Nur dieses eine Mal, das konnte doch nicht wehtun, oder? Nathaniel wusste, dass er niemals die Erlaubnis seiner Familie bekommen hätte, wenn er gefragt hätte. Der Schnee stob unter seinen Pfoten auf, als er auf die Hillsbury Bridge zurannte. Nur einmal über die Brücke, dann war der Zaun nicht mehr weit. Einen Tag vor seinem Geburtstag hatte er dieses Jahr die Entscheidung getroffen, dass er einen Blick riskieren konnte. Er war alt genug, stark genug und hatte sich belesen. Was sollte schon schiefgehen? Schon von Weitem sah man die Spitze des gigantischen Weihnachtsbaumes, der den Marktplatz von Three Falls schmückte - zumindest den Marktplatz der Menschen. Auf der anderen Seite - auf seiner Seite - gab es kein Weihnachten. Die wenigsten Außernatürlichen waren gläubig und wenn sie einen Glauben hatten, dann war es nicht der an einen christlichen Gott und dessen Sohn auf Erden. Wozu dann dessen Geburt feiern?
Die Sonne war schon längst untergegangen an diesem Dezemberabend, was dem weißen Wolf im Schnee eine beinahe perfekte Tarnung verpasste. Als seine Pfoten auf das Holz der alten Brücke trommelten, sah er auch die Lichter näherkommen. Ein ganzes Straßenfest schien es zu geben, die Gerüche hatten schon kilometerweit in der Luft gelegen. Nathaniel roch kandierte Äpfel, er roch Punsch und Krapfen und sie: die Menschen. Es war immer wieder eine Herausforderung, ihnen so nahe zu kommen. Wenn man eine so feine Nase hatte wie ein Wolf, waren Deodorants, Parfüms und all die anderen Pflegeprodukte die pure Qual.
Vor dem Zaun hatte er gestoppt, erst einmal witternd, ob jemand in der Nähe war, der ihm Probleme bereiten konnte. Trotz der Flut an olfaktorischen Eindrücken schaffte es der weiße Wolf, die Umgebung genau zu scannen und stellte zu seiner Beruhigung fest, dass er alleine war. Kaum hatte er sich zurückverwandelt, biss ihn die Kälte in seine Haut, vor allem die Füße, die im Schnee gänzlich verschwanden. Natürlich hatte Nathaniel vorgesorgt. Die Tasche, die er in Wolfsgestalt um den Hals getragen hatte, baumelte nun an seinem Oberkörper. So schnell er konnte hüllte er sich in die darin mitgebrachte Kleidung. "So, Schritt eins erledigt." Als er sprach, bildete sein Atem frostige Wölkchen in der Luft. Minus Achtzehn Grad Celsius, ein feines Winterwetter, gar keine Frage.
Er sprang aus dem Stand auf eine Höhe von etwa zwei Metern, wo er sich an das eisige Metall klammerte. Es wäre ja auch zu leicht gewesen, wenn der Schutzzaun an dieser Stelle schon zu Ende gewesen wäre. Aber nein, sein Leben spielte sich hinter Gittern ab, genau wie ein einem Gefängnis. Vier Meter fünfzig maß das Monstrum aus Stahl, das er so schnell wie möglich hochkletterte. Seine Menschengestalt war zum Glück sehr behände, was das anging, was Nathaniel auch seinen kindlichen Abenteuern zuschrieb, die er bis heute nicht sein lassen konnte. Kein Baum, kein Felsen und kein Gewässer waren für ihn zu tief, zu hoch oder zu steil, er eroberte sich immer das Terrain, das er sich in den Kopf gesetzt hatte. Kaum hatte er das oberste Ende erreicht, ließ er noch einmal den Blick schweifen. Wenn er sich vom Zaun entfernte, würde er das Alles nicht mehr sehen, was sich jetzt vor ihm ausbreitete. Die Häuserzüge, die Straßenlaternen, sein Zuhause. "Ab geht's.", keuchte er und sprang auf der anderen Seite hinab. Er war der Freiheit zum Greifen nah, als er den Weg Richtung Markt einschlug.