The Legend of Starfall [Winterhauch & Nico]

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    • "Shurorororo, wenn ich jedes Mal nachdenken würde, wenn ich etwas täte oder Jemanden begehrte, dann würde ich ein glücklicher Mann sein", lachte der Dieb und sah Florence aufmerksam an. "Du geißelst dich mehr als du es brauchst. Auch wenn wir uns nicht wiedersehen werden nach diesem letzten Abenteuer, so kann ich dir sagen, dass es nicht immer schlimm ist, impulsiv zu sein. Glaub mir, in Liam und mir hast du da Brüder im Geiste. Wir zeichnen uns auch nicht durch Bedachtsamkeit aus."
      Schweigsam lauschte er ihrer Geschichte und zog nicht nur bisweilen immer wieder die Augenbrauen hinauf, als er die ein oder andere Erkenntnis gewann. Da war er wieder, dieser Name. Und dieses Mal erfuhr er tatsächlich mehr als er gedacht hatte. Vielleicht ein Wissen, dass Liam auch gut getan hätte, auch wenn der Dieb glaubte, dass Liam etwas ahnen musste.
      Hatte er ihm nicht verboten, das Armband anzurühren?
      "Also eine verbotene Liebe zwischen alten Freunden", bemerkte der Dieb und grinste das erste Mal nicht breit und anzüglich. Hier lag ein Verständnis in dem Lächeln, dass es einen schmerzen konnte. "Ich ahne, was es bedeutet, ja. Wer verschollen geht, wird meist nicht geborgen. Es gibt durchaus Ausnahmen, aber deine schmerzliche Annahme vermag ich nicht zu entkräften...Es tut mir Leid."
      Die Betroffenheit legte sich wie ein Schleier auf seine Augen, als er ihre beider Gläser nochmals befüllte und es leicht anhob.
      "Auf Theo. Ein nasses Grab, ein kalter Himmel, ein ewiges Leuchten und ein gebrochenes Herz."
      Es war ein alter Trinkspruch. Zumeist unter Seeleuten, aber auch an Land recht beliebt. Satt goss er einen Schluck des Whiskys in seinen Schlund und sah der Kartografin in die Augen.
      "Ich verstehe, dass du es mir übel genommen hast"; sagte er grinsend. "Aber auch hier eine Anekdote: Der Kapitän hat uns allen verboten, dich während der Fahrt zu berühren. Er hat mir sogar untersagt, auch nur ansatzweise deine Habe anzufassen. Unterschätze uns einfache Piraten nicht, Liebes. Wir sehen mehr als wir dir sagen würden, shurororororo."
      Als sie an seine Seite rückte, legte er einen Arm automatisch um sie und bettete sein Kinn auf ihren Scheitel. Sachte küsste er den sich darbietenden Haarschopf und grinste ungesehen.
      "Mach dir nicht so viele Vorwürfe. Wir alle sind nicht perfekt. Das macht uns zu Menschen. Und auch wenn wir auf unterschiedlichen Seiten stehen. Du hast ein Recht zu trauern. Auf die Art, wie dir beliebt. Wenn du es mit bedeutungslosem Verkehr tust, so sei es. Ich habe es auch getan. Viele Jahre lang. Clara tat es. Ja, selbst Liam spielte mit dem Gedanken, aber der bricht sich eher ein Bein, als Jemanden zu berühren. Du bist also nicht furchtbar. Du bist nur in Trauer und auf der Suche. Das ist nicht verwerflich."
      Seine Hand fuhr sanft über ihren Nacken udn er seufzte schwer.
      "Wir haben uns auch ein Urteil über dich erlaubt, verwöhnte Prinzessin. Erinnerst du dich?", lachte der Dieb und warf sein Haar zurück. "Ich möchte dir etwas sagen und ich sage es nur einmal: Auch wenn du es mir nicht glaubst, aber ich werde dich an Bord der Starfall vermissen. Auch wenn Liam uns vermutlich mit dem Arsch nicht mehr ansieht, so warst du für mich bereits nach dieser kurzen Zeit ein Teil des Ganzen. Und wenn ich eine Möglichkeit hätte, ich würde dir einen Platz an Bord freihalten:"

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • She wasn't bitter. She was sad, though.
      But it was the hopeful kind of sad.
      The kind of sad that just takes time.

      The Perks of being a Wallflower
      - Stephen Chbosky
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      "Danke.", murmelte Florence gerührt.
      Bedächtig berührten die Fingerspitzen auf einmal sehr zögerlich das neu gefüllte Glas, als fürchtete sie das kostbare Kristallglas könnte unter ihren Händen splittern. Die Finger bebten unstet bei der Erinnerung, denn sie hatte in den vergangenen zwei Jahren kein Wort über Theo verloren und das unerwartete Mitgefühl war etwas, womit sie im Augenblick nicht recht umzugehen wusste. Ein zögerliches Lächeln zwischen Dankbarkeit und tiefsitzender Trauer zierte die Lippen, als sie sachte ihr Glas anhob. Der Trinkspruch und die ungemein aufmerksame Geste rührten die Kartografin mehr als sie zugab. Sie hätte dem Dieb Silas Trigg wohl einige Eigentschaften zugesprochen; Feingefühl war sicherlich nicht darunter gewesen.
      Auch Florence hatte in den letzten Tagen einige Gesichter zur Schau getragen. Von starrsinnigem Trotz über und wilder Entschlossenheit bis zu übermütiger Leidenschaft war alles dabei gewesen, aber nie hatte ein Lächeln auf ihrem Gesicht so verloren gewirkt.
      Stumm leerte Florence das Glas.
      "Du musst dringend aufhören mir all diese Dinge über Liam zu erzählen.", sprach sie sanft an seiner Schulter. "Sonst vergesse ich zum Schluss noch, dass ich ihn für einen überheblichen und dickköpfigen Esel halte. Die Vorstellung ein normales Gespräch unter zivilisierten Erwachsenen ohne Sticheleien mit ihm zu führen, ist einfach zu bizarr."
      Schweigend hörte Florence zu.
      Das Gefühl der Geborgenheit übertrug sich durch den unschulidgen Kuss auf ihrem Haarschopf. Die Kartografin verspürte nicht einmal den Drang Silas aufgrund dieser Geste ein wenig von sich zu schieben. Es war zu vertraut, zu liebevoll. Damit konnte sie nicht umgehen und doch fühlten sich die Knochen unter der Haut zu schwer an, um sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Es war keine erdrückende Schwere sondern die Art, die einen in den Schlaf lockte. Einen traumlosen, erholsamen Schlaf, den sie bitterlich nötig hatte.
      Vergessen war der Grell und die Verwirrung über NIghtingales unterkühlten Abgang. Sie fragte sich, warum Liam dermaßen extrem auf Berührungen reagierte, oder eher, auf ihre missglückten und unbedachten Handlungen. Triggs Worte gaben ihr Rätsel auf, ob es wirklich allein die Abneigung gegen ihre Person war.
      Florence drückte die Wange gegen seiner Schulter und schloss die Augen.
      Das Lächeln schmiegte sich federleicht wie die Flügel eines Schmetterling gegen seine Haut während seine Fingerspitzen über ihren Nacken streichelten.
      "Ich glaube, ich werde dich auch ein bisschen vermissen, Silas Trigg."

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      "Deshalb nennen mich die Wesyner einen Künstler meiner Zunft.", flötete Ruby vollkommen entzückt.
      Seit geschlagenen 20 Minuten umkreiste der Schneidermeister, der seine farbenfrohe Weste gegen ein luftiges ärmelloses Hemd mit ungehörigen Ausschnitt getauscht hatte um den drückenden Hitze zu entkommen, Liam und Silas wie ein Kater die arglose Maus. Hier und da zupfte Ruby den mit Gold bestickten Stoff zurecht und gab sich erst zufrieden, als alles zur Perfektion an Ort und Stelle saß. Dabei klimperten die unzähligen Schmuckstücke munter um seinen Hals und streiften die haarlose Brust bis tief unter das Brustbein. Die leuchtend, orangerötlichen Haare hatte er zu einem sorglosen Knoten aufgebunden, aus dem sich erste freche Strähnen lösten und ihm in die blitzenden Augen fielen. Schließlich stoppte der Schneider und pustete sich selbstzufriedenen eine rebellische Haarsträhne aus der Stirn.
      Die Kartografin, von der seit den frühen Mittagsstunden jede Spur fehlte, hatte nicht zu viel versprochen.
      Die Befürchtung der Piraten am Ende wie konstümierte Clowns herumzuspatzieren, hatte sich nicht bestätigt und Ruby hatte innerhalb weniger Stunden wahre Meisterwerke kreiert. Beide Männer trugen schwarze Beinkleider aus sagenhaft weichem Leder, die vermutlich mehr wert waren als sämtliche Stoffe im Schaufenster der Schneiderei. Die dazugehörigen Stiefel saßen perfekt und warenvon schlicherter Eleganz. Der Blickfang konzentrierte sich weiter oben.
      Für Silas hatte Ruby ein ärmelloses schwarzes Hemd gefertigt, die lange ebenfalls ärmellose Weste darüber glich vom Schnitt verdächtig dem Mantel, den der Dieb bereits besaß. Allerdings waren bei Rubys Anfertigung die Materialien wesentlich kostspieliger. Hauchdünne Goldfäden durchzogen das feste, aber gleichzeitig weiche Material und ließen es im Gegenlicht schimmern wie ein nächtlicher Sternenhimmel. Der mit Goldornamenten bestickte Kragen der Weste betonte den tiefen Ausschnitt des Hemdes, der reizvoll wirkte aber dennoch neugierigen Blicken etwas Fantasie ließ. Die gesamte Kombination lenkte den Blick geschickt über definierte Arme, betonte die drahtigen Schultern und streckte Hals. Silas erinnerte Ruby an einen geschmeidigen Jäger auf der Pirsch.
      Der Schneidermeister bedachte anschließend Liam mit einem prüfenden Blick.
      Für Liam fiel Ruby lediglich eine passende Beschereibung ein: Gefährlich.
      Das Outfit des Piratenkapitänt kontrastierte ganz wunderbar mit Triggs, denn im Gegensatz zum langfingrigen Dieb, zeigte das langärmlige ebenfalls schwarze Hemd wenig verlockende Haut. Die Manschettenknöpfe an den Handgelenken glänzten Golden im Kerzenlicht und waren in feinster Handarbeit in die Form von filigranen Zahnrädern gebracht worden. Die Hände steckten in weichen Lederhandschuhen, die sich perfekt an die Erhebungen von Knöcheln und wie eine zweite Haut den Bewegungen anpassten. Darüber trug Liam eine bestickte Weste, die dasselbe Muster zeigte wie der Kragen von Silas' Weste, aber in gewohnter Kürze bis zu den Hüften. Verschnörkelte Stickereien aus kostbaren Goldfäden rankten sich über die gesamte Spanne des tiefschwarzen Stoffes, der ebenfalls von kunstvollen Knöpfen in Form goldener Zahnräder geschlossen wurde. Der Schnitt brachte die breiten Schulter zu Geltung und verlieh Nightingale etwas ganz und gar Geheimnisvolles beinahe Einschüchterndes.
      Ruby nickte zufrieden und klatschte in die Hände.
      "Fehlt nur noch das passende Schmuckstück für den letzten Feinschliff.", lachte Ruby und zwinkerte den Männern zu. "Florence, Darling!?"
      c7a6e806e7298dd522e59202e3f985c3.jpg"Ich hasse dich, Ruby.", ertönte ein Gegrummel vom obersten Absatz der Wendeltreppe.
      Das Erste, dass im Blickfeld der Wartenden erschien, war ein schlanker Fußknöchel umschlungen mit den hauchdünnen Lederriemen einer Sandale. Der Absatz erzeugte einen metallischen Klang auf den Treppenstufen. Graziös wie möglich, um sich vor den Männern nicht zu blamieren, schritt Florence die eng verschachtelte Treppe herunter. Ein hochgeschnittener Rock aus schimmerndem, schwarzen Stoff umhüllte die wohlgeförmte Taille und umschmeichelte die geschwungene Silhouette der Kartografin. Der eigentliche Blickfang an diesem Kleidungsstück war der skandalöse Gehschschlitz über der rechten Seite, der bis das komplette Bein entblöste. Es war Rubys herausragender Schneiderkunst zu verdanken, dass alles zweifellos verdeckte ohne schamlos zu wirken. Federartige Strukturen waren in sorgfältiger Handarbeit in den fließenden Rocksaum eingenäht und erzeugte ein ähnliches Rascheln wie echtes Gefieder. Allerdings ließ erst das dazugehörige Kleidungsstück oberhalb der Körpermitte keinen Zweifel daran, welche luxuriöse und dekadente Veranstalung auf das Trio wartete. Eine mit federleichten Stäben unterlegte, kurz genähte Corsage schmiegte sich passgenau über die verführerischen Wölbungen ihrer Brust und ließen dabei den Großteil ihres Oberkörper beinahe unbedeckt. Florence befürchtete bei jedem zu tiefen Atemzug ein Ungück herauf zubeschwören. Alle Kleidungsstücke des Ensembles waren in schlichtem, edlen Schwarz gehalten. Der Clou zeigte sich auf dem dunklen Teint von Florence Haut. Mit künstlerischer Präzision und einer sehr ruhigen Pinselhand hatte der Schneidermeister metlallische, schimmernde Goldfarbe auf der Haut aufgebracht. Kryptische Muster zierten Oberschenkel, bis über die Bauch, Brustbein, Schlüsselnbein und die Arme und funkelten im Kerzenlicht. Selbst die zierlichen Knöchel waren aufwendig bemalt worden. Um die dunklen Augen spiegelte sich der dezente Nuance sanften Goldstaubes.
      Ein lebendiges, atmendes Kunstwerk aus schwarzer Seide und funkelndem Gold.
      Florence wirkte angespannt, als sie die letzte Treppenstufe überwandt und mit einer Schatulle aus dunklem Kirscholz auf Liam und Silas zutrat. Unsicher strich sie eine Haarsträhne hinters Ohr. Ruby hatte es in mühsamer, stundenlanger Arbeit fertig gebracht die wilde Lockenmähne in seinen seidigen, dunklen Wasserfall zu verwandeln, der ihren Rücken hinabfloss.
      "Kein Wort...", preschte Florence hervor und Ruby presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, um ein selbstzufriedenes Lächeln zu verstecken.
      Das ominöse Kästchen stellte die Kartografin auf der Ladentheke ab und zupfte dabei unruhig an dem wenigen Stoff, den der Schneider ihr großzügigerweise gelassen hatte.
      "Wirst du wohl aufhören überall herumzuzupfen!", mahnte Ruby und verpasste Florence einen liebevollen Klaps auf die Finger. "Es sitzt alles genau da, wo es hingehört oder hälst du mich für einen blutigen Anfänger? Und nun, mach es nicht so spannend. Wie ihr alle wisst, geht es auf einen Maskenball und Florence war so frei die Masken persönlich auzuwählen."
      Florence seufzte gedehnt, ein laut der Resignation, ehe sie Silas und Liam mit ungewohnter Zurückhaltung ansah und schlug sie den Deckel der Schatulle auf, in der sich drei Masken verschiedener Art befanden:


      Mit vorsichtigen Fingern nahm sie die erste Maske aus dem burgungsroten Samt und trat damit zu Silas.
      "Die ist für dich.", schmunzelte Florence und hielt die Maske ein wenig höher, um Erlaubniss bittend. "Darf ich?"
      Die Maske verdeckte ein wenig mehr als das halbe Gesicht und versprühte einen nicht unererheblichen Hauch von Dramatik. Mit Blattgold reich verziert und mit unzähligen Details versehen, wirkten sie mehr wie Kunstwerke als tragbare Schmuckstücke. Dasselbe galt für die zweite Maske in schimmernden Gold, die noch unangetastet in ihrem samtigen Bett ruhte. Sie verdeckte die oberste Partie des Gesichts vollständig und verbarg selbst die Augen durch die aufgesetzten Verzierungen aus goldenen Zahnrädern. Es war leicht seinen Blick dahinter zu verstecken.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Wenn ein Abend geht, so heißt es, verschlingt die Sonne den Mond.
      Und während sich die Gemüter abkühlten und die beiden Begehrenden einen weiterhin entspannten Abend verbrachten, kam auch Liam Nightingale auf seine Kosten.
      Zufrieden mit sich selbst war er bereits am Morgen wieder in die Schneiderstube gelangt und hatte sich in den unteren Bereichen aufgehalten, um die beiden Missetäter nicht mehr sehen zu müssen. Silas versuchte es das ein ums andere Mal, mit ihm in Kontakt zu treten, doch ein eisiges Schweigen war dagegen schon beinahe gnädig. Der Kapitän beachtete ihn kaum. Vielleicht war auch dies der Grund, aber irgendetwas hatte sich in der Nacht verändert. Liams Blick glitt hin und wieder unstet über die Stoffe hinfort und schien sich kaum fangen zu können.
      Etwas stimmte nicht...

      Der Abend rückte heran und ehe die beiden Streithähne es sich versahen, fanden sie sich in der Schneiderstube wieder und probierten ihre neuen Klamotten an. Es war lange her...Nein, eigentlich nicht wirklich. Immerhin hatten sie niemals derartige Reichtümer besessen. Wärhend Silas sich angeregt plappernd in die Klamotten warf, sah Liam beinahe abschätzig an sich herab. Es war nicht die mangelnde Kunstfertigkeit, die ihm dies Gesicht abrang, sondern vielmehr die Tatsache, dass er den Wert dieser Kleidung abschätzen konnte. Er hasste piekfeine Zwirne und sehnte sich nach seiner einfachen Hose zurück, die er auf dem Stuhl hatte zurücklassen müssen. Sorgsam richtete er gerade die Hemdsärmel unter der Weste, die durchaus ihrer Kunstfertigkeit Meister suchte und seufzte.
      "Nun hab dich nicht so!", sagte Silas und grinste, während er die Jacke überstreifte. "Die Klamotten sehen fantastisch aus, Ruby. Es ist erstaunlich, was du mit deinen Händen so vollbringen kannst, mein Lieber..."
      Ein glühender Blick huschte zu dem Schneider und in einer anderen Zeit und mit anderen Gegebenheiten, hätte sich Silas auch diesem Vergnügen hingegeben. Wer derart geschickt alleine mit seinen Händen war...
      Doch ein weiterer wütender Blick des Kapitäns scheute ihn von dieser Aussage zurück.
      "Die Kleidung ist wirklich beeindruckend, Schneider", murmelte Liam und klopfte sich auf die herrlich verzierte Weste. Sogar kleine Zahnräder hatte er mit eingebaut. Arnaud würde vor Neid erblassen. "Es ist wirklich erstaunlich, wie viel Kunstfertigkeit hierin liegt. Du hast nicht übertrieben..."
      Sorgsam richtete er sich auf, just in dem Moment als Ruby in die Hände klatschte.
      Als ein erster Eindruck des atemberaubendes Kleides ihre Augen streifte, vergaßen beide aus verschiedenen Gründen für einen Moment zu atmen. Es war nicht nur die Tatsache, dass dieses in beinahe obszöner Präzision die körperlichen Vorteile der Kartografin heraus stellte, sondern gleichsam glitzerte das Gold auf ihrer dunklen Haut wie prominente Adern, die sich durch ein finsteres Tal zogen. Während Silas' Hände einfach tatenlos zu Boden fielen und der Dieb sich beim Starren ertappte, musste er grinsend feststellen, dass Liam selbst seinen Blick nicht von der jungen Frau nehmen konnte.
      Doch für Nightingale war es die Ästhetik.
      Die fluoreszierenden Schimmer auf ihrer Haut, die golden in die Nacht funkelten, das Blitzen ihrer Augen, wenngleich es mit Unsicherheit getarnt war und das schwarze, seidige Haar, dass wie ein Vorhang über ihre Schultern fiel. Das Kleid betonte körperliche Vorteile und zugegeben, selbst ein Nightingale war nicht gefeit, in ihr begehrenswertes zu sehen. Auch wenn er wusste, dass er es niemals würde haben können und wollen.
      Schweigsam trat er einen Schritt beiseite um ihr den Zugang zu ermöglichen und nickte anerkennend. Silas indes kam einen Schritt auf Florence zu und ergriff sorgsam ihrer beiden Hände.
      "Das...", wisperte er. "Du...Ich meine...Du bist wunderschön..."
      "Das Kleid steht Ihnen hervorragend", bemerkte Liam emotionslos und wandte sich dem Kästchen zu, dass sie platziert hatte. Der unliebsame Teil.
      Gott, Liam hasste Bälle. Es war wie mit einer Leiche zu tanzen. Man tat was man musste und ekelte sich alleine vor dem Gedanken. Auch wenn die Masken, die er erblickte, durchaus schön und fein gearbeitet waren, so erkannte er, dass eine Maske anders war als die anderen. Und das war nicht mal die offensichtliche Eulenmaske, die wohl Florence versprochen war.
      "Ich bitte darum", sagte Silas und neigte leicht den Kopf,d amit sie die Maske aufsetzen konnte. Und wahrlich. Einen Hauch von Dramatik versprühte der Dieb bereits jetzt, als er sich umsah.
      "Wie sehe ich aus?"
      "Wie ein einäugiges Walross.", murmelte Liam seufzend und griff grob nach der Zahnradmaske. "Ein versteckter Blick."
      Wie passend..., dachte er und setzte resignierend die letzte Maske auf, die seine Augen beinahe gänzlich verschwinden ließen.
      "Wie ist der Plan?"

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    • "Natürlich hab' ich nicht zu viel versprochen. Ich bin brillant, Käpt'n Nightingale.", pflichtete Ruby vollkommen selbstverständlich bei ehe er mahnend den beringten Zeigefinger erhob und dabei Silas verschmitzt ansah. "Vorsicht, Silas. Ich bin empfänglich für Komplimente."
      Am Ende entwickelte der Schneidermeister noch eine Schwäche für charmante Meisterdiebe. Trotzdem verblasste das triumphierende Grinsen keine Sekunde lang, denn die Kunstfertigkeit und das Geschick seiner Arbeit ließ sich nicht abstreiten. Zu Florence' Leidwesen, die heimlich in der oberen Etage gelauscht hatte, wusste Ruby ganz genau wie gut er mit Nadel und Faden umging; die Selbstsicherheit darüber strömte flörmlich aus jeder Pore.
      Florence blinzelte den sichtlich überwältigten Dieb etwas verdattert an.
      Ernst gemeinter Zuspruch gehörte ebenso zu den vielen Mysterien wie mitfühlende Zuneigung, mit denen die Kartografin nicht sonderlich gut umgehen konnte. Bei allen Obszönitäten und freiherzigen Äußerungen, die Trigg spielend leicht über die Zunge rollten, war es dieses gestotterte wenig eloquente Kompliment, dass die Wärme ehrlicher Verlegenheit in ihre Wangen trieb. Vollständig entblöst vor ihm auf einem Bett zu liegen mit seinem Kopf zwischen ihre Schenkel geschmiegt, war einfacher zu händeln.
      Die gefühlsarme Äußerung von Seiten Nightingales, war mehr als Florence ehrlicherweise erwartet hatte. Vermutlich konnte sich die Kartografin glücklich schätzen, dass der unterkühlte Pirat überhaupt Notiz von ihr nahm.
      Allerdings weigerte sich Florence dieses Spielchen mitzuspielen.
      "Wie ich sehe, hat Ruby ganze Arbeit geleistet. Die hübschen Damen werden sich reihenweise nach dir umdrehen.", murmelte sie lächelnd an Silas gerichtet, ohne eine Spur von Eifersucht, während sie die Maske mit dem dazugehörigen Samtband am Hinterknopf behutsam verknotete. Die simple Wahrheit war: Silas sah in den Nuancen aus edlem Schwarz und aufregenden Goldakzenten einfach unwiderstehlich aus. Florence widerstand dem drängenden Wunsch die wervollen Stickereien mit den Fingerspitzen nachzufahren und den Weg des geöffneten Kragens zu verfolgen. Anständig trat sie einen Schritt zurück und legte den Kopf schief, den Blick auf Liam gerichtet.
      Sie versteckte den Blick nicht, als sie auch sein Ensemble in Augenschein nahm.
      Der Anblick hätte sie fast die Worte vergessen lassen, die bereits auf der Zunge lagen.
      "Erstaunlich.", antwortete sie fast heiter auf seinen unterkühlten Ton. "Ich könnte dich beinahe mit einem Gentleman verwechseln."
      Ja, sie würde dieses Spiel von Distanz und Gleichgültigkeit nicht mitspielen.
      Florence unterdrückte den Reflex die Arme trotzig vor der Brust zu verschränken. Einerseits, um nicht wie ein störrische Göre zu wirken, andererseits fürchtete sie um den Sitz der sorgfältigen arrangierten Corsage. Sie beobachtete, wie Liam die kusntvolle Maske beäugte, die Florence eigenhändig für ihn ausgewählt hatte. Ein versteckter Blick für all die in Heimlichkeit gestohlenen Blicke, die der Piratenkapitän ihr zugeworfen hatte. Florence bemerkte sie, gehütet im Verborgenen und behaftet mit einer Note des Verbotenen. Liam sah sie an wie etwas Unantastbares, dass er nicht besitzen durfte. Oder konnte. Oder wollte.
      "Der Plan.", begann Florence und streckte die Hand auffordernd zu Ruby aus, der einen Umschlag in ihre Hand legte. "Folgendermaßen, Ruby war so freundlich und hat uns eine Mitfahrgelegenheit besorgt, die uns zum Fürstenpalast bringen wird. Wir werden uns unter die Gäste mischen und die Ohren offen halten. Unter den Anwesenden ist die Mätresse des Fürsten. Wenn es jemanden gibt, der heimlich und ungesehen in die Privatgemächer des Fürsten kommt, dann sie."
      Erneut zupfte sie an Silas Hemdkragen.
      "Zweifellos wird sie deinem Charme erliegen und ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern. Deine flinken Hände bleiben über der Kleidung, du sollst sie aushorchen keinen Skandal verursachen.", grinste Florence. "Wir wollen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich."
      Dann sah sie Nightingale an...und zögerte.
      "Denkst du, du hälst es eine Weile mit mir aus? Wir behalten die Festlichkeiten im Auge und sobald Silas etwas Nützliches herausgefunden hat, warten wir auf die passende Gelegenheit um uns unbemerkt davon zu stehlen. Das angekündigte Feuerwerk dürfte dabei hilfreich sein."
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    • Schweigsam betrachtete Nightingale genauso unversteckt Florence, während sie seine Kleidung begutachtete. Nicht, dass er etwas auf ihr Urteil geben würde. Sie war ein Störfaktor in einer Gleichung die alsbald wieder eine normale Wendung einnahm. Nur noch ein paar Stunden und sie waren einander für immer los. Und auch wenn er bemerkte, dass sie die gleichgültige Atmosphäre nicht teilte und sich beinahe liebevoll um Silas kümmerte, den sie vorher nicht einmal wirklich beachtet hatte, so verblieb er ruhig und emotionslos, als er mit den Schultern zuckte.
      "Der Schneider hat ganze Arbeit geleistet", bemerkte er leidenschaftslos und legte sich seinerseits die Maske an. Freilich half ihm Niemand und er hätte es auch nicht zugelassen.
      Er war für die Einsamkeit gemacht und geboren. Nightingale brauchte Niemand anderen. Nicht einmal diesen versoffenen Vizekapitän. Nicht bevor er seine Schuld abgetragen hatte würde er sich eine Nachsichtigkeit erlauben. Nicht einmal!
      Schweigsam näherte er sich den anderen ein wenig und lauschte dem Plan, den Florence ausgearbeitet hatte. Zugegeben, er mochte es nicht, wenn sie seine Leute kommandierte, aber es schien in dieser Phase angebracht, die einzelnen Talente auszunutzen. Und wenn Trigg etwas konnte, dann war es Frauen besteigen oder ihnen zumindest die Illusion eröffnen, dass er es täte. Wobei nicht auszuschließen war, dass er nicht doch mit der Mätresse des Fürsten ein kurzes Stelldichein provozierte.
      Liam sah zu Trigg, der Florence erst anzüglich angrinste und anschließend nickte. Erst danach kam er auf die Idee, seinen Kapitän anzusehen, der seufzte.
      "Ehrlich gesagt wäre es mir am Liebsten, wenn Sie und ich eine gewisse Abstandshaltung einnähmen, aber ich erkenne Silas' Talent in dieser Richtung an."
      Das Wörtchen "Talent" betonte er auf merkwürdigste Weise, sodass Silas' Blick zumidnest eine Spur düsterer wurde. Sie würden noch lange gemeinsam segeln, aber dies musste er sich gefallen lassen, nachdem er ihm...
      Ja, was denn genau?
      "Aber natürlich, meine Teure", grinste Trigg und warf sich ein wenig in die Brust. "Ich besorge euch, was auch immer die Mätresse zu verbergen weiß..."
      "Der Fürst", bemerkte Liam.
      "Bitte?"
      "Was der Fürst verbirgt. Um die Mätresse kannst du dich ein anderes Mal kümmern. Eine weitere Frage meinerseits, Ms Cartwright: Der Plan sieht leider keine Möglichkeit einer Bewaffnung für mich und meinen Kameraden vor. Sollten uns unliebsame Gegebenheiten erreichen - wovon ich ausgehe - Wie ist der Stand der Bewaffnung? Ich würde gern mein Schwert mitnehmen. Gibt es eine Möglichkeit, dieses einzuschleusen?"
      Die Frage richtete sich sowohl an Florence als auch an Ruby. Liam mochte es nicht, ohne seine Waffe in einen Löwenkäfig zu fallen. Und wer konnte wissen, was Trigg anstellte, wenn man ihm freie Hand ließe. Es reichten schon die Blicke seinerseits zu dem Schneider, um an der Wahrhaftigkeit seiner Aussagen zu zweifeln..

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    • Die unübersehbare Missbilligung ertrug Florence mit erhobenem Haupt und während Nightingle ihr weiterhin unbehelligt die kalte Schulter zeigte, würgte die Kartografin eine bissige Antwort herunter. Das Lächeln bekam hauchzarte Sprünge; ein kaum merkliches Zucken der Mundwinkel. Liam konnte nicht wissen, dass Silas und die Frau, die er ganz offensichtlich als massiven Störfaktor betrachtete, mehr als lediglich ein bequemes Bett und Leidenschaft miteinander geteilt hatten. Er wusste nichts von den nächtlichen Gesprächen und den geflüsterten Geständnissen, die zwar nicht auf Liebe aber dennoch auf Verständnis und Zuneigung beruhten. Zumindest erlaubte sich die Kartografin diese Vorstellung und sie würde Trigg immer für die ehrlichen Worte dankbar sein. Umso größer war die Verärgerung über das abschätzige Verhalten des Kapitän über seinen langjährigen Freund. Das hatte Silas nicht verdient; immerhin war sie der maßgebliche Katalysator für diese festgefahrene Misere. Zweifellos glaubte Nightingale obendrein noch, dass sie Silas ausnutzte und wissentlich um den Finger wickelte.
      "Danke.", antwortete Florence an Silas gerichtet und löste langsam die Finger aus seinem Kragen. Sie seufzte.
      Florence kam mit einem übelgelaunten Piraten besser zurecht, als mit dem eisigen Konstrukt, hinter dem sich Nightingale versteckte. Fassungslos stellte die Kartografin fest, dass sie sich die spitzzüngigen Provokationen und die grimmigen Blicke zurückwünschte. Darauf wären ihr wenigstens die passenden Antworten eingefallen.
      "Keine Sorge.", murmelte Florence mehr zu sich selbst, als wirklich auf Liam einzugehen. "Du wirst nicht gleich tot umfallen, weil du ein paar Augenblicke allein mit mir verbringen musst."
      "Es gibt lediglich zwei Arten von Gästen, die während einer derartigen Festivität eine Waffe mit sich führen dürfen: Die Leibwächter der Aristokratenfamilien und die geladenen Gäste des Militärs. Der Maskenball ist immerhin ein Ereignis um ganz und gar den dekadenten Vorzügen der feinen Gesellschaft zu fröhnen.", fügte Ruby sich räuspernd und nachdenklich hinzu. Dabei rollte der Schneidermeister dezent mit Augen angesichts des Verhaltens, das ihm geboten wurde.
      Florence tippte sich grübelnd mit dem Zeigefinger an die Lippen.
      Wunderbar, zwei Leibwächter, die sich am liebsten in gegenüberliegenden Ecken des Raumes aufhalten sollten und möglichst weit weg von Florence. Zumindest, wenn es nach Nightingale ging.
      "Eher Leibwächter.", stellte sie fest und sah dabei zu Liam und Silas. "Was für meine Familienverhältnisse allerdings etwas übertrieben daher kommt. Mein Vater mag Einfluss haben, aber in der Regel besitzen wir keine Leibwächter. Andererseits nehme ich nie Einladungen dieser Art an, da heißt mit mir rechnet niemand dort... und in diesem Fummel erkennt mich sowieso keiner."
      "Fummel!?", protestierte Ruby und fasste sich schockiert an die Brust.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sollte er sich schämen?
      Liam bemerkte Silas' Blick und die Verdunkelung dahinter. Er kannte diesen Mann seitdem er vier Jahre alt war und wusste, dass er nicht nur Frauen und den Beischlaf im Sinne hatte. Trigg, der sich schnell verliebte. Egal, ob er mit einer Frau oder einem Mann nur eine Nacht verbrachte oder gleich Wochen: Er liebte sie alle. Auf die ein oder andere Art und Weise. Und auch in dieser Cartwright schien er etwas zu sehen.
      Er würde sich entschuldigen müssen, wenn das alles hier vorbei war. Trigg konnte nichts dafür, dass Nightingale etwas ersehnte, was er nicht haben konnte.
      Schweigsam lauschte er Rubys und Florences Ausführungen und schüttelte anschließend den Kopf.
      "Nein, schon gut", bemerkte er. "Alles was unnatürlich ist und uns auffallen lässt, sollten wir unterbinden. Dann gehen wir eben ohne Waffen auf den Ball und hoffen das Beste."
      "Ohne Waffen?", fragte Trigg und verschränkte die Arme vor der Brust. "Eine neue Welt. Liam Nightingale geht ohne sein Schwert hinaus, shurorororo."
      "Halt den Rand, Trigg", grunzte Liam und wanderte zu einem nahestehenden Tisch, auf dem er zumindest etwas Abstand gewinnen konnte.
      "Ich meine ja nur...", murmelte Trigg und seufzte. Er mochte die Stimmung zwischen ihnen beiden nicht. Es ließ diese Nacht, so wenig gefühlvoll sie war, falsch wirken. Und das mochte er nicht. Sie war nicht falsch. Sie war das verteufelt noch einmal Beste, was ihm die letzte Zeit passiert war.
      "Ein Schwert wäre hinderlich", begann Nightingale erneut. "Ich bleibe also bei Ms Cartwright und mische mich mit ihr unter das Volk. Wir werden tanzen, wir werden lachen, Menschen begrüßen und nicht auffallen. Und Silas..."
      "Ich verführe die Mätresse."
      "So in etwa. Finde einfach heraus was es mit diesem verteufelten Reim auf sich hat und was der Fürst versteckt."
      "Wonach suche ich?", fragte Trigg und stellte sich wieder näher an Florence heran. Seine Stimme hatte selbst jegliche Freundlichkeit verloren.
      "Keine Ahnung", murmelte Liam und rieb sich mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel. "Irgendetwas von Wert vielleicht? Sentimentalem? Mystischem? Ich habe nicht den Dunst einer verfluchten Ahnung."
      Mit den letzten Worten mischte sich Frustration die sonst neutrale Stimme des Kapitäns und beinahe hätte Trigg an seine Schulter gelangt, um sie zu drücken.
      "Wir finden es...", flüsterte er. "Ich finde es."
      "Aye. Und lass die Finger von der Dame. Ich kann nicht noch mehr dieser Probleme gebrauchen."
      "Aye...Captain..."

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    • Die Frustration Nightingales war nachvollziehbar.
      Cornelius hatte seinem ehemaligen Schützling nicht viele Hinweise hinterlassen sondern ihm lediglich die Richtung gewiesen. Irgendwie wurde Florence das Gefühl nicht los, dass es mit dem Vers mehr auf sich hatte, als sie im Augenblick sahen. Der Reim deutete beinahe zu offensichtlich auf das berüchtigte Klagelied der Steinkönigin hin. Das ungewöhnliche Phänomen des singenden Windes war über die Splitterreiche hin bekannt und kein streng gehütetes Geheimnis. Eine unwillkommene Welle von Verständnis ergriff die Kartografin.
      "Silas?", mischte sich Florence in den Wortwechsel ein und ignorierte die bittere Tatsache, dass Nightingale sie ohne Schuldbewusstsein als Problem betitelte. "Hör dich nach Gerüchten über einen persönlichen Gegenstand um, der mit der Legende der ersten Fürstin in Verbindung steht. Was wir auch finden werden, wird kein Schatz von unbezahlbarem Wert sein. Der erste Fürst Wesyns soll der Geschichte nach all seine Reichtümer geopfert haben, um seiner Geliebten ein würdiges Denkmal zu errichten. Prunk und Besitztümer bedeuteten ihm am Ende nichts. Ich weiß, es ist ein Schuss ins Blaue, aber die einzige Idee, die ich habe."
      Florence trat gegenüber von Nightingale an den Tisch heran und nahm die schwarze, stilisierte Eulenmaske aus der Schatulle. Eine Aufforderung war nicht nötig, denn Ruby glitt leichtfüßig um den Tisch herum und arrangierte die Maske sorgfältig und mit spitzen Fingern, damit niemand seine mühevolle Arbeit zunichte machte. Zufrieden begutachtete Ruby das zarte, metallische Farbspiel des feinen Goldstaubes, der im sanften Lichtschein selbst im Schatten der Maske schimmerte.
      Mit einer grazilen Drehung wandte sich Ruby an den Piraten, der sichtlich frustriert in die Runde blickte.
      "Eventuell gäbe es eine Möglichkeit eure Waffen heimlich auf das Fest zu schmuggeln.", schmunzelte der Schneidermeister mit blitzenden Augen. "Einer der Aushilfsköche ist mir überaus zugetan und ließe sich bestimmt dazu hinreißen, mir einen Gefallen zu tun. Ich denke, ich könnte ihn davon überzeugen, euer Hab und Gut in Räume der Bediensteten zu schleusen und dort zu verstecken."
      Florence sah zwischen Silas und Liam hin und her.
      "Wir wissen nicht, wer alles auf diesem Ball ist oder was uns erwartet. Ich halte das für keinen schlechten Einfall.", gab sie zu Bedenken. "Da fällt mir ein: Soll ich Archimedes zur Starfall schicken um für den Notfall bereit zu sein? Wenn etwas schief geht, solltet ihr lieber einen Fluchtplan parat haben."
      Es stand völlig außer Frage, dass Florence in Wesyn verbleiben würde. Egal, wie der heutige Abend ausging.
      Von draußen ertönte ein schriller Pfiff.
      "Es wird Zeit.", warf Ruby ein. "Der Chauffeur wartet, meine Lieben. Ich würde euch allen viel Vergnügen wünschen, aber deswegen seid ihr nicht hier. Wenn du noch einmal etwas brauchst, Florence, Liebes, schick Archie zu mir. Es war schön dich zu sehen. Pass auf dich auf, versprich es mir."
      Die geschickten Fingerspitzen des Schneider strich freundschaftlich eine der seidigen Haarsträhnen hinter das Ohr der Kartografin, ehe die Freunde sich zum Abschied umarmten.
      "Vielen Dank für alles, Ruby.", murmelte Florence während sie liebevolle Küsse auf die Wangen austauschten.
      Danach wandte sich der Schneider zu den beiden Männern im Raum um.
      "Silas, es war mir eine Freude.", lächelte Ruby zwinkernd und ließ sich ungefragt dazu hinreißen, dem charmanten Dieb einen Kuss auf die Wange zu drücken, ehe er sich an Nightingale wandte.
      "Keine Sorge, kein Abschiedskuss für dich.", schob er vorweg und fuhr ernst fort. "Ich weiß nicht wonach du suchst. Reichtümer, Macht, Gewissheit, vielleicht Absolution, aber ich hoffe du findest es, bevor es dich erdrückt."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Die versteinerte Miene trat alsbald wieder in das Gesicht des Kapitäns und wirkte grauer als zuvor. Gott, er hasste es hier. In den Reminiszenzen seiner eigenen Unfähigkeit begraben und mit nichts zurückgelassen außer einem verfluchten Kinderreim, den nur eine Einheimische zu entschlüsseln wusste.
      Ja, Cartwrights Ideen machten Sinn aber Liam hasste es, ihr dafür etwas schuldig zu sein. Und wenn der Tag auch die Nacht um ihre Zeit beraubte, so würde er sich nicht entschuldigen oder zurücknehmen.
      Seufzend nickte Liam, als Trigg ebenfalls den Kopf neigte.
      "Es ergibt Sinn. Ein Mann, der wahrlich liebt, braucht keinen irdischen Tand vorzuhalten, um seiner Liebsten ein Denkmal zu setzen. Es wird etwas kleines sein, beinahe unbedeutend wirkend, denke ich", bemerkte Liam und zuckte die Achseln. Er verstand nichts von Liebe. Hatte das Gefühl zumeist als lästig empfunden.
      Trigg indes nickte.
      "Ich werde es schon finden. Überlasst die Dame mir. Und haltet euch beide aus Schwierigkeiten heraus. Wir sollten vielleicht ein Notwort ausmachen, damit wir uns alarmieren können, wenn...Individuen...dort sind."
      Nightingale schüttelte den Kopf.
      "Sofern besagte Individuen dort sind, kümmere ich mich um sie", kündigte er an und betrachtete Ruby, wie er die letzten Handgriffe an die junge Frau anlegte. Wahrlich, er hatte gute Arbeit geleistet. An ihnen allen dreien. Auch wenn sie für Nigthingales Geschmack zu auffällig waren.
      "Gut, in Ordnung", nickte er. "Nur mein Schwert von oben. Aber sagt dem Bediensteten, er möge es nicht öffnen. Keiner soll es öffnen."
      "Würde die Warnung ernst nehmen, shurorororo. Dem Letzten hat es den Arm zerlegt", kicherte Trigg und fing sich einen erneut kalten Blick, unter dem er schwieg. Es war sicherlich besser nicht alles auszuplaudern, was das Herz hergab, nicht wahr?
      "Ja, ich denke, eine Nachricht durch Archie an Orcas sollte ausreichen. Sagen Sie ihm, er soll Orcas einfach nur das Stichwort "Direktive 13" mitgeben."
      Trigg wurde bleich, als er zu Liam herumfuhr und holte gerade Luft, um etwas zu sagen, doch der gellende Pfiff unterbrach jeden in seinen Gedanken und ließ die beiden Piraten zusammenfahren.
      Eilig richtete Liam sein Hemd und die gleichfarbige Weste mit den grazilen Knöpfen noch einmal vor einem silberbehandelten Spiegel. Er sah nicht schlecht aus, wie er selbst anerkennen musste. Selbst sein Bartschatten fiel nicht auf und durch das Bad im Hurenhaus lagen seine Haare mit Ausnahme einmal gut. Warum nicht etwas Spaß haben?
      "Die Freude war die Meine", grinste Silas und reckte die Wange dem Kuss entgegen, während er sich anschließend wieder erhob.
      Liam erhob nur gleichgültig die Hand und nickte.
      "Hab Dank für alles, Schneider. Und achte auf die Finger, damit sie dir noch lange zu Diensten sind", sagte LIam auf dem Weg nach draußen, ehe er nochmal inne hielt. "Es hat mich längst erdrückt. Schon seit fast 20 Jahren."
      Anschließend nickte er noch einmal und begab sich zur Kutsche, wo die anderen bereits beim Einsteigen waren.

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    • Nachdenklich zog Florence verborgen unter der Maske die Augenbrauen zusammen.
      Für gewöhnlich hätte die Kartografin die wissbegierige Frage gestellt, was es mit den ominösen Anweisungen Nightingales auf sich hatte und warum die Erwähnung Silas dermaßen beunruhigte. Die Dieb wirkte sichtlich schockiert und zu einem Protest bereit. Jedoch war Eile geboten und Florence fasste den Entschluss, die Fragen fürs Erste herunter zu schlucken. Sie hatte das unbeirrbare Gefühl, dass sie die Antworten darauf schneller erhalten würde, als ihr unter den Umständen lieb war. Die Starfall und ihre Besatzung hatten bisher um keinen chaotischen Auftritt oder spektakulären Abgang einen Bogen gemacht. Der Abend barg das Potential in einer Katastrophe zu enden.
      Mit leichtfüßigen und flinken Schritten huschte Florence aus dem Verkaufsraum der Schneiderei in die kleine Werkstatt um Archimedes mit den nötigen Anweisungen zu versorgen. Obgleich die mechanische Eule nicht ohne Einwände den Auftrag annahm, weil es ihm nicht behagte, Florence erneut alleine unter diesen Schuften zulassen. Vor allem nicht, da er Vergangene nach mit gespitzten Ohren gelauscht hatte. Wie beschämend für einen treuen Diener.
      Nachdem die Abschiedsworte verklangen, folgte Florence den Männer hinaus in die laue Sommernacht. Mit einem letzten, verstehenden Nicken sah Ruby den Piratenkapitän an. Er würde die Anweisungen genauestens befolgen. Immerhin wollte er niemandem erklären, warum einer der Aushilfsköche unter fragwürdigen Umständen ein paar Finger einbüßte. Nightingales Worte hallten in Florence' Gedanken wieder und auch Rubys ernster Gesichtsausdruck, der mehr als befremdlich für seine Frohnatur war, ließen sie nicht los.
      Der Wunsch die Bedeutung hinter all dem Gesagten zu verstehen, drängte sich auf wie ein unwillkommener Gast, der nicht wieder verschwinden wollte.

      Die Kuschte fuhr erstaunlich ruhig über das holprige Kopfsteinpflaster.
      Unter den Verkleidungen aus klassischen, dunklen Holz und Verzierungen aus Metallbeschlägen verbarg sich ein ausgeklügelter Mechanismus flexibler Feder, die die Reise etwas angenehmer gestalteten. Wesyn mochte einen vorzüglichen Ruf als Universitätsstadt, die besten Ingenieure hatten hier studiert, und Handelsmetropole genießen, aber die Architektur wirkte eher altertümlich und ein wenig aus der Zeit gefallen. Traditionelle Elemente mischten sich mit maschinellen Errungenschaften und bildeten einen Flickenteppich aus Alt und Neu. Ein merkwürdiges Geräusch zwischen Zischen und Schnauben pfiff durch die abendliche Kulisse, als die Zugtiere mit der Kutsche zum Stillstand kamen. Florence hatte bereits vor der Abfahrt die stattlichen, mechanischen Pferde bewundert, deren Kupferlegierung ihnen die abstrakte Optik edler Füchse bescherte. Dampf waberte aus den starren Nüstern und den klickenden Gelenken der Gliedmaßen. Im Gegensatz zu Archimedes wirkten diese Konstrukte allerdings wie seelenlose wenn auch riesige Puppen. Die Augen strahlten keinerlei Leben oder Intelligenz aus.
      Mit einem Lächeln ließ sich Florence von Silas aus der Kutschte helfen und fand vorsichtigen Halt mit den ungewohnten Absätzen auf dem groben Steinpflaster. Behände zog sie die versiegelte Einladung aus einer versteckten, eingenähten Tasche des kunstvollen Rockes.
      "Showtime, meine Herren.", witzelte sie.
      Der Vorplatz des Fürstenpalastes erstrahlten in tausenden, winziger künstlicher Lichter. An hauchdünnen Drähten umhüllten sie Steinsäulen und penibel geschnittene Hecken. Das Kopfsteinpflaster verwandelte sich unter den Füßen der heranströmenden Gäste in glatt polierten Stein. Die gesamte Gartenanlage war aufwendig geschmückt und gefüllt mit neugierigen Besuchern, die sich bewundert nach der mechanischen Fauna umsahen. Unter all den Menschen tummelten sich zur Unterhaltung künstliche Tiergestalten bis hinzu Nachbildungen berühmter Sagengestalten. Die silberne Sirene thronte über einem majestätischen Springbrunnen und tauchte spielerisch aber mit sichtlich ungelenken Bewegungen die Hand ins Wasser und schien die Beobachter mit leeren Augen zu beobachten, die Schwanzflosse glitt beinahe gelangweilt durchs plätschernde Wasser. Kein Tier und kein Fabelwesen besaß die Aura, die Archimedes einzigartig machte.
      Das Eingangsportal und die Front des Fürstensitzes war mit höchster Steinmetzkunst in den Fuß der Steinkönigin geschlagen worden. Das Detailreichtum an Emblemen und rankenden Mustern war atemberaubend. Florence konnte die ehrliche Bewunderung nicht verbergen, obwohl sie mit dem Anblick aufgewachsen war. Es war einfach beeindruckend. Gestützt von zwei in sich gedrehten Säulen öffnete sich der Eingang wie ein hellerleuchtetes Maul im Fels. Durch das Portal erklang stimmungsvolle Musik und Bedienstete huschten mit Tabletts voll mit gefüllten Gläsern und kleinen Köstlichkeiten hinaus und hinein.
      Kommentarlos reichte Florence einem Mann mit strengem Zug um die Mundwinkel die Einladung.
      Er trug eine schlichte, nachtblaue Uniform und trug einen silbernen Krummsäbel an der Hüfte. Sorgsam begutachtete er den Umschlag und suchte offenbar nach Spuren einer Fälschung. Dann reichte er das Papier zurück. Hinter der schlichten Maske, die der Mann trug, blitzte ein flimmernden Licht auf. Ah, dachte Florence. Das künstliche Auge glitt über die Neuankömmlinge und suchte eindeutig nach versteckten Waffen. Florence verbarg die Erleichterung, als er nichts Verdächtiges fand.
      "Ich wünsche Ihnen und ihrer... Begleitung viel Vergnügen, Miss Cartwirght.", sagte er mit stoischer Stimme.
      Mit bemüht gemächlichen Schritten setzte das Trio den Weg in die inneren Hallen fort.
      Angestellte des Palastes wiesen ihnen die Richtung zum Ballsaal.
      Kaum hatte Florence die Schwelle übertreten, erfüllten wunderschöne Melodien ihre Ohren. Ein gewaltiges Orchester samt hochwertigem Flügel hatte Position auf einem erhobenen Podest bezogen, während Tanzpaare über den Boden aus gemustertem Marmor schwebten wie farbenfrohe Schmetterlinge. Die Garderobe reichte von auffällig bis schlicht, von verführerischen bis sittsamen Schnitten in alle Stilrichtungen. Und eines kunstvoller als das andere, doch bemerkte sie die ersten Blicke, die sich augenblicklich an die Drei hefteten. Florence schritt flankiert von Liam und Silas in den Saal dessen hohe Decke mit denselben künstlichen Lichtern bestückt war und einen atemberaubenden Sternenhimmel imitierte.
      "Silas...", murmelte Florence und griff beiläufig nach einem angebotenen Glas mit Champagner während sie sich nah an sein Ohr lehnte. "Siehst du die Frau dort drüben? Die Brünette mit den Pfauenfedern im Haar? Das ist sie."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Schweigsam verbrachte Nightingale die Fahrt und betrachtete die Szenerie als sie an dem Palast ankamen.
      Es blieb erstaunlich, welche Fortschritte die Stadt gemacht hatte. Wesyn wirkte wie es immer aus der Ferne gewirkt hatte: Unscheinbar. Zumeist hatten sie Stadt nur gesehen, wenn sie auf der Durchreise und am Handelshafen angedockt waren. Die alten Fassaden mochten nicht zu den vielen mechanischen Puppen passen, die hier den Hammer schwangen. Nightingale kam sich vor wie in einer schlechten Marionettenaufführung, wenn er all das Metall und die feinen Mechaniken betrachtete.
      Als sie der Kutsche entkamen, nahm er sogleich einen Schritt Abstand von den Anderen udn sah sich um. Selbst hier wirkte alles ein wenig künstlich, von den Lichtern bis hin zu der Wachmannschaft, die mit künstlich surrenden Augen die Gästeschar betrachteten. Der Palast war nicht minder beeindruckend wie der Vorgarten und erneut fühlten sich Liam wie auch Silas ein wenig fehl am Platze. Schweigsam richteten sie unabhängig voneinander ihre Kleidung und räusperten sich, um die Heiserkeit zu überspielen. Noch nie hatten sie in einem derart feinen Gebäude gespeist oder geweilt. Es kam ihgnen beinahe vor wie das Märchen, dass sie seit frühester Jugend erträumten, als sie hinter Florence (und ohne Blicke auf ihre durchaus prachtvolle Kehrseite - zumindest von Liam) die Treppe hinauf stiegen.
      Der Kapitän sah sich sorgsam wachsam um, aber nichts schien diesen Abend in irgendeiner Weise zu belasten oder gar gefährlich zu machen. Und alleine das gab ihm zu denken.
      Er betrachtete eine junge Frau in sorgsam angelegten schwarzen Kleid, als sie an die Wache kamen. Irritiert, nahm er einen halben Schritt Abstand von Florence, als er ihr Parfum in die Nase bekam. Zu nah. Er nickte dem mechanischen Mann zu und folgte den beiden anderen. Zumindest Silas schien aufzutauen, als sie den Raum betraten und atmete hörbar ein.
      "Ach, wie schön es ist hier, nicht wahr?", fragte er und breitete die Arme leicht aus, als wolle er den Raum umarmen, der sie mit stimmungsvoller Musik und einer herrlichen Architektur empfing.
      Der Tanz war bereits im vollen Gange und während Liam noch neugierig auf die Instrumente schielte, mit denen das noble Orchester spielte, so hatte Silas bereits die Augen über die Menge geworfen. So viele farbenfrohe und edle Kleider waren ihm nie untergekommen und zu seiner niederen Freude hin befanden sich darunter auch noch so viele hübsche und junge Damen. Und auch die Herren waren nicht unansehnlich. Ach, wären sie doch nur zum Vergnügen hier...
      "Shurororo, das wird ein toller Abend!"
      "Ja...Sicher.", grunzte Liam und sah sich missmutig um, während er die Hände in die Taschen vergrub. "Vergiss nur nicht, dass du etwas zu tun hast."
      Silas grinste breit und auf den Sternenhimmel stierend in den Ballsaal und seufzte auf, als Florence ihm ins Ohr flüsterte.
      "Aye, Miss. Ich begebe mich sogleich ans Werk. Und schön die Finger voneinander lassen. Wartet bis zum Separee", zwinkerte er Florence zu und machte sich eilig und elegant schreitend auf den Weg zur Dame mit den Pfauenfedern.
      Auf dem Weg stiebitzte er beinahe frivol einem Kellner ein Glas mit einer hellen Flüssigkeit von einem Tablett, dass er sogleich hinab stürzte wie einen Kurzen bei Big Al. Es schmeckte bitter und perlte auf seiner Zunge, aber er liebte den Geschmack der Reichen.
      Sorgsam näherte er sich der jungen Frau und lächelte ihr zu.
      "Einen wunderschönen guten Abend, Miss", grinste Silas und beugte sich leicht vor. Er wusste nicht, ob ein Handkuss noch aktuell war, aber er streckte seine Hand aus um ihr einen Kuss auf ihre zu hauchen. "Verzeiht, wenn ich derart frivol um Eure Aufmerksamkeit buhle, aber ich stand dort oben und genoß den Abend, da mich Eure Schönheit beinahe erschlug. Und ich sagte zu mir: Geh hin und sprich wenigstens mit ihr oder du wirst es bereuen. Mein Name ist Silas. Dürfte ich Euren erfahren?"

      Derweil hatte sich Nightingale mit der Situation arrangiert und klaubte ebenfalls ein feines Glas von einem Tablett, trank aber noch nichts. Die Musik drang an sein Ohr und er konnte ein sanftes Mitwippen nicht vermeiden. Der Takt fraß sich regelrecht in sein Hirn.
      "Und was tun wir jetzt?", fragte er und nahm einen Schluck.

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    • Die vorläufigen Abschiedsworte des Diebes verlangten Florence ein halbherziges Lächeln ab. Beiläufig zuckte die Kartografin mit den entblößten Schultern da sie stark bezweifelte, dass Silas sich darum ernsthafte Sorgen machen musste. Nightingale würde freiwillig keine Hand an sie legen, selbst wenn sein Leben davon abhinge. Mit wirklich bewundernswerter Selbstbeherrschung widerstand sie dem Drang, das Champagnerglas wenig damenhaft in einem Zug zu leeren und das Nächste von einem Tablette zu angeln. Die gesamte Atmosphäre samt mitreißender Musik und dem stimmungsvollen Lichtern verführte den Verstand geradezu sich von den tanzenden Paaren mitreißen zu lassen, die über den polierten Marmor schwebten.
      Stattdessen näherte sich Florence bedächtig von der Seite während sie augenscheinlich das Geschehen im Ballsaal beobachtete.
      Niemand sollte behaupten, dass die Kartografin nicht lernfähig war. Ebenso wie in der Kapitänskajüte achtete sie auch in diesem Augenblick darauf, ein wenig Abstand zwischen sich und Liam zu lassen. Ein kleines Stückchen mehr und ihr entblößter Arm hätte seinen Ellbogen gestreift, aber Florence bewegte sich weiterhin zurückhaltend wie auf Eierschalen laufend um den Piraten herum.
      "Sieh dich um. Kommt dir irgendjemand verdächtig vor? Jemand der uns Ärger machen kann?", stellte Florence die Gegenfrage.
      Das Schicksal lauschte offensichtlich der gequälten Konversation zwischen zwei Menschen, die am liebsten voreinander Reißaus nehmen würden. Mit dem Gefühl eines fremden Blickes, der sich aufdringlich in ihren Nacken bohrte, sah Florence über die Schulter in das Durcheinander aus bunten Kleidern und kreativen Masken.
      "Florence?", ertönte eine volltönige, raue Stimme von der Seite. "Meine über alles vermisste Schwägerin. Welch ein Vergnügen!"
      Neben Liam erstarrte die junge Frau zur Salzsäule während sich die Finger um das zerbrechliche Glas krampften. Ein kaum merklicher Ruck ließ sie das Kinn etwas anheben. Ein wenig überzeugendes Lächeln verzog die Lippen, allerdings täuschte nichts in ihren Worten darüber hinweg, dass sie nicht amüsiert war, diesem Mann zu begegnen.
      Ausgerechnet an diesem Abend musste dieser arrogante Gockel hier auftauchen.
      Der Mann, der sich mit entspannten Schritten näherte, trug einen maßgeschneiderten Anzug mit passender Weste. Die polierten Schuhe blitzten im Lichtschein. Alles an ihm verströmte den Gestank nach Reichtum. Florence wusste, dass das Einzige, was dieser Mann jemals erfolgreich geschafft hatte, als Sohn einer wohlhabenden Militärfamilie geborgen zu werden. Und die Heirat mit ihrer Schwester, was ihm ein beträchtliches Vermögen gesichert hatte.
      "Sebastian. Es ist lange her.", entgegnete sie und ignorierte beharrlich den aufdringlichen Blick, der über ihre Gestalt glitt. "Sag, ist meine Schwester auch hier?"
      "Nein, nein. Sie ist zu Hause bei den Kindern. Du weißt doch, Veranstaltungen dieser... ausschweifenden Art sind nicht nach ihrem Geschmack.", sagte Sebastian.
      Sein Blick glitt unter einer sicherlich teuren Maske aus glänzendem Perlmutt, das perfekt zu seinem gepflegten und blonden Haar passte, zu einer jungen Dame, deren Outfit einen noch skandalöseren Einblick gewährte als Florence gewagter Gehschlitz.
      "Ah, wie schade, aber ich sehe du tröstest dich über ihre Anwesenheit hinweg. Wer ist es dieses Mal? Deine neue Sekretärin? Das Kindermädchen? Nein, warte, das Hausmädchen?", flötete Florence geradezu. "William? Darf ich vorstellen: Mein geschätzter Schwager Sebastian Prescott."
      Sie bewegte sich auf dünnem Eis, Liam bei seinem vollen Namen zu nennen. Es war zu persönlich, aber sie konnte ihn kaum als Liam Nightingale, Kapitän der Starfall vorstellen. Besagter Schwager ignorierte Nightingale als wäre er gar nicht da.
      "Scharfsinnig, wie immer, meine Teure. Das bleibt unser kleines Geheimnis." Sebastians Miene verfinsterte sich, mit einem Schritt war er so nah an Florence heran getreten, dass sich die Spitzen der Schuhe beinahe berührte. Er packte so unvermittelt nach ihrem Oberarm, dass ihr fast das Glas aus der Hand gerutscht wäre.
      Übelkeit befiel die Kartografin, die versuchte den Arm möglich ohne Aufsehen zu erregen aus seinem festen Griff zu befreien. Ruby hatte ganze Arbeit geleistet, die schimmernde Goldfarbe zeigte sich völlig unbeeindruckt von der rüden Behandlung. Sebastian aber verstärkte seinen Griff nur.
      Wieder glitt der Blick des Offizierssprössling an der jungen Frau auf und ab.
      "Du warst schon cleverer als gesund für dich ist, Florence. Es würde der guten Adelaide das Herz brechen, wenn du ihr die Wahrheit erzählst. Das willst du doch nicht, oder? Deine Schwester ist eine vorbildliche Ehefrau aber ein wenig fade mit der Zeit. Aber du...Du hast mehr Feuer, das sehe ich. Mir scheint, ich habe am Ende doch der falschen Cartwirght-Erbin den Hof gemacht."
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    • Nightingale warf einen Blick in den von Menschen übersäten Raum.
      So sicher sich Silas durch die mannigfaltigen Benimmregeln manövrierte, so unsicher fühlte er sich. Nightingale war hier fehl am Platze, das zeigte ihm nicht nur der Unterschied in der Kleidung. Dazu kam der Umstand, dass er mit der unangenehmsten Person der Welt hier gefangen war. Eine ganz wunderbare Situation.
      Auf Florences Geheiß hin schenkte er ihr einen ungesehenen, wütenden Blick. Als würde er sich kommandieren lassen. Hatte diese Frau den Verstand verloren?
      "Machen Sie sich keine Sorgen", zischte er. "Ich halte die Masse schon im Auge. Tun Sie, was Sie am besten können und versuchen, nicht dabei aufzufallen, bevor..."
      Und natürlich musste genau das passieren. Bereits am Klang der Stimme und er Reaktion der Kartografin wusste er, dass er den Mann vermutlich nicht mögen würde. Und manchmal war es ebenso erstaunlich, wie gut er sich selbst in der Kunst des Menschenlesens verstand. Dieses überhebliche Exemplar seiner eigenen Geschlechtsreihe wirkte geradezu nach einer Leuchtschildreklame für Backpfeifen. Und würde dies nicht ein piekfeiner Ball sein, hätte er bereits ausgeholt und diesem Schürzenjäger den Kiefer gerade gerückt.
      Alleine der Blick, den er ihr zuwarf, war nicht mal ansatzweise sittsam...
      Was kümmerte ihn das eigentlich?
      Nightingale hielt ABstand und betrachtete das Geplänkel der beiden ein wenig, wobei ein besorgter Blick zur Begleitung des Schleimbolzen fiel. Sie wirkte zumindest nicht belästigt. Das war schon einmal ein Pluspunkt. Als jedoch sein voller Name fiel, änderte sich seine Welt.
      Mit einem Mal versteifte sich Nightingale und die Aufmerksamen hätten sehen können, dass sein Blick einer Eiswoge glich, wie über Florence hinweg rauschte. Sicherlich, es war in der SItuation nicht anders möglich, aber niemand nannte ihn bei seinem Namen. Niemand! Dies war nur Cornelius und seiner Mutter vorbehalten gewesen und beide waren verfluchte Leichen in verteufelter Erde. Was glaubte diese von sich eingenommene, arrogante...
      Selbst nach der Vorstellung war er ein arroganter Flegel, während Nightingale seufzte und den Kopf schüttelte. Manche lernten es einfach nicht...
      Dieser arrogante...
      Mit einem schnellen Schritt hatte er sich aus der Aufmerksamkeit gezogen und sich Florences Oberarm bemächtigt. Und so sehr er diese arrogante Frau auch hasste, es gab einen Punkt, den LIam nicht vergessen konnte. Den Blick einer mishandelten Frau. Noch während der Schleimbolzen seinen Satz zu Ende sprach, schnellte Liams Hand an seine heran und umfasste beinahe mühelos das komplette Handgelenk.
      "Erstens", knurrte er mit tieferer Stimme als vorher. "Werden Sie Ms Cartwright loslassen. Ich rate Ihnen, dies ohne Widerstand zu tun, da Sie zwei gesunde Arme brauchen, um Ihre Affäre dort zu beglücken. Sofern Sie also nicht noch übermorgen Ihre Fingernägelreste aus Ihrem Hintern popeln wollen, nehmen Sie sofort Ihre schmierige Hand von ihrem Arm."
      Sein Blick machte unmissverständlich klar, dass er es drauf ankommen ließ. Im Zweifel würde er diesem Militärheini dermaßen auf die Zwölf hauen, dass dieser meinte, der Ballsaal wäre eine verfluchte Mechanikerbude auf dem Markt in Trinium.
      "Und zweitens", fuhr er fort. "Sollte Ms Cartwright während dieser Feier auch nur schief Husten wegen Ihnen, werde ich Ihnen folgen und Ihrer Mutter, Frau oder Geliebten Ihre Eingeweide zum Frühstück schicken, haben wir uns verstanden, Prescott?"

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    • Mit beunruhigender Leichtigkeit hüpfte Florence in der Gegenwart des grimmigen Piraten in wirklich jedes Fettnäpfchen, das sich anbot.
      Der Fehler bestätigte sich, als das Blut unter den stechenden Blicken Nightingales in den Adern förmlich zu Eis gefror. Es war ein kalkuliertes Risiko, sein bisher vorbildlich kontrolliertes Temperament mit der Verwendung seines vollen Namens ins Wanken zu bringen. Der scheinbar gedankenlose Fauxpas gesellte sich zu einem stetig anwachsenden Berg aus Verfehlungen dazu. Florence' Ansehen konnte unmöglich noch tiefer fallen. Das Letzte, was Liam noch blieb, war ihre gesamte Existenz komplett zu ignorierte.
      Umso verwunderter blickte Florence zur Seite, als sich Liam neben ihr aufbaute wie ein bedrohlicher Schatten in all dem nächtlichen Schwarz, das er am Leib trug. Der erwartete Zorn richtete sich nämlich nicht gegen die Kartografin sondern gegen dem ungeliebten Schwager. Mit einem Gefühl der Genugtuung, dass sich nicht verleugnen ließ, bemerkte Florence wie Sebastian ein wenig die Miene verzog. Das dauerhafte, ekelhaft charmante Lächeln verblasste etwas und die Kartografin war sicher, dass der Griff um sein Handgelenk schmerzhafter war, als der Offizierssohn jemals zugeben würde.
      Wie in Zeitlupe lösten sich sich der schraubstockartige Griff um ihren Oberarm.
      Trotz der deutlichen Beunruhigung in Sebastians Augen, schaffte es der Adelssproß nicht den spöttischen Tonfall aus seiner Stimme zu vertreiben.
      "Einen wirklich worgewandten Beschützer hast du dir da geangelt, Florence. Deine werte Mutter wäre entzückt über diese fabelhaften Manieren. Deine Ansprüche sind wohl weiter gesunken, liebste Schwägerin.", spottete er. "
      Während Sebastian versuchte unauffällig das Hangelenk etwas auszuschütteln, in das unter unangenehmen Kribbeln das Blut zurückfloss, bedachte er den für ihn unbekannten Mann mit einem abschätzigen Blick. Dann hob er beide Hände in einer beschwichtigenden Geste und trat sogar einen Schritt zurück.
      "Schon gut, schon gut. Kein Grund aus der Haut zu fahren. Bemühen Sie sich nicht zu sehr um sie.", sagte er mit der abfälligen Art, als würde er über etwas vollkommen Belangloses sprechen. "Es ist bemitleidenswert, wie sie sich verzweifelt den Männern an den Hals wirft, um sich über diesen Bastard einer Bediensteten hinweg zutrösten. Es ist eine Schande für die Cartwirghts. Sie sind auch nur ein weiteres Trostpflaster in einer langen Reihe von Gentlemen."
      Neben Liam wurde Florence stocksteif.
      Mit einer geradezu mechanischen Bewegung streckte die Kartografin die Hand aus und betete das Liam die Geste als das erkannte, was sie war: Ein versteckte und verzweifelte Bitte. Keine weitere Provokation.
      Zaghaft und mit zitternden Fingern berührte Florence das weiche Leder des Handschuhes an Nightingales freier Hand. Sie ergriff seine Hand nicht in fordernder oder besitzergreifender Art, sondern lediglich der Zeige- und Ringfinger krümmten sich zögerlich um seinen kleinen Finger. Das Leder unter ihren Fingerspitzen war angenehm warm durch seine Körpertemperatur und der winzige Kontakt, obwohl sie um Liams Abscheu gegenüber ihren Berührungen wusste, beruhigte ein wenig das aufgewühlte Chaos.
      Sie mussten weg von Sebastian Prescott.
      "William.", versuchte sie seine Aufmerksamkeit von Sebastian zu lenken, bevor ein Unglück passierte und sie allesamt aufflogen.
      "Liam. Komm, du hast mir einen Tanz versprochen, erinnerst du dich? Bitte."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Manchmal war Wut ein Dorn im Ohr.
      Ein schneidender, stechender Schmerz, der sich wie eine Ader durch die Nerven zog und diese reizte. Dieser Dorn versetzte selbst ein schwaches Gemüt und ein ausgeglichenes Wesen in die Lage des Zornes, die kaum zu beherrschen war. So oder ähnlich musste es Liam ergehen als er diesem Kretin ins Gesicht sah, der seine Feigheit hinter einer Maske von Spott und Häme versteckte. Sorgsam behielt er das Handgelenk noch umschlungen, ehe der Militärmensch seinen Griff gelockert hatte. Erst danach stieß er die Hand beinahe achtlos zur Seite, als sei sie nichts anderes als Schmutz.
      Schmutzwäsche hingegen wusch diese Ausgeburt von Feingeist neben ihm und auch wenn Liam sich alle Mühe gab, auf das sanfte Ziehen an seinem Handschuh angemessen zu reagieren, blitzte hinter der Maske die Wut in seinen Augen auf. Es war nicht einmal die Tatsache, dass er Florence (jetzt nannte er sie schon in seinen Gedanken beim Vornamen!) beleidigte. Es war vielmehr die Art und Weise, wie er eine Frau diffamierte und gleichzeitig Gefallen an deren Leid bezog. Welches widerliche Wesen ergötzte sich an so etwas?
      Schweigsam hätte er sich beinahe hinreißen lassen, sich einfach mit Florence abzuwenden und sich seinem Schicksal zu ergeben. Beinahe...
      "Wissen Sie", begann er schließlich mehr knurrend als sprechend. "Ich bin lieber ein Trostpflaster als ein so charmanter Schenkelspreizer wie Sie. Und jetzt tun Sie sich und der Welt einen Gefallen und probieren es ein einziges Mal damit, den Nichtschwimmer zu machen..."
      Langsam beugte er sich vor und grinste spöttisch unter der Maske.
      "Ah, falls Sie nicht wissen, wie man es in feiner Gesellschaft interpretiert: Halten Sie den Rand!"
      Gerade als es Spaß zu machen begann, wandte er sich zu Cartwright um und sah ihr ins Gesicht. Noch nicht, mahnte er sich...Noch nicht...
      Schweigsam ließ er sich von ihr in Richtung des Tanzparketts geleiten, nicht ohne vorher der Begleitung des widersprenstigen Herren ein freundliches Nicken zu schenken.
      Erst als sie die Treppen hinunter gestiegen waren und er den Abstand ein wenig herstellen, konnte, sah er sie an. Mit beinahe ruckartigen Bewegungen griff er nach ihrem Arm und ihrer Hüfte und begann sich beinahe automatisch im richtigen Takt zu bewegen. Es war lange her, dass Liam Nightingale das Tanzbein geschwungen hatte. Zumeist geschah dies eher in Tavernen oder anderen eklektischen Orten, aber einen langsamen Tanz wie diesen hier konnte man beinahe nicht falsch machen.
      "Nennen Sie mich noch einmal William, schmeiße ich Sie vom höchsten Turm hier, haben wir uns verstanden?", zischte er als er ihr in einer Tanzbewegung nahe kam. "Und nun nicht so zögerlich! Sie wollten tanzen, also tanzen Sie!"
      Mit einem weiteren Ruck um ihre Hüfte herum drückte er ihren schlanken Leib an sich. Jegliche Rundung, zuvor missbilligt, ließ sich an seinem Bauch, seiner Brust und unter seiner Hand erfühlen als er sie sacht zwischen den anderen Paaren hindurch bugsierte.
      "Wollen SIe mir berichten, welchen Vollsympathen ich da gerade beleidigt habe?"

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Allzugern hätte Florence den geschockten Gesichtsausdruck vollständig ohne Maske bewundert.
      Der Prescott-Erbe beäugte seinen Gegenüber mit geweitetem Blick und rang ganz offenbar um Fassung. Mit unverschwämten Beleidigungen, wie Nightingale sie augenblicklich versprühte wie giftige Galle, hatte er nicht häufig das Vergnügen. Abgesehen davon, dass nicht viele Menschen sich trauten, dermaßen formlos und unverschämt mit dem Offizierssohn zu sprechen. Ein berühmter Name schützte eben nicht vor Allem, schon gar nicht vor einer ungezügelten Naturgewalt wie Liam Nightingale. Nach allem, was Silas im Vertrauen erzählte, war das bedrohliche Verhalten Nightingales leichter zu verstehen.
      Erleichtert atmete Florence aus.
      Bei all der Anspannung hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie den Atem angehalten hatten. Endlich gab aufgebrachte Pirat der flüchtigen Berührung nach und kehrte einem verdatterten Sebastian den Rücken zu. Florence wusste zweifellos ab welchem Zeitpunkt hochnäsiger Schwager sich in erneut in Sicherheit wiegte. Die Treppenstufen kaum hinter sich gelassen, übertönte das amüsierte und muntere Stimmengewirr des Ballsaales ein markantes, abschätziges Lachen.
      "Arroganter Bastard...", zischte Florence zwischen zusammengespressten Kiefern hervor und drehte sich in Nightingales Richtung, der beinahe sofort außer Sichtweite des Offizierssohnes den für ihn nötigen Abstand suchte. Die zerbrechliche Berührung der umklammernden Finger, die kaum der Reder wert war, löste sich und sie gab ihn frei. Binnen eines Wimpernschlages blieb nichts zurück von der Wärme, die durch das weiche Leder gesickert war.
      Fragend sah Florence ihn durch die Auslässe der schwarzen Eulenmaske an als er sie einfach schweigend betrachtete.
      Mit einem plötzlichen Ruck zog Nightingale die überrumpelte Kartografin an sich heran, beinahe wäre sie ungeschickt einfach gegen seine Brust geprallt und hätte sich gehörig zum Narren gemacht. Eine Hand umschloss die ihre in einem festen Griff, die anderen ruhte schwer und ungewöhnlich warm über dem zarten, seidigen Stoff, der ihre Hüfte umhüllte. Der holprige Start täuschte nicht allzu lange darüber hinweg, dass sich der Pirat innerhalb weniger Tanzschritte als ausgeprochen guter Tänzer entpuppte. Natürlich, Silas hatte auch hier aus dem Nähkästchen geplaudert und eine frühere Karriere als Barde enthüllt sowie die Chance erwähnt nach langer Zeit wieder ein Tänzchen zu wagen. Nightingale besaß also versteckte Talente.
      Florence benötigte zur ihrem eigenen Unmut beschämend lange, um sich auf Nightingale einzustellen.
      Einige langsame Akkorde verstrichen ehe die Kartografin weich in den Händen ihres Begleiters und letztendlich auch Tanzpartners wurde.
      "Verstanden, Käpt'n.", antwortete Florence wenig kratzbürstig. "Und würdest du nicht.", schob sie dennoch hinterher.
      Bevor sie ohne seine Hand loszualssen in einer grazilen Drehung davon wirbelte, nur um sich wieder nah heranziehen zu lassen. Die zierliche Hand ruhte auf seiner Schulter während sich ihr ganzer Körper in der wiegenden Melodie von der Hüfte aufwärts an den Seinen drückte. Das war näher, als sie von Nightingale gewöhnt war und brachte sie etwas aus dem Takt. Der fehlende Sicherheitsabstand, der sonst penipel eingehalten wurde, verpuffte im Nichts. Florence war sich überdeutlich bewusst, dass sich sein Bruskorb bei jedem Atemzug ausdehnte und gegen ihre Brust drückte. Sie spürte die kleinsten Zuckungen seiner Muskeln durch den hauchdünnen Stoff ihrer Robe während er sie trittsicher über die Tanzfläche führte.
      "Ich hätte nicht geglaubt, dass du wirklich tanzen würdest.", gab sie ehrlich zu. "Es war eine gute Ausrede um diesen eingebildeten Pfau los zuwerden."
      Die Bissigkeit in der Stimme wirkte nicht gänzlich überzeugend.
      Die Melodie der Streicher entschleunigte und der klangvolle Ton des schwarzen Flügels mischte sich hinein. Das Musikstück wirkte ein wenig zu düster und melancholisch für eine heitere Festivität, verlieh unter schwummringen Lichtern und maskierten Tänzern der Kulisse etwas Geheimnisvolles.
      "Wenn du endlich mit dieser Scharade aufhörst.", murrte die Kartografin kopfschüttelnd und belehrte sich gedanklich eines Besseren. Der Blick schweifte über die anderen Tanzpaare und die neugierigen Blicke der Schaulustigen ehe sie den Kopf zurück zu Nightingale drehte. Ein wenig ärgerte sie sich über die Auswahl der Maske.
      "Sebastian Prescott ist der Erbe einer namenhaften Offiziersfamilie in Wesyn. Die Prescotts bekleiden seit gefühlten Ewigkeiten hohe militärische Ränge und nebenbei sind unsere Väter langjährige Geschäftspartner. Hinter dem guten Namen verstecken sich allerdings seit geraumer Zeit hohe Spielschulden, die Sebastians Vater angehäuft hat. Ein wirklich glücklicher Umstand, dass er durch eine Hochzeit mit meiner älteren Schwester für den Rest seines Lebens ausgesorgt hat. Mein Vater weiß nichts von dem Schuldenberg und würde es mir auch nicht glauben. Adelaide ist bis über beide Ohren in diesen eitlen Gockel verbliebt. Er hat recht, es würde ihr das Herz brechen. Von dem Sorgerecht für die beiden Zwillinge und dem gesellschaftlichen Schaden ganz zu schweigen, den meine Schwester erdulden würde, ließe sie sich scheiden. Sie legt sehr viel wert auf das gesellschaftliche Ansehen ihrer Familie und verschließt gerne Augen und Ohren vor dem Geflüster ihrer sogenannten Freundinnen. Adelaide und ich kommen nicht gut miteinander aus, wie du dir sicherlich vorstellen kannst. Wir haben einen sehr... unterschiedliche Ansichten von einem erfüllten Leben."

      _______________________________

      Music:
      Melting Waltz - Abel Korzeniowski
      [Penny Dreadful OST]
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Eine Weile lang wogen sie sich nur zur sich verändernden Melodei des Saales.
      Erstaunlicherweise schien Nightingale brennendes Interesse für das neue Instrument, die umstehenden nannten es ein "Klavier", zu hegen. Freilich war es in den Armenvierteln von Eden Falls nicht wirklich Gang und Gäbe gewesen, dies Instrument zu spielen. Zumeist gab man sich dort mit notdürftig gefertigten Lauten oder Fiedeln zufrieden.
      Und das hier...Das war alles zu viel für den Kapitän, sodass er zumindest schlucken musste, während er Florence zielsicher im Takt der Musik durch den Raum führte. Hier und dort vollzogen sie beinahe spielerisch genau eine Drehung, nur um sich Liebendengleich wieder aneinander zu schmiegen.
      Auch Liam bemerkte ihren Atem überdeutlich und war dankbar für die verschleiernde Maske. So zumindest konnte er in ihrem Blick forschen, während sie sprach, ohne dass sie es mitbekam. Zumindest wenn er hin und wieder den Kopf drehte.
      "Es ist mitnichten eine Scharade, Ms Cartwright. Sie sind mein Crewmitglied bis zum Ende unseres gemeinsamen Abenteuers hier. Und ich schütze meine Crewmitglieder. Dies muss jedoch nicht heißen, dass ich Ihre Person mag oder gar leiden kann. Ich tue, was notwendig ist, um dies Artefakt oder was auch immer zu erhalten. Und wenn ich einem parasitären Affen den Schweiß von Eiern lecken müsste."
      Hach, welch bildhaftes Fiasko eines Vergleichs, dachte Nightingale und verdrehte über sich selbst die Augen.
      "Ihre...Verwandtschaft ist zumindest was das Benehmen angeht, mindestens genauso zweifelhaft wie Ihr Ruf, wie mir scheint", murmelte er. Wenn Sie mich fragen, sollte man Ihre Schwester aufklären über die kleinen Geheimnisse Ihres Ehemannes. Ein gebrochenes Herz vermag Menschen zu töten, der Schein jedoch vermag sie zu belügen. Und manches Mal ist eine Lüge schlimmer als ein gebrochenes Herz."
      Sprichst du aus Erfahrung, du alter Narr?, dachte er bei sich und seufzte.
      "Ich denke, Sie sollten-"
      Liam brach in der Sekunde ab und drehte Florence ruckartig herum, sodass es sie beinahe vom Boden erhob. Mit einer schwungvollen Bewegung drückte er mit seiner Hand ihre Hüfte an seine und zwang sie mit dem Einklappen seines Armes dazu, noch näher an seinen Mund heran zu gelangen.
      Mit einer fließenden Bewegung beugte er sich vor und gab ihr einen hauchzarten Kuss. Unerschütterlich dumm, dachte er bei sich und kniff die Augen zusammen. Er hatte ihren Mund nicht anvisiert, jedoch die Wange nahe ihrem Mundwinkel. Anschließend verharrte er in der Position und flüsterte.
      "Schauen Sie über meine Schulter", wisperte er in ihr Ohr. HErrgott, warum mussten Frauen so gutes Parfum nutzen? "Sehen Sie den Mann mit der eitlen Frisur und dem hässlichen Bart? Er trägt ein rotes Frack mit einer Art Amulett um den Hals. Es hat die Form eines kleinen Spiegels."
      Mit einer wiegenden Bewegung drehte er sie richtig und hoffte, dass sie ihn erblickte.
      "Da ist unser Problem", murmelte er. "Diesen Geck nennt man Castor Rabensang. Er ist einer der Himmelsritter."


      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Leichtfüßig bewegte sich Florence zu den sanften Klängen der Melodie auf ungewohnt hohen Absätzen über die Tanzfläche und zeigte sich dabei ebenso geschickt wie an Deck eines wankenden Luftschiffes. Zumindest beim gemeinsamen Tanz erweckten Nightingale und die Kartografin nicht den Eindruck sich eigentlich spinnefeind zu sein. Außenstehende beobachten eine harmonischen Paar, dass sich ganz der Verführung der Musik hingab, die die Ohren zu betören vermochte. Florence gab es nicht gerne zu, aber es war spielend leicht den subtilen Impulsen zu folgen, die Nightingale ihr gab. Eine winzige Drehung des Handgelenkes führte die Kartografin in eine elegante beinahe verspielte Drehung, die den Ballsaal in einen Wirbel aus Licht und Farben verzauberte. Ein kaum spürbarer, einseitiger Druck durch die veränderte Haltung seiner Hüfte, kündigte den Richtungswechsel an, der sie ohne hinderliches Zusammenstoßen durch ein Meer aus kunstvollen und prächtig gekleideten Tanzpaaren führte. Sie erwischte sich dabei, dass sie den Tanz tatsächlich genoss. Ein flüchtiges Lächeln zierte die vollen Lippen, als sie erneut zu einer Drehung unter seinem Arm hindurch schlüpfte.
      Florence seufzte leise, als Nightingales Stimme rau wie Sandpapier durch die zarte Melodie des Orchesters brach. Es war kein Seufzen vor Entzückung sondern eher der allgegenwärtigen Frustration. Trotzdem stahl sich ein amüsiertes Grinsen wenige Sekunden später auf ihre Lippen. Und das nicht allein über seine fragwürdige aber durchaus kreative Wortwahl. Jedoch...
      Dies muss jedoch nicht heißen, dass ich Ihre Person mag oder gar leiden kann, wiederholten sich die gesagten Worte in ihren Gedanken.
      "Wäre das wirklich so tragisch, Käpt'n?", fragte sie.
      Die folgenden Worte lösten eine Vielzahl gemischter Gefühle in der Kartografin aus.
      "Über meine Familie steht dir kein Urteil zu. Meine Eltern sind gute Menschen und meine Schwester hat sich von einer hinterlistigen Schlange täuschen lassen. Sag über mich, was du willst, Käpt'n. Ich verspreche dir, das Meiste davon habe ich bereits in den buntesten und einfallsreichsten Versionen gehört."
      Florence senkte den Blick als wären die herrlichen Stickereien über der breiten Brust gerade viel interessanter als sämtlicher Prunk des Ballsaales.
      "Sprichst du aus...?", setzte sie gleichzeitig mit Nightingale an und verstummte augenblicklich.
      Der unerwartete Ruck erstickte weitere Worte im Keim und allerspätestens als ein warmer Atem über ihre Lippen streifte, vergaß sie, was sie überhaupt sagen wollte. Florence hielt unwillkürlich den Atem an. Bereitwillig folgte ihr Körper dem kalkulierten Druck seines Armes, den sie um Haaresbreite mit Zärtlichkeit verwechselt hätte. Überall dort, wo ihre Körper sich berührten, durchströmte die verblüffte Frau eine unerwartete Wärme und der hauchzarte Stoff tat wenig, um das Gefühl einzudämmen.
      Die Verwirrung explodierte ins Unermessliche als Bartstoppeln sachte über ihre geschwungene Kieferlinie streifte und der heiße Atem sich in ein hauchzarten Kuss verwandelte. Ein paar lächerliche Millimeter fehlten und ihre Lippen hätten sich berührt. Florence' Hand auf seiner Schulter zuckte verräterisch. Was dachte er sich dabei? Dachte er überhaupt noch?
      Die Wahrheit fühlte sich an wie ein Eimer mit eiskaltem Meerwasser.
      Florence blinzelte mehrmals ehe die Bedeutung des Gesagten ihre Ohren wirklich erreichte. Zögerlich folgte die Kartografin der verlangten Anweisung und drehte den Kopf marginal in die gewünschte Richtung. Sanft und warm, wie der flüsternde Wüstenwind, streifte ihre Wange Nightingales. Durch die Beschreibung war es leicht das eigentliche Ziel zu finden.
      Der Mann zeigte sich durchaus stattlich und selbst die Gäste um ihn herum schien die Anwesenheit Respekt einzuflößen. Die mögliche Gefahr hatte sie nicht bedacht.
      "Eins Himmelritter? Hier?", wisperte Florence ebenfalls durch die eng umschlungene Haltung nah an seinem Ohr. Flüchtig streifte die Nasenspitze den rauen Bartschatten unterhalb seines Ohres. Liam verströmte den unverkennbaren Geruch von salziger Meeresluft gepaart mit der erdigen Duft kurz bevor ein Gewitter am Horizont aufzog. "Was machen wir jetzt?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Castor Rabensang war in seiner Gestalt ein durchaus beeindruckender Zeitgenosse.
      Hochgewachsen, mit breiten Schultern glich er einem Offizier oder einem Kundigen aus gutem Hause. Jedoch wusste es Liam besser. Dieser Bastard war in den guten, alten Tagen ein Schwerenöter und Räuberfürst in Gogiya gewesen. Er hatte eine Bande von 100 Männern angeführt, die das Land in Angst und Schrecken versetzt hatten. Alleine seine Fertigkeiten mit dem Schwert (weshalb man ihn "den Dreiarmigen" nannte) verhinderten eine alsbaldige Verhaftung und Hinrichtung auf dem Schafott der Hauptstadt. Noch unterhielt er sich mit irgendwelchen Adeligen über den Tand der Welt und glich doch einem farbenfrohen Glücksposten inmitten einer Schar aus Mittelmäßigkeit. Zu Liams Entsetzen baumelte sein berühmter Säbel "Alcontar" an seiner Seite. Das war nicht nur bedenklich, das war schlecht! Sehr schlecht!
      Erneut schwang er Florence herum, sodass nun er innerhalb ihrer Umschlingung einen Blick auf den Mann mit den Falkenaugen werfen konnte.
      "Eindeutig", bestätigte er. "Genug mit dem Zirkus. Ich habe keine Lust mehr, eine Maske aufrecht zu halten. Es werden jetzt zwei Dinge geschehen, Florence. Und ich bitte dich, diese aufs Kleinste auszuführen:
      1. Wir werden uns erneut küssen. Diesmal nicht so halbherzig wie vorher. Es muss echt aussehen. Noch hat Castor uns nicht entdeckt, jedoch ist ein Himmelsritter nie ohne Grund in der Stadt. Und ich vermute, das der Grund wir sind."
      Schweigsam drückte er sie an sich und wog sich im Takt der Musik, die langsamer wurde. Bald war das Lied vorbei und sie mussten hier weg.
      "Mein Gesicht kennt er, aber deines nicht. Ich kann in der Menge untertauchen, aber du...Du musst in die Küche und unsere Waffen holen. Ich suche derweil Silas und wir treffen uns in den oberen Stockwerken, weg vom Ball. Das ist der 2. Auftrag. Alles verstanden?"
      Sachte drehte er sie ein letztes Mal im Kreis und sah sie an.
      "Nur damit das klar ist: Leiden kann ich dich trotzdem nicht. Und werde es nie. Ich sage es nur, damit du nicht wieder wie angefroren stehen bleibst, wenn du einen Mann küssen musst", spottete er mit einem schrägen Grinsen.
      Alter Lügner. Aber die Zeit rannte.
      Ob leidenschaftlich oder nicht, Liam tat einen halben Schritt vorwärts und drückte die junge Frau an sich. Dieses Mal verfehlte er den Mund nicht und Spötter behaupten noch heute, er habe beim Versiegeln ihrer beiden Lippen die Augen verschlossen. Als würde er es halb genießen. Obschon Mittel zum Zweck, so schmeckte sie herrlich nach Wein und dem bitteren Geschmack der Traube. Gepaart mit dem Parfum hätte er lange in diesem Meer von Gerüchen baden können.
      Nur um sie eine Sekunde später wie ein Verliebter loszulassen und mit einer halben Drehung in den sich auflösenden Paaren zu verschwinden.
      Wo war Silas, dieser verfluchte Penner?

      Silas Trigg war kein Mann vieler Worte.
      Und Mätressen ähnelten den Dirnen der Straßen, nur dass sie wesentlich besser rochen. Während er sich bereits in das Obergeschoss mit der jungen Dame verzogen hatte, kam er nicht umhin, amüsiert einen Blick auf die Tanzfläche zu werfen. Und tatsächlich entdeckte er von der Reling aus mit beinahe amüsiertem Lächeln einen Kapitän, der mit einer Frau tanzte.
      Sieh einer an...Das letzte Mal hast du noch mit ihr getanzt, dachte sich Silas grinsend und seufzte.
      "Was ist dort interessantes", flüsterte seine Stimme verrucht an seinem Ohr, während eine Hand seinen unteren Bauch erkundete.
      Heilige Maria unter den Bäumen, es war wirklich nicht einfach, ein begehrter Junggeselle zu sein. Lächelnd drehte er sich um und drückte die Frau mit dem Pfauenhaar an sich, um seine Zunge in ihrem Mund zu versenken. Sie schmeckte nach Wein und dem Wunsch, etwas an Leben in sich zu spüren. Zumindest redete er sich das ein.
      "Nichts, Liebes", flüsterte er, nachdem er den Kuss löste. "Das einzig interessante bist du. So sag mir doch, wo...Ich meine...Du weißt schon..."
      "Wir könnten mein Gemach nehmen...", sagte sie und zupfte an seinem Mantel.
      "Etwas...verboteneres wäre diesem hier doch angemessen, oder? Ich meine...Immerhin bist du des Fürsten...", murmelte Silas und küsste sie erneut, während er seine Hand fordernd um ihren wunderbaren Hintern legte.
      Hach, die Zeit sprach wirklich gegen ihn.
      "Wir könnten auch...Das Gemach meines Fürsten...also...Wenn wir leise sind..."
      "Und schnell", flüsterte er. "Wir werden schnell sein. Ich bin ganz der Eure. Nach Euch."

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Das Versteckspiel hinter distanzierter Höflichkeit endete und die Maske fiel. Allerdings bezweifelte sie, dass es ihr Verdienst war sondern viel mehr die lauernde Bedrohung durch den anwesenden Himmelsritter. Florence verblieb keine Zeit um den Triumph über den veränderten Tonfall in seiner Stimme auszukosten da teilte Nightingale im geschäftlichen Ton sein Vorhaben mit. Notgedrungen würgte die überrumpelte Kartografin den Protest herunter und lauschte zunächst ungewöhnlich gehorsam den Ausführungen. Zu Florence' persönlichem Ärger hatte Nightingale nicht gänzlich Unrecht. Er konnte sich nicht vollkommen frei unter den Gästen bewegen ohne zu fürchten, dass der Himmelsritter sein Gesicht nicht doch im Farbenmeer aus kunterbunten Kostümierungen und edlen Kleidern erkannte. Die kunstvolle Täuschung einer Maske funktionierte lediglich solange, wie der Gegenüber sich willentlich an der Nase herumführen ließ.
      Ob sie alles verstanden hatte? Sicherlich. Obwohl sie um ihretwillen hoffte, sich verhört zu haben.
      Die allerletzten lieblichen Klänge des Walzers erfüllten den prunkvollen Ballsaal und auch Florence wirbelte in einer finalen Drehung samt wehenden Röcken herum. Die Musik verklang und die tanzende Menge applaudierte voller Begeisterung dem wahrlich talentierten Orchester. Florence nahm den anschwellenden Applaus kaum wahr und sah nach gefühlten Ewigkeiten des innigen Tanzes wieder in NIghtingales Gesicht, als er sie zurück an seine Brust zog. Augenblicklich glitt die zierliche Hand von seiner Schulter und drückte sich protestierend gegen den starken Knochen seines Brustbeines.
      "Natürlich hab' ich verstanden.", murmelte sie gerade laut genug über den Applaus hinweg.
      Die spöttischen Worte erreichten kaum ihr Gehör, das sich verdächtig danach anfühlte, als hätte eine unsichtbare Hand ihr Watte in die Ohren gestopft. Aller Sticheleien zum Trotz, entzog sich diese Situation unangenehm ihrer Kontrolle. Die Finger über seiner Brust krümmten und streckten sich unruhig, als wollten sie den Piraten davon stoßen und gleichzeitig näher heranziehen. Ein seltsamer Funken von Unsicherheit schlich sich in die mit zartem Goldstaub umrahmten Augen während das Licht des silbernen Kronleuchters über den Köpfen der Maskierten sich in den tiefscharzen, geweiteten Pupillen spiegelte wie das Abbild eines einzigen, hellen Sternes.
      "Warte."
      Der geflüsterte Einspruch verlor sich zwischen verklingenden Melodien und einem chaotischen Stimmengewirr, als Liam die scheinbar bedeutungslose Distanz überbrückte und einen Kuss stahl. Seine Lippen drückten sich unnachgiebig und dennoch unverhofft sanft auf ihren Mund. Florence vergrub die Fingerspitzen in den goldenen Stickereien der teuren Weste ehe sie die Finger abspreizte und mit der Hand über seine Brust empor bis hinein in den Nacken fuhr. Für eine Sekunde rührte Florence sich nicht ehe sie sich leichtfüßig auf den Fußballen hochdrückte und Liam schlussendlich entgegen kam. Ganz von allein sanken die Augenlider.
      Es war kein Kuss, der die Welt auf den Kopf stellte und das Universum aus den Angeln hob.
      Dahinter glühte kein verzweifeltes Verlangen und keine alles verzehrende Leidenschaft. Er war weder besonders tief noch aufregend. Beinahe unschuldig im Vergleich zu allem, was sie mit Silas geteilt hatte, und lediglich ein zarten Spiel ihrer Lippen. Und doch fühlte es sich nach so viel mehr an, als jedes leidenschaftliche Abenteuer der letzten zwei Jahre. Es war beinahe zu viel. Zu vertraut. Kein Mann hatte es gewagt sie zu küssen seit Theo und sie hatte es peinlichst vermieden.
      Liam löste sich und verschwand ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Zurück blieb Florence zwischen sich neu arrangierenden Tanzpaaren und der Frage, wie ein Kuss im Mittelpunkt des Ballsaals um Himmelswillen einen gefürchteten Himmelsritter ablenken sollte.

      Florence wartete geduldig.
      Mit jeder verstreichenden Minute allerdings schlich sich ein ungutes Gefühl durch die Eingeweide. Bisher hatte sich niemand in den 2. Stock verirrt, aber es war nur eine Frage der Zeit bis der Kartografin das Glück abhanden kam. Der Weg in die Küchen war leicht gefunden. Dazu hatte die junge Frau lediglich der Nase und den köstlichen Düften folgen müssen. Und wie der Zufall es so wollte, war ihr in den Fluren der Bediensteten ein hilfreicher Bursche entgegen gekommen. Die Küchenhilfe hatte sich während des vergnüglichen Tanzes bereits auf die Suche nach der Cartwirght-Erbin gemacht. Der Rest war ein Kinderspiel gewesen. Der Vorteil kundige Bedienstete zu kennen, lag auf der Hand: Sie kannten die unauffälligsten Wege durch das Haus ihrer Arbeitgeber. Jetzt lehnte die Kartografin versteckt in einer Nische hinter einer dekorativen, in sich gedrehten Steinsäule im Verborgenen und wartete.
      Gedankenverloren fuhr sie mit der Fingerkuppe des Daumens über den Schwung ihrer Unterlippe und verzog verstimmt das Gesicht, als sie sich dabei erwischte. Dieser dreiste, anmaßende, ungehobelte,...
      Vorsichtig spähte sie um die Steinsäule herum und hatte das Gefühl nur halb so unauffällig zu sein wie sie es gern wäre. Das Gewicht der Gegenstände in ihrem Arm wurde von Minute zu Minute schwerer. Es war erstaunlich welches Gewicht ein stattliches Schwert auf die Waage brachte, von Silas Revolver und einer unverschämten Anzahl an Messern völlig abgesehen. Es war ein Wunder, dass nicht davon bereits scheppernd und lautstark zu Boden gefallen war. Die mahnenden Worte von Nightingale hallten in ihrer Erinnerung wieder. Nein, sie wollte wenn möglich alle Finger behalten.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”