Arabian (K)Nights - A Dusk & Dawn Story [by Asuna & Nico]

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    • Blutige Fetzen von zerkauter Lefze hingen dem Wolf aus dem Maul und er schien zu grinsen als er seinen Weg auf den Jungen zu tat. Sachte gruben sich die Pfoten in den trümmerbeseelten Boden und gleichsam vorsichtig wie gierig langte er mit der Zunge über seine Lippen.
      Oh, er würde gut schmecken dieser Junge. So gut. Sein Fleisch würde rein sein, unbefleckt. Und es würde nach Verderbnis und de Wunsch nach einem Leben schmecken. Ja, er würde sich gut daran tun. Der Junge war Labsal für seine geschundene Seele und noch während er ihm entgegen kroch, wirkte das Ganzen so gut. So sicher.
      Erst als er ihm näher kam, bemerkte der Wolf, dass etwas nicht stimmte. Alle seine Sinne begannen im gleichen Takte zu tingeln und rissen mit dem Alarm regelrecht die Mauern der Gier ein, die ihn beseelte. Da stimtme etwas nicht. Der Junge emittierte Aura in großer Menge!
      Sie heftete sich wie ein Schutzschild, einem Kreis um seinen Leib und breitete sich aus. Im rechten Moment sprang der Wolf noch zur Seite und stieß sich an einem Trümmerteil ab, ehe es in den Sog der Aura geriet und regelrecht zu Staub zerfiel. Nichts blieb mehr von diesem Gefühl, das dieses Gefängnis hervorrief. Der Geruch und das GEfühl von Enge in seiner BRust wurden übermächtig, als der Wolf sich mehr und mehr in die Ecke zurückzog. Ein Meer unsichtbarer Flammen erging sich im Raum, sodass selbst die animalischen Sinne des Wolfes vor Angst verkrochen. Wütend brüllte das Wesen auf als die Flammen ihn erreichten, nach ihm griffen.
      Nein, dachte er. Nein! Nicht so! Nicht hier!
      doch kein Wort drang über die Lippen als die Flammen ihn einhüllten und das Tierische in ihm zu greifen bekamen. Als würde man Zunder in eine Flamme geben breitete sich die Aura des Jungen in seiner aus. Einer Liebschaft gleich umfing die Aura den Wolf und drückte ihn zusammen, ehe er vollständig aufgelöst wurde. Die Augen des Ungeheuers begannen leerer zu werden und in einen glasigen Ton zu verfallen, das Brüllen nur noch ein Hecheln nach Luft, die nicht zu atmen war. Beinahe fragil wirkend griff er ins Leere des Raumes und formte ein Wort mit seinen bluttriefenden Lefzen..Doch niemand sollte es hören.
      Denn just in dem Moment drang Licht in den Raum, als sich die Tür öffnete und eine Frau den Raum betrat, die der Wolf kannte. Oh und wie er sie kannte. Es war diese Marcella. Diese Teufelin vor dem Herrenlicht. Und sie ging durch die Flammen hindurch, als machten sie ihr nichts. Sorgsam zärtlich trat sie an den Jungen heran und drückte ihm etwas ins Fleisch. Im gleichen Moment verschwanden die Flammen im Nichts und sie sah zu dem Wolf.
      Wolf und Spinne waren einander seit eh und je Feind. Doch diesmal sah sie mit sanften Augen hinüber und murmelte: "Es tut mir Leid."
      Es sollte das letzte gewesen sein, das der Wolf sah, ehe seine Augen leer wurden. Als der letzte Rest seiner Aura sich langsam zersetzte, fiel der Leib zurück und verblieb in der abscheulichen Gestalt.

      Draußen vor der Tür zog Marcella den jungen Jasper aus der Illusion und sorgte damit für heillosen Aufruhr. Sogleich sprang ihr Tamar an die Seite der kraftvoll den schlanken Körper des Jungen hinter sich her zog, bis sie den Altar wieder erreichten. Josephine und Einar waren bereits dort und sahen in den Augen von Meister Avicenna Besorgnis.
      "Was ist geschehen?", fragte er und eilte zu Jasper.
      "Hat den Wolf getötet, der dumme Junge", spie Marcella und sah wütend zu dem Hakim. "Und das ist deine Schuld!"
      "Ygor?"
      "Tot!", donnerte sie und knallte ihre Faust auf den Stein ehe sie sich von dem Jungen entfernte. "Nur falls es dich interessiert: Jasper geht es gut. Er ist erschöpft und seine Aura beinahe ausgebrannt aber ich konnte ihn noch betäuben."
      Sie warf ihm eine kleine Phiole mit rötlicher Flüssigkeit zu, die Avicenna sorgsam und schweigend fing.
      "Was ist das, Meister?", fragte Josephine und drängte sich an Jaspers Seite.
      "Das ist ein Trank, der einen Ohnmächtigen zurückholt, Liebes", grinste der Meister und benetzte Jaspers Lippen damit.
      "Geht es dir gut, Junge? Sprich mit mir!"

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    • Eigentlich war Jasper dankbar dafür gewesen, in das bodenlose Nichts zu fallen. Er war bisher noch nie ohnmächtig geworden, aber jetzt hieß er ihn wie einen alten Freund willkommen. Da war kein Schmerz mehr, da war keine Angst, nichts. Ein dankbares Nichts, das die Zeit fraß und ihn vielleicht nie mehr in diese Welt zurück lassen würde. Wenn der Wolf seinen Weg weiter beschrieb und ihm das Fleisch von den Knochen nagte.
      Er hatte das Zeitgefühl verloren.
      Er hatte das Raumdenken verloren.
      Er wusste gar nicht mehr, waser überhaupt sein wollte.
      Mit einem Mal erwachte jedoch wieder das Gefühl, zu sein. Er konnte die Augen noch nicht öffnen, aber er spürte, dass er einen Körper besaß. Einen, der irgendwo lag und in unregelmäßigen Abständen zitterte, sofern er genug Kraft dafür angesammelt hatte. Irgendetwas widerliches war an seine Lippen gekommen und holte ihn aus seinem Zustand im Nichts hervor. Als würde man ihm am Arm greifen und gegen seinen Willen ins Licht zerren.
      Seine Lider flatterten als ihm einfiel, dass man sie öffnen konnte. Er schaffte gerade mal einen Spalt, als ihn jemand ansprach, dann verkrampfte er sich. Mit dem Wissen um die Realität und sein Bewusstsein kam auch der Schmerz zurück. Binnen Sekundenbruchteilen brannte wieder sein ganzer Körper, doch er verstand, dass seine Aura damit nichts zu schaffen hatte. Genauer gesagt fühlte er sich eiskalt während alle Synapsen brannten. Selbst wenn er seine Aura hätte nutzen wollen – es ging nicht. Er war leer. Nackt.
      Und dann war da sein Bauch, sein Torso, ach er wusste es gar nicht. Da wo ihn der Wolf gepackt hatte, strahlte ein anderes Feuer durch seinen Körper und löste einen anderen Schmerz aus, der ihm zum zweiten Mal das atmen schwer machte. Aber wer Schwierigkeiten hatte zu atmen war am Leben. Der Wolf hatte ihn nicht gefressen. Jemand war eingeschritten.
      Jasper ächzte als er seine Muskeln ansprach und sich halb auf die Seite rollte. Den Boden unter seiner Wange nahm er gar nicht richtig wahr, dafür bekam er aber immer weiter die Augen geöffnet und den Blick scharf gestellt. Seine rechte Hand wanderte an seine Seite unterhalb des Rippenbogens und fühlten eine warme Feuchte. Sein Magen rebellierte und hätte er recht gefrühstückt, wären alle davon Zeuge geworden. So würgte er nur trocken und nutzte den Schwung, um ein abgehacktes „Toll“ zustande zu kriegen.
      Entgegen seiner Vermutung hörte Jasper rein gar nichts und musste sich nicht einmal Mühe geben. Kein Laut einer Melodie drang an sein Ohr, nichts drängte sich ihm permanent auf. Wenn es sich so anfühlte, nicht befähigt zu sein, dann war ihm klar warum er es schon immer wollte.
      Seine Augen fanden einen Kaftan, der auf dem Boden Falten warf. Mühsam drehte er den Kopf und betete, dass es nicht Morgan war, die ihn beäugte. Als er daraufhin das gebräunte Gesicht Avicennas sah, wusste er nicht, ob er erleichtert oder besorgt sein sollte. Er wollte sich wenigstens aufsetzen, nicht der Waschlappen sein, wie er gerade wirkte. Aber er war einfach so verdammt müde.
    • "Na, na, na!", mahnte Avicenna mit ruhiger, beinahe väterlich sanfter Stimme. Seine Augen lagen lachfaltenwerfend auf dem Jungen, während er sein "Toll" in den Raum hustete.
      Sorgsam und beinahe zärtlich nahm er die Hand des Jungen vom Rippenbogen und legte die andere auf dessen Herz. Scheinbar ohne besondere Bewandnis verharrend, sorgte sie gleichsam dafür, dass Jasper sich nicht erhob, während der Meister wirkte. Tamar rückte näher heran, während Marcella dafür sorgte, dass Josephine einen gelehrigen Abstand hielt. DIe Türen von Umar und Joya waren bereits geöffnet und die Jungs traten nach einer Weile recht verwirrt heraus. Umar wirkte beinahe verstört und wurde sogleich von Tamar behandelnd, der bedauernd zu Jasper sah. Wie gerne hätte er den Meister wirken sehen, doch so war es niemandem vorbehalten, außer Avicenna selbst, dessen Aura sich wie ein Schleier über die Welt legte.
      Sanft hüllte sich der Raum in Wohlgefallen und Labsal ein, als die Sterne in der fiktiven Ferne anfingen heller zu leuchten. Wärme bereitete sich aus und legte sich wie ein Mantel um Gebrechen und Angst, die die Schüler, welche es bereits geschafft hatten, umfing. Und Jasper...Ja, der arme Jasper..., dachte Avicenna und ließ seine Aura wie einen goldenen Strom flüssiger Seide in ihn hinein fahren. Sanft schlang er seine Fäden um die zerrissenen Bänder und sortierte was zu sortieren war. Er stellte die verwundete, verängstigte Aura wieder her und ordnete sie erneut, während seine andere Hand komplizierte Bewegungen, völlig autark von der anderen vollzog. Wie von selbst zogen sich unsichtbare Fäden um die Kratz- udn Schürfwunden und schlossen Organe, Fette und Haut wieder zusammen, bis keine Spur mehr zurückblieb. Außer zerfetzter Kleidung vermochte man nicht mehr zu sagen, wo der Wolf die Krallen hinein geschlagen hatte.
      Als Avicenna geendet hatte grinste er Jasper an und nickte.
      "Und jetzt?", fragte er. "geht es dir besser, Junge? Du warst außerordentlich tapfer, muss ich sagen..."
      "Tapfer", schnaubte Marcella, die gerade Joyas Arm verarztete, indem sie mit weißen Spinnenfäden eine Wunde ebenso unsichtbar wie der Meister verschloss. "Tapfer am Arsch. Der Junge hat um sein Leben kämpfen müssen! Einen Werwolf, wirklich! Das hättest du sicherlich geschickter lösen können..."
      "Ein Monster für einen Jungen, der nur Angst verspürt", murmelte Avicenna. "Es war das richtige. Und er hat es geschafft."
      "Ygor ist tot, Avi!", knurrte Marcella und sah Avicenna an. "Und das ist jetzt schon der zweite Schüler, der seine Illusion getötet hat! Gut, Jasper war nicht so grausam wie Morgan aber dennoch!"
      "Wie geht es Morgan?", fragte Tamar nun der wieder dazu kam und Jasper zunickte.
      "Ihr geht es gut. Sie erholt sich im Sanktorum", murmelte der Meister und hielt Jasper seine Hand hin. "Was du auch tun solltest. Es ist der Saal, wo ihr gegessen habt. Dort wartet ein Essen und weitere Labsal auf dich, mein Junge. Eil dich! Du hast es gut gemacht!"

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    • Nach wie vor war es Jasper nicht zum Lachen zumute. Tatsächlich war er fast schon angesäuert darüber, dass man ihn scheinbar auslachte. Oder sich zumindest über das amüsierte, was er hier gerade ablieferte. Jetzt sah er ganz wie der Waschlappen aus, der er eigentlich auch war. Seine Versuche, sich aufzusetzen, wurden von Avicenna unterbunden, der einfach nur eine Hand auf die schmächtige Brust legen musste. Erneut übermannte ihn das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, nun allerdings aus einem ganz anderen Grund heraus. Der Heiler würde spüren, wie sich sein Herzschlag unter der Berührung überschlug und stolperte. Wie es schneller raste als zuvor und ein bisschen zu viel von dem verriet, was im Kopf des jungen Zauberers vor sich ging. Als sich die Wärme um ihn legte, widerstand sein Körper dem zunächst. Für einen kurzen Moment brannte wirklich jeder Quadratmillimeter seines Körpers und brachte ihn beinahe um den Verstand. Nur einen Augenblick später war dieser Brand erstickt worden und seine angespannten Glieder verloren sichtbar an Spannung. Selbst das Brennen an seinem Bauch verschwand im Nichts und dann war plötzlich wieder diese Melodie in seinem Kopf. Alles um ihn herum fing wieder an zu singen und er musste sich wieder darauf besinnen, wie man es aktiv ausschaltete, damit es ihn nicht dauerhaft beschäftigte.
      Endlich durfte sich Jasper auch ordentlich aufsetzen und befühlte seinen Bauch. Bis auf sein krustiges Shirt, das dank der schwarzen Farbe kaum etwas anzeigte, und die darin geschlagenen Löcher war nichts mehr von dem Angriff zu sehen. 's besser, ja“, antwortete er knapp und konnte nur den Kopf schütteln.
      Tapfer? Wo war er tapfer gewesen? Hatten die Leute keine Augen im Kopf gehabt? Er war weg gerannt wie ein verängstigtes Kind, hatte versucht sich zu verstecken und war schließlich sogar ohnmächtig geworden. Es grenzte an ein Wunder, dass er mehr oder weniger unbeschadet daraus hervorgegangen war.
      Einen ähnlichen Standpunkt schien diese Marcella zu vertreten. Aber so, wie sie es formulierte, hatte nicht jeder um sein Leben fürchten müssen. War nur ihm eine echte Kreatur vorgesetzt worden?... Dann war seine Annahme richtig gewesen. Der Wolf war real gewesen, ein lebendes Wesen, das man ihm einfach in den Raum geworfen hatte. Schlagartig rutschte Jasper das Herz in die Hose. Er hatte nicht mitbekommen, dass jemand gekommen war um ihm zu helfen. Nach seiner Ohnmacht war er schutzlos gewesen. Was wiederum bedeuten musste....
      Jaspers Augen weiteten sich. Ygor. Der Wolf hatte sogar einen Namen gehabt. Ygor war der Dritte, den er auf dem Gewissen hatte. Ein Fremder, der vermutlich nicht freiwillig hier gewesen war und nun sein Leben gelassen hatte, weil Jasper zu schwach war. Beim Gedankenleser war er voll anwesend gewesen, bei Ygor hingegen nicht. Also hatte seine Aura auch noch eigenständig gehandelt. Voller Grauen starrte er auf den Boden zu seinen Füßen. Was, wenn da noch was in ihm lebte, was Sinn und Verstand besaß?
      „Was ist mit Morgan?“, fragte er umgehend nach und räusperte sich, als seine Stimme sich noch belegt anhörte. „Hat sie ihren Bruder gesehen?“
      Das war die einzig logische Folgerung, die er anhand seines spärlichen Wissens über Morgan anstellen konnte. Er hatte sie nicht so eingeschätzt, völlig zu randalieren. Oder gar grausamer zu sein als er. Zugegeben, er war nicht bei Bewusstsein als er gehandelt hatte. War er vielleicht sogar noch schlimmer als mancher Arkana, wenn er seine Fähigkeit einmal bewusstals Waffe einsetzte?
      Jasper betrachtete Avicennas Hand einen Moment lang, vielleicht auch eine Sekunde zu lange, ehe er sie ergriff und sich auf seine wackeligen Beine stellte. „Ich hab gar nichts gut gemacht. Ich hab wieder jemanden umgebracht, und dass auch noch ohne es zu merken. Was soll daran gut sein...“
      Er war verdammt nochmal ohnmächtig geworden. Da war rein gar nichts gut gewesen.
      „Ich hab ihn nicht mal abwehren können. Nicht mal eine Warnung hätte da irgendwas gebracht. Er war wild, völlig von Sinnen. Man hat fast gar nichts mehr von seiner eigentlichen Aura gehört.“ Er blinzelte. Eigentliche Aura? Er konnte zwei unterscheiden innerhalb des Werwolfes? Auch diese Erkenntnis war neu. Ein scheuer Blick glitt zu seinen restlichen Kommilitonen. Er konnte den Ausdruck in ihren Gesichtern nicht deuten, aber das schaffte er jetzt auch nicht mehr. Die Müdigkeit war verschwunden, die Erschöpfung blieb jedoch und es fröstelte ihn noch immer zwischendurch.
      „Ich geh dann nach Morgan gucken...“, verkündete er leise und machte sich auf den Weg, dem Ort den Rücken zu kehren. Er würde das Sanktorum aufsuchen, aber ob ihm dort nach etwas zu essen zumute war, bezweifelte er sehr.
      Ygor.
      Den Namen würde er sicherlich nicht so schnell vergessen.
      Noch während sich Jasper zum Gehen anschickte, schwang die letzte der geschlossenen Türen auf. Die Gummitür wurde in Etappen aufgestoßen, als Esha sich mit den Armen aus dem Raum zog, das Gesicht nicht mehr mit einem Lächeln verziert sondern schweißgebadet. Ihre Beine zog sie leblos hinter sich her, scheinbar hatte sie ihren Rollstuhl im Raume büßen müssen. Aber äußerlich wirkte sie ansonsten vollkommen unversehrt. Was nicht unbedingt bedeuten musste, dass das auch für ihre mentale Gesundheit galt.
    • Avicenna sah mit neuer Besorgnis zu Jasper und seufzte schwer, als dieser zu sprechen begann. Aus der Stimme des Jungen troff neben dem altbekannten Selbstmitleid auch eine bodenlose Trauer und Erschütterung, die der Heiler nicht zu heilen vermochte. Große Macht brachte neben Verantwortung gleichsam auch Opfer mit sich. Gerade die Kontrolle der eigenen Kraft war ein Akt der beinahe Unmöglichkeit, wenn man keine Fehler machte.
      "Du hast Jemanden umgebracht, der dem Tode ohnehin geweiht war", begann Avicenna ruhig und lächelte. "Ygor litt an Lykanthropie und war bereits im Endstadium, Jasper. Sein Leben war kein Leben mehr und ein Mensch war er auch nicht mehr. Ich habe Ygor in den letzten Wochen leider einsperren müssen, da er mehr und mehr eine Gefahr für seine Mitmenschen und sich selbst wurde. Kurz vor seiner Verwandlung und dem Erreichen des Endstadiums bat er mich, seinen Tod schnell und schmerzlos zu machen. Und das hast du getan. Auch wenn der Tod nicht das Ziel sein sollte, so war es hier jedoch ein Erbarmen, Jasper."
      Noch ehe er weiter sprechen konnte, fiel sein Blick zu Marcella und Tamar, die in hellen Aufruhr gerieten. Ohne ein weiteres Wort gesprochen zu haben nickte der Heiler und wandte sich Esha zu, die sich über den Boden zog. Sie wirkte agil und vital, jedoch war ihre Tür eine komplizierte gewesen. Es blieb fraglich, wie sehr ihr Geist sich hatte behaupten können. Sorgsam eilten Tamar und Avicenna zu ihr und hoben sie sacht in die Höhe. Marcella eilte heran und beförderte einen Rollstuhl vor sich her, in den sie Esha setzten.
      "Geht es dir gut, mein Kind?"; fragte Avicenna besorgt und mit einem Wink seiner Hand verschwanden Tamar und Marcella in unterschiedliche Richtungen. Jeder darum bemüht, einen anderen der Schüler zu versorgen. Joya indes sprintete mit zu Esha, um an ihre Seite zu huschen. Es war erstaunlich wie viel ein paar freundliche Worte bewirken konnten. Sachte legte er ihr eine Hand auf die Schulter und lächelte.
      Nur Einars Tür blieb verschlossen.

      Im Sanktorum war die Luft beinahe zum Schneiden angespannt.
      Während Josephine sich Teller um Teller einverleibte, schien Morgan angespannt. Wann immer die Australierin heilte, verbrauchte sie mehr Kalorien als gut für sie war. Und ehe ihre fantastische Strandfigur (Eigenansicht) Schaden nahm, musste sie essen. Und die Köstlichkeiten, die man aufgefahren hatte, suchten erneut ihresgleichen. Sorgsam verleibte sie sich gerade ein Stück Lammfleisch ein, während Morgan noch immer aus dem Fenster starrte.
      "Mein Gott, was ist denn los?", mampfte die Australierin und schluckte eionen gewaltigen Brocken hinab. "Du siehst aus als hätte man dir einen Schlauch in den Arsch gerammt."
      "Für eine Dame drückst du dich ziemlich derb aus", bemerkte Morgan mit dünner Stimme.
      "Dame am Arsch. Ich sag dir was: Die magische Welt lässt es an mächtigen Zauberinnen missen, Kleine. Und wenn wir nicht werden wie diese Arschlöcher, werden wir genauso in der Versenkung verschwinden wie Marcella."
      "Marcella ist doch hier..."
      "Ja, ist sie. Unter der Fuchtel eines Arkana und klein gehalten."
      "Ziemlich polemisch", bemerkte Morgan und trat vom Fenster zurück. "Ich bin gespannt, was die anderen durchleben mussten. Es sollte ein Test unserer Fähigkeiten sein und ich weiß nicht mal, was sie mit diesem Test erreichen wollten."
      "Vermutlich schauen, ob wir rücksichtislos töten oder heilen", murmelte Josephine und seufzte.
      Als sie Luft holen wollte, um weitere Sätze zu sagen, blickte sie auf als die Tür sich zur Seite schob. Zu ihrer beider Erstaunen betrat Jasper den Raum.
      "Ah! Willkommen, Nummer 3! Alles im Lot?", fragte Josephine, während Morgan sich zum Tisch hin bewegte.

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    • Avicennas letzte Worte bekam Jasper nur noch halbherzig mit. Eigentlich hätten auch August dem Tode geweiht sein sollen, als die Korrumption ihn befallen hatte. Niemand hatte geglaubt, dass man es aufhalten oder gar kurieren konnte. Selbst Avicenna, jedenfalls bis Jasper aufgetreten war. Irgendwo in seinen hintersten Hirnwindungen weigerte sich der Junge zu akzeptieren, dass es für Ygor keine Rettung mehr gegeben hatte. Immerhin hatte er ganz klar zwei Auren unterscheiden können, genauso, wie er es bei August getan hatte. Platt und zeitgleich aufgerührt stapfte er die Stufen wieder hoch ans Tageslicht, weg von dieser Kammer und den darin liegenden Ereignissen.
      So entging Jasper ebenfalls, wie wie Esha ergangen war. Es zeigte sich keine Regung auf ihrem Gesicht als sie von Tamar und Avicenna hochgehoben und in den Rollstuhl gesetzt wurde, den Marcella bereit hielt. Ihr Blick war wach, sehr wach um genau zu sein, und ging systematisch zwischen den Hakim hin und her. Auf den ersten Blick bemerkte man, dass sich Esha seltsam kühl verhielt und auch so anfühlte.
      „An sich ganz gut. Ich habe sie alle herausholen können, jeden einzelnen. Bis auf den bereits zugefügten Schaden ist mein Körper unversehrt. Dieses Mal haben sie mich nicht verstümmeln können“, beantwortete Esha Avicennas Frage, doch der Tonfall und die Art wie sie redete erinnerte eher an eine sachliche Berichtserstattung.
      Es entlockte ihr auch keine Reaktion, als Joya an ihre Seite trat und ihr eine Hand auf die Schulter legte. Üblicherweise hätte sie sein umwerfendes Lächeln mit der gleichen Inbrunst erwidert, doch nun blieb ihre Mimik ausdruckslos.
      So als könne Esha gar nichts mehr empfinden.

      Jasper brauchte zwei Anläufe, damit er die Tür zum Saal aufschieben konnte. Beim ersten Versuch war ihm sein Arm weg geknickt, der die plötzliche Belastung mit einem Schwächeanfall quittierte. Er schnaubte und trat nach dem zweiten Anlauf ein, wo sein Blick direkt auf Josephine und Morgan fiel. Die eine schaufelte Essen wie ein Berserker in sich hinein, die andere wirkte regelrecht abwesend. Beide bemerkten ihn umgehend, doch Morgan reagierte so gut wie gar nicht auf ihn. Prompt verfinsterte sich sein Blick bei ihrem Anblick. Stimmt. Da war ja was gewesen.
      „Mal kein schnippischer Kommentar, warum ich so lange gebraucht hab oder so?“, schoss Jasper zurück und man hörte ihm an, dass sein Test alles andere als zu seiner Freude abgegangen war. „Aber wie du siehst hab ich noch alle Körperteile und kann noch sprechen, danke. Scheinbar war bei dir auch alles topp, wenn du so viel in dich rein schaufeln kannst.“
      Er selbst beäugte das Essen ein wenig mit Argwohn. Sein Magen, der allerdings keinen Inhalt mehr besaß, fing prompt an zu brummen, sodass er seinen Mund verzog und doch nach etwas zu Essen langte, einfach weil sein Bauch es so forderte. Anschließend sah er flüchtig wieder zu Morgan, die sich noch immer nicht gesetzt hatte. Sie wirkte in etwa so verstört wie er selbst, was durchaus dazu passen mochte, dass auch sie ihre Illusion ausradiert hatte. Wobei es bei ihr hoffentlich wirklich nur eine Täuschung war.
      „War es bei dir wirklich nur ein Trugbild oder echt?“, richtete er sein Wort deshalb direkt an Morgan.
    • Zu sagen, dass Joya nicht ein wenig enttäuscht wirkte, als Esha sein Lachen nicht erwiderte, wäre gelogen, geneigter Leser. Eine Weile lang hielt sich sein Lächeln noch, ehe es schließlich, einem weißen Schleier gleich, verblasste. Avicenna trat an die junge Frau heran und kniete sich vor ihr, mit einem altherzigen Ächzen hin. Sein rechter Unterarm ruhte auf seinem Knie, während er die Hand nach Esha ausstreckte.
      "Das hast du sehr gut gemacht, Esha", murmelte er und lächelte warmherzig. Anschließend senkte sich erneut die Wärme und der leicht goldene Schleier über sie alle. "Lass mich nur..."
      Sanft griff er mit seiner Aura nach ihrem geschundenen Herzen und Verstand und versuchte erneut zu ordnen, was durcheinander war. Jedoch war es hier ein wenig schwerer als bei Jasper. Sie schien ihre Gefühle fortgeschlossen zu haben, als hätte sie einen Akku verbraucht, den es nicht geben sollte. Diesen zu finden glich einer Schatzsuche unter gewaltigen Trümmerbergen, aber es ließ sich bewerkstelligen.
      "Das hier wird etwas dauern", sagte er zu Joya gerichtet. "Geh ruhig schon vor und leiste den anderen Gesellschaft."
      "Nein", sagte der Afrikaner und geduldig setzte er sich neben den Rollstuhl im Schneidersitz hin. Es sollte das Letzte sein, das er für eine Weile sagte. Lächelnd begann Avicenna mit dem Heilungsprozess und schloss die Augen, um ganz einzutauchen. Es brauchte nur Geduld und Spucke...

      An anderer Stelle öffnete sich eine Tür. Sie war schwer und eisern und beinahe nicht zu öffnen. Schwach kratzend glitt sie über den Steinboden, der sie beherbergte und entließ eine Schwade von Rauch und Dampf in den Raum. Nach einer ganzen Weile des Dräuens trat eine hoch gewachsene Gestalt aus dem Halbschatten und schlug die lockigen Haare zurück. Avicenna war noch mit Esha zugegen, als Marcella den Kopf herum drehte und nickte.
      "Einar!"; rief sie und trat die letzten Stufen auf ihn zu, während er gleichermaßen herunter kam. "Wie geht es dir? Brauchst du Hil-"
      "Mir geht es gut", sagte der Isländer und lächelte breit, ehe er wortlos an Marcella vorbei ging.
      Ein wenig perplex verblieb die Zauberin auf der Treppe und sah dem Isländer nach. Aus irgendeinem Grund fragte sie sich...Schweigsam und kopfschüttelnd setzte sie ihren Weg fort und trat an die geöffnete Tür. Da sie die Trugbilder der Schüler erschaffen hatte, wusste sie, dass dahinter ein Dorf lag. Ein kleines, kaum wahrnehmbares Dorf an der Nordküste Islands, unweit des Ewigen Eises. Es sollte angegriffen werden von einer gigantischen Schlange, die...
      Da war sie. Dort war die Schlange.
      Das Dorf bestand fort, wenngleich viele Hütten und Häuser zerstört waren. Feuer brannten in der Ferne und spien ihren Rauch in die Luft, aber das bemerkenswerte war Jormungandr, die Schlange. Sie war gewaltig und beinahe so groß wie ein ganzer Berg. Furchterregende Furchen zogen sich über ihr schuppenbewährtes Gesicht und gelb leuchteten ihre Augen in der Dunkelheit. Sie war so furchterregend wie MArcella sie erdacht hatte.
      Das Problem war nur, dass die Schlange verängstigt in einer Ecke der Illusion kauerte und sich nicht zu bewegen wagte.

      "Nicht so zickig, Kleiner", knurrte Josephine und deutete auf den Tisch. "Setz dich, iss was, damit du den meterlangen Stock aus deinem Arsch kriegst. Offenbar hast du es ja geschafft."
      Unfreundlicher Bengel. Sie würde dafür sorgen, dass er eines schönen Tages ein paar Finger mehr hatte. Aber immerhin schien sein Appetit zurückzukehren sobald er das Essen sah. Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass der Appetit mit dem Essen kam. Offenbar stimmte zumindest das.
      Grunzend machte sie sich über einen tollen Kebab her und hielt doch inne, als Jasper seine Frage stellte. Morgan war indes näher an den Tisch heran getreten und hatte Jaspers Blick mit dergleichen Kälte gekontert, mit dem er sie bedachte. Morgan hatte bereits früh gelernt, dass Gleiches am besten mit Gleichem vergolten wurde. Auch wenn da einige Ethiker durchaus anderer Meinung waren. Aber wie sollte ein Junge, der offenbar nur aus moralischen Gedanken bestand etwas von den Abgründen einer menschlichen Seele wissen.
      Morgan schlug ihr Haar zurück und sah ihn dieswegen direkt an und zuckte die Achseln.
      "Ich denke, es war eines", sagte sie.
      Und ehrlich gesagt ist es mir auch egal, dachte sie dabei.
      "Warum? Deines nicht?", fragte Josephine und sah ihn überrascht an.
      Im gleichen Moment öffnete sich die Tür und die beiden Frauen zuckten zusammen. Umar betrat den Raum. Sein Gesicht war schmutzig und das Haar wild zerzaust. Bleicher hatte man den arabischen Jungen noch nie gesehen. Seine Augen schienen beinahe aus dem Kopf zu quellen.
      "Meine Güte Umar...", murmelteJosephine. "Du siehst scheiße aus."

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    • Eigentlich hätte Esha es leid getan zu sehen, wie die Freude in Joyas Gesicht erstarb. Eigentlich hätte sie ihm aufmunternde Worte zugetragen, ihn angelächelt und sich darüber gefreut, dass er sie offensichtlich sah. Aber anstelle all dieser Gefühle klaffte ein gähnendes Loch in ihrem Inneren, und sie kannte den Ursprung nur allzu gut.
      „Danke“, erwiderte sie nüchtern und hielt ihren Blick auf den großen Meister gesenkt, dem sie sonst immer mit Ehrfurcht begegnete. Doch auch davon fehlte jede Spur. „Vermutlich wird nicht viel zu finden sein, dass man wieder aufbauen kann. Die Nebenwirkungen, wenn ich zu viel manipuliere....“
      Ihre restlichen Worte gingen im Nichts unter als sich eine Wärme um sie legte. Ihr Körper entspannte sich während sie dem Heiler Einblick in ihr Innerstes gewährte. Ihm das gähnende Loch zeigte, das sich auch mit Zeit wieder auffüllen ließ. Die erste wirkliche Reaktion, die man ihr entlockte, war das Anheben ihrer Augenbrauen auf Joyas Sturheit hin. Einen Moment musterte sie seinen Kopf, der jetzt sogar unterhalb ihres eigenen war ehe sie wieder in Warteposition ging und die Augen schloss.
      Nach einiger Zeit öffnete sich Einars Tür und Marcella schoss regelrecht zu ihm, da Avicenna noch mit Esha beschäftigt war. Er tat gute Dienste, verlieh dem Loch in ihr wieder schärfere Ränder. Aber sie würde wahrscheinlich noch wesentlich länger bei ihm verweilen müssen ehe sämtliche Leere getilgt worden wäre. Also legte sie dem Heiler eine Hand auf und nickte. „Es ist gut, ich danke Euch. Den Rest wird die Zeit wieder füllen.“
      Sie fühlte sich nicht mehr ganz so taub und abgestorben und versuchte sich selbst zu überprüfen, indem sie Joya anblickte, der noch immer neben ihr am Boden saß. Und da war es endlich wieder, das Fünkchen Freude, das sie vermisst hatte. Die dunklen Lippen zuckten und wurden zu einem Schmunzeln, als der dunkle Junge ihren Blick erwiderte. Sie formte ein wortloses Danke mit ihren Lippen ehe sie zu dem Isländer herumfuhr, der inzwischen auf ihrem Podest angekommen war. Wenn sie sich richtig entsann, dann hatte sie ihn noch nie so breit lächeln sehen...
      „Damit wären wir alle mit unseren Tests durch“, sagte sie zu Einar und schob sich die Haare hinter die Ohren.

      „Sag mir nochmal, dass ich 'n Stock im Arsch hab und ich ramm ihn dir eigenhändig in deinen“, erwiderte Jasper schroff und stopfte sich ein Stück Brot in den Mund, das furchtbar trocken zu sein schien. Oder es war einfach sein Mund, der so trocken war... Jedenfalls musste er mit Tee nachspülen, um nicht an einem Bissen zu ersticken. Er war weder dazu aufgelegt zu scherzen noch sich sonderlich gut mit diesem Mädel zu stellen. Sie mochte ihn nicht? Schön, dann brauchte er ja auch nicht versuchen, sich mit ihr gut zu stellen.
      Daher hielt er sich lieber mit der wichtigeren Frage auf, wobei sich sein Ausdruck noch weiter verfinsterte als ohnehin schon. Scheinbar hatte wirklich nur er eine echte Gefahr bekommen und keine reine Illusion. Super. Sonderstatus, wie er es jetzt schon liebte.
      Auf Josephines Reaktion hin linste er zu ihr herüber. Wie konnte die nur so aussehen, wenn die ständig so viel fraß wie eine komplette Fußballmannschaft? Gerade wollte er zur Antwort anheben, da wurde die Tür geöffnet und Jasper fuhr herum. Herein kam Umar, der wortwörtlich aussah, als hätte er einen Geist gesehen.
      „Das nennt man nicht scheiße, sondern entgeistert“, korrigierte er sie und war der einzige, der vom Tisch aufstand und dabei fast über die eigenen Füße stolperte. Scheiß Koordination. Er fühlte sich noch immer nicht wieder voll Herr seiner Sinne, aber immerhin besser als zuvor. „Und nein, meins war's nicht. Ich durfte mit einem Werwolf spielen.“
      Als Beweis zeigte er ihnen sein durchlöchertes Shirt, wo bleiche Haut blitzte. Haut und Fleisch hatte Avicenna geheilt, aber Stoffe waren unwichtig. Er würde sich wohl neue Klamotten besorgen dürfen. Dann stapfte er zu Umar herüber und bot ihm eine Hand an. „Hey, mann. Ignorier Josi einfach. Komm mit, das wird schon wieder.“
    • "Nun mal nicht so zickig, junger Mann!", keifte Josephine. "Ich kann nichts dafür, wenn du deine Prüfung nicht mit Bravour bestanden hast, wie du dachtest. Herrgott du bist ja schlimmer als meine kleine Schwester wenn sie ihre Tage hat. Meine Güte..."
      Außerdem würde sie den Versuch gerne sehen, wenn er versuchte, ihr einen Stock in den Hintern zu rammen. Vermutlich würde er nicht mal zum Stock kommen, ohne dabei in Selbstmitleid zu versinken.
      Morgan wunderte sich etwas, da er ihre Antwort nicht einmal mit einer Reaktion würdigte und zuckte die Achseln, ehe sie sich einen Tee eingoss. Umar sah wirklich nicht gut aus. Sein Äußeres spiegelte dabei nicht ansatzweise den Schaden in seinem Inneren wieder. Auch wenn der Meister alles zu heilen vermochte, einen Schaden auf seelischer Ebene konnte man nur schwerlich beheben. So war es auch nicht verwunderlich, dass Umar zusammen zuckte als Jasper ihm eine Hand darbot.
      Beinahe meisterhaft, wie sich der Gesichtsausdruck von Erschöpfung zu Panik änderte und Umar beinahe kreischend Abstand von Jasper nahm.
      "Fass mich nicht an!", schrie der Junge durch den Raum und hielt sich die Ohren zu, als könnte dies die Geräusche aus dem Raum verbannen.
      "Was ist denn nur los mit diesen beiden Verrückten?"; fragte Josephine und sah zu Umar. "Yo, Umar! Komm und setz dich an den Tisch. Es ist vorbei, du Heulsuse."
      "Es ist gar nichts vorbei!", donnerte der Junge. "Ihr habt vielleicht mit einem Werwolf gespielt oder Anderes gemacht..."
      "Ich habe eine Pandemie bekämpft", sagte Josephine ein wenig kleinlauter. Sie mussten nicht wissen, dass sie die Pandemie mit einem fehlgeleiteten Zauber verursacht hatte.
      "Toll!"
      Umar wollte weiterschreien, aber da öffnete sich die Tür erneut. Joya betrat mit Esha und ihrem neuen Rollstuhl den Raum. Fröhlich grinsend schob er das Gefährt und schien die gute Laune in Person zu sein. Sein linkes Bein war schwer bandagiert und eine Schulter schien etwas tiefer als die andere zu hängen, aber sonst ging es dem jungen Mann offenbar gut. Summend betrat er den Raum und wunderte sich über die feindselige Stimmung.
      "Hey...Leute?", fragte er in die Runde und fing sich einen bösen Blick von allen Beteiligten.
      "Es ist gar nichts toll!", rief Umar und trat aus Frust ein Kissen durch den Raum. Einar betrat den Raum als Letzter und schloss die Tür sorgsam, ehe er sich neben Esha und Joya stellte und dem Schauspiel frönte.
      "Es ist rein gar nichts toll! Ich habe keine Drachen besiegt oder Dörfer gerettet oder mit Werwölfen gespielt! Ich habe vier verdammte Jahre in die Zukunft gesehen! Und ihr habt nicht den Hauch einer Ahnung was auf uns zukommt! Was wir tun werden!"
      "Es war eine Illusion, Umar", bekräftigte Morgan. "Sie zeigen dir das Schlimmste. Und mal ehrlich, Jas: Ein Werwolf? Ein realer Werwolf? Die Dinger sind tödlich für Zauberer..."
      "Werwolf?", fragte Joya und Einar blickte interessiert zu Jasper.
      "Bei mir war es eine Schlange. Eine Riesige.", sagte der Isländer und nickte. "Es ist nicht immer alles Illusion, denke ich. Ich denke, ein Teil ist real. Oder die Illusion war das Beste was ich je gesehen habe."
      "Drauf geschissen!", donnerte Umar und sah zwischen allen hinterher. "Ihr habt keine Ahnung was geschehen wird...Wenn auch nur die Hälfte meiner Vision stimmt, dann werden in einem Jahr nur noch die Hälfte von uns leben. Und die Sieben Teufel wissen, wie es passiert!"

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    • Jasper zuckte wie im Spiegel vor Umar zurück, als dieser auf die ausgestreckte Hand reagierte. Nun war er es, der entgeistert drein sah und kurz geneigt war, seine eigene Hand zu mustern. Seine Aura war doch unter Kontrolle, wieso also...
      Dann hielt sich Umar die Ohren zu und Jasper wurde schmerzlich an sich selbst erinnert. So musste er also aussehen, wenn er wiedermal einen Anfall bekam. Sein äußerer Augenwinkel zuckte als Josephine unqualifizierte Kommentare einwarf. Wieder holte er Luft, um nun ernsthaft mit dem Stock zu drohen, da kam ihm der Araber zuvor. Da trat sogar Jasper einen Schritt zurück angesichts der Lautstärke, die ihm plötzlich entgegen schlug. Er warf einen beinahe anklagenden Blick über seine Schulter zu Josephine. Eine Pandemie. Wow, wie... na ja, immer noch besser als sich nur um einen Raum mit Menschen zu kümmern.
      Als wäre die Situation nicht schon verkorkst genug öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und ließ einen geschundenen Joya und eine erschöpft, aber zufriedener wirkende Esha ein. Im Gegensatz zu dem Afrikaner fasste sie die Lage schneller und der entspannte Ausdruck wich sofort einer leichten Variante der Sorge. Sie verstand binnen Sekunden, dass von Umar der Aufruhr rührte.
      Sie alle, eingeschlossen Einar, der sich erbarmte und die Tür wieder schloss, sahen Umar dabei zu, wie er Kissen durch die Gegend trat. Seine Unruhe schien den ganzen Raum auszufüllen, sodass Esha schließlich mit der flachen Hand die von Joya antippte, damit er auf sie aufmerksam wurde.
      „Fahr mich zu ihm“, forderte sie ihn auf, „ich kann ihm helfen.“ Doch der junge Zauberer machte keine Anstalten, das Gefährt auch nur einen Zentimeter näher an den Araber heran zu fahren. „Joya, bitte!“, versuchte sie es erneut leise, abermals reagierte er nicht. Also versuchte sie mit ihren eigenen Händen die Räder des Rollstuhles zu bewegen – ohne Erfolg. Erst jetzt drehte sie sich halb zu dem Afrikaner um, um zu ihm aufsehen zu können. „Er hat eine Panikattacke und ich kann ihm helfen. Bitte fahr mich hin, dann kann ich ihm helfen!“
      „Glaubst du echt, dass er deine Hilfe jetzt annehmen würde?“, warf Jasper ein, der die Arme mittlerweile verschränkt hatte und Umar weiter seine Kissen treten ließ. Morgan schaltete sich ein, deklarierte es nur als eine Illusion und schien offensichtlich nicht zu glauben, dass ihr Kommilitone wirklich gegen einen Werwolf ran durfte. Allerdings ließ ihre Aussage ihn stutzig werden und sich zu ihr umdrehen. „Ist nicht prinzipiell alles tödlich, egal ob Zauberer oder nicht? Aber, ja, war ein echter. Zumindest war Marcella da sehr drüber aufgebracht.“
      Mittlerweile hatte Esha die Taktik gewechselt und sprach Umar direkt an, nachdem er weiter ausbrach. „Umar, hör zu... Wir wissen nicht, was du gesehen hast, aber 4 Jahre eine potenzielle Zukunft zu sehen macht Angst... Ich versteh das. Mir ginge es ähnlich wie dir, aber ich kann dir helfen, ja? Ich kann dir ein wenig deiner Angst nehmen, aber nur, wenn du mich lässt...“
      Bei Eshas flehendem Tonfall wurde sogar Jaspers schwer ums Herz. Wie er zuvor hatte sie ihre Hand in die Richtung des Arabers ausgestreckt, aber würde ihn ohne Weiteres nicht erreichen.
      „Umar, komm schon.... Wir können da nichts dran ändern. Wenn du nicht gesehen hast, wie es passiert, kann keiner was dagegen unternehmen. Komm jetzt her und setz dich. Ausrasten bringt keinem was. Komm schon, mann...“ Auch er versuchte, den aufgebrachten Umar wieder ein bisschen zu erden, aber so wie sie alle ihn anstarrten würde es wohl nichts werden.
    • Joya tat den Teufel das zu tun, um was ihn Esha bat. Sicherlich war der junge Mann zurückhaltend genug, um der schönen Asiatin nicht über den Mund zu fahren, aber das bedeutete nicht dass er nicht verstand, was sie vorhatte. Und anhand der Schädigung ihres Geistes, die sie selbst zugegeben hatte, würde er sich weigern.
      Doch ehe Joya auch nur die Stimme erheben konnte, zuckte Umar vor ihrer Hand ebenso zurück und hielt seinen eigenen Zeigefinger wie ein Mahnmal auf sie gerichtet.
      "Ich weiß was du vorhast und Gnade dir Gott!", sagte er schwer atmend und seufzte. "Wenn ihr wirklich glaubt, dass es helfen würde, mir einfach ein wenig der Angst zu nehmen, habt ihr wirklich weniger Hirn als ich dachte! Ihr habt nicht einmal eine Ahnung, was ich gesehen habe und wollt es sogleich ersticken?"
      "Jetzt beruhig dich schon, Umar"; sagte Morgan und erhob sich träge. "Ja, wir haben keine Ahnung und ja, wir sind nicht in deiner Lage. Aber du machst gerade aus einem Mücken einen Elefanten..."
      "Ach ja?!"
      "Ja, verdammt!", sagte nun auch Joya udn erhob das erste Mal laut die Stimme. "Es reicht jetzt wirklich! Von euch allen! Du!", er wies auf Umar. "Du setzt dich da vorne hin: Ja, nimm ein Kissen mit und schirm dich ab. Du!"
      Der nächste Wurf ging zu Morgan.
      "Du tust es ebenso! Und du, Jasper: Du setzt dich ebenso hin und hörst auf mit deinem Komm schon. Umar hat Angst und die wird nicht fortgehen wenn man ihn ermutigt und bedrängt. Also lass ihn eine Weile in seiner verdammten Kissenburg und er spricht von selbst. Und du:"
      Schließlich ging er um den Rollstuhl um und sah Esha ernst an. "Du hast noch Schädigungen von deiner Prüfung und wirst nicht mehr Gedankentieftaucher spielen für eine Weile, okay? Und jetzt...Lasst uns essen."
      Gedankenverloren trat Einar an den Tisch und grinste verschmitzt.
      "Wer hätte gedacht, dass unser schüchterner Junge derart komplementär wird", murmelte er und stopfte sich ein Brötchen in den Mund.
      "Halt die Klappe, Einar!", murmelte Joya und schob Esha mit hochrotem Kopf an den Tisch. "Also...Werwolf, hm?"
      Themenwechsel. Gute Idee.
      Einar nickte anerkennend und sah Jasper an.
      "Werwölfe sind nicht einfach für Zauberer, oder?", fragte er.
      Josephine erwachte aus ihrer Starre und nickte.
      "Sie sind sogar sehr gefährlich. Mit jedem Stadium der Raserei das sie durchbrechen werden Werwölfe stärker. Und da sie keine Aura haben, sind sie kaum zu greifen. Sie sind Massenvernichtungswaffen."
      "Kamen sie nicht auch in einem Krieg zum Einsatz?", fragte Morgan interessiert und nippte an ihrem Tee.
      Josephine nickte.
      "Ja...Glaube da gab es mal einen Zaubererkrieg oder so. Mittelalter oder Renaissance. Da wurden sie als Waffen eingesetzt. Wie groß war das Vieh? Man sagt ab 2,50 Metern gelten sie als Apex."

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    • Esha starrte eindringlich dem anklagenden Finger entgegen, den Umar auf sie gerichtet hat. Von so einem einfachen Fingerzeig würde sie sich doch nicht abhalten oder gar einschüchtern lassen. Erst recht, wenn sie sich noch kaum einer Schuld bewusst war. Allerdings fuhren sie allesamt zu Joya herum, als er das erste Mal die Stimme hob und kein Grinsen mehr sein Gesicht erhellte. Jasper wurde stocksteif als er angefahren wurde und machte direkt auf dem Absatz kehrt, die Augen in Unglauben aufgerissen, als er sich kommentarlos und artig an den Tisch setzte. Esha hingegen bekam eine etwas andere Behandlung. Sie fühlte keine Schuld als Joya um den Rollstuhl herum kam und auch sie mit dem Umstand konfrontierte, dass sie definitiv noch nicht in der Lage gewesen wäre, ohne Schaden Umar zu helfen. „Es sind keine Gedanken, nur Gefühle...“, stellte sie leise richtig und faltete die Hände im Schoß. Ganz frei von ein wenig Scham konnte sie sich dann doch nicht sprechen. Für sie war es sogar noch ein wenig beschämender, weil Joya sie an den Tisch heran schob und sich dann neben sie setzte.
      Jasper linste zu ihr herüber, dann zu Joya. Beide sahen aus, als hätte man sie bei etwas furchtbar peinlichem erwischt. Wenn auch vielleicht wegen verschiedener Gründe. Der aufkommende Themenwechsel führte die Gespräche wieder in seine Richtung und er war sich nicht recht klar darüber, ob es ihn freuen sollte oder nicht.
      „Ich hör ständig, dass die so gefährlich sein sollen. Aber ein Bär auf dem kleinen Raum wär genauso tödlich gewesen...“, murmelte er leise und kämpfte weiter mit seinem Brötchen. Zur Hölle, warum war sein verdammter Mund denn immer noch so trocken?!
      „Hah?“, machte er dann und verlor Krümel, die er hastig wieder in seinen Mund bugsierte. „Warte mal, was? Das stimmt doch gar nicht. Ygor hatte sogar zwei Auren, da bin ich mir vollkommen sicher. Der hat sogar geheult, als ich ein Fetzen seiner Aura gegriffen hab.“ Er sah in Gesichter mit verschiedenen Ausdrücken; Nachdenklichkeit, Unglauben, Zweifel. „Was? Ich muss es ja wohl wissen, ob es sich anhört wie der Ursprung der Illusion oder nicht. Das hat es nicht. Der hat mir mit seinen Krallen Löcher in den Bauch geschlagen, die Ha- …. Avicenna geheilt hat. Der war am Ende bestimmt 2 Meter oder so.“
      Er griff nach einer Schale, die unsagbar gut nach gebratenem Fleisch roch. Was auch immer es sein mochte, es würde jetzt sein Ende in seinem Mund finden. „Er hat sich vor meinen Augen verwandelt und das war schon echt verstörend. Die Geräusche... widerlich. Aber ja, er war verdammt schnell und wahnsinnig stark.“ Er schluckte. „War.“
      Hätte es es besser gemacht wenn Jasper Ygors Ende mitbekommen hätte? Das war fraglich. Bei den beiden Malen, in denen er gesehen hatte, was er angerichtet hatte, war das Bild kein schönes gewesen. Seine Kommilitonen mussten ja nicht wissen, dass er es ohne Bewusstsein getan hatte.... Aber er würde definitiv das Gespräch mit Avicenna suchen.
      „Ich versteh nur nicht, warum man mir einen echten Werwolf rein setzt.... Ich kann nicht kämpfen, das wusste er...“
      Esha hatte sich indes zu Joya herüber gelehnt und schien der Unterhaltung über Jaspers Erfahrung nur halbherzig zu folgen. „Danke. Ich weiß das zu schätzen, dass du dir Gedanken über mich machst“, flüsterte sie ihm leise zu und manchmal war es durchaus nützlich, wenn man über ein eingeschränktes emotionales Vermögen verfügte. „Hoffentlich denkst du jetzt nicht, dass ich ständig unkluge Entscheidungen treffe.... Vielleicht solltest du nicht mehr so häufig von meiner Seite weichen.“
      Dann lehnte sie sich wieder zurück und richtete den Blick auf Einar. „Sag mal, warum hast du eigentlich über beide Ohren gegrinst als du aus deiner Prüfung kamst? Ich glaube, nicht einer von uns war auch nur annähernd an einem Schmunzeln dran außer dir. Was ist bei dir passiert?“ Sie hatte genau gesehen, wie der Isländer an Marcella vorbei gegangen war und es aussah, als hätte er den besten Tag seines Lebens gehabt. Ungewöhnlich, bedachte man die schreckliche Nacht, die er gehabt haben muss.
    • Joya nutzte die Zwangspause, welche sein Ausbruch der Gruppe gegeben hatte, dafür aus, seinen hochroten Kopf hinter dem Auftun von Essen zu verstecken. Beinahe unbewusst senkte er den Blick als Esha seine Aussage richtig stellte und fragte sich, ob sie ihn jetzt verabscheute, da er ihr unfreundlich über den Mund gefahren war. Unfreundlichkeit war nicht gut. Unfreundlichkeit wurde bestraft. Zumindest dort, wo er herkam.
      "Ja sicher!", tompetete Josephine mit vollem Mund und seufzte theatralisch. "Weißt du, ich glaube manchmal du bist unter Wilden aufgewachsen. Jeder, der magische Medizin studiert hat, weiß, dass Lykanthropie eine Krankheit ist, die die Aura nicht befällt. Also kann ein Werwolf folglich keine haben. Vielleicht hast du nach seiner Struktur gegriffen oder dich verhört. Ich meine, es war eine stressige Situation?!"
      Morgan nickte bedächtig, dennoch ruhte ihr Blick auf Jasper und sie dachte über seine Aussage nach. Langsam erhob sie die Stimme und sah Josephine an.
      "Weißt du...Ich denke, wir sollten Jaspers Geschichte ein wenig beleuchten. Auch wenn es per se nicht möglich sein sollte, war der Werwolf dort real. DIe Wunden habe ich selbst gesehen. Und wenn er wirklich an die zwei Meter groß war...Ich meine, vielleicht übersehen wir etwas..."
      "Klar! Wir und 200 Jahre Forschung", murmelte Josephine und schüttelte den Kopf. "Illusion hin oder her. Eine Verwandlung - da stimme ich dir zu - ist widerlich mitanzusehen aber zwei Auren? Das würde bedeuten, dass mit der rechten Methodik Lykanthropie heilbar wäre. Und glaubt ihr nicht, dass hätte Jemand vielleicht entdeckt?"
      "Vielleicht hat es ja Jasper?", fragte Joya neugierig und zuckte die Achseln. Es war ihm zuviel Fachgesimpel und sachte verspürte er ers danach eine sanfte Brise an seinem Ohr.
      Zu seinem Erschrecken roch er den betörenden Duft der asiatischen Zauberin in seiner Nähe und konnte nicht verhindern, dass er stocksteif wurde und sich sogleich fragte, ob sein Deodorant noch hielt?! Was wenn nicht? Schweigsam sah er sie an und versuchte eine geschlagene Minute lang, wieder Atem zu fassen, ehe er mit frisch errötetem Kopf zu Esha sah.
      "Ich...also...Nein, sowas...Sowas würde ich nie d-d-denken, also...", stotterte er und geriet ein wenig ins Schlingern. WOllte sie dass er blieb? "Also...Ja. Ja, vielleicht sollte ich das..."
      Herrgott, dachte sich Josephine musste aber dennoch ein wenig grinsen ehe sie sich wieder Jasper zuwendete.
      "Nun, egal wie es war. Du hast es geschafft. Wir haben es geschafft! Und frei! Was habt ihr vor?"
      Morgan grinste breit und nickte ehe sie den Tee austrank.
      "Ich werde ins Dorf gehen, denke ich. Habe gehört, es sollte ein wenig Spaß in den Etablissements zu finden sein."
      "Aber da gibts doch nur eine Kneipe und ein Bordell?"
      Das Zwinkern, das Morgan durch den Raum gab, sollte diesbezüglich alles sagen. Sie war auch nur eine Frau, die ihre Bedürfnisse ungern zurückhielt. Und da Jasper sich ja nicht freiwillig hingab...
      "Und du, Jasper?", fragte Morgan.
      Eshas Frage jedoch holte sie in die Realität zurück. Der Isländer sah ertappt auf und Esha an, wärhend er noch ein Stück Fleisch kaute. Mit einem überschwänglichen Getue schluckte er es hinab und sah sie mit schiefliegendem Kopf an.
      "Gegrinst?", fragte er mit ruhiger, tiefer Stimme. "Ist mir gar nicht aufgefallen. Ich war glücklich denke ich. Glücklich, es geschafft zu haben. In meiner Prüfung griff eine Riesenschlange mein Dorf an. Jomungandr war groß wie ein Berg und von furchtsamer Gestalt. Als Kind habe ich mich immer davor gefürchtet und musste zusehen wie sie alles tötete, was ich liebte. Und heute...Heute konnte ich sie in Schach halten. Das war etwas Gutes, denke ich."

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    • „Ey, Menschen sind keine Wilden. Ich hab doch gesagt, dass ich mich nie damit beschäftigt hab, was irgendwie Magie betrifft“, wehrte Jasper pikiert ab. „Klar war das 'ne stressige Situation, aber ich werd ja wohl besser als jeder andere wissen, was ich höre und was nicht.“
      Und das waren zweifellos Auren. Allerdings schmeckte das Brot in seinem Mund allmählich fade und er musste mit heißem Tee nachhelfen. Man forschte so lange schon an Lykanthropie und hatte es bisher als unheilbare Krankheit angesehen? Vermutlich weil es kaum Zauberer gab, die Auren fühlen konnten? Oder weil sie schlichtweg nie in Kontakt mit Werwölfen kamen? Verdammt, er hatte ja nicht einmal gewusst, dass es Kriege gegeben hatte, in denen man die Wölfe als Waffe eingesetzt hatte. Dass dann aber Morgan seine Sicht der Dinge sogar vertrat, entlockte ihm einen erstaunten Blick.
      Esha indes hatte Mühe ein Grinsen zurückzuhalten. Allen am Tisch war nicht entgangen, wie Joya sie eine satte Minute lang anstarrte, wobei niemand ihren genauen Wortlaut gehört hatte. Dazu zählte auch Jasper, der keinen Hehl aus einem Grinsen machte angesichts des Stotterkampfes, den der Afrikaner mit sich selbst gerade austrug.
      Stimmte ja, sie hatten den Rest des Tages frei. Vielleicht würde er den Umstand nutzen und Avicenna aufsuchen, um die Sache mal anzusprechen. Sofern er denn Zeit hätte und man ihn in diesem riesigen Gelände auch finden mochte. Er hörte nur halbherzig zu, was die Pläne der anderen betraf bis Morgan irgendwas von Etablissement redete und Josephine die Sache spezifizierte. Augenblicklich gaffte er Morgan an, die völlig ungeniert ein Zwinkern in die Gruppe warf. War das ihr ernst? Die ging einfach so in ein Dorf und suchte das Bordell auf? Einfach.... so? Ihm selbst würde das nicht im Traume einfallen. Vielleicht, weil er noch so einfältig war und davon ausging, dass man eine Beziehung zu einem Menschen haben musste, bevor man mit ihm schlief. Scheinbar roch Morgan die Lunte und fragte direkt Jasper, der sie mit offenem Munde anstarrte und nicht wusste, was er sagen oder gar fühlen wollte.
      Jedenfalls bis seine Beine plötzlich warm und dann heiß wurden. Er hatte nicht bemerkt, dass er den Becher gekippt hatte. „Scheiße!“, fluchte er laut auf und stellte eilig den Becher wieder weg, um mit Servietten seine Hose wieder zu trocknen. Weitere leise Flüche wurden vor sich hin gemurmelt als er seine Hose versuchte zu trocknen.
      Esha hatte für diesen Zirkus gerade keinen Kopf. Stattdessen beobachtete sie, wie Einar ertappt aufsah und vermerkte sich dies gedanklich. „Das war mehr als nur glücklich sein. Wenn du glücklich bist, schau dir Joya an. Aber dein Grinsen war anders, das ging von hier bis hier.“ Sie untermalte ihre Worte indem sie ihm auf ihrem eigenen Gesicht anzeigte, wie krass er gegrinst haben musste. „Selbst Marcella war irritiert und hat dich so angesehen. Selbst wenn das eine Illusion gewesen war, es war Jormungandr, da muss doch irgendetwas an dir heften geblieben sein. Ich bin auch aus meiner Situation gut herausgekommen, aber unversehrt war ich nicht. Du.... scheinbar schon.“
      „Seit wann gibt’s ne Messskala für ein Grinsen?“, murrte Jasper, der mittlerweile aufgestanden war, um den Schaden zu begutachten. Jap, er würde sich eine neue Hose anziehen müssen. Genervt seufzte er, aber die flüchtigen Blicke zu Morgan konnte er einfach nicht abstellen. Erst verpetzte sie ihn, dann stellte sie sich auf seine Seite und jetzt zog sie ihn schon wieder direkt auf? Er würde Frauen nie verstehen, wenn die alle so waren wie Morgan oder so zickig wie Josi... „Ist doch gut, wenn er was geschafft hat, was er damals nicht konnte. Gönn ihm doch den Triumpf und interpretier da nicht immer mehr rein, als da ist.“
      Esha warf Jasper nur einen kurzen, scharfen Blick zu. Dann nippte sie an ihrem Tee und musterte Einar. Sie alle hatten gesehen, was mit seinem Kelch passiert war. Dass er die Schlange einfach nur in Schach gehalten hatte, kaufte sie dem Jungen nicht ab. Sie alle konnten sich nur auf das verlassen, was der jeweils andere erzählte und bisher glaubte sie nur Jasper seine Geschichte vollends. Und vielleicht Josephine, wobei es schon ein wenig überheblich wirkte, dass sie eine Pandemie allein aufgehalten haben wollte.
    • Josephine betrachtete Jasper noch eine ganze Weile. Zugegeben, seitdem sie von Jaspers Kräften wusste, musste sie eingestehen, dass er vermutlich besser Auren fühlen konnte sals jeder andere hier im Raum. Und zutreffend war auch, dass es nur wenige Zauberer gab, die man Empathen nannte. Zauberer, die mühelos verschiedene Auren klassifizieren und unterscheiden konnten. Vielleicht...Und nur vielleicht...konnte der Junge ja recht haben.
      "Hm...Möglich", gab sie schließlich zu und seufzte. "Aber wir werden es wohl nicht herausfinden. Das Wölfchen ist ja nun nicht mehr."
      Wenn man betrachtete, was sie alle bis vor kurzem noch durchgemacht hatten, war Joyas Unsicherheit ein durchaus angenehmer Fleck Wohligkeit in diesem Elend. Grinsend sahen die übrigen Schüler zu Joya, der erst jetzt bemerkte, dass sie alle zugehört hatten. Röter hätte sein Kopf nicht werden können und der Afrikaner verschüttete beinahe seinen Tee.
      Sie alle waren verunsichert über Morgans Aussage, die sich beinahe prächtig über die bestürzten Blicke amüsierte. Ein breites, unberechenbares Grinsen glitt durch das ebenmässige Gesicht und ihre Augen schienen zu funkeln, während Jasper nach einer Antwort rang. Nur um sich sogleich seinen sorgsam ausgesuchten Tee über die Hose zu kippen.
      Schlagartig brach die Meute in leises Gekicher oder aber wieherndes Lachen aus (Morgan), die ihn amüsiert betrachtete. Hach, manchmal machte der Junge wirklich Spaß.
      "Kannst es dir ja überlegen, Jasper", sagte sie zwischen zwei Lachanfällen. "Vielleicht solltest du nur eine andere Hose tragen, aber sonst bist du gern eingeladen. DIe Märkte sollen gut sein und zumindest bekämen wir mal etwas zu trinken."
      Morgan zuckte die Achseln und sah sogleich zur Unterhaltung von Esha und Einar, die offenbar eine ungute Wendung nahm. Der Isländer wirkte ertappt und gleichsam verschlossen. Als versuche man ein Schloss zu knacken. Sorgsam gewählte, wachsame Blicke hefteten sich auf Esha und der Raum schien irgendwie enger zu werden. Nicht, dass er es bewusst tat, aber die Spannung in der Luft war greifbar. Und nicht gut.
      "Was meinst du mit heften geblieben?", fragte der Norde und seufzte. "Weißt du...Sicherlich empfinde ich Angst. Noch heute. Es ist eine verflucht große Schlange. Groß wie ein Berg und mit Augen so gelb wie die verfluchte Flammenhölle. Ihre Zähne sind länger als ein Haus und alleine ihre Aura drückt dich nieder wie eine übergroße Bratpfanne einen Plettfisch. Und zum Thema unversehrt..."
      Gerade wollte er mehr sprechen, da unterbrach Jasper die Situation und sorgte irgendwie für einen Lacher. Zumindest bei Einar, der schnaubte und lächelnd den Kopf schüttelte.
      "Jasper hat Recht, fürchte ich, Esha", sagte Einar ruhig und sah die Asiatin lächelnd an. "Sag mir, was du wissen möchtest und ich werde es dir wahrheitsgemäß beantworten. Aber eines sei gesagt: Mein Großvater sagte immer: Stell keine Fragen, auf die du die Antwort nicht möchtest."

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    • Jasper warf zwischenzeitlich die Arme in die Luft aus reinem Frust. Diese dämliche Serviette fluste auf seiner Hose und nun hatte er neben einem Fleck auch noch weißen Nebel, der von Weitem aussah, als würde er Schimmeln. Einfach nur Groß.Artig.
      „Könnt ihr mal aufhören zu lachen? Das war scheiße heiß!“, fluchte er weiter und warf die angematschte Serviette wieder auf den Tisch. „Morgan, vielleicht wär ich ja auf deine Einladung eingegangen aber a) hab ich praktisch kein Geld bei mir und b) trink ich kein Alkohol. Ich bin minderjährig, schon vergessen?“
      Nicht, dass das einen Großteil der Jugendlichen davon abhielt sich zu besaufen, aber ohne Clique war das ganze schon maßgeblich anders. Er hatte keine Freunde, keinen Kreis gehabt, der ihn irgendwie beeinflussen konnte. Sein Leben bisher bestand aus der Schule, die er mehr schlecht als recht schaffte, und seinem Leben zuhause vor den Bildschirmen, die ihn effektiv vor der Welt da draußen schützte.
      Eshas Blick hingegen veränderte sich kaum. Ihr entging natürlich nicht die drohende Enge und dass sich der Isländer scheinbar genötigt fühlte, darauf zurückzugreifen, sprach mehr als tausend Worte. Selbst ohne die Privatsphäre eines anderen zu infiltrieren spürte sie bei diesem Zauberer nicht die Angst, wie Umar sie beispielsweise förmlich ausatmete. Oder die Scham, die Joya noch immer umgab wie eine zweite Haut. Die Anspannung, die Jasper ständig zu begleiten schien. Selbst aus dem Lächeln, das er ihr nun präsentierte, wurde sie nicht ganz schlau. Er warf sich in Schatten so wie es seine Fähigkeit wohl tat.
      „Entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten, ich war nur... verwundert“, glättete sie ein wenig die Wogen und friemelte an ihrem Becher herum. „Magst du mir dann nur eine Sache beantworten? Was fühlst du, wenn du deine Fähigkeiten benutzt?“ Ihre Augen waren auf Einar fixiert, damit ihr keine Reaktion entging.
      „Morgan, ohne Spaß, ich glaub, du musst nicht mal in dieses Dorf für was auch immer. Ich bin heute Morgen schon in ein Zimmer gerannt, wo ein Arzt eine hoffentlich Kollegin tiefgreifend untersucht hat“, sagte Jasper indes am anderen Ende des Tisches und kniete sich so halb vor den Tisch, weil er wenigstens sein Essen noch zu Ende bringen wollte. Sein Blick ging dabei zu Josephine, die immer noch am stopfen war und eigentlich langsam mal platzen müsste.
      „Sag mal, du geierst Avicenna ja ständig hinterher. Weißt du, wo ich den finden kann? Ich glaub, ich muss da noch das ein oder andere mit dem besprechen. Ich wette mit dir, wo ein Werwolf war ist noch ein anderer. Gibt's eigentlich noch mehr Dinge, von denen ich wissen sollte? So, Einhörner und Drachen und so Fabelwesen? Sag mir nicht, dass das alles keine Fabeln sind.“
    • Das Lachen verstummte nicht merklich als die Meute beobachtete, dass der Junge nicht nur anfing sich zu bekleckern sondern nunmehr aussah wie ein ausgereifter Schimmelpilz. Wenn er nicht so theatralisch und zickig wäre, dachte Morgan, wäre er sogar bisweilen als attraktiv zu werten, aber so? Er glich einem Jungen, der sich nicht mehr rauswinden konnte. Stattdessen grinste Morgan weiter und zuckte die Achseln.
      "Na wenn du meinst", sagte sie. "Das Geld hier kein Problem ist, sollte bekannt sein. Zumeist ist das meiste für uns kostenlos. Aber wenn der Herr keinen Alkohol trinkt, wird das mit dem Spaß sicherlich schwierig. So verklemmt wie du bist..."
      "Morgan, versuchst du ihn zu verführen?", fragte Josephine und setzte erst jetzt das Essen ab, um entsetzt in Morgans Richtung zu sehen.
      Eine Sekunde lang hätte man meinen können, eine Röte stahl sich auf das Gesicht der Amerikanerin. Und vielleicht, nur ganz vielleicht, wenn man genauer hinsah, konnte man einen Bruch in der grinsenden Miene betrachten, ehe sie schnaubte und sich neuen Tee eingoss.
      "Sorry, aber nein", bekannte sie. "Jasper mag ja ganz ansehnlich sein, aber zickige Weiber reichen mir schon. Da brauch ich nicht noch einen zickigen Kerl."
      Ruhig erhoben sich Morgan und Josephine von ihren Plätzen und streckten die Knochen.
      "Ich werde dann mal gehen", sagte Morgan. "Warte nicht auf mich, Schätzchen", grinste sie Jasper zu. "Ich übernachte vielleicht außerhalb."
      Josephine lachte nochmals kurz auf und Joya winkte ihr nur zu. Dennoch, der Abgang der jungen Frau war nicht halb so interessant wie die Unterhaltung zwischen Einar und Esha, die sich langsam zuspitzte.
      "Schon in Ordnung", sagte der Isländer und das schwarze Haar verhing die hellen Augen, die regelrecht leuchtend zu Esha sahen. "Neugierde ist in meinem Volk keine Sünde. Und wenn du es wissen willst..."
      Sachte richtete er den Kopf auf, sodass sie sein Gesicht sehen konnte. Damit sie genau das sehen konnte, was er empfand. Eine brachiale Eiseskälte stach durch seine Augen und schien den Raum nicht nur enger zu machen. Einar konzentrierte sich nicht darauf oder tat es bewusst. Es schien so, als würde die Finsternis aus jeder seiner Poren kriechen und sich wie Insekten in den Ecken des Raumes verstecken, wo die Dunkelheit tiefer wurde.
      "Nichts empfinde ich", sagte er geheimnisvoll.
      Wie hätte er die Wahrheit sagen sollen? Das er Glückseligkeit empfand? Zufriedenheit? Befriedigung in der Finsternis, wo keines Mannes Hand ihn erreichte? Sie würde das nicht verstehen...Keiner verstand es.
      Erst als Jasper wieder das Wort an die jungen Frauen richtete, verschwand die Düsternis in den Ecken und wich dem Licht.
      "Wie redest du mit mir, Arschling?", keifte Josephine und sah ihn scharf an. "Ganz vorsichtig, du verzweifelter eifersüchtiger kleiner Sack! Ich kann nichts dafür, dass dein Leben scheiße und deine Begierden offenbar nicht gestillt werden. Vielleicht hat dich auch deine Mutter nicht lange genug gestillt, keine Ahnung. Aber vielleicht probierst du es mal in einem angemessenen Ton!?"
      "Avicenna ist oben", sagte Joya und brach erneut die Situation mit seiner sanften Stimme auf. "Er ist im Turm, in seinem Gemach. Dort gibt es ein Studierzimmer, gleich rechts neben dem Treppenaufgang."
      "Woher...", fragte Morgan, die bereits auf dem Weg nach draußen war.
      "Ich habe einen seiner Knöpfe am Kaftan verhext, als er nicht geschaut hat. Dachte es wäre nützlich, zu wissen, wo er ist."

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • „Wie, das Geld ist hier kein Problem??“ Offensichtlich hatte Jasper da noch was überhört oder schlichtweg vergessen. Daran hatte er gar nicht gedacht. Scheinbar galt dieses System für all jene, die hier die Ausbildung in Anspruch nahmen. Zählte er dann auch dazu? Selbst wenn er sich selbst hierher aufgequatscht hatte? „Ich hab halt noch nie -“
      Er brach ab als sich Josephine zwischenschaltete und einen entsetzten Blick zu Morgan warf. Mit Sicherheit würde sie es sofort dementieren, immerhin war er ja offensichtlich nicht ihr Typ. Also, so richtig nicht ihr Typ. Das sofortige Ausbleiben von Widerworten ließen so ziemlich alle Spannungen in Jasper buchstäblich zerplatzen. Sein Hirn begann sofort seine eigenen, wahnwitzigen Rückschlüsse zu konstruieren und der Ausdruck, den Morgan nur ganz ganz kurz zeigte, bestätigte dieses Vorhaben auch noch. Mit leicht geöffnetem Mund starrte er die Amerikanerin an, die sich Tee nachschüttete und erst dann die Worte fand, auf die er schon lange gewartet hatte. Vielleicht hatte er gewisse Umstände einfach falsch interpretiert. Oder sie beide vielleicht? Er spürte richtig, wie sein Hirn zu schmerzen begann, als Morgan ihren Abgang hinlegte und er ihr einfach nur hinterher starren konnte.
      Sein Starren wurde jäh unterbrochen, als seine eigene Aura alarmiert zu schrillen begann. Er zuckte so heftig zusammen, dass sein Knie gegen den Tisch knallte und er schon wieder fluchte, als Einar – warum auch immer – seine Aura nutzte, ob nun wissentlich oder nicht. Prompt lief es Jasper eiskalt den Rücken herunter und die Melodie, die den Isländer umfing, war zeitgleich schön und grausig. „Meine Güte....“
      Auch Esha fröstelte sichtbar, auch wenn sie den Blickkontakt nicht brach. Dort wo sie herkam wurde ihr mit allen Mitteln beigebracht, nicht nur auf ihre Aura zu vertrauen wenn es darum ging zu erörtern, was Menschen fühlten. Und so war sie vermutlich die Einzige hier, die nur vom Sehen her bestimmen konnte, dass Einar Lügen sprach. Während sich Jasper regelrecht paranoid umzuschauen begann, blinzelte Esha lediglich ein paar Mal und ließ zu, dass ihr Gegenüber eine Spur des Erkennens in ihrem Blick lesen können würde. „Das ist in Ordnung“, erwiderte sie nur und hoffte, dass er die Doppeldeutigkeit daraus ablesen können würde.
      Danach lächelte sie Einar an, nickte ihm dankend zu schloss sich dem anderen Gespräch wieder an, das sich gerade aufbaute.
      „Wenigstens himmel ich Avicenna nicht vor versammelter Mannschaft an!“, giftete Jasper zurück bevor wieder Joya dazwischen ging und mit seiner sanften Stimme der Sache irgendwie einen Riegel vorschob. Esha kicherte dabei leise und streckte ihre Hand nach dem Afrikaner aus, um ihn kurz an seiner Schulter zu tätscheln.
      „Sehr praktisch, wie ich finde. Ich wusste doch, dass Thaumaturgie richtig nützlich ist.“
      Das ging auch Jasper so. Er grinste Joya an, so als hätte er ihm den Tag gerettet. Was er definitiv nicht hatte, aber das machte es um einiges leichter. Vielleicht konnte er ihm ja eine Art Tracker anfertigen.... „Cool, danke. Ich geh ihn gleich suchen.“
      Damit stand er ein wenig zu hastig auf. Sein Blick huschte zu Morgan, die innehalten hatte, und damit die Chance war. Er joggte schon fast zu ihr herüber und hätte fast nach ihrem Arm gegriffen, besann sich aber im letzten Moment eines Besseren. Allerdings kam er ihr schon ein wenig näher, damit ein Kotzbrocken namens Josie nicht wieder lauschte.
      „Sag mal, hast du einen Moment? Bevor du in die Stadt gehst?“ Er redete leise und deutlich sanfter als zuvor. Das Geplänkel hatte dafür gesorgt, dass sein Verstand sich wieder neu setzen konnte und er nicht mehr ständig an Ygor dachte. „Ich muss dich noch was fragen bevor ich später zu Avicenna geh.“
    • "Arroganter Fatzke", nuschelte Josephine und sah zu Umar, der noch immer ein Kissen knetete, ehe sie wehenden Mantels den Raum verließ.
      Joya sah der Abrauschenden hinterher und seufzte schwer, ehe er sich zu Esha umdrehte und lächelte. Ein Lob zu seiner Magie war selten und es wäre gelogen, wenn er es nicht genossen hätte. Und es kam von ihr. Wenngleich er fürchtete nutzlos zu sein, wurde zumeist die Thaumaturgie stark unterschätzt. Vielleicht war dies auch der Grund weshalb Avicenna ihn hierher gebracht hatte.
      "Es ist durchaus praktisch, ja", bestätigte er nickend. "Zumeist kann ich nicht viel aber manches Mal denke ich mit."
      Beinahe hätte er das ganze Angiften ignorieren können, doch Jasper setzte einen nicht unwirklichen Punkt in die Masse. Jeder hier hatte Josephines roten Kopf gesehen, als sie wortlos aus dem Raum gestürmt war. Dass jedoch auch Morgan leicht errötete, hatte niemand wirklich gesehen. Joya ließ sich nicht zu einem Gedanken hinreißen, aber bemerkenswert war es schon.
      "Das war nicht gut, Jasper", murmelte er dem Jungen zu. "Man weiß doch nie weshalb man sich die Nähe von Menschen wünscht. Vielleicht hat Josephine ein Problem?"
      Unterdessen lehnte sich Einar zurück und nickte ebenso Esha zu. So wie sie die Gefühle enttarnte wusste Einar, wenn man ihn belog. Zumindest flüsterte es ihm die Stimme in seinem Kopf zu. Doch genug war genug. Zumindest vorerst. Auch wenn ihre Antwort ihn innerlich durchaus ein wenig aufwühlte. Warum glaubte er, dass es ihrerseits nicht in Ordnung war? Sie war nicht in seinen Gedanken und Gefühlen. Das würde er merken...
      Kopfschüttelnd sah er zu Jasper und grinste.
      "Bin auf deiner Seite, Mann", sagte er lautstark und erhob sich von seinem Sitz. "Ich weiß nicht wie ihr es seht, aber es ist schon recht deutlich, dass Jo dem Meister gefallen will."
      "So wie wir alle", giftete Morgan und zog eine Augenbraue hoch. "Erstaunlich...Es kann sprechen."
      "Wenigstens spreche ich noch und träume nicht von nackten Jungs", sagte Einer und zwinkerte ihr zweideutig zu. "Ich mach 'nen Schuh. War mir ein inneres Blumenpflücken. Wir sehen uns..."
      Noch ehe Morgan etwas sagen konnte, war ihr Kopf hochrot angelaufen und sie biss sich vor Wut auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Sie würde diesem eingebildeten Idioten Manieren beibringen wenn keiner hinsah. Auf die gute, alte Art. Mit einem Stöckchen in die Fresse. Bis einer weint.
      Noch ehe sie ihre wunderbaren Fantasien ausleben konnte, kam Jasper ihr näher. Mal wieder Jasper. Nerviger, kleiner, eifersüchtiger Jasper...
      Doch seine Ansprache war erstaunlich beruhigt und irgendwie beinahe diplomatisch. Da schau einer an, dachte sie amüsiert und nickte.
      "Klar. Aber vor der Tür. Die Wände haben nicht nur Ohren wie mir scheint", giftete sie in den Raum und schob Jasper vor die Tür. "Was ist?"

      Drinnen seufzte Joya lautstark auf und sah zu den Verbliebenen.
      "Ich glaube, das werden anstrengende drei Jahre", murmelte der Afrikaner und das erste Mal erhob sich Umar aus seinem Kissen.
      "Es werden tödliche...", flüsterte er.
      "Geh schlafen, Umar", sagte Joya. "Geh schlafen und morgen ist ein neuer Tag. Oder mach etwas schönes."
      Erst dann schien ihm etwas einzufallen und er sah sich zu Esha um.
      "Was möchtest du machen? Also nicht dass ich mich aufdrängen will, ich...Ich wollte fragen, ob ich dich irgendwo hinbringen kann?"

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    • „Du, ich hab auch ehrlich gesagt wenig Lust hier noch länger mit meiner Fusselhose zu stehen“, grinste Jasper, selbst wenn Morgan nur noch Gift spuckte. Anscheinend hatte nicht nur er einen wunden Punkt bei Josi getroffen, sondern Einar auch bei Morgan. Natürlich bekam man seine Fantasien nicht gern vor versammelter Mannschaft präsentiert, aber was war da schon Schlimmes dran von nackten Körpern zu träumen? Sie alle waren hormongesteuert.
      Draußen stellte sich Jasper so, dass die vorbeiziehenden Leute maximal seinen Rücken und seine Seite sehen konnten. Die Front versuchte er so gut es ging zu kaschieren, zumindest bis er sich was Neues hatte besorgen können. Aber nun musste er sich erst mal ein Herz fassen.
      „Hör mal...“, fing er an und ihm wurde wieder einmal bewusst, dass Morgan größer war als er. „Ich war ein bisschen angepisst. Du bist nach heute Morgen einfach abgerauscht, kommst in die Prüfung mit Avicenna rein und danach musste ich meine Kopfhörer abgeben. Hast du mich angekreidet oder so?“
      Man hörte ihm deutlich das Unwohlsein in der Stimme an. Wo es keine Freunde gab, da mangelte es auch an Konflikten, die es zu lösen galt. Deswegen stellte er sich ein wenig unsicher an, hatte seine Hände ständig in Bewegung oder kratzte sich am Kopf. Oder an der Nase. Oder am Arm. Dabei ließ er tunlichst aus, dass es ihn seltsam getroffen hatte, wie der Arkana ihr seinen Arm um die Schulter gelegt hatte. Das hätte auch was rein freundschaftliches sein können, versuchte er sich einzureden nur um dann daran zu denken, dass der Heiler es bei niemanden sonst so getan hatte. Nicht mal Josi bekam diese Form der Aufmerksamkeit vor den Augen anderer zuteil.
      „Ich dachte, du willst mir eins auswischen wegen der Kopfnuss. Ich brauch meine Kopfhörer, sonst dreh ich irgendwann durch nachts. Irgendwie hat sich das alles angesammelt und keine Ahnung.... Sollte nicht kurz angebunden oder so rüberkommen, okay? Für mich ist das alles hier.... neu.“
      Er gestikulierte mit der Hand um sie herum. Nicht nur das ganze Magiezeugs war ihm neu, sondern auch die Interaktion mit anderen in seinem Alter. Er lernte gerade viele Dinge im Crashkurs, sodass ihm manchmal der Kopf zu schwirren begann.

      Esha legte den Kopf in den Nacken und hing mit dem Kopf über das Rückenteil des Rollstuhles. Sie wollte doch einfach nur Frieden haben und dass sich alle verstanden. Hier tat doch niemand dem anderen was, dann sollte das doch wohl nicht so schwierig sein.
      „Tja, wenn die sich alle so gegenseitig anfahren, bestimmt“, pflichtete sie bei und musterte die geschwungene Decke mit ihren tollen Mustern.
      Es raschelte, als sich Umar aus seiner Feste aus Kissen befreite, wo man ihn beinahe hätte vergessen können. Esha konnte nicht anders als ihn zu ignorieren nachdem es hieß, sie solle sich nicht über der Maße hinaus in die Sache hineinsteigern. Und da sie ihm immer noch hätte helfen wollen, ignorierte sie ihn lieber. Sie blinzelte jedoch Joya heller an, als er sie nach ihren Plänen fragte.
      „Hm, also so leichtfertig entscheiden in das Dorf zu gehen kann ich ja nicht. Ich bin ja schon froh über den Rollstuhl.“ Sie klopfte mit ihrer flachen Hand auf eines der Räder an ihrer Seite. „Ich habe keine besonderen Pläne, was das angeht... Ich bin sonst immer gerne dort, wo es keine Dächer über meinem Kopf und Wände um mich herum gibt. Die Gärten sind zum Zeitvertreib immer ganz schön. Wobei ich auch gehört hab, dass es hier irgendwo ein Aquadukt geben soll und demnach ein Wasserquell. Wusstest du, dass ich trotz der Lähmung ein bisschen schwimmen kann?“
      Sie lächelte Joya an und spürte, wie ihr immer mehr ihrer emotionalen Brandbreite zur Verfügung stand. In einer ausladenden Bewegung nahm sie die Arme hoch und verschränkte sie hinter ihrem Kopf.
      „Wenn du ein bisschen Gesellschaft haben möchtest kannst du mich auch da mit hinnehmen, wo du hingehst. Ich lass mich einfach von dir kidnappen.“