Die Taverne “Zum tanzenden Kreuzritter” war eines der wenigen Häuser in Cheynia mit einer Tür vorne dran. Es war ebenso eines der wenigen, in dem die Tür nicht nur dem Zweck, von Wind und Regen zu schützen nachkam. Es musste, im Sinne der Sicherheit, eine Tür haben und außerdem musste diese Tür aus einem festen Material bestehen - im besten Fall aus Holz, im schlimmsten Fall aus getrocknetem Lehm. Die wenigen Tage, in denen die Tür aber aus Lehm bestand, weil die alte Tür zerbrochen, zerstört oder gar gestohlen wurde, waren die schlimmsten Tage. Dann wusste Danyara, die sich von allen nur Dany nennen ließ, dass eine unangenehme Zeit auf sie zukam. So wie ein schlechtes Omen, das den nächsten Sturm ankündigte, der die Ernte zerstören würde. Eine Lehmtür ließ immer darauf schließen, dass nicht einmal genug Holz übrig war, damit man ein paar Bretter davon zusammenschreinern und das Innere der Taverne vom Äußeren trennen konnte.
Cheynia war, was Materialien anbelangte, dabei gar nicht so schlecht beschaffen. Die Stadt war, vor dem in Cheynia genannten "Letzten Tag", einmal ein Hafen gewesen, mit ihrer Anbindung zum Wasser und den langen Stegen, von denen etwa 13 zusammengebrochen und drei noch halbwegs intakt waren. Die Schiffe, die hier in der alten Welt einmal angelegt hatten - wobei Dany sich nicht vorstellen konnte, weshalb man so lange Stege für ein simples Schiff brauchte - hatten auch am Katastrophentag noch dort gestanden, mittlerweile aber vollständig geborgen und vom Grund des Wassers gerettet. Ja, Cheynia hatte einmal viel Holz zur Verfügung gehabt, wenn es auch morsch und durch die Nässe kaum gut zu gebrauchen gewesen war. Dann hatte sich allerdings der damals amtstragende Bürgermeister dazu entschieden, das Holz im Sinne des Handels einzutauschen und nachdem auch die letzten Überreste dieser sagenumwobenen, riesigen Schiffe geborgen und in Nahrung, Werkzeug, Waffen oder Kleidung eingetauscht worden waren, war nichts mehr nachgekommen, um eine Tür zu ersetzen. Damit hatte das Zeitalter der Lehmtür begonnen, auch wenn Dany damals noch nicht geboren worden war.
Heute war durch die damalige, unvorteilhafte Entscheidung ein gewisses Misstrauen zwischen der Stadtverwaltung und den Einwohnern entstanden, das sich auch jetzt, drei Bürgermeister später, immer noch hielt. Nachdem der betreffende Bürgermeister abgedankt hatte - natürlich auf friedlichem Weg und nicht mit einem Messer durch die Brust, wir sind schließlich keine Barbaren, hatte Danys Mutter immer gesagt und dann gelacht, als hätte sie einen Witz gemacht - hatte der nächste Bürgermeister die mit Holz auszubessernden Konstruktionen durch Lehm ersetzt. Beim nächsten Regen war dieser Lehm dann wieder eingegangen und weil er einen tragenden Pfeiler mit sich genommen hatte, der einen Großteil des aufgezogenen Daches über der Stadt hielt, hatte der Bürgermeister abgedankt. Friedlich natürlich und mit keinem Messer im Auge, denn sie waren schließlich keine Barbaren. Sein Vermächtnis bestand allerdings in der gelegentlichen Lehmtür in der Taverne, die sämtliche Einwohner daran erinnerte, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der Cheynia genug Holz zur Verfügung gehabt hatte, um Türen daraus zu bauen.
Zumindest das Dach war nicht vollständig zerstört worden und nachdem der lokale Schreiner einen neuen Pfeiler gehauen hatte, hatten sie die Plane wieder über Cheynia ziehen können, die den Großteil des immer wiederkommenden Regens abhielt und an manchen Ecken schimmelte. Es war nicht viel, aber etwas. Besser als die Lehmtür.
Die Taverne hatte nur eins von vielen Relikten, die aus älteren Zeiten zurückgeblieben waren. Eigentlich war sie mal eine Kaserne gewesen und deswegen waren auch die Wände recht stabil geblieben. Urzeitlich war außerdem noch das Rathaus, das größte Gebäude, in dem sich bei Zeiten Flüchtlinge aufhielten und das in der Zeit der Schiffe mal eine Lagerhalle gewesen war. Ein paar lose Bauten verbanden die beiden Gebäude, die hauptsächlich Wohnhäuser darstellen, dann gab es auch noch eine Schule, die mal ein Wachturm gewesen war und einen zugebauten Stall, der als Lager fungierte. Die Grenzen bildeten auf einer der vier Seiten das Wasser und auf allen anderen drei die Ruine der damaligen Stadt, in die der Hafen integriert worden war. Es gab Fallen, es gab Barrikaden und es gab einen Haufen Schutt, der jeden unliebsamen Besucher lange genug fernhielt, bis einmal Verstärkung angerückt war. Und natürlich gab es auch die Wachmänner der Stadt, die durch diese Ruine pilgerten und möglichst furchteinflößend aussahen.
Dany stand in der Taverne ihrer Eltern, als die gottlose Lehmtür aufprallte und den lokalen Bootsbauer hereinließ, der dicke alte Siliester, der auch dann torkelte, wenn er mal nicht völlig zugekifft war. Natürlich brauchte Cheynia keinen Bootsbauer - mit welchem Holz auch bei Lehmtüren - aber genauso wenig ließ sich Siliester aus der Stadt entfernen. Er war wie Unkraut und Dany war ganz sicher keine Gärtnerin.
Er kam durch den Mittelgang geschlurft, vorbei an dem Tisch mit Raemis dem Nachtwächter und Tald dem Bauern, der ein kleines Feld an der Ruinengrenze bewirtschaftete, welche zusammen Karten spielten. Er schleppte sich auch vorbei an Yaris der Schrottmeisterin, die ihre Hände in Leinen gewickelt hatte und über ihren Krug gebeugt dasaß, als hätte sie etwas zu betrauern. Er kam bis an die Theke nach vorne geschlurft und ließ sich dort auf einen der freien Hocker fallen. Dann fing er an zu jammern.
“Dany! Oh, Dany, es is furchtbar! Ich ha- urgh.” Er rülpste ihr einmal ins Gesicht und redete dann weiter, als wäre nichts geschehen. “Ich hatt es, ja wirklich! Das kannse mir glauben! Aber es is mir weggetrieb’n, glaubse mir das? Weggetrieb’n! Schon auf dem Wasser, aber weg!”
Dany wedelte unbeeindruckt seinen Algengeruch fort - weshalb auch immer der Alte Algen gefressen hatte - und tauchte den Krug in ihrer Hand in die Schüssel entsalzenes Meerwasser. Sie musste neues, entsalzendes Mittel besorgen, weil ihr das alte langsam ausging, und so wie es aussah, würde sie vermutlich Raemis damit beauftragen. Der Nachtwächter wich gelegentlich zu einem anderen Posten aus, um dort ungesehen sein Zeug zu verkaufen, und solange er - und in diesem Fall Yaris - nicht dabei von den Wachen der Stadtverwaltung erwischt würden, wollte Dany sich an diesem ungesehenen Handel durchaus noch beteiligen. Ihre Mutter hatte immer zu sagen gepflegt, dass eine vergeudete Chance vergeudetes Potential wäre und beim Teufel, Dany ließ kein einziges Potential ungenutzt verschwinden.
“Ah. Schade, ja. Ganz furchtbar ist das.”
Sie sah wieder zu der Lehmtür hinüber, die über der Klinke schon einen feinen Riss bekommen hatte. Wenn es die Tage nicht regnete, würde sie vielleicht noch eine Woche halten. Die Zeiten der Lehmtür eben, sie hatten wieder begonnen und solange niemand Dany beweisen konnte, dass sie kein Omen für etwas schlechtes waren, würde sie jedes Mal bei dem Aberglauben verweilen, dass es keine guten Zeiten waren.
@NicolasDarkwood
