Das Ende der Zeit ist für viele das Ende des Lebens und für viele andere der Anfang einer neuen Zeit, ein neuer Beginn, nachdem das Alte erloschen war. Aber für genauso viele ist das Ende der Zeit auch nichts anderes: Das Ende. Es ist keine Erlösung, kein Tod und kein Neuanfang. Es bleibt einfach immer das, woraus es geworden ist: Das Ende.
Zeit ist irrelevant, wenn man nicht weiß, woran man sie messen soll. Am Sonnenauf- und untergang? Am Wetter? Am Blühen der Pflanzen? Am Jahreszeitenwechsel? Aber was fängt man dann mit dieser Information an? Welche Veränderung bringt es, dass Zeit vergangen ist? Neues Leben wird geboren, altes verendet, aber das hat es schon immer, es ist Teil der Natur. Pflanzen blühen und verwelken wieder, aber das ist Teil der Natur. Woran wird Zeit gemessen?
An Fortschritt. Damit Zeit gemessen werden kann, muss eine alte Zeit enden und eine neue Zeit beginnen.
Aber ohne Fortschritt endet nichts und beginnt nichts. Alles bleibt so, wie es schon immer gewesen war, und damit ist Zeit vollkommen irrelevant.
Auf der Oberfläche von Arith hatte man schon lange aufgehört, sich Gedanken um die Zeit zu machen. Es war ein Luxusproblem, eine Sache all jener, die genug Freiheit hatten, um sich um das Verstreichen von Zeit Gedanken zu machen. Aber auch das war auf der Oberfläche eingeschränkt: Freiheit. Wenn man dort leben wollte, musste man überleben und das brachte bekanntlich keine Freiheit mit sich.
Also gab es keine Zeit. Man könnte den ganzen, lieben langen Tag auf einer Stelle sitzend verbringen und es würde keinen Unterschied machen - und Jiemxen war verbissen darum, genau das zu tun.
Er saß auf der Spitze eines Haufens Schrott, ein Wirrwarr aus morschen, vermoosten Holzplanken und Eisenstangen, ein Gebilde, das vor dem Ende der Zeit sicherlich mal einen Nutzen gefunden hatte, von dem jetzt aber nichts mehr übrig war. Seine Gestalt war lang und schmal, ein Strich in der Landschaft, augenscheinlich unauffällig, wäre er nicht der einzige Strich gewesen, der senkrecht in die Höhe stieß. Der Wind zerrte an seinen Kleidern, versuchte ihn umzustoßen, diese Widernatur, die es wagte, mit ihrer Anwesenheit zu implizieren, dass es doch eine Chance auf Fortschritt geben mochte in einer Welt, in der etwas derartiges zum Stillstand gekommen war. Aber Jiemxen hielt verbissen dagegen an, den langen, buschigen Schwanz um seine Knöchel gewickelt, seine Beine gegen den Morgensturm damit abschirmend. Er saß in der Hocke, die Ellbogen auf den Knien abgestützt, und das schon seit einer geraumen Weile, aber er weigerte sich, sich zu bewegen. Nicht, bevor die Jagd nicht beendet war.
Vor ihm breiteten sich die Überreste einer Stadt aus wie ein Friedhof für ehemalige Architektur. Eingestürzte Häuser, die Dächer zur Unkenntlichkeit zerschlagen, die Wände zerbröckelt, als bestünden sie aus morschem Holz und nicht etwa festem Stein. Gesteinsbrocken neben Gesteinsbrocken, Trümmer neben Trümmer, eine Ruine, die allerhöchstens den Pflanzen des Bodens noch eine Zuflucht bot. Abfallberge, wo einst womöglich Krieger gestanden hatten, wo man vielleicht die Waffen gegeneinander erhoben hatte, oder wo man sich vor dem zu schützen versucht hatte, was aus dem Himmel geflogen kam, einem Engel gleich, oder eher einem Todesengel, der nichts bei sich trug als Verwüstung. Eingestürzte Lager drängten sich in den wenigen Spalten der Trümmerhaufen, Überreste von Plünderern, die schon seit Äonen keinen Ort mehr wie diesen aufgesucht hatten. Heutzutage gab es nichts mehr zu plündern, denn es gab schlicht nichts mehr, was von Wert gewesen wäre. Es gab nur noch das Leben, die Natur und alle Gefahren, die damit einhergingen.
Ein Schaben und Kratzen ließen Jiemxens Ohren zucken, aber als sein Blick zur Seite flog, dorthin, wo sein Verstand ihm vorgaukelte, seine Beute gefunden zu haben, sah er nur einen schwarzen Schwanz verschwinden, dort, wo gerade eine rostige Eisenplatte über den Untergrund schabte, nachdem das Gewicht auf ihr weitergezogen war.
Rias Kopf war für einen Moment zu sehen auf dem Ruinenberg, den sie gerade geräuschlos zu erklimmen versuchte, und dann war auch das wieder von ihr verschwunden. Der Wind zog an Jiemxens Haaren und ließ einen nahegelegenen Müllhaufen klimpern.
Es gab einen feinen, aber deutlichen Unterschied zwischen den Geräuschen, die die Natur selbst verursachte, und den Geräuschen, die das Leben verursachte: Das eine war unberechenbar und unwillkürlich, es kam entweder mit einer Wucht, die alles im Umkreis aufschrecken ließ, oder mit einer Deckung, als wäre es nur für Ohren bestimmt, die fein genug waren, es zu erfassen.
Und das andere hatte einen Rhythmus.
Leben brachte Rhythmus mit sich, den es in der Natur nicht aufzufinden galt. Alles im Leben war ein Rhythmus, sei es das Herz, das mit seinen Schlägen das Tempo vorgab oder die Schritte, die einem Ziel entgegen strebten, die Bewegung von Muskeln, die sich nach ihrer Umgebung richteten. Selbst das bewusste Vermeiden eines Rhythmus war noch immer selbst ein Rhythmus, denn man brauchte Anhaltspunkte, nach denen man sich neu ausrichtete, um den alten Rhythmus zu vernichten.
Nur die Natur, die Natur hatte keinen Rhythmus. In der Natur herrschte das Gesetz des Chaos und wer dieses Gesetz begriffen hatte, der konnte auch den feinen Unterschied zwischen Lebewesen und Natur entdecken.
Und Jiemxen hatte dieses Gesetz verstanden.
Er saß auf seinem Schrotthaufen und als er den Rhythmus erkannte - erst ein Klimpern, dann ein Klackern, aber dann wieder ein Klimpern - stieß er sich mit einem Schlag ab. Für etwa eine halbe Sekunde segelte er durch die Luft, die Gliedmaßen lang gestreckt, der Schweif hinter sich durch die Luft zuckend, dann landete er auf einem Trümmerbrocken, stieß das Messer in seiner Rechten durch die Spalte in den Haufen und traf - nichts. Er verfehlte das Leben im Inneren und wurde dadurch bestraft, dass es durch eine andere, ungesehene Spalte entwischte.
Aber Ria war nicht weit und auch ihre empfindlichen Ohren hatten den Unterschied längst aufgespürt. Die Hareaca erschien auf der Spitze ihres kleinen Berges, erfasste erst Jiemxen mit ihrem Blick und dann sein Ziel und sprang zu Boden. Auch sie verfehlte, eine Laune der Natur mit ihrem Gesetz des Chaos, aber Ria war kleiner und präziser. Sie schoss nach vorne, mitten in den nächsten Haufen hinein und unter dem ganzen Klappern und Scheppern konnte Jiemxen deutlich das Fiepen eines Lebewesens in seinen Todesmomenten hören. Er richtete sich auf, während seine Ohren zuckten und er in die andere Umgebung nach einer Veränderung lauschte. Der Wind nahm zu und war kalt. Er wirbelte den Staub des Bodens auf und fegte geräuschvoll über die raue Oberfläche der Steinwände hinweg. Irgendwo fielen kleine Steinchen zu Boden und in weiterer Entfernung löste sich eine Ranke von ihrer Oberfläche. Jiemxen lauschte darauf und wartete, dass seine Schwester mit ihrem Fang zurückkehren würde.
@Attari
Zeit ist irrelevant, wenn man nicht weiß, woran man sie messen soll. Am Sonnenauf- und untergang? Am Wetter? Am Blühen der Pflanzen? Am Jahreszeitenwechsel? Aber was fängt man dann mit dieser Information an? Welche Veränderung bringt es, dass Zeit vergangen ist? Neues Leben wird geboren, altes verendet, aber das hat es schon immer, es ist Teil der Natur. Pflanzen blühen und verwelken wieder, aber das ist Teil der Natur. Woran wird Zeit gemessen?
An Fortschritt. Damit Zeit gemessen werden kann, muss eine alte Zeit enden und eine neue Zeit beginnen.
Aber ohne Fortschritt endet nichts und beginnt nichts. Alles bleibt so, wie es schon immer gewesen war, und damit ist Zeit vollkommen irrelevant.
Auf der Oberfläche von Arith hatte man schon lange aufgehört, sich Gedanken um die Zeit zu machen. Es war ein Luxusproblem, eine Sache all jener, die genug Freiheit hatten, um sich um das Verstreichen von Zeit Gedanken zu machen. Aber auch das war auf der Oberfläche eingeschränkt: Freiheit. Wenn man dort leben wollte, musste man überleben und das brachte bekanntlich keine Freiheit mit sich.
Also gab es keine Zeit. Man könnte den ganzen, lieben langen Tag auf einer Stelle sitzend verbringen und es würde keinen Unterschied machen - und Jiemxen war verbissen darum, genau das zu tun.
Er saß auf der Spitze eines Haufens Schrott, ein Wirrwarr aus morschen, vermoosten Holzplanken und Eisenstangen, ein Gebilde, das vor dem Ende der Zeit sicherlich mal einen Nutzen gefunden hatte, von dem jetzt aber nichts mehr übrig war. Seine Gestalt war lang und schmal, ein Strich in der Landschaft, augenscheinlich unauffällig, wäre er nicht der einzige Strich gewesen, der senkrecht in die Höhe stieß. Der Wind zerrte an seinen Kleidern, versuchte ihn umzustoßen, diese Widernatur, die es wagte, mit ihrer Anwesenheit zu implizieren, dass es doch eine Chance auf Fortschritt geben mochte in einer Welt, in der etwas derartiges zum Stillstand gekommen war. Aber Jiemxen hielt verbissen dagegen an, den langen, buschigen Schwanz um seine Knöchel gewickelt, seine Beine gegen den Morgensturm damit abschirmend. Er saß in der Hocke, die Ellbogen auf den Knien abgestützt, und das schon seit einer geraumen Weile, aber er weigerte sich, sich zu bewegen. Nicht, bevor die Jagd nicht beendet war.
Vor ihm breiteten sich die Überreste einer Stadt aus wie ein Friedhof für ehemalige Architektur. Eingestürzte Häuser, die Dächer zur Unkenntlichkeit zerschlagen, die Wände zerbröckelt, als bestünden sie aus morschem Holz und nicht etwa festem Stein. Gesteinsbrocken neben Gesteinsbrocken, Trümmer neben Trümmer, eine Ruine, die allerhöchstens den Pflanzen des Bodens noch eine Zuflucht bot. Abfallberge, wo einst womöglich Krieger gestanden hatten, wo man vielleicht die Waffen gegeneinander erhoben hatte, oder wo man sich vor dem zu schützen versucht hatte, was aus dem Himmel geflogen kam, einem Engel gleich, oder eher einem Todesengel, der nichts bei sich trug als Verwüstung. Eingestürzte Lager drängten sich in den wenigen Spalten der Trümmerhaufen, Überreste von Plünderern, die schon seit Äonen keinen Ort mehr wie diesen aufgesucht hatten. Heutzutage gab es nichts mehr zu plündern, denn es gab schlicht nichts mehr, was von Wert gewesen wäre. Es gab nur noch das Leben, die Natur und alle Gefahren, die damit einhergingen.
Ein Schaben und Kratzen ließen Jiemxens Ohren zucken, aber als sein Blick zur Seite flog, dorthin, wo sein Verstand ihm vorgaukelte, seine Beute gefunden zu haben, sah er nur einen schwarzen Schwanz verschwinden, dort, wo gerade eine rostige Eisenplatte über den Untergrund schabte, nachdem das Gewicht auf ihr weitergezogen war.
Rias Kopf war für einen Moment zu sehen auf dem Ruinenberg, den sie gerade geräuschlos zu erklimmen versuchte, und dann war auch das wieder von ihr verschwunden. Der Wind zog an Jiemxens Haaren und ließ einen nahegelegenen Müllhaufen klimpern.
Es gab einen feinen, aber deutlichen Unterschied zwischen den Geräuschen, die die Natur selbst verursachte, und den Geräuschen, die das Leben verursachte: Das eine war unberechenbar und unwillkürlich, es kam entweder mit einer Wucht, die alles im Umkreis aufschrecken ließ, oder mit einer Deckung, als wäre es nur für Ohren bestimmt, die fein genug waren, es zu erfassen.
Und das andere hatte einen Rhythmus.
Leben brachte Rhythmus mit sich, den es in der Natur nicht aufzufinden galt. Alles im Leben war ein Rhythmus, sei es das Herz, das mit seinen Schlägen das Tempo vorgab oder die Schritte, die einem Ziel entgegen strebten, die Bewegung von Muskeln, die sich nach ihrer Umgebung richteten. Selbst das bewusste Vermeiden eines Rhythmus war noch immer selbst ein Rhythmus, denn man brauchte Anhaltspunkte, nach denen man sich neu ausrichtete, um den alten Rhythmus zu vernichten.
Nur die Natur, die Natur hatte keinen Rhythmus. In der Natur herrschte das Gesetz des Chaos und wer dieses Gesetz begriffen hatte, der konnte auch den feinen Unterschied zwischen Lebewesen und Natur entdecken.
Und Jiemxen hatte dieses Gesetz verstanden.
Er saß auf seinem Schrotthaufen und als er den Rhythmus erkannte - erst ein Klimpern, dann ein Klackern, aber dann wieder ein Klimpern - stieß er sich mit einem Schlag ab. Für etwa eine halbe Sekunde segelte er durch die Luft, die Gliedmaßen lang gestreckt, der Schweif hinter sich durch die Luft zuckend, dann landete er auf einem Trümmerbrocken, stieß das Messer in seiner Rechten durch die Spalte in den Haufen und traf - nichts. Er verfehlte das Leben im Inneren und wurde dadurch bestraft, dass es durch eine andere, ungesehene Spalte entwischte.
Aber Ria war nicht weit und auch ihre empfindlichen Ohren hatten den Unterschied längst aufgespürt. Die Hareaca erschien auf der Spitze ihres kleinen Berges, erfasste erst Jiemxen mit ihrem Blick und dann sein Ziel und sprang zu Boden. Auch sie verfehlte, eine Laune der Natur mit ihrem Gesetz des Chaos, aber Ria war kleiner und präziser. Sie schoss nach vorne, mitten in den nächsten Haufen hinein und unter dem ganzen Klappern und Scheppern konnte Jiemxen deutlich das Fiepen eines Lebewesens in seinen Todesmomenten hören. Er richtete sich auf, während seine Ohren zuckten und er in die andere Umgebung nach einer Veränderung lauschte. Der Wind nahm zu und war kalt. Er wirbelte den Staub des Bodens auf und fegte geräuschvoll über die raue Oberfläche der Steinwände hinweg. Irgendwo fielen kleine Steinchen zu Boden und in weiterer Entfernung löste sich eine Ranke von ihrer Oberfläche. Jiemxen lauschte darauf und wartete, dass seine Schwester mit ihrem Fang zurückkehren würde.
@Attari
