Flügel drang. Er senkte den Kopf ab, nahm einen Schluck aus der Schüssel, die seine Hand formte. Erfrischend war es, als es seine Kehle hinab ran. Ein Gefühl des Lebens.
      Es dauerte, bis er wieder zu dem Fuchs sah. „ Danke…“, brachte er leise hervor. Das Wasser tat gut. Es beruhigte seiner Herz, welches Wild in seiner Brust geschlagen hatte. Es beruhigte seine Seele, ein Stück der Heimat auch hier zu finden.
      „ Den Himmel…“, schoss es durch ihn. Ich muss die Sonne sehen…!
      Mit einem Ruck fuhr er in die Höhe, schwankte leicht.

    • Scheins unter Mühe wandte der Gott sich dem Wasser zu und beugte sich weit nach vorne, um daraus zu schöpfen. Seine Haltung war alles andere als sicher und Jiemxen konnte das Beben in seinen Gliedern sehen. Nervös neigte er sich selbst nach vorne, nur um zur Stelle zu sein, falls er das Gleichgewicht verlieren sollte. Immerhin wollte er zu allem übel nicht auch noch einen nassen Gott provozieren.
      Zu ihrer aller Glück geschah aber nichts und schließlich richtete der Gott sich auch wieder auf. Er sah noch immer bleich aus, zittrig in seinen Bewegungen, fahrig in seinem Blick. Sein abgewetztes Gewand, die Dreckspuren und letztlich auch das Blut, das womöglich von dem Wilderer abgespritzt war, gaben seiner Erscheinung etwas tödliches, so als könne jeder in seiner Umgebung es bereuen, sollte dieser Gott verenden. Und das wollte Jiemxen wirklich nicht. Er wollte kein zweites Ende der Zeit heraufbeschwören, nur, weil er sich nicht gut genug um ihn gekümmert hatte.
      "Nichts zu danken..."
      Unruhig musterte er die schlanke Gestalt des Gottes. Er wirkte unterernährt; vielleicht hatte er Hunger? Vielleicht hatte er Blut verloren?
      Plötzlich fuhr eine Bewegung durch das Wesen und es sprang auf, dicht gefolgt von Jiemxen, der ebenfalls auf die Füße sprang. Keine Sekunde zu spät, wie es sich herausstellte, nachdem der Gott danach schon mit seiner Balance zu kämpfen schien. Sofort war der Hareaca zur Stelle und bot seine Schulter an, auf die er sich stützen könnte.
      "Der Himmel? Was ist mit dem Himmel?"
      Er sah nach oben, konnte aber durch das Blätterdach des Waldes nicht viel erkennen. Es hatte vorhin irgendwann aufgehört zu regnen, aber der Wind war noch frisch und die Sonne würde an diesem Tag wohl sicher nicht mehr herauskommen. Auf der einen Seite des Himmels tummelten sich die Wolken, auf der anderen Seite thronte einer dieser Himmelsberge, der den größten Rest des Firmaments in Anspruch nahm.
      Vielleicht wollte er nur zurück in den Himmel. Jiemxen schätzte, dass dieser Gott ein Himmelsgott war mit seinen großen Flügeln.
      "Wir bringen Euch zurück in den Himmel, okay? Seid Ihr damit einverstanden? Wir werden Euch nichts tun, nicht so wie der Horn-Hareaca."
      Ein Geräusch lenkte Jiemxen ab, seine Ohren zuckten, sein Schweif plusterte sich auf und dann trat Ria zu ihnen heraus. Sie hatte sich mit ihren beiden Taschen vollgepackt, erstarrte jetzt aber in ihrem Weg, als sie sah, dass der Gott aufgewacht war. Ihre Augen wurden groß, ihr Gesicht bleich und sie schien sich ganz eindeutig unwohl dabei zu fühlen, dass sie ihren Bruder nicht erreichen konnte, ohne, dass der Gott dazwischen war.
      "Äh... Ihr seid wach - Sol. Sol Regem?"
      "Sol Regem?", echote Jiemxen und sah wieder zu dem Gott. "Ihr seid Sol Regem?"
    • Taifanya’de Yueil begann den Hareaca eingehend zu betrachten. Die Farbe von seinem flauschigen Schweif trug er auch auf dem Kopf. Sämtliche Haare, die er erblicken konnte, schienen sich in Furcht aufgestellt zu haben…
      Der Regen hörte auf ihre Ohren mit einem Rauschen zu füllen, hörte auf die Wellen des Baches aufzuwühlen. Als freute der Himmel sich, dass sie dem Wolf und seinem Herrn entkommen waren. Der Taura Alta konnte es sich nicht erklären. Nichts machte einen Sinn. Nichts vermochten seine Sinne klar zu erfassen. Neue Aufregung drang in sein System, das plötzliche Verlangen nach etwas vertrautem… Das…
      Sein Blick glitt zu dem Wesen, welches auf sein Wort antwortete. Verwirrung lag in seiner Stimme und doch ein Hauch von Sicherheit, als er versprach Yueil würde den Himmel wieder erreichen. Er fiel einen Schritt in seine Richtung, legte seine Finger um dessen Arme. Tränen quollen in seine Augen und ein Stoß der Erleichterung wich aus seiner Lunge. Yueil empfand so vieles in diesem Moment und doch war nichts davon mit Klarheit gesegnet.
      Als die kleinere Hareaca wieder kam, sprang sein Blick in ihre Richtung. Sie war in Geleit von Gepäck wieder zu ihnen gestoßen. Als sie Yueil erblickte, sich die Farbe aus ihrem Gesicht. Sie blieb plötzlich stehen, bevor sie die Distanz zu ihnen überwunden hatte. Er zuckte leicht zurück, in den Arm ihres Bruders, als ihre Augen sich vergrößerten.
      Sol Regem…
      Beide sagten es.
      „Ihr seid Sol Regem?"
      Yueil sah in die ungewöhnlich grünen Augen über sich. Kein Frühling könnte mit dieser Farbpracht mithalten. Sein Blick sank ab, als er die Frage im Köpfe wiederholte. „ Nein.“, sprach er dann und sah wieder zu dem Mädchen. „ Der Name… Wohed kennst du ihn?“ Hoffnung flammte auf. Wenn… wenn… er nahm eine Schritt in ihre Richtung, schwankte. „ Sag mir, woher du diesen Namen kennst. Bitte!“

    • Kaum hatte Jiemxen ausgesprochen, dass sie den Gott zurück in den Himmel bringen würden, schien etwas in ihm zusammenzufallen. Er stolperte auf Jiemxen zu, der aufgeschreckt zurückzuweichen versuchte, und legte seine weiche, von den Launen der Natur unberührte Hand auf seinen Arm. Voller Unglauben konnte der Hareaca Tränen in den großen, goldenen Augen sehen, die ihn musterten.
      Irgendetwas machte der Anblick mit ihm. Vielleicht war es die unvorbereitete Konfrontation mit solch verletzlichen Gefühlen, die der Gott von sich gab. Konnten Götter weinen? War dieser kurz davor, es zu tun? Jiemxen wollte den Gott nicht weinen sehen. Etwas in seinem Inneren beschwor ihn dazu, dass er die Tränen aufhalten möge, die sich möglicherweise lösen könnten.
      Dann war Ria zurück und beide wandten sich ihr zu, aber nur kurz. Jiemxen studierte wieder den Gott, der möglicherweise Sol Regem war, und wurde seinerseits auch von ihm studiert. Dann lieferte er aber eine Antwort und ungemeine Erleichterung durchströmte den Hareaca, der sich gerade noch davon abhalten konnte, sie auch zu zeigen. Es war nicht Sol Regem. Er wusste nicht, was er getan hätte, wenn er es gewesen wäre.
      Ria war dafür umso eingeschüchteter als vorher, als der wieder namenlose Gott sich ihr wieder zuwandte. Ihre Ohren waren halb angelegt und ihr Schweif, den sie stur hinter ihrem Rücken versteckt hielt, war bis zur vollen Gänze aufgeplustert. Sie zuckte sogar, als der Gott auch noch einen Schritt in ihre Richtung unternahm, obwohl er stark dabei wankte. Jiemxen umfasste seinen Arm, um ihn notfalls zu stützen.
      "Ihr... Ihr habt ihn mir gesagt..!"
      Jiemxen sah zwischen beiden hin und her, aber bevor die angespannten Nerven hier noch reißen würden, mischte er sich selbst ein.
      "Es ist ein Gott."
      Sowohl Gott als auch Ria wandten sich ihm überrascht zu. Jiemxen machte in die Richtung seiner Schwester eine schulterzuckende Bewegung.
      "Unsere Eltern haben uns davon erzählt. Du warst noch zu klein, um dich zu erinnern. Es ist der Gott, der die Himmelsberge geschaffen hat."
      Er blickte nach oben durch das Blätterdach hindurch und deutete dann auf das undeutliche Schemen des großen Himmelsberges, der an diesem Tag den Himmel dominierte. Die Wolken zu seinen Seiten waren dunkel und groß und verschluckten ihn mittlerweile fast.
      "Es ist der Gott, der nicht mehr in unser Antlitz blicken wollte, also hat er uns die Sonne genommen. Aber weil wir immernoch da waren und er noch immer unsere Präsenz wahrnahm, hat er uns die Erde unter den Füßen weggenommen. Aber sogar dann waren wir noch hier, also hat er uns mit seinen Wassern überschwemmt, um uns fortzubekommen. Und weil wir noch immer hier waren, ist er schließlich selbst gegangen und hat uns alleine gelassen mit den Kreaturen aus den Tiefen."
      Jiemxen senkte den Blick auf den Gott vor sich und legte den Kopf leicht schräg.
      "Aber wenn Ihr nicht Sol Regem seid, wer seid Ihr dann?"
    • Drei Seelen waren in jenem Moment von Angst erfüllt. Der Taura Alta in der ihm fremden Umgebung, beherrscht von seinen überrannten Sinnen, die sich an alles klammerten, was ihnen bekannt vorkam. Und die beiden Hareaca, die glaubten auf ein Wesen ihrer Legenden gestoßen zu sein. Taifanya’de Yueil zuckte nicht, als er die Hand um seinen dünnen Arm bemerkte. Er blieb mit allem, was er hatte fixiert auf das junge Mädchen vor sich.
      "Ihr... Ihr habt ihn mir gesagt..!"
      Seine Erinnerungen waren wirr, taumelten glatt bei dieser Aussage. Warum sollte er diesen Namen… Die Obsession heraus zu finden warum, schwand aus seinen Augen. Das Feuer glitt aus seinen Augen, wie es hinein gekommen war. Die ganze Zeit tat er nichts anderes, als zu seinem Gott zu beten. Sicherheit und einen Weg in die Heimat wollte er von ihm. Bestimmt hatte er in seinem Wahn auch dieses Mädchen als Teil der Illusion gesehen… er schwankte zurück, direkt in den anderen hinein. Als ob dieser jene Reaktion erahnt hatte, hielt er ihn fest.
      Verwirrte Augen blickten auf, als der ältere Hareaca das Wort übernahm und dich eine Erklärung lieferte, die den Verstand des Taura Alta nicht gänzlich ins verrückte gleiten ließ. Sein Blick folgte nicht hinauf, einmal mehr vergeblich nachdem Himmel suchend. Das endlose Blau zeigte sich nicht. Ein Herz wurde schwer, als er sich die Worte über seinen Gott anhörte. Niemand sprach mit solch harschem Wort in seiner Heimat über ihn. Niemand würde es wagen… Yueil bleckte die Zähne leicht. „ Sol Regem würde das niemals tun!“, fauchte er kaum hörbar und riss den Arm mit einem Ruck los. Er schwankte, doch fing sich. Diesen Gott kannte er nicht! Diesen Gott wollte er nicht kennen!
      Er blickte zurück in die Augen des Hareacas. „ Taifanya’de Yueil, Eines von Sol Regems Kindern!“, sowohl in seiner Stimme, als auch in seinen Augen brannte Entschlossenheit. Niemand würde gegen einen gnädigen Gott sprechen, welcher diese Welt errettet hatte!

    • Als hätte Jiemxen einen siebten Sinn dafür entwickelt, war er zur Stelle, als die Kraft den Gott zu verlassen schien. Er schien bleich zu werden, dann wankte er beträchtlich und verlor sein Gleichgewicht, als er gegen Jiemxen stolperte. Der Hareaca legte seine Hand auf seinen unteren Rücken und schlang dann den ganzen Arm um seine schlanke Hüfte. Er war so leicht. Waren Götter immer so leicht? Irgendwie hätte er sie sich groß und schwer und furchteinflößend vorgestellt, nicht so leicht, schlank und... hübsch. Jiemxen kniff die Augen zusammen. Was sollte das denn, einen Gott als hübsch zu betrachten? Das wäre ja so, als würde er Aas als genießbar sehen.
      Dann bleckte der Gott aber seine Zähne und holte Jiemxen schlagartig in die Realität zurück. Das war noch immer ein Gott, den er hier vor sich hatte. Und Götter verärgerte man bekanntlich nicht.
      Der Gott fauchte ihn an, riss sich los und nannte seinen eigentlichen Namen und wer er war. Und auch, wenn der Name ihm nichts sagte, war es genug, um Jiemxen jetzt auch willentlich von ihm zurückweichen zu lassen. Er hatte ihn verärgert. Er hatte ihn verärgert.
      An der Seite gab Ria ein Geräusch von sich und brach dann in Tränen aus. Sie hatte sich vermutlich lange gehalten, viel länger, als ihre Nerven es zugelassen hätten, aber jetzt, als sie erfuhr, dass sie zwar nicht Sol Regem persönlich, aber eines seiner Kinder - Kinder! Es gab mehr als nur ein Kind! - vor sich hatten, den sie wohl auch noch erzürnt hatten, hatte die Angst endlich Überhand genommen. Panische Tränen strömten ihr über die Wangen und sie ließ ihr ganzes Gepäck achtlos auf den Boden fallen.
      "Es tut uns leid! Es tut uns so leid! Wir wollten Euch niemals verärgern - o-oder Euren Vater! Habt Erbarmen!"
      Und Jiemxen hatte selbst Angst. Er hatte tiefgreifende, panische, furchtbare Angst, die er nicht bezwingen konnte - nicht diese. Allen Hareaca war mehr als bewusst, was das letzte Mal geschehen war, als sie einen Gott verärgert hatten. Jiemxen wollte für kein zweites Ende der Zeit verantwortlich zu sein, er wollte nicht sterben, er wollte auch nicht, dass seine Schwester starb oder irgendjemand anderes, weil er dumm genug gewesen war, einen Gott zu erzürnen. Er wollte nicht. Er hatte solche Angst darum, dass genau das geschehen würde.
      Aber hinter ihm weinte seine Schwester und das weckte eine andere Art von Bedürfnis in ihm. Er war immer für sie da gewesen, von klein auf; er hatte sie immer getröstet, er hatte sie immer beschützt, auch wenn er selbst vor Angst gezittert hatte. Denn wer hätte es sonst getan, wenn nicht er? Also schluckte er auch jetzt den riesigen Kloß hinab, der sich in seinem Hals geformt hatte, er zwang seine angelegten Ohren in eine etwas aufgestelltere Haltung und er wich von Taifanya’de Yueil weg, um sich ein Stück weit vor Rias weinende Gestalt zu schieben. Eigentlich hatte er selbst Angst genug, um auch zu weinen. Er tat es nicht.
      "Bitte... I-Ihr könnt haben, was auch immer Ihr wollt, a-aber verschont uns..."
      Ria warf einen der Beutel - Jiemxens Last mit dem eingepackten Kochtopf - ein Stück nach vorne, auf den Gott zu. Er landete im Gras zwischen ihnen.
      "Nehmt Euch, wir haben n-nicht viel. Aber bitte..."
      Da fiel ihr auch etwas anderes ein und sie bückte sich hastig nach ihrem eigenen Gepäck, kramte ihren persönlichen, kleinen Beutel hervor und zog eine handvoll Blumen daraus hervor, bunt und ineinander verstraucht, getrocknete, aber gesunde Blüten. Das war wohl die beste Gabe, die sie hätten hervorbringen können.
      "H-Hier, für... für Euch, für Sol Regem! Wir danken ihm... wir danken Euch für unser Leben! Verschont es, bitte!"
    • Unter den Tränen des jungen Hareaca wandelte sein harter Blick sich. Ihm gefiel es nicht ein weinendes Kind zu erblicken. Zu viele grundlose Tränen drangen über junge Wangen, die ein unbeschwertes Leben verdienten. Wer war er nun diesem Mädchen solche zu entlocken. Egal wie sehr es ihm nicht gefiel, dass sie den Zustand dieser Welt seinem Retter in die Schuhe schieben. Es war nicht Sol Regems Lehre einem unschuldigen Leben die Schuld an etwas zu geben. Taifanya’de Yueils Herz stach bei dem Anblick der dicken Tropfen, die aus ihren grünen Augen quollen. Der Speih des Lebens in jenen war erloschen und in letzten Funken der Angst gewichen. Ihr Bruder bezog das erste mal Stellung. Sie beiden boten ihm alles… Alles was sie hatte… und wollten nur, dass er ihnen das Leben ließ.
      wie kann diese Welt nur so gespalten sein? Einige so voller Ehrfurcht und andere so voller Neid…
      Er faltete behutsam die Schwingen auf dem Rücken und sah in die Augen des Älteren. Stumm beugte er sich an ihm vorbei zu dem Mädchen hinab. Seine Glieder zitterten und versuchten dem standzuhalten, was er tat. Vorsichtig griff er nach den Blumen, doch ließ sie in den Händen des Mädchens. Er schob sie zu ihr zurück, dabei senkte er den Griff. Sie alle wurden von Angst vor dem Untergang dominiert… „ Mir liegt nichts an euren Gütern…“, sprach er leise. Seine Stimme war bewegt. Durch die Tränen noch viel mehr, welche nun auch ihm wieder kamen. „… Ich wollte euch auch nicht verärgern!“ sein Blick glitt hinauf zu dem Bruder. „ Der Sol Regem der mir bekannt ist, hätte dies niemals gewollt…“, er legte eine Hand auf seine Brust. Sein Blick voller Schmerz und Furcht. „ … ich weiß nicht, wo ich bin… Alles ist fremd und…“, Yueil schluckte sichtlich. Seine Hand packte den Stoff auf seiner Brust. Er musste es sich verkneifen gänzlich den Verstand zu verlieren. „… ich habe solche Angst!“

    • Es war schwer zu deuten, was dem Gott durch den Kopf gehen mochte. Es war generell schwer zu deuten, was er überhaupt denken mochte, denn bisher verhielt er sich nicht allzu typisch für seine Art: Er wütete nicht und er schrie nicht, er riss keine Landmassen entzwei und ließ kein Feuer vom Himmel regnen. Eigentlich sah er, wenn überhaupt, die meiste Zeit eher verloren drein, wie ein Küken, das aus seinem Nest gefallen war. Wenn Jiemxen doch wüsste, was für ein Gott er war… er könnte ihm sicher die richtigen Gaben anbieten.
      Kalkulierend betrachtete Taifanya’de Yueil die beiden Geschwister vor sich, die wohl sicherlich mehr Angst ausstrahlten als Bedrohung. Was könnten sie einem Gott schon anhaben? In Jiemxens Augen kalkulierte er, ob er sich den Aufwand machen sollte, sie zu beseitigen.
      Anscheinend schien er sich aber dagegen zu entscheiden. Er kam auf Ria zu, soweit, wie Jiemxen es zuließ - er glaubte, dass ihm sein Schweif mit jeder weiteren Sekunde vor Anspannung abfallen könnte - und schob Rias von Blumen bunte Hand zurück. Sie nahm einen hörbaren, stockenenden Atemzug, vermutlich, weil sie ähnlich wie Jiemxen jeden Augenblick damit gerechnet hatte, mit den Konsequenzen ihrer Anwesenheit konfrontiert zu werden. Aber der Gott versprühte keine böse Absicht. Wenn überhaupt, wallten Tränen in seinen eigenen Augen hoch, die im fahlen Licht des Waldes glitzerten. Jiemxen ertappte sich dabei, dass er sich nicht davon abwenden konnte.
      Ria sah den Gott schockiert an, aber dann schloss sie ihre Hand langsam.
      "Dann… d-dann verschont Ihr uns? Ja?"
      Wie gebannt starrten die Geschwister auf den Gott vor sich, der jetzt, mehr denn je, verloren wirkte. Er hatte sich verloren, er hatte Angst. Was konnte es für furchtbare Dinge auf dieser Welt geben, die selbst einem Gott Angst bereiteten?
      Jiemxen schluckte. Er wollte die Antwort auf diese Frage nicht erfahren, keinesfalls.
      "Wir... können Euch helfen. Vielleicht. Wenn Ihr uns lasst", bot er zögerlich an, den Blick noch immer mehr als misstrauisch auf den schlanken Gott gerichtet. Wenn sie das tun mussten, um in den Augen der Götter gut dazustehen, würden sie es tun. Sie würden ihn ganz persönlich in den Himmel hochheben, wenn sie mussten.
      Ganz vorsichtig streckte er die geöffnete Hand zu ihm aus, eine Geste, um sein Angebot zu unterstreichen. Ria sah noch immer ängstlich mit vor Tränen verquollenen Augen zu ihm auf.
      "Wir müssen sowieso erst aus dem Wald heraus. Wir alle, Ihr auch."
    • Leere und Unklarheit - Dies waren die Zustände, die im Kopfe des Taura Alta zu existieren vermochten. Entweder er fasste keinen Gedankengang und begann seinen Zustand zu hinterfragen oder er tat es. Letzteres endete zwangsweise im Chaos. Allein die Tatsache auf einer Oberfläche zu stehen, die sich nicht in Wolken schleierte. Oder, dass über seinem Kopf kein endloses Blau lag. Er hatte Bücher konsumiert, die mit dem Aussehen der Oberfläche gespielt hatten. Fantastische Gesichten über Abenteuer und seltsame Kreaturen. Doch was war seltsam? Taifanya’de Yueilfand nichts an diesen Kreaturen, was es nicht auch in Tarres gab. Sie hatten Beine wie er, sie hatten Hände wie er, als auch Augen und Ohren. Ihr Haar stellte sich bei Zuständen der Angst auf, wie auch sein eigenes. Auf den ersten Blick war diese Welt fremd; sobald man näher hinblickte, erkannte man viele Parallelen. Wie unterschiedliche Arten bei ihm bekannten Spezies…
      Doch es war angenehmer sich keinen Kopfe zu machen. Nicht darüber Bescheid zu wissen, wie viele Meter er gefallen war; und wieder erklimmen müsste. Nicht darüber zu überlegen, welches Chaos sein verschwinden bereiten würde…
      Er ließ von seiner Brust ab, hinterließ sichtliche Falten in dem wenigen Stoff, den er noch trug.
      Yueil nickte nur. Was auch immer diese Kreaturen von ihm dachten, es wäre vermutlich besser sie in ihrem Glauben zu lassen. Eine fremde Welt offenbart zu bekommen, hatte einen Verstand zerstört. Es war nicht so, als sprachen die Taura Alta nicht über das, was unter den Wolken geschah. Sie taten es nur mit einem faden Beigeschmack. Alles drehte sich schließlich um die Rettung ihres Volkes durch Sol Regem vor dem ‚Unheil‘ .
      Sein erstaunlich ruhiger Blick glitt zu dem Älteren hinauf. „ Natürlich lasse ich euch…“, erwiderte er diplomatisch. Sich an Wesen dieser Welt zu richten, die ihm nicht die Haut über die Ohren ziehen wollten, wäre wohl eine sinnige Überlegung. Ebenso eine sinnige Überlegung ihnen ihren Glauben zu lassen. So lange sie ihn für einen Gott hielten, war er sicher. Yueil schluckte leicht, bevor er die ihm entgegengestreckte Hand annahm. Sein Griff war nicht fest, eher zaghaft. Es brauchte einen erneuten Blick in die grünen Augen, bevor er ihren Deal bestätigte.
      „ Sicher!“, sagte er dann.

    • Es schien eine gewisse Überwindung zu benötigen, Jiemxens ausgestreckte Hand zu ergreifen. Sicher, wer könnte es dem Gott auch verübeln; im einen Moment Herr der Lüfte, Gebieter über den Himmel und was auch immer noch zu seiner Schaffung zählen mochte und im nächsten Moment an die Schwerkraft der Erde gegeißelt und dem Erbarmen seiner Untertanen ausgesetzt. Jiemxen konnte sich den Argwohn vorstellen, der Taifanya’de Yueil heimsuchen musste. Er wusste nicht, wie er sich verhalten würde, wenn er plötzlich in einer gänzlich anderen Welt gestrandet wäre.
      Daher kommentierte er es auch nicht weiter, als der Gott ihm seine Hand reichte. Stattdessen umschloss er sie vorsichtig, die zierliche, gebrechlich wirkende, weiche Hand in seiner und stellte die Ohren wieder auf. Neben ihm schniefte Ria.
      "Dann... dann lasst uns gehen."
      Sie sammelten ihr Gepäck wieder ein und schulterten es - Jiemxen das größere Stück, Ria das kleinere. Selbstverständlich bekam der Gott nichts zu tragen, er bekam nur Jiemxens Hand gereicht, weil er noch immer recht verloren wirkte und der Hareaca außerdem sicherstellen wollte, dass er in der Nähe blieb. Immerhin waren sie hier schon Wölfen begegnet und nicht nur dem einsamen Wilderer und seinem Haustier.
      Dann traten sie ihren Marsch an, langsam und vorsichtig aus Rücksicht auf den Gott bei ihnen. Jiemxen hatte nicht vergessen, wie dunkel seine Flügel waren und dass er noch immer deutlich blass wirkte. Mehrmals warf er Taifanya’de Yueil verstohlene Blicke zu, während Ria vor ihnen vorweg ging und die Ohren nach allen Richtungen zucken ließ.
      Zwei Mal mussten sie von ihrem ursprünglichen Weg abkommen, einmal, als sie auf die Spuren eines Bäres stießen, der hier wohl in der Nähe zu hausen schien, und einmal wegen Wolfsspuren - womöglich das Rudel, dem das Geschwisterpaar schon begegnet war. Die Vögel waren ruhig in dieser Gegend und das war ein ganz und gar schlechtes Zeichen. Ria war ganz offen nervös und Jiemxen bemühten sich, sich die gleiche Nervosität nicht anmerken zu lassen.
      Die Hareaca hätten den ganzen Tag noch weiterlaufen können, auch wenn sie langsam wieder Hunger hatten, aber der Gott war ganz sicher nicht gewohnt, so lange auf den Beinen zu sein. Irgendwann mussten sie eine Pause einlegen und weil Jiemxen es als sicher genug befand, schlug er gleich vor, dass sie sich einen Platz für ein ganzes Lager suchten. Also schlugen sie sich ganz absichtlich tief ins Unterholz hinein, wobei Jiemxen versuchte, die meisten Äste und Blätter von dem Gott abzuhalten. Sie kämpften sich an dicht stehenden Bäumen vorbei und durch stachelige Sträucher hindurch, bis sie schließlich einen Fleck erreicht hatten, der recht ungestört war. An der einen Seite blockierte ein Dornenstrauch das weitere Gestrüpp und auf der anderen Seite standen die Sträucher dicht genug, dass nicht einmal ein Kaninchen ungehört hindurchgekommen wäre.
      Ria war ganz zufrieden mit ihrem Fund und auch Jiemxen dachte, dass sie hier womöglich auch die Nacht verbringen könnten.
      Er ließ Taifanya’de Yueils Hand los und stellte sein Gepäck ab, bevor er zurück im Gebüsch verschwand und an den Bäumen herumschlich. Ria hockte sich derweil nieder, warf dem Gott einen nervösen Blick zu und fing an, die wichtigsten Dinge auszupacken.
      Jiemxen kam einen Moment später wieder, die Hände voller zusammengekratztem Moos, und breitete es an einer besonders dicken Wurzel im Boden aus. So bereitete er ein kleines Nest vor, nur für den Gott alleine.
      Dem bedeutete er mit einem Winken, sich dort niederzulassen, bevor Jiemxen ihn prüfend musterte.
      "Geht es Euch gut? Seid Ihr verletzt?"
    • Die Hand um die eigene warf ihn in der Zeit zurück. Zurück in Momente, in denen Taifanya’de Yueil keine solche Furcht kannte. In denen die endlichen Weiten des Himmels die einzige Grenze zu sein schienen. Solche Momente gefüllt mit warmen Erinnerungen… Der Blaue saß neben ihm. Die Beine über das Geländer in die Tiefe baumeln lassend und den matten Blick in die Ferne gerichtet. Er sprach nicht darüber, aber er beneidete Jene Geflügelten, die im Antlitz der Sonne durch die Lüfte glitten. Dieser Hauch von Eifersucht schwand allerdings, als er den Blick zur Seite wandte. Neben ihm saß der Goldäugige. Im Licht der sich senkenden Sonne wirkten die Farben seiner Augen umso intensiver. Die weiße Haut im Heiligen Ton. Yueil schwang die Beine, summte ein kleines Lied. Er genoss ihre Art die Abende ausklingen zu lassen viel mehr, als er zugeben würde.
      Der Blaue wagte es kaum ihm diesen Moment zu nehmen. Doch die späte Stunde rief die beiden zurück in die Gemäuer der Einrichtung. „ Wir sollten gehen…“, seine Stimme erklang dünn. Yueil nahm den Blick von der Sonne, sah zur Seite, wo der Blaue sich langsam erhob. Seine Bewegungen glichen denen eines alten Mannes, der den letzten anstrengenden Tag seiner Arbeit hinter sich gebracht hatte. Belustig gluckste der Geflügelte also auf. „ Bitte deine Lehrer mal sanfter zu sein!“, neckisch Stich er ihm in die Seite. „ Du kannst ja kaum noch gerade aus gehen!“ Yueil erhob sich schwungvoller unter einem strafenden Blick. „ Du würdest keinen Tag überleben!“, grummelte der Blaue.
      Keinen Tag…
      Ein Tag war herum, oder? Die Zeit hier schwamm daher, wie das Wasser im Fluss. Und so wie die braunen Blätter darauf trieb Yueil.
      Die Schritte des Taura Alta hatten an Sicherheit eingebüßt und jeder Schritt den er zwischen den Hareaca nahm, raubte ein Stückchen mehr. Seinen ausgestreckten Arm und die Hand an dessen Ende hielt er meist im Fokus, wenn sein Blick nicht gerade über die ihm fremde Natur glitt. Der Hareaca mit dem rötlichen Pelz hielt sie fest in der Hand, sorgte dafür, dass Yueil sich nicht seiner Müdigkeit hingab. Immer wieder schielten seine grünen Augen zu ihrem himmlischen Gott. Jener stolperte über Stock und Stein, beobachtete das Verhalten der beiden.
      Die Jüngere huschte mal vor und mal hinter ihnen her. Ihre Ohren stets gespitzt und die Aufmerksamkeit in die Tiefen des Waldes gerichtet. In dieser Lebensweise schien sie erprobt, mit jeder noch so kleinen Spur, die an ihre Sinne drangen vertraut. Yueil identifizierte nichts. Es klang und doch nicht nach seiner Heimat. Die Spuren im Matsch waren ihm fremde…
      Er blinzelte. Die Eindrücke wurden nicht weniger, als die beiden nach einem kargen Wortwechsel entschlossen ein Lager für die Nacht zu finden. Von lichter Bewachsung schlug Jiemxen den Weg ins dichte Gebüsch ein. Pflanzen die zwischen den Wurzeln der Bäume standen und mit dichtem grün die Sicht auf die nächste Umgebung raubten.
      Yueil stolperte die kleine Böschung hinab direkt in den Rücken seines Führers. In dieser dichten Position verblieben sie schließlich auch, sodass keine Pflanze zu dicht an den Taura Alta kam. Er sah nichts, musste gänzlich sein Vertrauen in seinen führer legen…
      Sein Herz pochte. Er fühlte einen dünnen Film von frischem Schweiß auf seiner Haut… Endlich sackte er auf den Boden ab. Sie hatten angehalten. Der kleine Fleck lag zwischen Sträuchern mit Dornen und hohen Bäumen. Dichte Äste versperrten den Weg, den sich hergenommen hatten. Yueil schnaufte offensichtlich, bevor er aus seiner Hocke in in nervöses Gesicht blickte. Das Mädchen war geblieben, hatte sich unweit von ihm selbst auf den Boden niedergelassen und schielte zu ihm.
      Sie wechselten keine Worte. Stille herrschte, bis der Andere zurück kam. Bei sich Hände voll von Grünzeug. Kleine und dichte Pflanzen, die Yueil bekannt vorkamen. Sie glichen den Gewächsen an den feuchten Stellen der Felsen. Interessiert beobachtete er dessen mehr oder weniger kunstvollen Versuch daraus eine Stätte für die Nacht zu bauen. Es wirkte mehr beholfen… dennoch folgte er der Anweisung und rutschte hin. Die erste Hand, die auf das Gewächs traf, ließ ein bekanntes Gefühl durch seinen Körper gleiten. Es war weich, ein wenig feucht und kühl. Doch im ganzen angenehm. Sein Blick glitt wieder herauf.
      Verletzt?
      Seine Arme und Beine waren voller feiner Schnitte, die Äste ihm zugefügt hatten. Bläuliche Verfärbungen gesellten sich dazu. Ihm fiel erst jetzt auf, dass die meisten dieser Verletzungen für aller Augen zu sehen war. Yueil Blick glitt zu seinen Schwingen, deren Zustand ihn das Gesicht verziehen ließ. Die sonst durchsichtige Haut war dunkel geworden, fast Blickdicht. Die pulsierenden Adern waren längst weg. Die Enden zerfetzt und… Er griff nach dem asymmetrischen Stück, löste den letzten Rückstand seiner Konstruktion davon und betrachtete die sich weiß färbende Stelle.
      Nichts tat wirklich weh. Es war mehr die Gesamtheit der Dinge, die ihm Müdigkeit in die Glieder trieb. So sah er wieder in die grünen Augen. „ Mir geht es gut… Es ist alles nur oberflächlich…“, sprach er. Yueil ließ von seiner Schwinge ab.

    • Jiemxen folgte Taifanya’de Yueils Blick zu seinen Beinen, dann zu seinen Armen und schließlich zu seinen Flügeln. Der Gott sah ramponiert aus, so konnte man es wohl sagen. Verkrustetes Blut klebte ihm auf der Haut, wo er Verletzungen erlitten hatte, und die Flügel hatten sicher auch einmal bessere Tage gesehen, auch wenn Jiemxen keinen wirklichen Vergleich hatte. Dafür sah es ungesund aus, wie dunkel sie waren und wie abgefetzt ihre Ränder waren.
      Alles in allem wusste er damit schon, dass der Gott verletzt war, es war schließlich kaum zu übersehen. Die Höflichkeit gebot es aber, dem Gott genügend Freiraum zu geben, um ihm eine Wahl zu lassen: Seine Schwäche zugeben und ein Risiko eingehen, oder auf Nummer sicher gehen.
      Und ganz anscheinend war es letzteres, was er bevorzugte. Jiemxen würde es respektieren.
      Er nickte und richtete sich wieder auf.
      "Ja, das ist es."
      Dann wandte er sich ab, um Ria dabei zu helfen, nach etwas essbarem in ihrem Proviant zu suchen. Sie bemühten sich stets darum, für Notfälle auch etwas zu haben, ohne vorher jagen zu müssen, aber viel war es niemals. Mit ihrem leichten Gepäck und dem Zwang, leise zu wandern, mussten sie sich jeden Tag darum bemühen jagen zu gehen, egal, welches Wetter herrschen mochte.
      Auch das war etwas, was in der Siedlung, die sie hoffentlich anstrebten, anders werden sollte.
      Er fand zumindest einen kleinen Apfel, der schon etwas verschrumpelt war und den er aber gleich Taifanya'de Yueil hinhielt. Ria fand noch ein paar Pilze, die sie nicht aufgegessen hatten und die sie mit ein bisschen Wasser verkochen könnten. Kein Festmahl, aber solange sie nicht den Wald verlassen hätten, wollte Jiemxen den Gott mit seinen Verletzungen auch nicht alleine lassen.
      Also Pilzeintopf. Ria packte die Gewürze dazu aus und Jiemxen sah nebenher mit scheuen Blicken zu dem Gott.
      "Woher kommt Ihr? Ich meine..."
      Sein linkes Ohr zuckte.
      "Wo wart Ihr, bevor Ihr in diesen Wald gekommen seid?"
    • Taifanya’de Yueil vermochte sich an keinen Moment zu entsinnen, an dem sein Körper sich ähnlich angefühlt hatte. Jeder Muskel ächzte nach Ruhe und Schlaf, keiner anhaltenden Belastung mehr, während sein Kopf diese nicht gestattete. Die Gefahr war nicht gebannt, die Umgebung und ihre Bewohner Fremde für den Jungen Taura Alta. Die Hilflosigkeit, die er empfunden hatte, als die Ziege ihn einfach mitgenommen hatte, ließ es klingeln. Nicht alle waren ihm, einem Gott, wohlgesonnen… Sein Blick glitt zum älteren Fuchs zurück, dann zu seiner Schwester. Auch wenn ihre Art sich etwas gelockert hatte, so verheilten sie sich noch immer ehrfürchtig vor ihm. So wie seine Genossen vor den mächtigen Hepoaltares - die Wächter ihrer Welt, Jene die Sol Regem erwählt hatte über seine Kinder zu wachen. Die Ziege glaubte wohl nicht an Erlösung für diese Welt. Glaubte wohl nicht an den Zorn eines Gottes. Wo auch Hoffnung finden in diesem endlosen Albtraum?
      Yueil ließ seinen Kopf sinken. Jede Sekunde die verstrich addierte sich zu seinem Gewicht. Sein Nacken schmerzte, spannte sich an. Sein Blick glitt auf seine schwarzen Finger. Auf den dunklen Stellen seiner Haut waren die Kratzer besonders schwer zu erkennen. Hier zogen sie sich aber ebenso vielfältig über die Finger. Yueil fuhr mit dem Daumen über die Innenseite seiner Hand. Ein stechendes Gefühl fuhr in ihn, wann immer er über einen Kratzer kam.
      Yueil blickte wieder auf die Schwingen, die zu seiner linken und rechten am Boden hingen. Das sie nicht gebrochen waren, war eine Erleichterung. Ihm selbst war eine solche Verletzung noch nicht widerfahren, aber einem Kind, dass seiner Aufsicht unterstanden hatte. Es passierte schnell, dass die Knochen falsch verhielen und schwingen unnutzbar machten. Man müsste sie wieder brechen und in die richtige Position bringen… Bei dem Gedanken schauderte es ihm. Hier unten gab es vermutlich keine starken narkotischen Mittel oder Ärzte, die wussten, was sie zu tun hatten.
      Die beiden Füchse kramten ihre Taschen durch. Was zum Vorschein kam war eine kleine schrumpelnde Frucht. Yueil verzog den Mund leicht, als man sie ihm hinhielt.
      Nicht wählerisch sein! Du musst essen! Sprach er zu sich selbst, bevor er danach griff. Instinktiv hielt er sie zuerst unter die Nase und roch daran. Sie roch wieder Wald, nach Erde und etwas unvertrautem… genügend unvertrautem, dass er zögerte einen Bissen zu nehmen.
      Bei der Frage zuckte er hoch. Das Zucken glitt bis in die Schwingen, die in Alarmbereitschaft gerieten.
      „ woher ich komme?“, fragte er zögerlich. Die Schwingen und Schultern sackten langsam ab. Ihm entfloh ein Laut des Schmerzes. Sein Blick glitt zu den beiden, kurz blieb er stumm.
      „ Ich komme aus der weißen Stadt, Fanaedes…“, begann er dann. „… Ein Ort im Himmel…“, fügte er für das bessere Verständnis an. „ … Fast immer scheinen die Wolken meine Heimat zu fressen und im…“ er stoppte. Bei den Gedanken daran löste sich eine Träne aus seinem Auge und rollte seine blutbeschmierte Wange hinab. Yueil hob die Hand und rieb sie weg.
      Ich will nach Hause!