Nemeton [Codren & Nico]

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    • "Ach, die Jugend von heute. Noor und Urret sind nicht das Gegenbeispiel für alles, Kind. Wer kann es ihm auch verübeln, drei Brüsten zwei vorzuziehen - das ist doch genetisch veranlagt. Dafür ist Selir für seine Frau bis an die Küste gereist und heute haben sie zusammen drei wundervolle, gesunde Kinder. Wieso konzentrierst du dich nicht auf sowas?"
      Vera sah zu, während Prysk sich wusch - nicht etwa, weil der Anblick ihre veralteten Hormone in Schwung gebracht hätte, viel eher, damit sie sicher stellte, dass er es auch ordentlich tat. Ihr Blick hatte etwas skeptisches an sich.
      "Du meinst die junge Südländerin? Ja sicher habe ich sie kennengelernt, ich fand sie ein bisschen schüchtern vielleicht. Im besten Fall müde. Und gestunken hat sie, aber deswegen kommt man ja auch hierher. Ich sage dir, was dich geritten hat, sie hierher mitzunehmen: Weil du ein ordentlicher, anständiger Mann sein kannst, der eine Dame nicht auf der Straße verenden lässt. So einfach ist es. Und sicher fühlst du dich jetzt besser, sie mitgenommen zu haben. Ja? Keine Widerworte!"
      Als Prysk aufstand, tat auch sie es und räumte ihren Schemel wieder beiseite. Außerdem machte sie sich die Mühe, die Haare vom Boden aufzuklauben.
      "Sei anständig und such dir eine ordentliche Frau. Kein Rumgeschlafe. Und wasch dich hinter den Ohren!"
      Prysk ging nach draußen und ließ Vera in ihrem Element zurück.

      Dany fand eine Ecke mit alten, vergilbten Büchern, außerdem etwas das aussah wie ein Haufen alter Spielzeuge und zerbrochenes Werkzeug. Sie fand verstaubte Teppiche, eine morsche Kommode und Stiefel. Sie fand auch etwas, das wie ein Essensvorrat aussah, nur dass die Sachen ziemlich offen herumlagen. Zu offen für ihren Geschmack. Sie hatte in Cheynia schon mit Ratten zu kämpfen gehabt und da hatte sie schon alles sorgfältig in Fässern gelagert, es hier beinahe so offen herumliegen zu sehen, machte sie ganz nervös.
      Sie lehnte sich nach vorne, schnupperte an einer gewaltigen Schinkenkeule, nahm sie dann in die Hand und biss davon ab. Nein, eigentlich alles okay. Vielleicht ein bisschen trocken. Vielleicht ein bisschen fad.
      Ein plötzliches Donnern von einer Stimme ließ sie herumfahren, mit einem Schlag so panisch, dass es ihr den Herzschlag versagte. Sie dachte, der Dolch wäre zurückgekehrt. Für eine viel zu schreckliche Sekunde war sie gänzlich der Überzeugung, auch das letzte Merch aus ihrem Körper bekommen zu haben und wieder mit ihrem körperlosen Begleiter konfrontiert worden zu sein.
      Aber der Besitzer der Stimme hatte durchaus einen Körper und einen dicken noch dazu. Außerdem erhob er wohl einen Anspruch auf Schinken, zu dem wohl auch die Keule gehörte, die Dany noch immer wie eine Tatwaffe in der Hand hielt.
      Sie kämpfte sich durch das Gerümpel zu ihm zurück und präsentierte ihm das Teil.
      "Dany. Und du bist? Ist das hier dein Schinken? Der liegt ziemlich offen rum, hast du keine Probleme mit Ratten?"
      Sie biss noch ein Stück ab.
      "Außerdem könntest du ihn durch ein bisschen besser salzen, dann hält er auch länger. Und wird nicht so trocken."
    • Opharnim war ein geduldiger Mann.
      Zumindest redete er sich das ein. Man hatte ihn gelehrt, wie Wasser und Wind zu sein. Den Unebenheiten des Lebens zum Trotz, hatte sich der durchaus nicht schlanke Mann um sein Bett herum gewunden, flussähnlich und beständig wie der Südwind, der sie auf den Zinnen der Festung ereilte. Opharnim war neben seiner Engelsgeduld dennoch kein Mann von schönem Ansehen. Sicherlich hätte sein Gesicht ansehnlich sein können, wenn nicht die ungesunde Röte der Augen und der schlampig gestutzte Bart gewesen wäre. Und doch...Neben all dieser Unzulänglichkeiten, nannte man ihn "den Lehrer".
      Und wenn Jemand eine Lektion verdiente, dann die junge Dame, die dreister in den Schinken biss als eine Ratte, die hier nicht leben konnte. Es war erstaunlich, aber bis heute hatte er alle Angreifer auf sein Leibgericht abwehren können. Keine Ratte, kein Getier oder Gezücht hatte sich an dieser Köstlichkeit vergriffen und heute, an dem Tag von Prysks Rückkehr und den bald anstehenden Feierlichkeiten des Fruchtbarkeitstages, schaffte es diese Frau, einen gehörigen Bissen aus der Keule zu reißen.
      Was für ein Untier!
      "Ich bin Opharnim", stellte sich der Mann mit einem Grollen und Knurren von Stimme vor, während er ein paar Schritte in den Raum hinein tat. "Freunde nennen mich Nim. Und das da ist mein Schinken. Wenn du also so freundlich wärest..."
      Er machte eine kurze Geste, um sie zum Herablegen der Keule zu bewegen.
      "Wir haben nicht allzu viel Fleisch im Winter und es wäre eine Schande, wenn die Suppe keine Einlage hätte."
      Trotz der fiesen Tonierung der Stimme und den wütenden Gedanken, hielt er sich diplomatisch und stützte sich auf seinen Stab auf, den er eigentlich nicht brauchte. Doch es schadete nicht, ein wenig zu simulieren. Und sei es auch nur ein wenig mehr als notwendig.
      "Ich habe keine Probleme mit Ratten, nein", schüttelte er den Kopf und lächelte freudlos. "Wir haben das Getier hier in der Festung unter Kontrolle. Einiger meiner Kinder hier in der Festung jagen sie gerne und leisten hervorragende Arbeit."
      Auf ihre Anmerkung mit dem Salz schüttelte er nur missbilligend den Kopf.
      "Salz macht das Fleisch zäh und die Fasern porös. Würdest du es hernach kochen wollen, schmeckt jegliches Wasser wie warme Pisse", murmelte er und offenbarte für einen Moment einen schweren Akzent in der Sprache, der ihn als Fremdling auswies. Erst danach richtete er sich etwas auf und sah Dany an.
      "Du bist eine derjenigen, die mit Prysk zurück kamen. Hat man dir schon eine Kammer zu gewiesen? Eine Aufgabe? Ich bin mir nicht sicher, ob man es dir bereits sagte, aber jeder hier in der Festung trägt etwas zur Gemeinschaft bei, solange sie hier sind. Das gilt leider auch für Gäste, wenn sie länger zu bleiben gedenken.."
      Eine böswillige Unterstellung, aber so ließ am schnellsten herausfinden, ob sie zu bleiben gedachte.
      "Erzähl mir, Dany", begann er und lächelte. Gleichsam wies er ihr den Weg wieder hinaus. Sie hatte genug Zeit in seinem Allerheiligsten verbracht. "Was macht dich besonders? Was kannst du gut?"

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    • Dany begutachtete den Mann eingehend. Er hatte keine mutantischen Auswüchse, zumindest keine, die sie auf die Schnelle entdeckt hätte. Das war schonmal ein gutes Zeichen. Abgesehen davon war das erste Wort, das ihr bei seinem Anblick in den Sinn kam "wetterfest". So wie eine äußerst stabile Tür, der weder Mensch noch Unwetter etwas anhaben konnten - eine Holztür etwa. Ein stabiles Gebilde, das man in jede Umgebung stellen konnte und das trotzdem standhalten würde.
      Hier unten schien ihr diese "Wetterfestigkeit" so, als wäre der Mann ein Teil der Festung. So wie er dort unten im Kellergewölbe stand, auf dem Rücken ein Sack mit gewaltigem Inhalt, die Haltung ein wenig gekrümmt, den scharfen Blick auf Dany gerichtet. Er sah so aus, als hätte man ihn eines Tages hier hereingestellt und als wäre er von dort an mit der Festung eins geworden.
      Und weil Dany sich nicht mit der Festung anlegen wollte, händigte sie ihm die Keule aus.
      "Salz konserviert das Fleisch, damit es nicht früher als nötig zu gammeln anfängt. Wenn du mich fragst, würde ich lieber etwas Essen, das in warmer Pisse gekocht wurde, als vergammelt ist."
      Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Der Mann mochte kein Mutant sein, aber hier geboren war er auch nicht, ganz nach dem Akzent zu schließen. Vielleicht über das Meer gekommen? Vielleicht durch den Nebel gewandert, so wie es Prysk offenbar auch geschafft hatte?
      "Nein, mir wurde noch nichts zugewiesen. Ich habe auch nicht vor, lange genug zu bleiben, um mich hier einbinden zu müssen. Ich bin nur hier, weil Cayen - unser Vermittler - Prysk damit beauftragt hat, mein Artefakt zu untersuchen. Sobald das vorbei ist, werde ich wieder abziehen, keine Sorge."
      Sie konnte sich tatsächlich nichts schlimmeres vorstellen, als sich in diese merkwürdige Lebensgemeinschaft von Mensch und Mutant einzubinden. Was, sollte sie dann auch einem Ungetüm von einem Oger dabei helfen, Steine zu transportieren? Oder sich von einem dreiarmigen Halbwüchsigen erklären lassen, wie man hier die Werkzeuge richtig schliff?
      Dany mochte auch mutantisches Blut haben, aber sie war keine Mutantin. Sie hatte keine Auswüchse, sie hatte keine Veränderungen, bis auf ihre genetische Resistenz. Sie war nicht wie diese Leute hier. Sie war ein Mensch und Menschen sollten unter Menschen bleiben, denn wenn sie sich unter die Mutanten mischten, würden sie aussterben.
      So hatte sie es gelernt, so glaubte sie es.
      Orphanim und Dany setzten sich gemeinsam in Bewegung, ein unterschwelliges Zeichen, dass er sie nicht noch einen weiteren Schinken probieren ließ. Eigentlich recht schade.
      "Mit ein bisschen Merch bin ich eine ganz passable Überlebenskünstlerin. Ohne Merch spiele ich den Spürhund für meine Leute. Meine, äh... Herkunft lässt mich Magie hören. Ich habe sowas wie ein Gespür dafür."
      Sie hatte ihre Fähigkeit nie besonders geheim gehalten und jetzt erhoffte sie sich davon, vielleicht ja eine hübschere Kammer dafür zu erhalten. Auch, wenn sie bisher noch keine einzigen gesehen hatte - waren sie groß? Hatten sie Betten? Hoffentlich hatten sie Fenster.
      "Und was soll deine tolle Aufgabe hier sein? Etwa auf den Schinken aufzupassen?"
    • Salz macht Fleisch haltbar...
      Nun, es war eine nicht zu verneinende Logik, so viel stand fest. Jedoch - und das musste benannt werden - machte es den Schinken noch salziger und nicht mehr recht schmackhaft. Was erlaubte sich diese Frau?! Die Macht des Schinkens war heilig. Es gab nichts darüber. Basta und Ende.
      Ruhig und beinahe gemächlich trottete der Lehrer hinter Dany her und richtete sich hierbei zu seiner vollen Größe auf. Sicherlich nicht die beeindruckendste Gestalt auf der Festung, aber durchaus von nicht zu verachtender Größe. In ihrem Rücken schien der Stab mehr Zierde als Notwendigkeit zu sein und machte das rhyhtmische Klacken auf dem Boden beinahe zu einer Art Taktschritt. Ruhig führte der Lehrer sie die Treppen wieder hinauf in den Innenhof, wo man die beiden mit Lächeln und Nicken begrüßte, wenn man ihnen begegnete. Während sie so durch die beißende Kälte schritten und hier und da die Wärme eines Wegefeuers genossen, sah Opharnim zu den Steingewölben hinauf, welche den Bergfried bildeten.
      "Hier", sagte er und wies mit der Hand hinein. "Hier sind die Unterkünfte der meisten Bewohner. Ich nehme an, für dich und deine Begleiterin ist eine Kammer im dritten Stock hergerichtet worden. Ich entschuldige mich bereits jetzt für die spartanische EInrichtung, aber das Wenige, das wir haben, versuchen wir miteinander zu teilen."
      Noch während sie den Bergfried betraten, der aus vielen Gängen und Kammern zu bestehen schien, wo einst große Säle gewesen waren, sah Opharnim zu Dany.
      "Ich sehe in deinem Blick Abscheu", murmelte er und log dabei. Er sah es nicht, er spürte es. Über die Haut, die Haare und sein ganzes Sein. Dany verabscheute das Leben hier. Und das wiederum traf Nim ein wenig härter, als er zugeben mochte. Er würde Prysk bestrafen müssen. "Dann ist es vielleicht ganz gut, wenn du dich nicht allzu lange hier aufhältst. Immerhin werden es die anderen alsbald bemerken, dass du nicht erfreut über das hier bist. Was auch immer dich daran stört, Dany."
      Opharnim lächelte, doch jegliche Freude ging diesem Lächeln ab. Es war beinahe so, als grinste man in eine Schneewehe, während sie die Treppen immer weiter hinauf stiegen.
      Als sie im dritten Stock angekommen waren, empfing sie eine kühle, aber angenehme saubere Luft. Sie waren hoch über dem Land und daher verunreinigte nichts hier die Luft des Berges. Kein Geruch nach Essen oder Asche. Nicht mal Schweiß lag in der Luft. Zu beiden Seiten des Steinganges hingen in regelmäßigen Abständen Fackeln, die sorgsam entzündet und wieder gelöscht wurden. Auch dafür gab es Wesen, die dies gerne und schnell taten.
      "Merch wirst du hier leider nicht finden", sagte Opharnim beinahe entschuldigend. "Ich würde es auch nicht wirklich gutheißen, wenn ich ehrlich bin. Obschon NIemand etwas für seine Laster kann, nicht wahr?!"
      Grinsend schlug er sich auf den leicht rundlichen Bauch und öffnete mit einem Wink seiner Hand eine der Holztüren der Kammern. Darin befand sich außer zwei mittelgroßen Betten und einem Tisch mit zwei Stühlen nicht viel.
      "Nicht besonders einladend, ich weiß, aber hoffentlich ausreichend. Den Kamin könnt ihr selbst entzünden. Feuerholz liegt in der Ecke dort. Einen Zünder findet ihr auf dem Tisch. Einfach das kleine Rad drehen und es erzeugt einen Funken."
      Anschließend blieb der Lehrer noch in der Tür stehen und sah Dany an.
      "Meine Aufgabe, liebe Dany, ist die Organisation der Festung", bekundete er mit dieser kratzigen, grollenden Stimme. "Ich vergebe Aufgaben, ich ordne Vorräte zu, ich beaufsichtige die Finanzen und die Beschaffung. Kurzgesagt bin ich wohl so etwas wie der Anführer dieser kleinen Gemeinde. Auch wenn mir der Schinken wichtig ist..."
      Seufzend stieß er sich vom Rahmen ab und sah sich nach dem Gang um.
      "Ich hoffe inständig, dass dir dein Aufenthalt angenehm erscheinen wird. Solltest du dich dazu entscheiden, der Gemeinde etwas zurück zu geben, bin ich gerne bereit, mir deine Vorschläge anzuhören. Fähigkeiten wie deine sind selten. Und wir könnten sie gut brauchen."

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    • Das rhythmische Klacken des Stabs in ihrem Rücken erinnerte Dany merkwürdigerweise an Prysk und seine Perlen im Haar. Wie eine Erweiterung seines Wesens, wie eine Ergänzung zu dem, was einen Menschen sonst ausmachte. Orphanim wurde von einem Klacken begleitet, das zeigte, wie schnell oder langsam er ging, Prysk wurde von dem Rasseln seiner Perlen begleitet, das... einfach nur Prysk zeigte. Prysk, dessen Haare raschelten, wenn er den Kopf bewegte.
      Flüchtig wunderte sich Dany, ob jeder hier solche Eigenarten mit sich brachte.
      Er führte sie zumindest zum Außenbereich der Unterkünfte, der von weitem bereits breit und hoch aussah. Dany bezweifelte, dass dort wirklich alle Bewohner Platz fanden, aber auf der anderen Seite gab es vielleicht auch einen besonderen Ort für Mutanten. So, wie sie es halt kannte.
      Ganz unbetrübt sah Opharnim zu ihr zurück und Dany zog defensiv gleich die Stirn in Falten. Sollte er doch sehen, was sie von diesem Ort hielt, es war ja nicht so, als würde sie sich freiwillig dazu entscheiden hier zu leben.
      "Orte wie diese sollten nicht existieren. Es gibt einen Grund, warum Menschen und Mutanten sich sonst nicht mischen. Wenn sie es überall tun würden, könnte man irgendwann keine Grenze mehr ziehen."
      Opharnim war vermutlich der falsche, um über solche Sachen zu diskutieren, aber Dany machte sich auch nicht die Mühe, sich sonderlich um seine Gefühle zu scheren. Dieser Kerl war derjenige, der seinen Schinken nicht richtig aufbewahrte und der meinte, dass hier in dieser Festung alles beim Rechten wäre. Er würde sicher schon noch selbst irgendwann herausfinden, dass er sich dabei geirrt hatte. Dass alle hier sich dabei geirrt hatten.
      Er brachte sie ins besagte dritte Obergeschoss, wo mit einem Schlag die allgemeinen Gerüche der Festung verliefen und durch eine angenehme Frische ersetzt wurden, die die Nasenlöcher reinigte. Hier gab es keine Spuren von Essensgerüchen, körperlichen Ausdünstungen oder geruchsvollen Arbeiten, hier gab es nicht einmal den Eindruck von Wildnis, von Sträuchern oder Wiesen. Hier gab es einfach nur Luft. Dany nahm einen tiefen Atemzug und wünschte sich, diese Reinheit im Gedächtnis behalten zu können.
      "Ja ja, kein Merch, schon verstanden. Erspar mir den Moralvortrag, es gibt nichts, was ich in den letzten Tagen nicht schon gehört hätte."
      Eigentlich in den letzten Monaten. Gottverlassene Scheiße, sie wollte in diesem Moment wirklich gerne stopfen.
      Opharnim führte sie durch eine der Türen - eine Holztür. Hier gab es nur Holztüren. Danys Augen wurden dabei ganz groß - und präsentierte ihr ein Zimmer, das weitaus ausladender war als alles, worin sie im ganzen letzten Jahr leben durfte. Es gab zwei großzügige Betten - eins davon würde hoffentlich Sylvia belegen - einen Tisch und eine kleine Aufbewahrungsecke. Außerdem gab es durchaus ein Fenster, ein kleineres, aber helles Fenster. Draußen war der Himmel weiß wie Schnee.
      Dany wandte sich wehmütig von dem Anblick ab, um sich ihrem Gastgeber zu widmen, der sich als niemand anderes als der Burgherr herausstellte. Wohl kein sehr günstiger Zeitpunkt, um gerade seinen Schinken zu erwischen. Auf der anderen Seite würde er sich wohl kaum einmischen, wenn Prysk damit beauftragt war, Danys Artefakt zu untersuchen.
      "Organisiert scheint es ja zu sein", brummte sie, wobei sie eher meinte, dass bisher noch kein Mutant einen Menschen angefallen hatte. Die Betonung lag auf noch.
      "Klar. Jeder hat hier Aufgaben und so. Habe ich verstanden. Ich plane trotzdem nicht länger als nötig zu bleiben, ich habe ein eigenes Zuhause und eine eigene Familie, zu der ich zurückkehren will. Der ich übrigens meine Fähigkeit verschrieben habe, so wie Prysk für dich arbeitet. Wahrscheinlich."
      Trotz allem erschien ihr Opharnim freundlich. Er ging nicht auf ihre Provokationen ein - nicht so, wie Prysk es getan hätte - und er hatte auch ein Lächeln für sie übrig. Ein etwas steifes vielleicht, das sie eher daran erinnerte, von einer Windböe getroffen zu werden, aber immerhin. Er drängte sie auch nicht weiter mit seiner ewigen Laier, dass hier jeder etwas zu tun hätte, und als sie sich von ihm verabschiedete, ging er unbekümmert wieder seiner Wege. Vermutlich zurück in den Untergrund, um seinen kostbaren Schinken zu beschützen.
      Sie schloss hinter ihm die Tür, ergötzte sich für einen Moment an dem Holz und schlenderte dann zu den Betten hinüber. Das war ein schönes Zimmer, ein sehr, sehr schönes Zimmer. Sie setzte sich, sah sich für einen Moment um, legte sich dann hin und stöhnte auf, als sie auf der weichen Matratze einsank. Ihre Muskeln machten sich bemerkbar von zu vielen Wochen auf hartem Untergrund und fast augenblicklich war sie tiefenentspannt. Seufzend schloss sie die Augen.

      DANY!!!!!
      "Huh?! Was!"
      Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie eingeschlafen war. Jetzt sprang Dany aber auf, herausgerissen von einem Schrei, der nur Ärger bedeuten konnte. Für einen Moment dachte sie in ihrer Schlaftrunkenheit, dass sie noch draußen und unterwegs waren.
      "Was?! Was?!"
      NACH DRAUSSEN, NACH DRAUSSEN!!
      Gehorsam torkelte sie zur Tür, die Augen halb zusammengekniffen, und riss sie auf. Sie wusste nicht, weshalb sie nach draußen musste, sie wusste nur, dass sie in Situationen wie diesen nicht hinterfragen sollte. Einfach gehorchen. Wer auch immer ihr zurief, würde schon wissen, was er da tat.
      BEEILUNG!!
      Sie rannte den Gang entlang und fing sich gerade noch bei der Treppe ab, bevor sie hinabgestürzt wäre. Sie kannte sich hier noch gänzlich nicht gut genug aus, um einfach blind Treppen zu laufen.
      Moment - hier? Treppen? War sie nicht -
      SCHNELL, NACH DRAUSSEN!!
      "Ja! Ist ja gut!"
      Sie eilte die Treppen hinab, ihr eigener Herzschlag stark genug, dass er in ihren Ohren pochte. Sie konnte ihre Füße nicht spüren. Ihre Hände waren kalt und ihr war schwindelig vom zu schnellen Aufstehen. Im zweiten Obergeschoss stieß sie mit jemandem zusammen, entschuldigte sich unverständlich und lief dann weiter. Ganz unten angekommen übersah sie die letzte Stufe, trat ins Leere und klatschte ungelenk auf den Steinboden.
      Ihr Kopf dröhnte. Ihr Mund fühlte sich fusselig an. Ihre Kehle war trocken, ihr Herzschlag tat ihr weh und außerdem war sie sich jetzt ziemlich sicher, auch ihre Knie nicht mehr zu spüren. Ihre Fingerspitzen kribbelten und verlangten nach Merch unter ihren leeren Nägeln.
      Erst jetzt sah sie auf die Treppe zurück und sah, dass dort niemand war. Auch neben ihr war keiner und vor ihr auch nicht. Aber sie dachte -
      DANY!
      ... Oh.
      Oh.
      Sie drückte ihre Armbeuge auf ihr Gesicht.
      "Verfluchte, gottverlassene, stinkende, faulige Scheiße!"
      In ihrem Kopf lachte der Dolch.

      Zurück in ihrem Zimmer saß sie auf der Bettkante und hielt ihr Gesicht in den Händen. Weil sie komische Gefühle in den Händen hatte, fühlte es sich fast so an, als würde sie jemand anderes halten.
      ... könntest die ganze Festung, einfach nur so, mit einem Schlag niederbrennen, es wäre so einfach, denk nur, wie viele Mutanten dabei sterben würden, alle wenn du es richtig anstellst, alle dieser missratenen, verstümmelten, unnützen Geschöpfe...
      Der Dolch war in einen seiner Monologe verfallen. Dany saß still und hörte ihm zu, weil ihr nichts anderes übrig blieb.
      Die Sonne ging schon bald unter und weil sich ihr Magen damit meldete, dass er sich wieder daran gewöhnen könnte, so gut wie zu Mittag gegessen zu haben, entschied sie sich dazu, das Risiko einzugehen. Die Tropfen - ja, die Tropfen! Sie hatte fast Mirandas Mixtur vergessen. Sie würde sich jetzt etwas zum Abendessen holen und dann würde sie ihre drei himmlischen Tropfen ausprobieren. Für die Ruhe, die sie versprechen sollten.
      Also ging sie wieder nach draußen, schlurfte zurück in den Innenhof und von dort ins Hauptgebäude, wo der Schankraum - Speise... ach, eigentlich auch egal, sich befand. Vom Gang konnte sie schon das Stimmengewühl hören, das davon nach draußen drang. Sie hätte kotzen können bei dem Gedanken, sich vermutlich unter Mutanten mischen zu müssen, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als sie in den Saal trat.
    • Opharnim verharrte noch eine Weile im Türrahmen, in welcher er über das Gesagte nachdachte.
      Orte wie dieser sollten nicht existieren. Da lag also der Hase im Pfeffer. Sie war eine von Jenen, die glaubten, dass eine Koexistenz nicht möglich war. Der Lehrer sah beinahe nachsichtig drein, als er schwer seufzte und nickte.
      "Deine Meinung sei dir gegeben, Dany", sagte er schließlich und stützte sich etwas auf die Zierde von Stab. "Und dennoch sage ich dir, dass ein solcher Ort existiert. Ob es dir gefällt oder nicht. Es steht dir und deiner Begleitung frei, dieses Haus zu verlassen wann immer ihr mögt. Aber eine Sache möchte ich an dieser Stelle klipp und klar sagen."
      Nim warf noch einen letzten Blick zu der jungen Frau und dieses Mal glich es einem Schneesturm, dem man nackt entgegen trat, als der Lehrer sie ansah. Keine Wärme und keine Freundlichkeit fand sich in den kalten Augen, deren Farbe zu wechseln schien und immer weiter rotierte.
      "Solltest du meinen Kindern und Geschwistern hier auf die eine oder andere Weise schaden, wird dir ein Merch-Entzug wie eine Spazierfahrt auf einem Schimmel vorkommen. Und das Artefakt, was du angesprochen hast, wird sodann dein kleinstes Problem...", murmelte er bedächtig und langsam, ehe er sich umdrehte, als er merkte, dass die Frau sich einrichten wollte. Sogleich wandelte sich sein Gesicht wieder zu einer freundlichen Grimasse und wandte sich zum Gehen, ehe er nochmals innehielt.
      "Ah eins noch. Heute Abend, sofern dein Gemüt es dir erlaubt, gibt es in der Schänke Spiel und Tanz. Wir feiern die Rückkehr der Wanderer und einen gelungenen Handel mit einer Siedlung im Norden. Wenn du also möchtest, bist du herzlich geladen, daran teilzunehmen."
      Mit diesen Worten wandte er sich unbekümmert zum Gehen.
      Die düsteren Gedanken in seinem Kopf verschwanden erst, als er die Stimmen im Speisesaal vernahm, welche von Fröhlichkeit und Gelächter zeugten.

      Der Schankraum schien regelrecht zu beben.
      Man mochte es nicht glauben, aber selbst in Zeiten dieser Krisen und der beißenden Kälte, die der weiße Winter mit sich hereinwehte, erschallten die Stimmen in freudigem Gewirr, als die Tür zur Schänke geöffnet wurde.
      Beinahe die ganze Festung war hier versammelt und tanzte und sang unter dem Spiel dreier Wesenheiten, die ihre Instrumente zumindest ansatzweise beherrschten. Da war ein Mann, aus dessen Rücken ihm zwei weitere Arme wuchsen, der auf eine zwei Trommeln zu schlagen wusste. Weiterhin stand dort eine Frau, unbewusst der Meute war es Noor, die mit ihren sechs Fingern eine Art Laute zupfte, die merkwürdige Töne von sich gab. Würde man sie alleine hören, wären es vermutlich eine Art von Schrammen gewesen, aber in der Symphonie der Fidel, die von einem Astmann gespielt wurde, ergab sich eine wundersame und doch fröhliche Melodie.
      Die unterschiedlichsten Paarungen, Mutanten und Menschen zugleich, standen auf einer großen leeren Fläche im Saal und tanzten miteinander in merkwürdigen Bewegungen. Keiner von ihnen hatte eine höfische Ausbildung genossen und wusste, standesgemäß zu tanzen. Jedoch zeugte das Gelächter von der Erhabenheit der Situation. Spaß stand an vorderster Stelle. Die langen Tische hatte man an die Wände geschoben und noch einige Plätze zum Sitzen hergerichtet, die jedoch kaum genutzt wurden. In einer Ecke saß Tjark und prostete gerade einer Kellnerin zu, die ihm seinen neuen Humpen Bier gebracht hatte. Heißer Met wurde in großen Bechern verteilt und schien sich selbst unter den jungen Wesenheiten großer Beliebtheit zu erfreuen. Rufus saß ebenso an einem der Tische und wippte leicht mit dem Fuß im Takt der Musik, während Prysk jedoch in der Mitte des Geschehens war.
      Gerade als Dany die Tür zum Speisesaal aufschob tanzte der Jäger mit drei Kindern, die merkwürdige Bewegungen zuckender Art durch ihren Körper stießen. Es mochte keinem Tanz gleichkommen, aber sie hatten kichernden Spaß, als Prysk sich ein wenig ungelenk um sich selbst drehte und dabei sein Haar fliegen ließ. Er hatte nicht mehr die Mühe gemacht, neue Perlen hinein zu flechten und so flog sein ausnahmsweise sauberes Haar wie ein brauner Seidenteppich über die Meute hinweg, was die Kinder mit einem Lachen zur Kenntnis nahmen. DIes mochte auch an der Grimasse liegen, die der Jäger zu ihrer Belustigung zog. Eines der Kinder war kein Mensch. Der kleine Junge wurde mit Rehohren und einem Geweih geboren, sodass er sich deutlich abhob von den anderen. Und doch ergriffen die anderen Kinder seine Hand und zogen ihn mit zu einer anderen tanzten Meute, die offenbar seine Eltern beherbergte. Prysk indes prostete einigen anderen zu und selbst - es mochte dem Alkohol - geschuldet sein, sogar Dany.
      Noch ehe der Jäger sich durch die Masse winden konnte, erhob sich aus dem Stimmengewirr ein Chor, der von Tjark und dem Mutanten ausging, der den Ausschank derzeit betreute.
      "EIN LIED", schallte es immer wieder in die Richtung der Masse und je mehr die Worte durch den Raum schallten, desto offenbarer wurde es, dass Prysk gemeint war, der einen Singsang anstimmen sollte.
      Nach einigem Hin und Her und Für und Wider und so manch süß geflüstertem Versprechen in des beinahe betrunkenen Jägers Ohr lachte dieser auf und hob den Krug.
      "Gut, gut", rief er. "Aber nur eines. Ein Halbes!"
      Immerhin, es schien der Meute zu reichen. Denn unter tosend Gewimmel von Klatschen und Lachen schritt der Jäger schwankenden Schrittes in Richtung einer kleinen Anhöhe, auf der die drei Spielleute saßen. Kurz sprach man sich ab und begann nach eifrigem Nicken einen recht langsamen Ton anzuschlagen.
      Wer nun, geneigter Leser, einen gar wundersam schönen Vortrag mit himmlischer Stimme erwartet hat, wurde bitterlich enttäuscht. Die Singstimme des Jägers war grausam kratzig und traf nicht einen verteufelten Ton. DIe Spielleute verspielten die meisten Töne, da sie sich vor Lachen kaum halten konnten, ehe auch die Masse in stetiges Gelächter einstimmte. Selbst die Kinder zeigten mit den Fingern auf den Jäger, der mit voller inbrunst zu singen begann:

      "Nicht lang her, nicht lang her, dass ich in der Schänke saß,
      Meinen Leib mit Bier ausspülte einen fetten Schinken fraß,
      Als sich denn, als sich denn an meinen Tisch ein Pfaffe ließ,
      Mich voll eitler Wehmut mit dem Wanderstecken stieß
      Und sprach, ich armer Sünder hätt den rechten Pfad verlor’n.
      Ich sprach, ’nen rechten Pfad gab’s nie, als Sünder ich gebor’n.

      Was kümmern mich die Engelschöre,
      Was das Geschwätz vom Paradies,
      Wenn ich der Brüder Singsang höre,
      Wenn ich das Leben mir begieß.
      Der Himmel ist mir einerlei und liegt in großer Ferne,
      Auch kann er nicht viel schöner sein als meine Stammtaverne."

      Kein Applaus brandete auf, sondern viel eher verscheuchte man den Jäger lachend von Seiten der Spielleute, damit man sich wieder dem Tanze und Trunke widmen konnte. Mit Flüchen belegt flog ein Becher durch den Raum und krachte an die Tür, die zwischenzeitlich wieder geschlossen war. Kichernd duckte sich Prysk unter der Flüssigkeit weg, die auf den Tisch schwappte und leerte seinen Krug mit einem großen Zug.
      Erst dann sah er zu Dany, die irgendwie in seiner Nähe aufgetaucht war.
      "Dass du hier bist, Scheißhaus", lachte er mit schwerer Zunge. "Hätte ich nicht gedacht. Dachte du würdest dich verkriechen! Iss, trink! Scheiß auf Vergangenheit und Zukunft, verdammt!"

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Dany wusste in dem Moment, in dem sie die Schwelle zum Schankraum übertreten hatte, dass sie diesen Abend bereuen würde. Nicht nur bereuen, dass sie ihn regelrecht verabscheuen würde, mit jeder Faser ihres Körpers, die ihr zur Verfügung stand.
      Der Raum sah gänzlich anders aus als noch zu Mittag, die meisten Tische zur Seite geschoben, um Platz für eine regelrechte Meute an Menschen - nein, an Lebewesen zu machen. Und dieser Platz wurde auch ausgenutzt, sämtliche Facetten der launischen Natur fanden sich hier wieder, von dem großen Oger-Kerl, den sie draußen am Mittag schon gesehen hatte, bis zu harmlosen Menschenkindern, die sich mit anderen Mutantenkindern auf der Tanzfläche vergnügten - und unter ihnen niemand anderes als Prysk der Einfältige höchstpersönlich. Wie schon am Mittag drängten sich die Kinder an ihn, als wäre er irgendein Messias, der ihnen die tiefsten Wünsche erfüllen könnte.
      Dany würgte tatsächlich.
      Der Lärm war unerträglich. Die Musik war noch viel unerträglicher. Es roch unglaublich stark nach Met, ein Geruch, der in ihr Heimatgefühle weckte, der aber vermischt war mit dem eigenartigen Geruch der Festung und einem Essen, das sich auf den ersten Riecher nicht ganz identifizieren ließ. Sicher war das Met hier grauenhaft. Dany hasste es.
      Neben Prysk entdeckte sie auch einige andere Gesichter, die in ihr nicht sofort den Würgereflex auslösten. Da war zum einen Tjark mit seinem merkwürdigen Fuchsfreund, der neben Rufus saß, die beide lieber zusahen, als sich am Geschehen zu beteiligten. Auf der anderen Seite, ganz in der Nähe der Tür, wo die Musik am "leisesten" war, konnte sie außerdem Vera vom Badehaus und Miranda mit anderen an einem Tisch sehen. Auf der Tanzfläche wirbelte Sylvia herum, in Begleitung eines jungen Mannes, der sie grinsend am Arm zu sich zog. Wenn sie sich weiter umgesehen hätte, hätte sie bestimmt auch Opharnim irgendwo entdeckt, aber eigentlich hatte sie nicht sehr das Bedürfnis, ihm gerade wieder unter die Augen zu treten. Er hatte ihr recht unmissverständlich deutlich gemacht, dass ihre Abneigung gegenüber dieser Festung bei ihm ihre Grenzen hatte.
      Um die ganze Sache also schnell hinter sich zu bringen, steuerte sie gleich die Theke an, von der die Kellner hervorkamen, und ließ sich einen Humpen Met geben. Er war noch warm, ein ziemlicher Luxus, wie sie fand. Dany hatte selbst nur kalten Met ausgeschenkt.
      Sie nestelte in ihrer Tasche umher, bis sie die Phiole gefunden hatte, die sie von Miranda bekommen hatte. Scheiß auf Essen, sie würde sich ihre Medizin verabreichen und wenn sie dann hoffentlich ein bisschen mehr Nerven für diesen Narrenaufstand übrig hatte, könnte sie sich vielleicht auch dazu überwinden, lange genug für ein Essen zu bleiben. Erstmal das wichtigste, das allerwichtigste. Den Dolch konnte sie im Moment nicht hören, aber auch nur, weil es um sie herum laut genug war, dass sie die Stimmen kaum unterscheiden konnte. Sie wusste, dass er noch da war und ihr 50 Möglichkeiten ins Ohr flüsterte, wie sie den ganzen Raum auf einen Schlag auslöschen konnte.
      Sie schob sich etwas abseits an den Rand, klemmte sich den Krug unter den Arm und nestelte die Phiole auf. Wie viele Tropfen?
      10 Tropfen!
      Drei Tropfen. Sie hielt die Öffnung über den Krug, kniff die Augen zusammen, um bei dem merkwürdigen Licht genug zu erkennen und tröpfelte sich den Inhalt hinein. Drei Tropfen, dann schraubte sie die Phiole wieder zu und trank.
      Und verzog das Gesicht. Die Ärztin hatte sie davor gewarnt, dass es bitter schmecken könnte, aber sie hatte wohl verpasst zu erwähnen, dass es sprichwörtlich nach Tod und Verderben schmeckte, nach einer verfaulenden Leiche, die sich jetzt in ihrem Mund ausbreitete. Da konnte selbst der bekannte Metgeschmack nicht helfen, auch wenn die Wärme durchaus wohltuend war. Dany nahm noch einen Schluck und bereute dann, den ganzen vollen Humpen mit dem Zeug zu haben.
      Kurzerhand stürzte sie den ganzen Krug hinunter, rülpste aus vollem Herzen, bahnte sich zurück an die Theke und ließ sich gleich nachfüllen, um den Geschmack nachzuspülen. Diesmal schmeckte es gänzlich und wohltuend nach Met.
      Sie spülte die Leiche hinunter, nahm dann eine Pause vom Trinken, bei dem sowieso schon vollen Bauch, und stützte sich auf der Theke auf, aufmerksam darauf, ob sich etwas ändern würde, ob sie irgendetwas spürte. Aber nichts geschah. Keine Meditation setzte ein oder Geistesfreiheit oder was auch immer Miranda gesagt haben mochte. Es war immernoch alles laut um sie herum, sie war immernoch angefressen von allem, sie hatte immernoch den Dolch in ihrem Kopf, sie verspürte noch immer einen unsagbaren Hass auf Prysk, sie hatte jetzt auch noch ein unangenehmes Vollgefühl von dem ganzen Krug Met. Sie würde betrunken werden, und zwar schnell. Merch vertrug sich nicht gut mit Met. Nichts von alledem war anders.
      Aber dann, gerade als sie sich aufrichtete, um Miranda vielleicht ihre Meinung geigen zu gehen, darüber, dass die Phiole nicht wirkte - nichts.
      Plötzliche Stille.
      Plötzlich war alles fort, die Abscheu gegenüber der Bewohner dieser Festung, der Hass auf Prysk, die Sorge wegen dem Dolch, selbst die Gereiztheit ihres vollen Bauches.
      Mit einem Mal war nichts mehr übrig. Ihr Kopf war leer. Ihre Gedanken waren verschwunden und selbst, wenn sie noch immer den Lärm hören konnte, wenn sie noch immer die Menge sehen und die vielen Sinneseindrücke in sich aufnehmen konnte, gab es einfach nichts mehr, was die ganze Sache kommentiert hätte. In ihrem Kopf war nichts. Sie sah die Masse aus Mutanten und Menschen und dachte nichts. Sie sah die Musiker, die allesamt Mutanten waren und von denen sie noch eine Sekunde zuvor gedacht hatte, wie unsagbar scheußlich sie spielten, und dachte sich - nichts. Gar nichts. Sie sah Prysk und das einzige, was ihr Kopf dazu zu sagen hatte war: Prysk. Nur Prysk.
      Dany blinzelte.
      Die Menge war jetzt laut geworden und sie verstand erst mit ein bisschen Konzentration, worum es ging. Sie verlangten wohl ein Lied und das war wohl sinnvoll, mit der Musik war auch ein Lied passend. Mehr Beiträge lieferte ihr Kopf dazu nicht.
      Überraschenderweise war es Prysk, der sich aus der Menge schälte und das Podest erklomm, um unter begeisterten Zurufen gewünschtes Lied anzustimmen. Dany beobachtete ihn, beobachtete, wie er sich mit ihr mittlerweile vertrauten Bewegungen bewegte, wie sein Haar über seine Schultern schwappte, gänzlich befreit von Dreck und auch seinen Perlen, und alles was sie sich dachte war, dass es kein Lied sein konnte, dass er da sang, denn ein Lied hatte Töne. Prysk brüllte eher nur. Aber mehr kam dahinter nicht. Sie verspürte keinen Hass, sie verspürte keine Abneigung, sie war nicht gereizt, dass er in ihrer Nähe war. Gar nichts. Nur Prysk ohne seine Perlen.
      Das Lied war ihr unbekannt, aber es schien irgendwie zur Festung zu passen. Vor fünf Minuten noch hätte sie sich wohl auch hierzu eine Meinung bilden können, aber es war nur ein Lied und nur ein Text und nur gute Stimmung und ihr Gehirn blieb leer. So angenehm, entspannt, unbeteiligt. Sie sah nur und alle Gedanken waren weggeblasen.
      Prysk wurde unter schallendem Gelächter wieder von seinem Podest verjagt und von der Menge genau in ihre Richtung getrieben. Dany starrte ihn noch immer unbeweglich an, als er bei ihr auftauchte, den Blickkontakt erwiderte und dann ein dickes Grinsen zur Schau trug. Und es war nur ein Grinsen, mehr nicht. Sie nahm es unbeteiligt hin, das Grinsen, das von Prysk kam.
      "Du bist betrunken", stellte sie fest, ganz nüchtern. Eine reine Beobachtung, nicht mehr als das.
      Dany war aber durchaus niemand anderes als sie selbst, sie war noch immer vollkommen Dany, und weil das so war, wusste sie ganz genau, wie sie umsetzen konnte, was er von ihr wollte. Trinken konnte sie. Trinken konnte sie sehr wohl, eine reine Beobachtung vergangener Erinnerungen.
      "Trinken wir. Scheiß auf Zukunft und Vergangenheit."
      Sie hob den Krug ihm zu und Prysk beschaffte sich selbst in Windeseile einen, bevor sie ihre Krüge aneinanderstießen. Es schepperte einmal laut, laut genug, dass sie es selbst unter dem Lärmpegel noch hören konnte. Met schwappte ihnen beiden über die Hände, aber sie scherten sich nicht darum, als sie große Schlucke tranken.
      Schon jetzt setzte das erste Schwindelgefühl ein. Dany hatte schon einen ganzen Krug auf leeren Magen getrunken und war noch immer auf Merch, keine zehn Minuten und sie hatte erste Trunkenheitserscheinungen. Aber selbst das bewirkte keine Ängste in ihr. Wie sollte es auch - ihre nüchterne Beobachtung war, dass hier genug Leute waren, die schon deutlich betrunken waren. Man würde sich um sie kümmern, sollte sie zu weit gehen.
      Dany blinzelte Prysk an, fasziniert von dieser neuen Art von Neutralität, mit der sie ihn so betrachten konnte, wie er wirklich war, als ein gellender Ruf sie beide darin unterbrach, diese merkwürdige Zusammenkunft fortzuführen.
      "Prrrrrrysk!"
      Der Jäger drehte sich zu der Stimme um, die einem älteren Mann gehörte, der den Körper eines Bullen zu haben schien. Arwen mochte von allem etwas haben, von breiten Schultern, von langen Beinen, von starken Beinen und von großen Füßen, aber beim Gesicht hatte er sich wohl nicht so eifrig bedient. Der Mann sah aus, als wäre er viel zu lange in seinem Leben Wind und Wetter ausgesetzt gewesen.
      Auch das beruhte auf einer vollständig nüchternen Beobachtung von Dany. Ihr Kopf hatte nichts zu der Tatsache beizusteuern, dass der Mann heran geschaukelt kam und begeistert einen Arm um Prysks Schultern warf.
      "Hab ich's doch g'wussd, dass du da bisd! Wann bisd'e gekomm'n, heude? Gesdern? Gesdern Abend bin ich heimg'komm'n, aber da wars'd nich' da. Das wüssd ich! Hah!"
      Er zog Prysk wie eine Puppe an sich in einer unbeholfenen Umarmung, weil beide einen Krug Met in der anderen Hand hatten und nicht dazu gewillt waren, ihn für diese Freundschaftlichkeit abzustellen. Der Blick von Arwen schwenkte zu Dany herum, sichtlich betrunken.
      "Lady! Lady? Wer bis'n du?"
      "Dany."
      "Dany! Arwen! Auf Prrys's Scheiß-Stimme! HAH! Gran'ios!"
      Er prostete ihr zu und Dany prostete ohne zu zögern zurück. Sie trank wieder einen Schluck und blinzelte dabei Arwen an, der sich wieder zu Prysk lehnte, fast schon beschwörerisch.
      "Prrys', was wichtig's: En paar Leude sin' der Meinung, dass du wieder irg'nwas komisches heimbring'n würdest, sowas wie beim, ähh, letzt'n Mal. Has'de das? Weil, das is' wichtig. Geht um, blurgh, Ehre un' so. Sowas."

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    • Das war alles sehr merkwürdig.
      Noch während Tjark beobachtete, wie sich Dany einen kleinen Teil einer Phiole in den Met kippte und nicht einmal mit der Wimper zuckte, sah Miranda kurz zu der jungen Frau hinüber. Nicht, dass sie sich sorgte oder dergleichen. Warum auch? Sie war nur eine weitere Süchtige in dem steten Kampf mit sich selbst. Nein, das hier war wesentlich mehr ärztliche Sorge darüber, ob sie auch recht dosierte. Laudanum war selten und schwer zu beschaffen. Die nächste Lieferung würde Wochen brauchen und sie brauchte es noch für einige Menschen hier, die Stimmen hörten. Schweigsam nickte sie Vera zu, in deren Unterhaltung sie vertieft war und beschloss, Schicksal Schicksal sein zu lassen.
      Prysk derweil wunderte sich mehr und mehr.
      "Worauf du einen lassen kannst", grinste er in ihre Richtung und wirkte das erste Mal ein wenig menschlich.
      Auf seine Aufforderung, zu trinken, reagierte dieses ätzende Scheusal von Frau tatsächlich menschlich richtig. Sie hob ihren Krug und mit einem Scheppern stießen sie an, bis ihnen die warme Flüssigkeit über die Hände lief. Nicht mal auf das "Scheißhaus" hatte sie reagiert! Das war beinahe ein Novum. Sollte sich unter dem ätzenden Stück Frau tatsächlich ein Mensch verstecken? Sie wirkte auch nicht mehr so angespannt oder genervt und der Blick, den sie ihm zuwarf, war viel eher neutral als wirklich genervt...
      Oh nein...
      Noch während Prysk seinen Krug in drei großen Schlucke beinahe der Leere anheim fallen ließ, fiel es ihm wie Schuppen aus den Haaren. Verschwörerisch beugte er sich zu Dany hinab und wollte sie gerade fragen, was sie eingeworfen hatte, als er von einem bulligen Bären von Wanderer beinahe umgeworfen wurden. Schwer wog der Arm auf der Schulter des Jägers und dem Geruch, den Arwen um sich warf, nach zu urteilen, hatte dieser schon als Metvernichter gedient.
      Grinsend ließ er sich ein wenig schwankend zur Seite drängen und schlang seinen Arm brudergleich um den Hünen herum.
      "Arwen, alter Nuttenpreller!", lachte Prysk und nickte mit dem Kopf. "Auf meine grässliche Singstimme!"
      MIt zwei weiteren Schlucken war der Humpen leer und der Jäger winkte in Richtung der Theke, bestellte gleich drei neue Humpen. Es wurde Zeit, zu trinken, zu lachen und zu feiern, dass sie lebten.
      Warum zum Geier wollte er das eigentlich?! Alkohol war ein schlimmer Feind!
      "Das is' Dany", grinste Prysk und wunderte sich, dass er sie nicht mehr Scheißhaus nannte. Halt stop! Alles bleibt wie es ist! "Ich bin heute gegen Nachmittag angekommen. War ein beharrlicher Weg und Zedyrs Auge hat mich verfolgt. Wie lief es bei dir, Arwen? Hab gehört, deine Beute war auch nicht so berauschend wie meine?"
      Das war nett gesagt. Er hatte außer einem stinkenden Junkie und einem Dolch nichts gebracht. Das würde ein harter weißer Winter werden und Prysk wusste noch nicht, wie er es Opharnim erklären sollte.
      Auf das verschwörerische Heranlehnen hin, legte Prysk seine Stirn vertraut seitlich an die des anderen Jägers und hörte ihm lachend zu, während er das Gelalle entzifferte.
      "Seit wann redest du von Ehre?!"; kicherte Prysk. "Ich hätte nicht mal Ehre, wenn du sie mir auf den Arsch tätowieren würdest. Aber nein, ich habe nicht wie letztes Mal irgendwelches Straßengetier mitgebracht. Hab nur diese dort und eine Freundin von ihr...Wo ist sie eigentlich?! Ah da vorne! Sie tanzt wohl mit Urret!"
      Na, der würde sich freuen. Urret vögelte alles was nicht bei drei auf den Bäumen war.
      "Warum interessiert euch alle eigentlich, wen oder was ich mitbringe?! Seit froh, dass es euch am fressen hält."
      Lachend nahm er die drei Humpen in Empfang und verteitlte sie mütterlich auf sie alle drei.
      "Also dann! Auf das Leben, die Liebe und den Suff, meine Freunde! Runter damit, bis wir unsere Namen nicht mehr kennen und jeder Schmerz ein Wohlgefallen wird!"

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    • "Achhh!"
      Arwen stieß ein furchtbar leidendes Stöhnen aus und entließ Prysk dann aus seiner halben Umarmung, um sich im Raum umzusehen.
      "Zimhea! Zimhea!!"
      "Was?! Was?!"
      Die Antwort kam von einer Frau, die kleiner als Dany war und Haare hatte, die ihr bis zu den Hüften fielen. Sie war zuerst nicht zu sehen, erst, als sie sich durch die Menge zu ihnen durchgekämpft hatte und mit leuchtenden Augen Prysk entdeckte.
      "Prysk! Du bist zurück!"
      Arwen grummelte derweil etwas unverständliches, wühlte in einer Tasche herum und übergab ihr zeremoniell zwei Ringe. Zimhea starrte ihn kurz an, grinste dann und sackte das Geld ein.
      "Sag ich doch."
      "Ja, ja. Sieh zu, dass du abschwirrsd du Geier!"
      Zimhea grinste in die Runde und tänzelte dann beschwingt davon. Arwen lehnte sich dabei schon wieder zurück an Prysk, als wären sie gar nicht unterbrochen worden.
      "Zed'rs Auge sagtes' du? Die werd'n auch immer dreisder. Lass dir das nich' gefall'n, klar?"
      Er wischte sich einmal über das Gesicht, der Blick ganz unkonzentriert.
      "Ich hab' mich mit ein'r Harpye geprüg'lt, weil, die hatte fette Eier, sag' ich dir. Fette Eier. Richtig groß. Hab' schon 'n Festmahl geseh'n für uns. Aber ich hab's nich' geschaffd, hab den Schwanz eingezog'n. Ich werd zu ald für den Scheiß, Prrys'."
      Ganz dramatisch leerte er seinen Krug in einem Zug und nahm dann den nächsten Humpen von Prysk entgegen. Dany schloss sich ihm an, völlig neutral in ihrer Beobachtung dieser beider Männer, deren Anwesenheit nichts in ihr auslösten.
      "Aufs Leb'n un' jeden Scheiß, den es mit sich bringt!"
      Sie stießen wieder an. Sie tranken. Es war eigentlich ganz einfach, nichts, was in irgendeiner Weise Anstrengung bedarf. Und das war das gefährliche daran, die Falle, in die sie vermutlich alle gerade liefen, Dany mit dem Kopf voran. Mit dem zweiten Krug drehte sich schon der Raum, auch wenn sie vergleichsweise wenig getrunken hatte, und ein merkwürdig gutes Gefühl stellte sich in ihrem Körper ein. Ungetrübt von sämtlichen Gedanken, die sie sonst umspült hätten, fühlte sie nur die Leichtigkeit in ihrem Körper, das Kribbeln vom Merch, das eigentlich wenn überhaupt nur ein bisschen kitzelte, die ausgelassene Stimmung, die um sie herum herrschte. Arwen lallte irgendwas in Prysks Ohr und der Mann lachte ganz ausgelassen, die Lippen zurückgezogen, das Gesicht in Lachfalten gelegt. Er schwenkte seinen Krug herum, weil er dann besser den Arm auf seiner Schulter tragen konnte, den Arwen in brüderlicher Gemeinschaft um ihn gelegt hatte. Sie sahen so aus, als würden sie sich schon ein Leben kennen. Die ganze Meute sah so aus, als wäre sie zusammen aufgewachsen.
      Ein eigenständiges, lebendiges Grinsen schlich sich auf Danys Gesicht. Sie dachte nicht darüber nach, sie fühlte, ohne zu denken.
      Die Musik änderte sich und mit einem Schlag hob sich ein deutlicher Takt hervor, ein Trommelschlagen, das die Melodie fast unter sich begrub. Die Menge schrie in heller Begeisterung, als ein Lied angeschlagen wurde, das Dany genauso unbekannt war wie schon Prysks Einlage und irgendjemand packte sie am Arm, um sie auf die Tanzfläche zu ziehen. Jeder wurde auf die Tanzfläche gezogen, egal ob jung oder alt. Alle mussten sich wohl diesem Song anschließen, der irgendeine Bedeutung haben mochte.
      Dany fand sich in mehreren Tanzreihen wieder, die sich aufeinander abzustimmen schienen. Sie konnte es schlecht beurteilen bei ihrem verschwommenen Blickfeld, bei den Lichtern, die aus allen Ecken flackerten, bei dem Lärm, der auf sie eindröhnte. Dany war nicht einmal eine gute Tänzerin, sie hatte nie Zeit für solche Kleinigkeiten gefunden. Aber niemand schien hier guter Tänzer zu sein, alle sprangen nur und zogen sich gegenseitig und lachten und schrien - und Dany grinste. Sie gab sich dem Rausch ganz hin, sie kümmerte sich nicht um andere oder um sich selbst, sie fühlte nur. Keine Gedanken, die sie aufmotzten. Kein Dolch, der ihr zuschrie. Sie tanzte und wann immer sie einen Blick auf wallendes, perlenloses Haar erhaschte, grinste sie ein Stück breiter.
    • Träumend sah er kurz in die Luft und seufzte schwer, als Arwen seinen Zehnt an Zimhea abtrat.
      "Hallo Zimhea", grinste er und prostete ihr zu, ehe er sich wieder der Masse widmete, die sich mehr und mehr in einen Tanzrausch zu wirbeln schien.
      Prysk brach anschließend in schallendes Gelächter aus und sah zu Arwen hinüber. Eine Harpyie...Hatte der alte Geier es wieder auf große Gegner abgesehen?
      "Wirklich? Eine Harpyie?!", kicherte der Jäger und schüttelte den Kopf. "Hab gedacht, die wären schon vor Jahren ausgestorben...Wie schade, dass du ihre Eier nicht gewinnen konntest. Das wäre ein prächtiges Omellett geworden..."
      Zu Zedyr's Auge sagte er nichts mehr, da ihn die Vorstellung schon wieder erschauderte, nochmal gegen Pollux und seinen merkwürdigen Strohhund anzutreten. Einmal aufgeschlitzt zu werden hatte ihm gerecht. Träumerisch griff er zu der Wunde auf seiner Brust, die nicht mehr als ein Striemen war und schlug einen harten Zug beim Trinken an, um die Gedanken zu betäuben, die seinen Geist raubtiergleich überfielen. Noch ehe er einer weiteren Geschichte von Arwen recht lauschen konnte und in das Gelächter des alten Wanderers einstimmen konnte, spürte er den Sog der Masse, als das Stück, das die Spielleute anstimmten, einen Trommeltakt beinhaltete. Wild und ausgelassen begannen die Bewohner der Festung im Schanksaal zu tanzen, obschon es kein wirklicher Tanz war. Viel eher glich es einem Fiebertraum, geschüttelt von Alkohol und anderen Substanzen, wenn man die lachenden und ausgelassenen Gesichter betrachtete.
      Und dann sah er in Danys Gesicht. Auf dem sich tatsächlich ein Lächeln zeigte! Ein Grinsen! Bei den Göttern! Wenn er es nicht besser gewusst hätte, würde ihm glatt die Sonne aus dem Arsch scheinen. Dass diese Frau lachen konnte...Er hatte es nicht für möglich gehalten.
      Noch ehe Prysk einen giftigen Kommentar in ihre Richtung schleudern konnte, wurde er am Arm in Richtung der Tanzfläche gerissen.
      Der Ziehende war niemand geringeres als ein Astmann, der knarrend und knitternd lachte und die wenigen Blätter schüttelte, die sein Haupthaar darstellten.
      Prysk bemerkte den Alkohol in seinem Blut just in dem Moment, in dem die Masse zu einem Organismus wurde. Gleich einem Pulsschlag, der sich unter der Haut mit allem vereinte, was den Körper am Laufen hielt, so geschah auch hier ein solches Phänomen. Niemand der Anwesenden vermochte zu tanzen. Keiner war mehr nüchtern (mit Ausnahme der Kinder und Jugendlichen) und keiner war in der Lage, die Bewegungen des Tanzes, mochten sie noch so einfach sein, wahrhaftig zu verfolgen. Und dennoch taten sie es. Stampfend und raufend, beinahe wild und doch wieder zärtlich schmiegten sich Leiber aneinander und tanzten miteinander. Manche zappelten auch nur voreinander herum, während andere einfach im Takt wippten. Prysk kam sich vor wie ein Kaleidoskop, als seine Augen von merkwürdigen Schleiern von Lichtern und gleichsam der Wärme des Getränks in seiner Hand gefesselt wurde. Wieder und wieder berührten ihn Leiber und schienen ihn hin und her zu schubsen, ehe er in das Gespringe und Gezappel einstimmte. Lachend drehte er sich um sich selbst und tanzte mit diversen Wesenheiten. Tanzten sie miteinander? Oder tanzten sie alle zusammen? Seis wie es sei, dachte der Jäger und lächelte das erste Mal versonnen in die warme Schänke hinein. Es war doch gleich. Ganz hier, ganz jetzt genoß er die Gemeinschaft von Wesen, die niemand wirklich wollte. Er genoß die Worte, die ihm zugerufen wurden, er genoß die Berührungen so mancher Hand, die sich freundlich auf seinen Leib legten, um hin zu drehen oder zu einer Bewegung zu bringen, die gerade zum Tanz passte. Willentlich ließ er alles mit sich machen und stand im nächsten Herzschlag vor Dany, die ebenfalls in den Pulk mit hinein gezogen wurde.
      Und jetzt, umgeben von Mutanten und Menschen, Aussenseitern dieser Welt, erschien sie ihm das erste Mal menschlich, als sie breit grinsend in dem Sog und dem Rausch der Musik gefangen wurde. Er musste sogar objektiv und ohne Abneigung feststellen, dass sie lächelnd sogar recht hübsch war. Es mochte aber auch an einem Bad gelegen haben. Die Götter wussten wieso.
      Schweigend trat er wieder in das Gezappel über und grinste Dany zu.
      "Wer hätte gedacht, dass du hieran Spaß hast??", rief er und sein Grinsen wurde breiter, als er einem Halbtroll zuwinkte, der gerade den Tanz seines Lebens aufs Parkett brachte.
      "Sieht gut aus!", rief er erneut und wies auf Dany selbst.
      Er beschloss, ihre veränderte Art zunächst nicht anzusprechen. Viel zu bald würde sie wieder nörgeln und keifen und das hier vergessen machen. Also wieso nicht diese wundersame Stimmung erhalten? Mochte sie noch so schädliches Zeug eingeworfen haben, es war ein Segen, dass er sich nicht auch noch um Dany kümmern musste.

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    • Dany konnte nicht sehen und gleichzeitig sah sie alles. Vor ihren Augen schwirrten die Formen vorüber, undeutliche Leiber menschlicher Konturen, die sich in einer Masse miteinander bewegten. Sie konnte auch nicht hören und gleichzeitig hörte sie alles, der Schlag der Trommeln jedes Mal wie ein Rums, der sicherlich die ganze Festung erschütterte. In ihren Knochen vibrierte er jedenfalls wieder. Sie fühlte auch nichts, keine Bewegung in ihrem Körper, auch wenn sie sich unweigerlich mit der Masse mitbewegte. Es war alles und es war gar nichts. Es war genau richtig.
      Gesichter tauchten vor ihrem Blickfeld auf und verschwanden dann wieder, die meisten mit aufgerissenen Augen und lachenden Gesichtern. Weil Dany sie nicht kannte, entsprangen ihr auch keine Gedanken dazu. Sie sah ihre grinsenden Münder und grinste zurück.
      Aber dann tauchte ein Gesicht auf, das sie sehr wohl kannte, und ihr Gehirn lieferte den höchst geistreichen Beitrag: Prysk. Mehr war es nicht. Er grinste und daher grinste sie zurück, ein Moment, den sie sich nüchtern nicht in tausend Jahren vorgestellt hätten, der jetzt aber so natürlich kam, als hätte es nicht anders sein können. Prysk war hier und Dany war und wie könnten sie da nicht beieinander sein?
      Seine Haare flogen ihm ums Gesicht und für einen kurzen Augenblick ergab es für Dany Sinn, wie die Frau vom Nachmittag sich so um seinen Hals geschmissen hatte.
      "Niemand!", gab sie zurück und verlor Prysk für einen Moment aus dem schwammigen Blickfeld ihres Gesichtes, bevor er wieder auftauchte. Seine Konturen mochten unscharf für sie sein, aber seine Präsenz stach ihr hervor wie ein Leuchtfeuer.
      Sie streckte die Hand nach ihm aus. Auch das war keine durchdachte Bewegung, es war schlichtweg die Reaktion auf den Tanz, der sie beide in der Menge herumwarf. Sie hielt ihren Blick auf ihn gerichtet und Prysk ergriff sie schließlich.
      Sie drehte sich. Ihre Welt verlor für einen Augenblick das Oben und Unten, das Links und Rechts, nur ein formloser Farbklecks, der sie schwindelig machte, aber dann kamen die Konturen zurück und Dany begriff, dass sie sich an Prysk vorbeigetanzt hatte. Aber er hielt sie weiter fest, eine Verlängerung ihres Armes, und bevor sie sich zurück in der Menge verloren hätte, hatte er sie wieder in seine Richtung gezogen. Sie grinste ihn an, vielleicht grinste sie auch auf alles, was um sie herum gerade geschah.
      Zeit war nicht zu messen, wenn es keine Gefühle gab, die sich änderten. Die Musik wechselte sicher irgendwann wieder und der Takt änderte sich bestimmt, aber all das war unerheblich, wenn die Menge tanzte und Dany nichts weiter als das wahrnehmen konnte. Sie mochten Stunden dort zubringen, vielleicht auch Tage oder gar Wochen, und es hätte sie in keinster Weise überrascht. Es wäre sogar vollkommen logisch gewesen.
      Aber zu viel Met, zu wenig Merch und alles was dazwischen lag, holten zu ihr auf und irgendwann schwitzte Dany mehr, als gut war und der Raum drehte sich mehr, als sie mithalten konnte. Der Lärm und die Musik vermischten sich zu einer dumpfen Erschütterung ihres Trommelfells, das sie nicht auseinanderhalten konnte. Konturen vermischten sich und irgendwann wusste sie nicht mehr, was sie genau vor sich sah.
      Ihr Magen rebellierte. Sie spürte es in ihrer Kehle, in ihrem Mund, sogar in ihrer Brust. Das Tanzen war kein Ausdruck von instinktiver Freude mehr, es war eine Qual.
      Dany stolperte, als sie sich von der Bewegung des Raumes loszureißen versuchte und torkelte ein paar Schritte gegen weiche Leiber, die gleich wieder verschwunden waren. Alles bewegte sich zu schnell, nur Dany bewegte sich zu langsam. Sie wusste nicht, wo die Tür war, setzte sich aber mit unsicheren Schritten in Bewegung.
    • Die Hand in seiner Hand wirkte surreal.
      Auch wenn alles irgendwann ein Schwall von Lichtern und Gesichtern war, erschien ihm doch diese Hand in seiner merkwürdig realer als der Rest, den er wahrnahm. Sie war warm und wirkte beinahe verloren in seiner eigenen. Doch als er unwillkürlich und völlig im Rausch des Tanzes Dany an sich zog, erschien es irgendwie...gut so?
      Prysk schüttelte verwirrt den Kopf, während sie sich beide mit allen lachend drehten und der Musik lauschten, die langsam wieder den Rhyhtmus wechselte. Das musste an dieser Musik und der Extase dieser Leiber liegen, dass er auf dieses schmale Brett kam und diese Frau, dieses...Wie hatte er sie noch genannt?...Scheißhaus! Genau Scheißhaus! Das war Scheißhaus und keine Frau im normalen Sinne. Bis eben hatte sie noch mehr Merch gestopft als der Straßenstrich von Triuce in einem Jahr und jetzt? Jetzt wirkte der Blick merkwürdig verklärt und gleichsam konnte Prysk sie nicht loslassen.
      Beinahe zu seinem Bedauern (dessen Auskommen er nicht verstand) löste sich Dany von ihm und tanzte regelrecht unter seinem Arm hindurch in Richtung anderer Tanzgesellen und mit einem Mal bemerkte Prysk etwas, das diese Gemeinde zutiefst verteufelte: Anspruchsdenken. Ehe er einen klaren Gedanken und fassen und sich selbst korrigieren konnte, hatte er ihre Hand festgehalten und sie wieder zu sich gezogen. Noch ehe sie seinen Leib wieder mit einem kleinen Schlag berührte, grinste sie ihn breit an und er grinste zurück. Dämlich wie er war.
      Es mochte noch lange gegangen sein. Vielleicht Tage, vielleicht Wochen. Vielleicht waren es auch nur ein paar Minuten, die der Jäger noch mit ihr in der Nähe auf der Tanzfläche, ehe sich Dany von ihm löste und aus der Masse torkelte. Es brauchte eine Weile, bis Prysk sich wieder soweit gesammelt hatte, dass er ihr nachsehen konnte. Und zumindest von hier aus erkannte er das Ziel ihrer Reise. Es war wohl etwas zu viel gewesen...
      Ruhig sah er ihr nach und sich danach um. An anderer Stelle hatte sich tatsächlich Rufus unter allen um eine Hand in Sylvias Tanz bemüht und sie offenbar auch erhalten. Wenn man das Hand nennen konnte. Der junge Mann zappelte regelrecht vor Sylvia hin und her und sich die Schweißperlen auf die Stirn, während Prysk zu grinsen begann. In Puncto Werbung würde er ihm noch einige Lektionen erteilen müssen, dachte der Jäger, während er sich durch die Meute wuselte, um an einen Wasserschlauch zu gelangen.
      Irgendwie hatte es Dany geschafft, den Schankraum zu verlassen und der Jäger eilte ihr nach. Warum eigentlich?! Sollte sie einfach kotzen wie jeder andere auch!
      Kopfschüttelnd hielt er kurz inne und sah in den Raum zurück. Er hätte eine schöne Nacht haben können. Doch Mirandas Blick, der ihm beinahe schon offensiv bedeutete, nach draußen zu verschwinden sorgten für genügend schlechtes Gewissen. Seufzend stieß er die Tür nach draußen und die nasskalte Nacht auf.
      Draußen schlug ihm der kalte Winter entgegen und selbst die Feuer vermochten seine feuchte Haut nicht mehr zu wärmen.
      "Dan...", begann er doch unterbrach sich. "Scheißhaus!"
      Sie. War. Scheißhaus. HimmelherrgottundbeidenEiernvonfauligenHarpyien!
      Da war sie! Immerhin.
      Lachend trat er ein paar Schritte näher an sie heran und legte eine Hand auf ihren Rücken.
      "Alles in Ordnung? Etwas schwach auf der Brust?"

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    • Die Welt drehte sich, aber nicht etwa nach links oder rechts und auch nicht in irgendeine andere Richtung, eigentlich drehte sie sich auch nichtmal wirklich, sondern wackelte nur sehr stark und verlor ihre Anhaltspunkte. Oben konnte unten sein oder auch ganz woanders und generell wusste Dany nicht, ob sie mit tauben Füßen über den Boden oder vielleicht auch die Wände schlingerte. Sie wusste nur, dass sie es irgendwann aus dem Raum schaffte, weil sie unmittelbar frische Luft zum Atmen bekam und da erst merkte, wie stickig und heiß es drinnen gewesen war.
      Taumelnd und im Kampf mit ihrem eigenen Magen flüchtete sie nach draußen.
      Die kalte Luft war wie ein Peitschenhieb ins Gesicht und Dany schaffte es gerade noch, ein paar Schritte zur Seite zu stolpern, bevor sie ihre Niederlage eingestand. Die Reste des Mittagessens schossen in ihr empor, vermutlich auch eine Menge von unverdautem Met und sie erbrach sich an der Steinwand der Feste. Einige Male würgte sie nach, spuckte wiederholt auf den Boden, um den widerlichen Geschmack aus dem Mund zu bekommen, und lehnte denn den Kopf gegen den eiskalten Stein.
      Hier draußen war es ruhig, völlig ungetrübt von der lauten Musik drinnen. Alles, was sie zu hören bekam, war der Wind, der in der Ferne heulte und manchmal an ihren Kleidern zerrte.
      Ihre Gedanken bestanden ausschließlich aus der Tatsache, dass Wind hier herrschte. Noch immer gab es nichts anderes, nur Dany, die Leere in ihrem Kopf, und jetzt die Kälte an ihrem Körper, die den Schweiß auf ihrer Haut trocknete.
      Sie schloss die Augen und gab sich den Drehungen und Windungen ihrer Sinneseindrücke hin.
      In der Nähe wurde die Tür aufgerissen und ein Schwall dumpfer Lärm schwappte heraus, bevor sie sich wieder schloss und Prysks Stimme erklang.
      Prysk.
      Er hatte sie nicht gerufen, aber Dany hörte sich trotzdem antworten. Sie wusste ganz instinktiv, dass er sie gerufen hatte.
      "Hier!"
      Seine Schritte knisterten durch den Schnee zu ihr hinüber, begleitet von seinem Lachen, das sie drinnen schon gehört hatte. Es war ein schönes Lachen, ganz unbeschwert. Fröhlich.
      Sie rührte sich nicht, weil sie sich ziemlich sicher war, dass sie den nächsten Kampf verlieren könnte, wenn sie ihren Körper bewegte, aber seine Hand spürte sie trotzdem auf ihrem Rücken. Es war wie eine Stütze. Sie konzentrierte sich auf seine Wärme, weil das einfacher war, als die Kälte wahrzunehmen, die sich durch ihre Stirn und den Rest ihres Körpers fraß.
      "Zu viel getrunken. Zu wenig gegessen", murmelte sie zurück. Wenn sie könnte, hätte sie ihn wieder angegrinst, das hatte sich gut angefühlt. Das war richtig gewesen.
      Ganz wenig nur neigte sie den Kopf.
      "Das Zeug von Miranda hilft. Ich kann ihn nicht hören."
      Dabei wusste sie, dass er kaum die Gelegenheit ausgelassen hätte, sich jetzt über sie lustig zu machen. Oder ihr zu verraten, wie sie sich für diesen Frevel rächen konnte.
    • Da war sie ja!
      Regelrecht zusammengesackt an der Außenmauer der Feste saß sie mit angelehntem Kopf und erstaunlicherweise schlich sich ein Bild des Friedens in seinen Kopf. Frieden, wie Prysk ihn nie gekannt hatte. Sachte knirschte der Schnee unter seinen Stiefeln und die Feuchtigkeit seiner Haut, die durch die heiße Luft gekommen war, stach ihm schmerzhaft auf die Stirn. Es war kälter geworden, aber Prysk merkte nicht viel davon auf seiner Haut. Dieser Friede, den er trotz des Erbrochenen neben ihr in ihrem Gesicht vorfand, war beneidenswert. Und innerlich ertappte er sich dabei, wie er sich danach sehnte, diesem Frieden.
      "Siehst scheiße aus", murmelte er und ließ sich erstaunlicherweise aus einer Laune heraus neben sie in den Schnee fallen. Schwer prallte der Rücken des Jägers an den harten, groben Stein und er sah zu den ganzen Wegefeuern. "Hier."
      Schmucklos reichte er ihr einen Wasserschlauch aus gegerbtem Leder, der leicht in der Hand des Jägers nachgab.
      "Schau nicht so. Wasser. Keine Sorge", murmelte er und führte seinen eigenen Becher Met an die Lippen und genoß den warmen, süßen Geschmack und die Schwere dahinter.
      Der Wind pfiff ihnen leicht um die Ohren und ließ die Flammenfinger gierig nach dem Himmel greifen, der sich in beiernder Schwärze über sie legte. Prysk atmete durch, während er in die Sterne sah und sich einen Moment lang fragte, warum er sich nicht lustig machte. Oder gar den Drang empfand.
      "Ja, Saufen ist nichts für Anfänger", kicherte er und leerte den Krug anschließend. Zu sagen, dass er sich besser fühlte, wäre übertrieben, aber zumindest hielt er noch stand und übergab sich nicht.
      Auf ihre letzte Anmerkung hin zog er die Augenbrauen hinauf. Nun, das erklärte zumindest die veränderte Stimmung deutlich. Es brauchte eine Weile, bis Prysk auffiel, dass er Dany von der Seite her anstarrte. Um die merkwürdige Reaktion zu überdecken, kehrte er seine Haare nach hinten und legte den Kopf wieder an den Stein.
      "Das erklärt zumindest, warum du anders bist", murmelte er ruhig und mit leicht heiserer Stimme. "Ich kann mich glaube nicht an eine Situation erinnern, in der du mich angegrinst hast..."
      Und in welcher ich zurück gegrinst habe. Oder eine Hand genommen habe, die nicht meine eigene war.
      "Was hat dir Miranda gegeben, dass es dieses Scheusal betäubt?"
      Wie lange mochte es wohl dauern, bis sie wieder aus diesem Hoch heraus kam?
      Schweigsam blieb er neben ihr sitzen und spielte mit dem leeren Becher in seiner Hand, um zumindest den verlängerten Armen etwas zu tun zu geben. Prysk fühlte sich merkwürdig und wusste nicht mal wirklich, wieso.

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • “Siehst scheiße aus”, kam es von Prysk, als er sich ihr näherte.
      Das höre ich in letzter Zeit öfter”, murmelte Dany zurück, kurz bevor er sich neben sie in den Schnee fallen ließ. Dany neigte den Kopf zu ihm, zu der Gestalt von Prysk, die in dem fahlen Licht des Innenhofes allerhöchstens an Farbe einsparen musste. Das Lächeln war noch immer da, auch wenn es von seinen Lippen verschwunden war. Es war in den leichten Falten in seinem Gesicht und in dem Glitzern in seinen Augen, die das wenige Licht reflektierten.
      Dany vereinnahmte seinen Anblick und dachte dabei nichts.
      Formlos überreichte er ihr einen Schlauch, den sie ablehnte, weil er sicherlich ihren Kampf mit ihrem Magen nicht begünstigen würde. Aber als Prysk ihr versicherte, dass es nur Wasser sei, nahm sie ihn doch, zog einen großen Schluck daraus, spuckte ihn wieder aus und trank dann. Die denkende Dany hätte sicher ihre Zweifel an seiner Aussage gehabt, aber da lag wohl auch das Problem: Denken.
      Das Wasser war gut, auch wenn sie nur langsam trinken konnte. Das und die Kälte halfen ihr ungemein, aber auch Prysks Anwesenheit hatte etwas an sich, irgendeine kleine, unsichtbare Stütze in ihrem Kopf, die er darstellte.
      Sie reichte den Schlauch zurück und ließ den Blick dabei auf ihm ruhen. Er erwiderte ihren Blick und für einige Sekunden rührten sie sich nicht, dann sah er weg und Dany dachte nichts. Ihre Augen wanderten über seine offenen Haare.
      Miranda hat es mir gegeben. Laudanum. Sie hat es anders ausgedrückt, aber es leert den Kopf. Nichts kommt mehr rein, nichts kommt mehr raus. Ich denke nicht mehr.
      Sie kippte den Kopf wieder nach hinten gegen den Stein. Sie ließ den Blick durch die Dunkelheit ziehen und sie betrachtete den Becher in Prysks Hand, den er herum schaukelte. Für eine geraume Zeit kamen sie in den Genuss einer Stille, die sie in dieser Form nicht gewohnt waren.
      Viele Dinge sind falsch gelaufen, die letzten Wochen. Monate. Aber ich glaube nicht, dass es deine Schuld ist, Prysk. Du bist ein guter Mann. Das Merch verseucht meine Gedanken, aber das weiß ich. Vielleicht wusste ich es schon in Cheynia.
      Stille brach wieder herein, der Dany einfach nur lauschte. Es gab keine Gedanken, die sie hätte sortieren müssen. Sie folgte einem Bedürfnis zu reden und einem anderen Bedürfnis, das das Thema aussuchte.
      Die Hälfte der Zeit macht mich das Merch, oder eher das Fehlen, wütend und die andere Hälfte habe ich Angst, dass ich nicht genug nehme und seine Stimme wieder höre. Es ist nicht einmal eine Stimme, die ich wiedererkennen würde, es ist nur in meinem Kopf. Es kann jeder sein. Wenn ich nicht aufpasse, falle ich darauf herein. Jedes Mal.
      Sie sah wieder zu Prysk hinüber, auf sein Seitenprofil. Auf die Haare, denen die Perlen fehlten, die ihm über die Schultern fielen.
      Ich verdanke dir mein Leben, wenn du mich von ihm befreist. Sowas hörst du sicher häufiger, oder?
    • Der Jäger genoß die Stille um sie herum und das Atmen des Windes, der sie frösteln ließ.
      Auch wenn er sich der Kälte nicht bewusst war oder sie spüren konnte, wusste er um den Einfluss der Natur auf die menschliche Seele. Und dieser friedliche Innenhof einer Festung, die von Schnee umringt und verborgen vor den Augen der Welt erschien, war das, was seine Seele kitzelte und selbst ihn lächeln ließ. Und nichts anderes tat er. Aus dem bitteren Gesicht zeigten sich Lachfältchen um seine Augen als er zu grinsen begann und nickte.
      "Kann ich mir vorstellen", murmelte er. "Aber so schlimm ist es nicht. Sahst schon mal schlimmer aus."
      Das war gelogen. Eigentlich sah Dany so gut wie lange nicht mehr aus. Ohne die Falten der Wut und die stetige Sucht auf dem Gesicht geschrieben wirkte sie beinahe um Jahre jünger, sodass selbst Prysk für seine Art und Weise nicht umhin kam, dies bewundernd anzuerkennen.
      "Laudanum, huh", grinste der Jäger. "Gefährlich, aber ein gutes Zeug. Es leert den Geist, das stimmt. Macht aber abhängig wie Merch, wenn man zu viel nimmt. Aber ich kann mir vorstellen, dass die Ruhe himmlisch sein muss."
      Schweigsam genossen sie beide unabhängig voneinander die paar Herzschläge voller Ruhe, die ihnen der Wind offenbarte. Es waren nur wenige Augenblicke und doch schien nichts falsch daran. Als wären sie geschaffen worden für diese Beiden hier, in diesem Moment zu schweigen und sich dabei richtig und wichtig zu fühlen.
      "Ich verstehe", nickte Prysk und sah zu Dany herüber während sie sprach. Ach, falscher hätte ein Mensch nicht in der Charakterisierung seiner selbst liegen können. Ja, er tat gute Dinge, aber würden die Menschen seiner Vergangenheit auch so über ihn denken? Prysk, der gute Mensch? Wohl kaum. "Mach dir keine Gedanken. Merch ist ein Teufelszeug, wenn du mich fragst. Es verändert so vieles und so Viele."
      Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Drogen blieben Drogen. Damals wie heute waren sie ein Teufelszeug.
      "Ich höre es nicht häufiger, nein", schüttelte er den Kopf und seufzte. "Die meiste Zeit ist es eher eine Selbstverständlichkeit. Ich tue diese Dinge nicht, um mir des Lobes habhaft zu werden oder der Anerkennung. Das ist mir scheißegal. MIch kümmert nicht, wer was über mich denkt. Es ist viel eher...eine Art Buße, denke ich. Denn entgegen seiner Meinung bin ich leider kein guter Mensch. War ich nie und werde ich nie. Und ich tue Buße für meine Sünden..."
      Nicht wahr, Yngrid?
      "Du verdankst mir nicht dein Leben", sagte er und löste den Blick von ihrem offenen Gesicht, das er mehr und mehr zu mögen begann. Beinahe war es schade, dass sie die Festung alsbald verlassen würde. "Du verdankst es dir selbst. Denn du hast überlebt, Dany. Du bist hier aufgrund deiner Stärke. Ja, sicherlich war auch das Merch für einen guten Teil verantwortlich, aber die Widrigkeiten dessen hast du überstanden. Du bist hier, weil du stärker als das alles warst. Ich war nur der kleine Teil deines Lebens, der dich verschleppt und in eine Festung jenseits aller Städte gebracht hat. Du alleine wirst dir danken müssen. Denn du bist stärker, als du glaubst."
      Red doch nicht so einen kitschigen Blödsinn, Himmelkeilenochmal!, mahnte er sich und schüttelte den Kopf.
      "Wessen Stimme ist das eigentlich in deinem Kopf? Sie klang fies, neulich."

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Wann hatte Dany Prysk jemals so ruhig reden gehört? Wann hatten sie überhaupt je Wörter ausgetauscht, ohne sich gegenseitig anzufauchen oder die eine oder andere Stichelei loszulassen? Wann war er ihr mal so gänzlich entspannt vorgekommen, nicht so unruhig und ständig aufmerksam wie auf ihrer Reise? Gar nicht, war die Antwort. Dieser Moment war allein schon durch diese Tatsache vollkommen surreal.
      Sie fühlte aber nicht, was dahinter steckte, als sie diesen Gedanken fasste, und so betrachtete sie Prysk nur wieder, als er ihr in gewissermaßen den Merch-Konsum vergab. Auch das war etwas, was sie hatte hören müssen, auch wenn ihr das nie klar gewesen war. Nur das Gefühl, das damit einherging, blieb einfach aus, nur ein Gedanke, der ihr durch den Kopf zog und dann wieder weiterschwebte.
      Fast war es schade. Fast hätte sie sich in diesem Moment gewünscht wieder zu fühlen.
      So lehnte sie aber nur den Kopf an und betrachtete weiter, wie Prysk seinen Krug schwenkte.
      "Buße für welche Sünden?"
      Nein, das war die falsche Frage. Dany legte den Kopf ein Stück weiter nach hinten.
      "Buße für welche Sünden, die nicht überall begangen werden?"
      Sie machte sich nur wenig Sinn aus seinen Worten, weil sie nicht zu dem Mann passten, den sie bisher kennengelernt hatte. Der Prysk, der anstößige Bemerkungen machte und zu dem sowohl Rufus, als auch Lysander wie eine Art Anführer empor sahen, wirkte nicht wie einer, der es nötig gehabt hätte, für irgendetwas Buße abzulegen. Wofür auch? Es war schließlich nicht so, als gäbe es noch irgendwelche gutherzigen Götter, die eine Buße annehmen und die Sünde verzeihen könnten. Sie waren für sich selbst zuständig auf dieser Welt, das sollte ihnen mittlerweile wohl allen klar sein.
      Seine Augen lösten sich von ihren, aber Dany starrte ihn weiter an, unverwandt, denn irgendwas an seinen nächsten Worten sollte sie spüren, wie ein kleines Ziepen im hintersten Teil ihres Gehirns, dass sie darauf aufmerksam machte, dass es dort etwas gab. Aber was auch immer sie spüren sollte, es kam nicht hindurch.
      "Ich weiß es nicht."
      Sie wiederholte es nach einer kleinen Pause noch einmal und sprach nach einer größeren weiter.
      "Es ist keine richtige Stimme, der Dolch. Ich kann ihn nicht hören, so wie ich dich höre, aber mein Gehirn weiß, dass es Worte aufgenommen hat. Wenn ich mich nur richtig konzentriere, kann es jede Stimme sein."
      Jetzt sah sie selbst auch erst von Prysks Seitenprofil weg.
      "Damals, vor über einem Jahr, als ich ihn noch nicht lange hatte und auch noch nicht darauf gekommen bin, dass Merch helfen kann, bin ich ständig auf den Dolch hereingefallen. Man kann einfach nicht unterscheiden, er kann mir etwas zuflüstern und ich kann denken, dass jemand direkt hinter mir steht. Oder neben mir. Er kann schreien und ich kann denken, dass irgendwo in der Distanz jemand geschrien hat. Ich kann es nicht aussortieren.
      Damals, als wir den Dolch gestohlen und vor den anderen geflohen sind, hatte ich einen Mann bei mir - Gashan. Es waren auch noch andere dabei, ich habe mich erst später von ihnen getrennt, aber es geht gerade nur um Gashan. Er und ich waren damals etwa ein halbes Jahr lang zusammen gewesen.
      Er hat geholfen den Fluchtplan zu organisieren, aber dann war seine Hauptaufgabe darauf aufzupassen, dass ich nicht den Verstand verliere. Der Dolch hat mich Tag und Nacht zugeredet und war manchmal laut genug, dass ich die anderen gar nicht gehört habe. Ich habe mich praktisch an Gashan geklammert, weil er mir den Unterschied gezeigt hat, was richtig und falsch ist, ein bisschen so, wie ich auch unterscheide zwischen magischen Geräuschen und normalen Geräuschen. Manches ist echt, manches kann nur ich hören. Das ist nichts neues für mich, ich musste es aber für den Dolch nochmal lernen.
      Aber dann ist er still geworden, an einem Abend, der Dolch. Hat einfach aufgehört. War von jetzt auf gleich nicht mehr da und ich war so erleichtert, ich habe zum ersten Mal seit Tagen richtig geschlafen. Wir haben uns die nächstbeste Unterkunft gesucht, unsere Gruppe, und dann habe ich Gashan geliebt und bin mit ihm eingeschlafen. Die erste schöne Nacht seit langem.
      Ich bin aufgewacht, weil ich dachte, Gashan würde mir ins Ohr flüstern. Er hatte seinen Arm um meine Hüfte und ich hätte mir dabei nichts gedacht, wenn ich nicht gehört hätte, was er mir zugeflüstert hat. Er hat mir gesagt, dass die Zeit mit mir schön gewesen wäre und dass er es genossen hätte, aber dass jetzt der Punkt gekommen wäre, an dem er das ein für allemal beenden würde. Er hätte bekommen, was er gewollt hatte und würde sich nur meiner entledigen.
      Seine Hand lag an meinem Bauch und ich dachte wirklich, er hätte etwas gehalten. Ich war absolut überzeugt. Ich hatte mir zwar nicht erklären können wieso, aber ich war überzeugt, dass er ein Verräter war und sich irgendwie bei uns eingeschleust hatte. Dass er mich umbringen würde.
      Also habe ich ihn zuerst umgebracht. Habe mich schlafend gestellt, den Dolch gezogen, den ich unter meinem Kopfkissen aufbewahre, und mich zu ihm herumgeworfen, um ihn abzustechen. Einmal in den Bauch, einmal in die Brust, einmal in den Hals, so wird es uns beigebracht. Ich bin gut mit meinen Waffen, ich habe ihn sehr gründlich abgestochen.
      Er hatte aber noch geschlafen, das habe ich erst dann gesehen. Er hat nur kurz gezuckt, aber die Augen hat er nicht mehr aufgemacht. Ist im Schlaf gestorben.
      Er war nicht der einzige damals, aber er war der erste. Der Dolch hat sich ganz viele Arten ausgedacht mich auszutricksen und am Anfang haben die meisten auch gezogen. Ich kannte einfach nicht den Unterschied. Er hat mich paranoid gemacht und die Paranoia dann nur noch weiter gefüttert.
      Sie haben mich alleine nach Cheynia geschickt, um ihn untersuchen zu können und damit ich keine Unruhen schaffen würde. Ich war gezwungen, mich mit ihm auseinanderzusetzen und habe wohl mit der Zeit irgendwie den Unterschied gelernt. Ich habe die Schenke übernommen, mich an meinem eigenen Met zugedröhnt und irgendwann hat Raemis mich zu Merch überredet. Ich habe es nur einmal genommen, aber der Dolch ist sofort still geworden. Da habe ich es nicht mehr abgelegt. Ohne den Dolch war alles gut."
      Sie sah wieder zu Prysk hinüber, der sie kein einziges Mal unterbrochen hatte.
      "Für welche Sünden musst du also Buße leisten, die andere nicht auch schon erbracht haben?"
    • Day after day, mile after mile
      Another year without a smile
      The last caress? It's been a while
      Saw rooms and roofs with broken tiles
      It never rains but always pours
      There have been ladies, also wh... bores
      So, how is life behind slammed doors?



      Prysk lauschte der Geschichte der jungen Frau mit ausdruckslosem Gesicht, während er in die Nacht hinaus sah, die ihre Schatten voran warf.
      Noch während sie sprach und er versuchte, die Geschichte zu imaginieren, glitt ihm das Gesicht einer Frau unter, die er so lange nicht mehr gesehen hatte. Eine Frau, die ihm zulächelte. Ihn bei der Hand hielt. War sie eine Geliebte? Nein, das nicht. Das konnte nicht sein. Da war kein Herzschlag. Keiner, der ihn verriet zumindest.
      Schweigsam sah er Dany eine Weile von der Seite an, ehe er nickte und seufzte.
      "Das mit deinem Freund...Gashan war sein Name?...tut mir Leid. Es ist grausam, seine Liebsten zu verlieren, vor allem wenn man es selbst getan hat", murmelte Prysk und zog die Beine in einen formvollendeten Schneidersitz zurück. DIe Kälte auf seiner Haut war beinahe allgegenwärtig doch frierte er nicht. Er spürte eigentlich gar nichts.
      "Dieser Dolch ist ein Teufelswerkzeug", sagte er. "Grausam, wenn man bedenkt, was er mit einem Menschen anstellen kann. Sagen wir, dass ich zumindest ein wenig besser verstehen kann, weshalb du Merch nimmst. Dennoch war es nicht deine Schuld. Ein Artefakt mit dieser Macht alleine zu schultern ist eine beinahe drakonische Aufgabe, wenn du mich fragst. Sag...Diese Gruppe, die du ansprachst. Nachdem sie dich fortgeschickt haben, was geschah mit ihnen?"
      Prysk zuckte die Achseln und seufzte, als sie ihre letzte Frage wiederholte.
      "Keine Sünde, die nicht schon mal Jemand begangen hat", sagte er und sah wieder in die Ferne hinaus. "Meine Sünde ist Vergessen."
      Da war sie wieder. Das Lächeln, ein Schimmern von dunklen Augen mit diesem hellen Fleck. Und ein Lächeln, wärmer als tausend Sonnen je sein können. Und ein Name. Ein geflüstertes Wort. Yngrid. Yngrid, die Löwin. Wieso nur kannte er diesen Namen?
      "Ich habe sie alle vergessen. Meine erste Erinnerung an dieses beschissene Dasein ist ein Nebel und unsägliche Trauer. Ich erwachte aus traumlosem Schlaf und über mir stand ein Mond, rot wie Blut. Als ich mich umsah, war dort nichts, außer Nebel. Über und über voll davon. Er griff nach mir, nahm mich fest und schüttelte mich durch. Die Luft roch damals nach Gift und Tod und ich wusste nicht einmal mehr, wer ich war.
      Prysk ist nicht mein Name, musst du wissen. Na, musst du eigentlich nicht. Wen interessiert es schon? Ich habe keine Ahnung, wer ich bin und wo ich herkomme. Ich kenne meine Mutter, meinen Vater nicht und nicht mal meinen Namen. Einzig das hier erinnert mich an meine Vergangenheit..."
      Er zog das Wams, das er sich übergeworfen hatte, ein wenig hinunter und offenbarte auf seiner Brust kreisrunde Narben, die erst jetzt sichtbar wurden, als der Mond auf sie schien. Kaum zu erkennen unter der Brustbehaarung, aber dort waren acht kleine, kreisrunde Narben, die genau über seinem Brustbein lagen.
      "Immer wenn ich versuche, mich an etwas zu erinnern, übermannt mich eine unsägliche Trauer und ich versinke regelrecht darin. Ich weiß, dass ich alles verloren habe, was mir lieb und teuer war. Aber anstatt dafür Buße zu tun, habe ich sie einfach vergessen. Habe mich ihrer entledigt, sie ausgemerzt."
      Die Frau griff nach ihm. Sie lachte. Sie lachte so schön. Ein glockenhelles Getöse inmitten der Stille seines Daseins. Sie rief seinen Namen. Er war recht lang, nicht so kurz wie "Prysk". Und dort! Dort stand sie vor ihm. Wie durch Glas beschienen und notierte etwas auf Pergament. Es war schön. Prysk war glücklich, sie lachen zu sehen.
      "Ich erinnere mich nur an einen Namen", sagte er. "Yngrid. Ihr Name war Yngrid. Und ich habe sie geliebt. Nicht wie du Gashan geliebt hast, sondern...Tiefer. Es war so viel tiefer. Ich weiß, dass sie mir alles bedeutete. Ich spüre die Hitze in mir, die Wärme und doch...Ist dort nichts. Nichts, als Kälte und verlassene Schreie in einem großen Haus."
      Prysk zuckte erneut die Achseln.
      "Ich weiß, dass es in mancher Ohren nicht schlimm oder bedeutsam klingt, aber ich habe mir geschworen, Niemanden mehr zu vergessen. Ich lebe für diese Gemeinschaft hier, weil ich einst eine solche verlor. Und es nie wieder geschehen wird. Nie wieder soll Jemand so leiden wie ich. Obwohl ich nicht mal weiß wieso."

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Dany lehnte den Kopf zurück an den Stein. Langsam wurde die Kälte unangenehm, aber das war noch nicht Grund genug dieses Gespräch zu verlassen, das sich als überraschend gesellig herausstellte.
      "Ich habe lange Zeit von ihm geträumt, von einem Traum-Gashan, der mir vorgeworfen hat, ihn umgebracht zu haben. Das gibt es doch, wenn man ein so schlechtes Gewissen hat, dass es einen unterbewusst heimsucht. Aber er hatte ja recht, ich habe ihn umgebracht. Da gab es nichts, was man an dieser Tatsache hätte umkehren können."
      Dany hatte diese Gashan-Geschichte noch niemandem erzählt - wieso auch. Alle, die sowas gekümmert hätte, waren dabei gewesen und danach war sie sowieso die meiste Zeit zu high gewesen, um sie richtig rekapitulieren zu können. Aber das Merch in ihrem Körper nahm mit der Zeit wieder ab und so kamen auch solche Sachen wieder an die Oberfläche. Nicht, dass sie in ihr mehr ausgelöst hätten als die reinen Gedanken.
      Doch obwohl sie nicht davon ausgegangen war, etwas wie Mitleid oder ähnliches dafür zu erhalten, gab Prysk ihr etwas viel besseres: Er hatte Verständnis. Ob es nun von seiner eigenen Trunkenheit kam oder ob er seine eigenen Worte tatsächlich glaubte, machte keinen Unterschied. Es machte für sie keinen Unterschied, denn obwohl sie nichts fühlen konnte und ihre Gedanken dabei noch immer leer waren, wusste sie bereits, dass es etwas hinterlassen würde. Vielleicht würde sie die Nacht wegen dem Laudanum oder auch dem Met vergessen, vielleicht würde sie verdrängen wollen, jemals soweit gegangen zu sein, mit Prysk alleine im Innenhof zu sitzen und über solche Sachen zu reden. Aber diese eine, einzige Sache, würde sie nicht vergessen. Sie hatte sich damit in ihr eingebrannt.
      "Sie haben meine Spuren verwischt, damit niemand weiß, dass der Dolch mit mir gegangen ist, und werden sich dann in den Unterschlupf zurückgezogen haben. Unser Zuhause, für die Kinder einer Unität. Wir wohnen an der anderen Küste in Eshos, es ist nicht so einladend wie hier, aber wir haben Platz und Sicherheit. Vielleicht ein bisschen wie eine unterirdische Festung."
      Danach war es an Dany zu schweigen, denn Prysks Geschichte war wohl mindestens genauso ungewöhnlich wie ihre eigene. Erstaunlich war, dass ihm mehr daran lag vergessen zu haben, anstatt zu morden - dabei war sie sich sehr sicher, dass auch Prysk, der reichlich Kampferfahrung und sowohl gegen Mutant, als was auch immer Pollux sein mochte, gekämpft hatte, schon seine schlechten Erfahrungen gemacht haben musste. Aber es war nicht das Morden, das bei ihm hängengeblieben war, sondern es war das Vergessen, eine Alltäglichkeit in jedem Leben. Dany konnte keine Sünde darin sehen. Dany schwieg trotzdem.
      Jetzt verstand sie zumindest, was Lysander gemeint hatte, als er ihr vor einigen Wochen offenbart hatte, dass Prysk aus dem Nebel käme: Nämlich genau das. Wortwörtlich. Wenn er keine Erinnerung daran hatte, wo er vor dem Nebel gewesen war, war das die einzige Schlussfolgerung. Aber was war wirklich geschehen? Wieso sollte jemand einen orientierungslosen Mann im Nebel aussetzen - oder gar ein Kind?
      Sie sah hinab, als er sich bewegte, und ein merkwürdiges Narbenmuster enthüllte, das ihr in dieser Form noch nie untergekommen war. Es sah gewollt aus, natürlich war es das, mit welcher Gleichmäßigkeit es auf seiner Haut lag, aber wofür? Ein Symbol? Eine Mahnung?
      Eine Erinnerung?
      Yngrid war der Name, aber das war nur eine Person. Eine Geliebte von Prysk, vermutlich. Aber nach allem, was Dany jetzt gehört hatte, mussten mehr Leute beteiligt gewesen sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine einzige Person eine derartige Reaktion hervorrufen könnte.
      Yngrid war aber ein schöner Name. Fremdländisch.
      "Vergessen heißt nicht verloren. Vielleicht wirst du dich irgendwann wieder erinnern."
      Sie schwieg kurz.
      "Vielleicht ist es auch besser, dich nicht zu erinnern. Manche Sachen wollen vielleicht vergessen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass, was auch immer jenseits des Nebels liegt, schön ist. Wenn der Nebel schon die Grenze ist, kann es nur genauso schlecht sein. Oder schlechter.
      Aber das mit Yngrid tut mir leid. Sie hätte es hier sicher schön gefunden. Sie hätte es toll gefunden, wie sehr du hier überall gefeiert wirst. Jeder, den ich bei dir sehe, sieht ständig unglaublich glücklich aus, nur weil er mit dir reden kann. Du kannst viel glauben, aber wenn die Leute dich hier für einen guten Menschen halten, bist du auch einer. So einfach kann es sein."
      Danach schwieg sie wieder, nicht zum Nachdenken - viele Gedanken blieben nicht übrig bei dem Laudanum, das sie auf das Wesentlichste beschränkte. Aber sie spürte die kriechende Kälte an ihrem Körper und war sich Prysks Präsenz bewusst. Einzig seine Präsenz bei ihr.
      "Wieso "Prysk"? Was bedeutet der Name?"
    • Eine ungeahnte Friedlichkeit legte sich wie ein Tuch über den Abend und hieß Prysk zum Innehalten.
      Es war noch immer merkwürdig, über das Leben zu sprechen, dass er nicht gelebt hatte. Eine Geschichte zu erzählen, die er nicht erlebt hatte. Der Jäger fühlte sich fremd in seinem eigenen Geist auch wenn er es nicht gerne zugab. Und Dany, die menschlicher war, als er zugeben wollte, sorgte für eine willkommene Abwechslung zu dieser Leere.
      "Du magst ihn physisch umgebracht haben", gab Prysk zu und seufzte. "Gleichzeitig warst du aber dem Artefakt erlegen. Und glaub mir, ich weiß aus eigener Erfahrung wie grausam es ist, nicht Herr seiner Sinne zu sein. Hast du mal versucht, mit ihm zu sprechen? Also nicht nur die Stimme zu hören, sondern mit ihm zu sprechen?"
      Gott, klang das bescheuert, dachte der Jäger und schüttelte den Kopf. Bei ihm hatte es funktioniert, um die Schreie zu ersticken. Wenn man davon absah, dass Lysander regelmäßig vom Baum gefallen war, als er "RUHE JETZT" gebrüllt hatte. Schließlich sah er von der Seite zu Dany und seufzte.
      "Klingt nach einem anstrengenden Leben", murmelte er. "Haben sie nie nach dir gesucht oder Kontakt gehalten? Haben sie dich einfach ausgekehrt und sind ihrer Wege gegangen?"
      Erschien ihm ein hartes Urteil für die Tatsache, dass sie nur ein Artefakt an sich genommen und den Kräften unterlegen war. Prysk versuchte nicht allzu sehr zu imaginieren, wie hart dieses Leben sein mochte. Auch wenn sie sich ähnlich waren. Erstaunlicherweise recht ähnlich. Sie beide hatten Leben geführt, die man nicht unbedingt führen wollte. Vor allem für eine junge Frau musste es anstrengend gewesen sein, sich in einer Welt herum zu schlagen, die für schwache nichts übrig hatte. Ob Dany zu den Schwachen zählte?
      "Vielleicht ist das so", murmelte Prysk und nickte für sich selbst. Unbewusst war er einen Halbschritt näher an sie gerutscht als ein neuer Windstoß über seine bloßen Schultern ging. "Vielleicht ist Unwissenheit doch ein Segen, wie Opharnim immer sagt. Ja, Yngrid...Ich weiß nicht, ob sie es toll gefunden hätte. Vermutlich hätte sie mich einen Narren geheißen."
      Prysk lächelte kurz.
      Vielleicht war es nicht seine übliche Geisteshaltung, aber das Lächeln, das ihm über das Gesicht glitt, war frei und fröhlich und warm. So als tauche man die Hand in eine wärmende Flamme. Yngrid. Nein, es war nicht Liebe. Nicht so wie man dachte. Nichts körperliches oder beziehungstechnisches. Es war mehr. Es war tiefer. Als luge man in einen Abgrund, dessen Boden man nicht sah. SO viel tiefer.
      "Ach, mach da nicht so viel Aufhebens drum", murmelte er, noch immer grinsend. "Ich bin meist für Monate weg und man liebt was nicht oft da ist. Es ist etwas neues, etwas aufregendes. Und die meisten haben Reparaturwünsche, weil es kaum Handwerker wie mich gibt. Wer wird schon Zimmermann in einer Welt wie dieser?"
      Auf ihre letzte Frage hin war es um ihn geschehen. Das Grinsen wurde einen Moment lang eisern, ehe er lachen musste.
      "Ehrlich gesagt, ist es ein Begriff aus meiner Heimat, die ich vergaß. Prysk ist das Geräusch, wenn ein Holzhammer auf weiches Holz trifft. Irgendwie hatte dieser Begriff eine Beziehung zu mir, wenn ich ehrlich bin. Ich mochte den Klang und irgendwie wurde mir warm, als ich ihn aussprach. Also war ich fortan Prysk", sagte er und lachte weiter. Erst danach sah er Dany an. "Dir ist kalt oder? Sollen wir wieder hinein?"

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell