The Legend of Starfall [Winterhauch & Nico]

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    • Konnte diese Frau noch dreister werden?
      Erst drang sie ohne Erlaubnis in seine Kemenate, seine geheiligten Räumlichkeiten, ein und grapschte anschließend auch noch mit ihren fleischigen Fettfingern auf seinen größten Schatz. Um sich dann auch noch aufzuführen, als gehörte dieses verfluchte Schiff ihr!!
      Liam konnte nicht ermessen, welche Wellen der Wut diese junge Frau, so gut sie auch aussehen mochte, in ihm hervorrief und so war es ihm ein schwerstes Unterfangen, die Ader auf seiner Stirn am Pochen zu hindern, während seine Hand mit dem Schwert zitterte.
      "Es. Ist. Mein. Ernst.", presste er zwischen den Zähnen hervor und wirkte mehr wie ein Raubtier als ein Mensch. Und diese verfluchte Kartografin ging sogar noch den Schritt weiter.
      Mit großen, verständnislosen Augen blickte LIam sie ohne ein Blinzeln an, als sie einfach mir nichts, dir nichts an seinem prächtigen Schwert vorbei ging. Selbst ohne Alkohol im Blut reichte der Anblick des Himmelszahns aus, um Ehrfurcht zu sähen, aber es zeigte ihm einmal mehr, wie ungebildet und ungehobelt diese Frau war. Nicht einmal das Summen der Klinge schien sie zu bemerken, während sie eine - natürlich viel zu kühle - Hand auf seinen Unterarm legte und ihn mit einem Schwall von Worten regelrecht erschlug.
      Es brauchte eine ganze Weile, bis er ihrem Genuschel folgen konnte, war doch der Rum kein guter Vater von Geschichten,. Zumindest bei ihr nicht.
      "Stock aus dem...", murmelte er und konnte anschließend nicht mehr. Noch während sie ihn in Richtung des Kartentisches zog, riss er die Linke Hand aus ihrem Griff heraus und schwang das Schwert wütend an die eigene Wand. Mit einem sachten Summen rissen die Büchrücken einer nach dem Anderen auf, sodass es Chimp zum Weinen gebracht hätte und Liam blickte sie mit zornigem, flammenden Blick an,.
      "Für wen zum Teufel hältst du dich eigentlich?", knurrte er und holte Luft, um weitere Beleidigungen auszusprechen, ehe sie ihn mit einem erneuten Schwall von Worten regelrecht an die Wand redete.
      Und zwischen den ganzen unnützen Informationen (und einem baldigen Todesurteil für seinen Vize und seinen Kanonier) entdeckte er doch etqwas, was er nicht gewusst hatte.
      Knurrend und geifernd funktionierte der Luftbereich zwischen seinen Ohren nicht recht, sodass er nicht einmal merkte, dass er beinahe Schaum vor dem Mund bekam, als sie den Finger nutzte um seine Sicht zu korrigeren und auf die Karte zu lenken.
      Die Karte.
      Sein Schatz. Das Einzige, was ihm von Ainsworth geblieben war. Außer dieser impertinenten Frau, die ihm ständig seine Autorität untergrub. Gott, er würde sie am Mast aufhängen, wenn sie nichts...
      "Rätsel?", murmelte er erstaunt und riss ihr regelrecht die Karte aus der Hand.
      Krachend fiel das Schwert zu Boden und wie ein Unkundiger tat Liam es Florence gleich und hielt die Karte ins Mondlicht. Und bei den gottverdammten Göttern und fauligen Klöten von Herzögen: Wahrlich war es Regenbogenperlmutt. Mondsilber. Dass er nie selbst darauf gekommen war. Aber wann hielt man schon im Sommer des Nachts eine Karte ins Mondlicht. Ainsworth war ja für Rätsel bekannt, aber derartig verstecktes?
      Genervt verdrehte Liam die Augen und musste eingestehen, dass Florence zumindest einen neuen Hinweis entdeckt hatte, weshalb er seine Mordpläne zunächst beiseite schob.
      "Und was sagt uns das, du Genie? Die Wege führen nach Wesyn?"

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    • Bereitwillig ließ Florence die Karte los, die Nightingale hütete wie einen wertvollen Schatz.
      Für den Augenblick schien die Wut verloschen und während der grimmige Käpt'n das alte Pergament ins Mondlicht hielt, glitt ihr Blick mit sichtlicher Verwunderung durch die Kapitänskajüte. Der zornige Ausbruch hatte ein Bild der Verwüstung hinterlassen und Florence sah mitleidig auf die zerfetzten Buchrücken, die ein brachialer Schwerthieb zierte. Die Erkenntnis schlich sich in das vom Rum vernebelte Gehirn, dass sie es dieses Mal eventuell ein wenig übertrieben hatte. Die respektlose Provokation und die unbedachten Berührungen obwohl er bereits vor Wut schäumte, waren nicht die cleverste Idee gewesen. Wie Nightingale sie ansah, traf es nicht ganz zu, dass er sie einfach nur nicht ausstehen konnte. Dieser Mann hasste sie.
      Die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen gepresst, verschränkte die Kartografin die Arme und trat tatsächlich einen vorsichtigen Schritt von Nightingale zurück. Achtsam stieg sie dabei über die schimmernde Schwertklinge, wohl mit dem verspäteten Wissen, dass die Klinge spielend leicht nicht nur durch Buchrücken sondern auch durch Haut glitt, und blickte nach draußen in die vom Vollmond erhellte Nacht.
      Florence fragte sich zum wiederholten Male, welche Verbindung Nightingale zu ihrem verstorbenen Großvater hatte. Der schwermütige Gedanke drängte sich auf, ob der jähzornige Mann überhaupt wusste, dass Cornelius Ainsworth vor einiger Zeit friedlich umgeben von seiner Familie gestorben war. Nachdenklich tippte sich die junge Frau mit dem Zeigefinger an die Lippen. Ein genervtes Brummen weckte die Kartografin aus der grüblerischen Trance. Ruhiger und bedächtiger als zuvor, formulierte Florence ihre Antwort.
      "Das bedeutet, dass in der Karte eine versteckte Botschaft verborgen ist.", erwiderte sie. "Und ich vermute, dass diese Nachricht dir sagen wird, an welchem Ort du mir deiner Suche beginnen musst. Großvater Cornelius hat den Stein von Ardashir nie erwähnt. Nicht eine Silbe. Bedauerlicherweise hätten die Meisten ihn dafür sicherlich als alten, verrückten Kauz abgestempelt. Mir hätte er es doch sagen können."
      Mit einem missmutigen Seufzen verbarg Florence nur schwerlich die Enttäuschung darüber. Jemandem wie Nightingale hatte er Wissen dazu hinterlassen, wenn auch gut getarnt, aber seiner eigenen Enkelin nicht. Dazu begann ihr Schädel vom billigen Rum unangenehm zu pochen. Linderung versprach das kühle Glas der Fensterscheibe. Behutsam lehnte sie seitlich den Kopf daran und ließ die Kälte den lästigen Puls in ihrer Schläfe beruhigen. Dabei sah sie Nightingale ununterbrochen an, während das Mondlicht sanft auf ihre Gesichtszüge fiel.
      "Was du brauchst, ist das richtige Werkzeug. Mein Großvater hatte diese Feder...", erzählte Florence. "Keine wirkliche Schreibfeder im ursprünglichen Sinne. Sie hatte eine Legierung aus Mondsilber und glänzte in den hübschesten Facetten. Als kleines Mädchen war ich ganz fasziniert davon. Die Partikel von Regenbogenperlmutt reagieren aufeinander wie schwache Magnete. Einmal in Bewegung versetzt, offenbaren sie die versteckten Linien in einem entsprechend bearbeiteten Dokument. Unter der eigentlich Karte, könnte sich alles Mögliche verbergen. Die Technik dafür ist äußerst aufwendig. Und teuer."
      Die Kartografin schloss die Augen.
      "Er muss viel von dir gehalten haben."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Liam Nightingale war kein besonders geduldiger Mann, das ließ sich aus seinen Handhaben erahnen.
      Immer noch auf die Karte starrend, fiel ihm eine braune Haarsträhne ins Gesicht, die er genervt zur Seite pustete. Eine Angewohnheit, die er bereits als Schiffsjunge auf dem Kahn ihres Großvaters gehabt hatte. Noch schlechter war der Kapitän mit Worten. Statt eines gelungenen Satzes brabbelte er die Worte der Kartografin vereinzelt nach, während er die Karte drehte und wendete. Vielleicht gab es ja mehr hinter der Fassade aus Mondsilbertinte oder nervigen Frauen, die meinten, die Welt gehöre ihnen?
      "Botschaft, hm hm...", murmelte er und schrägte die Karte an. Anschließend nahm er mal mehr, mal weniger Abstand und hielt sie sich auch einmal kurz und gerade vor das Auge, um vielleicht noch Schimmerreste zu sehen.
      Erst nach einer Weile ließ er das Pergament sinken.
      Schwungvoll wandte der Mann sich um und zog an Florence vorbei, um die Karte wieder unter Licht und auf den Tisch zu legen. Schlagartig verschwand das mysteriöse Glitzern aus den geschwungenen Buchstaben und Malereien.
      "Er hat den Stein nie erwähnt...", murmelte Liam und grinste schräg, sodass Florence es nicht sehen konnte. "Einen verrückten alten Kauz...Es ist schon komisch, nicht wahr?"
      Ruckartig drehte er sich erneut um und sammelte sein Schwert vom Boden auf. In der Luft lag eine merkwürdige Spannung, die man auf die Wut des Kapitäns schieben konnte, der das summende Schwert in die zugehörige Scheide schob.
      "Man hätte ihn so bezeichnet, obwohl dieser Mann alles andere gewesen ist", bemerkte Nightingale und seine Stimme veränderte sich ein wenig. Wurde wärmer, beinahe angenehm im Gegensatz zu dem stetigen Brüllen. "Cornelius hat den Stein ebenso gesucht wie ich heute. Zumindest glaube ich das. Und weshalb sollte er dir etwas davon sagen? Du glaubst selbst nicht einmal an den Mythos, weshalb würdest du also losziehen? Um einem Mythos hinterher zu jagen? Ich hörte vorhin, wie du es zu Hurley sagtest."
      Ein kurzes Kichern entlockte sich seinem Hals.
      "Ich kenne die Feder", nickte er. "Leider hat er sie damals mit sich genommen und ich weiß nicht wo sie ist. Aber vielleicht gibt es etwas, was er konstruiert hat und das in der Nähe liegt. Ich meine...Ich erinnere mich, dass der Alte immer an etwas geschraubt hat, bis es entweder tauchen oder..."
      Eine Sekunde lang weiteten sich seine Augen, ehe ihm der Mund aufklappte.
      "Oder es fliegen konnte. Wo ist deine verfluchte Eule?!", donnerte er und sah Florence an. "Du wei0t, dieses nervige Ding was die ganze Zeit versucht, Manieren in meine Mannschaft zu prügeln? Wo ist der Flattermann?!"

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    • Zu Florence' Leidwesen ergab Nightingale Vermutung zweifellos Sinn.
      Der Stein von Ardashir war ein hübsche Geschichte für Träumer gewesen, zumindest für die Kartografin. Sie hatte, nein, liebte immer noch die Erinnerungen an die allabendlichen Märchenstunden, in denen Theo und sie mit großen Kinderaugen und offenen Mündern umgeben von gemütlichen Kerzenlicht an den Lippen des alten Seebären gehangen hatten. Florence wurde erwachsen und behielt die spannenden Abenteuer und mystischen Sagen eben genau als das im Gedächtnis, als unterhaltsame Kindermärchen. An den geliebten Großvater zu denken, weckte jeden Mal aufs Neue eine gewisse Schwere in ihrem Herzen. Cornelius hatte die junge Frau als Einziger wirklich verstanden, und ihren Sinn für Abenteuer. Ein wenig davon war mit der Zeit verloren gegangen, denn sie lebte verantwortungsbewusst für ihre Berufung, die ihr einen Funken der Freiheit und Unabhängigkeit schenkte.
      "Versteh mich nicht falsch.", antwortete sie seufzend. "Ich habe ihn nie für verrückt oder leichtsinnig gehalten, aber der Rest meiner Familie. Selbst seine eigene Tochter ermahnte ihn stets uns Kindern keine Flausen in den Kopf zu setzen. Ich zweifle nicht daran, dass sie es an seinem Sterbebett aufrichtig bereut hat."
      Überrascht schlug Florence die Augen auf und sah Nightingale ein weiteres Mal an.
      "Du hörst also doch zu.", schmunzelte die Kartografin und reckte das Kinn über die Schulter, um zu verfolgen wie er die Karte zurück an ihren rechtmäßigen Platz brachte. Die donnernde Stimme erhob sich und dieses Mal zuckte Florence sogar überrascht zusammen. Die Zahnräder hinter der Stirn arbeiteten eine beschämte Sekunde zu lange, ehe sie sich schwungvoll vom Fenster abstieß und Nightingale einfach verblüfft anstarrte.
      "Du glaubst doch nicht...", stammelte Florence ehe sie ebenso eilig auf den Absatz kehrt machte und hastig nach der Verriegelung eines der zahlreichen Sprossenfenster suchte. Sie verlor kein Wort und zischte vor Ungeduld, als er sperrige Riegel endlich zur Seite glitt.
      Die Kartografin erhob sich auf die Zehenspitzen, die Hände auf den geöffneten Fensterrahmen gelegt während der Flügel geöffnet nach Außen schwang. Florence beugte sich in die wohltuende Kühle der Nachtluft, die ihr Gesicht streifte und legte zwei Finger zu einem schrillen Pfiff an die Lippen. Es war kein eintöniger, langgezogener Ton sondern ein beinahe melodisches Pfeifen aus verschiedensten Höhen und Tiefen.
      Archimedes hörte niemand kommen.
      Wie seine Artgenossen aus Fleisch und Blut glitt die mechanische Eule vollkommen lautlos durch den nächtlichen Himmel um dem Ruf der Enkelin seines Konstrukteurs zu folgen. Bevor Florence ihren metallischen Begleiter erblickte, hörte sie zwar nicht das elegante Schlagen der majestätischen Schwingen sondern die sonore Stimme des Eulerichs.
      "Ach du liebe Güte, Miss Cartwright! Die Anwesenheit in der Kapitänskajüte zu dieser späten Stunde ziemt sich nicht für ein edlen Fräulein.", ertönte es im fahlen Mondlicht ehe Archimedes schimmernd in ihrem Sichtfeld auftauchte.
      Mit überraschender Eleganz glitt die Eule durch die seichten Winde und landete zu Florence Überraschung nicht mit der erwarteten Bruchlandung auf ihrem ausgestreckten Unterarm. An die spitzen Krallen hatte sie sich schon vor Jahren gewöhnt und Archimedes mochte ein zweifelhaftes Talent für seine Ungeschicktheit haben, aber er hatte der Frau nie auch nur einen Kratzer zugefügt.
      "Miss, ich muss wiederholt betonen, dass es sich für eine junge Dame nicht schickt...", meckerte Archimedes los und Florence heilt ihm tatsächlich mit zwei Fingern den Schnabel zu.
      "Archie, wir brauchen deine Hilfe.", verkündete Florence.
      "Stets zu Diensten, Miss.", erklang es gedämpft, da sie immer noch den spitzen Schnabel zwischen den Fingern hielt.
      Mit Archimedes auf dem Arm kehrte Florence zu Nightingale zurück und ließ den metallischen Greifvogel auf den Kartentisch hüpfen. Freilich wog Archie ein wenig mehr als seine lebendigen Verwandten woraufhin der Tisch etwas erzitterte.
      "Hör zu, Archie. Siehst du diese Karte? Großvater Cornelius hat sie angefertigt und wir glauben, dass sich in dem Pergament eine geheime Botschaft verbirgt. Dürften wir uns eine deiner Federn ausleihen?", bat sie ungewohnt zurückhaltend.
      Die filigranen Zahnrädchen klickten unter einem dampfenden Zischen als die stattliche Eule den Kopf erst nach links, dann nach recht drehte und schließlich das Antlitz um 180 Grad auf den Kopf stellte.
      "Für Sie, meine Teuerste, würde ich auch alle meine Federn opfern.", schnarrte er.
      Gehorsam streckte der Blechvogel eine der grazilen Schwingen aus und mit größer Sorgfalt wählte Florence eine der hübschen Schwungfedern aus, die sie mit aller Vorsicht aus der Flügelkonstruktion drehte. Lächelnd betrachtete sie die glänzende Feder, die nicht so weich war wie eine Echte aber nicht minder schön anzusehen. Mit eben diesem Lächeln sah sie schließlich Nightingale an, die Feindschaft für einen Augenblick lang vergessend.
      "Käpt'n.", sagte sie schlicht und bot ihm auffordernd die Feder an.
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    • Sterbe...?
      Für einen Moment hielt Liam inne und blickte starr in den Raum hinein, während Florence das Fenster zum Heck aufriss. Konnte das der Grund sein, weshalb er so lange nichts von Cornelius gehört hatte? Seine Briefe unbeantwortet blieben, trotz mannigfaltiger Versuche, in Kontakt zu treten. Ja einmal war er sogar bis vor die Tore Wesyns gesegelt und hatte gewartet, nachdem er eine Nachricht gesendet hatte. Aber niemand war gekommen. Er hatte angenommen, dass Cornelius...
      Nightingale schluckte und blinzelte, ehe er seine Strähne aus dem Gesicht pustete und zusah, wie der kleine, mechanische Vogel durch die Nachtluft rauschte und mit erstaunlicher Eleganz auf Florences Arm landete.
      Es war schon erstaunlich, dass es ihm vorher nie aufgefallen war. Diese ganzen, filigranen Federn, zusammengehalten mit präzisen und feinen Mechanismen. Es musste unzählige Stunden der Fertigung gebraucht haben, um diese Eule zusammen zu setzen. Geschweige denn die Tatsache, dass sie offenbar noch von einem Bewusstsein durchdrungen war. Liam war nie ein Freund von Magie oder dergleichen gewesen, aber er teilte Cornelius' Leidenschaft zu neuen Techniken. Und wie oft hatte er um eine Anleitung gebeten. Eine Art Unterrichtsstunde. Und nie war sie ihm vergönnt gewesen. Stets hatte er den jungen, kleinen Schiffsjungen William wieder an Deck geschickt um Planken zu säubern.
      Noch während die Eule sprach und vor sich hin gackerte und schnarrte, verdaute er den letzten Gedanken und fing sich erneut wieder. An Stelle der überraschten, beinahe betroffenen Miene trat wieder das harte, unbarmherzige Gesicht des Kapitäns als er näher kam und die kleine Eule ansah.
      Just in dem Moment, als die Eule schwor, jede Feder zu opfern und die Schicklichkeit dieses Unterfangens in Frage stellte.
      "Mach dir keine Sorgen, Flattermann", murmelte Liam und kam näher. "Ich würde deine Herrin nicht mal begehren, wenn sie die letzte Frau auf diesem vermaledeiten Planeten wäre. Also...Die Feder!"
      Neugierig sah er zu, wie Florence mit zarter und geschickter Hand eine Feder aus dem Flügel der Eule drehte und sie ihm anschließend präsentierte.
      "Auf einmal beherrschst du Respekt?", fragte er und nicht unverhohlen glänzte der Sarkasmus durch die Stimme, als er die Feder in die Hand nahm und sie nahe an die Karte bewegte.
      Nun würde sich zeigen, was die Karte offenbarte...

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    • "Flattermann? Ein wenig mehr Respekt wenn ich bitten darf, junger Mann!", schnarrte Archimedes. "Und ich verbitte mir, dass Sie geringschätzig über Miss Cartwright sprechen. Das Fräulein ist ohnehin zu gut für einen Halunken wie Sie einer sind. Mit allem gebührenden Respekt, Kapitän Nightingale."
      Florence verbarg das amüsierte Grinsen über den Versuch den starrköpfigen Kapitän einer Belehrung zu unterziehen. Der zänkische Wortwechsel zwischen Eule und Schiffskapitän besaß durchaus Unterhaltungspotential und Archimedes verbesserte die irrwitzige Situation nicht, in dem er sich beleidigt aufplusterte um etwas an Größe zu gewinnen. Empört klapperte die Metalleule mit dem scharfkantigen Schnabel, als wollte sie Nightingale um einen seiner Finger erleichtert. Wahrscheinlich war der Gedanke gar nicht so abwegig, sollte Nightingale jemals versuchen auch nur den kleinen Finger nach Florence auszustrecken. Der Beschützerinstinkt der Eule war überaus liebenswert sorgte aber im Augenblick viel mehr für die Erheiterung der Kartografin.
      "Vorsicht, Nightingale. Lass mich nicht bereuen, dass ich mich auf meine gute Erziehung besinne.", scherzte Florence unbeirrt. "Meinetwegen können wir uns gleich wieder nach Herzenslust angiften, vorzugsweise ohne eine Schwertklinge damit das Feld ausgeglichener ist."
      Dabei verbarg sich hinter all dem Schneid, den Florence aufbrachte, ein wenig Verärgerung über die schwelende Wut des Piraten. Möglicherweise mische sich sogar ein Quäntchen der Enttäuschung unter all den Ärger. Nun, da sie den Entschluss gefasst hatte, wenigstens für den Augenblick die feindseligen Sticheleien in den Hintergrund zu schieben, spielte Nightingale nicht mit. Wenn Florence ehrlich zu sich selbst war, hatte sie auch kaum ein anderes Verhalten erwartet. Obwohl sie daran sicherlich nicht ganz unschuldig war. Ein aufrichtiges Wort des Dankes für ihre Hilfe wäre dennoch ein netter Zug gewesen, wo sie doch Leib und Leben riskiert hatte um den Kanonier Hurley nicht den mordlustigen Wachen der Fürstin zu überlassen. Ganz davon abgesehen, dass sie sein heißgeliebtes Luftschiff unversehrt durch eine Todesfalle navigiert hatte.
      Florence richtete den Blick auf die kunstfertige Feder in der Hand des Kapitäns und besann sich darauf, dass es gerade Wichtigeres zu erledigen galt. Mit leisen Schritten umrundete sie den Kartentisch um gegenüber von Nightingale Stellung zu beziehen. Mit angespannter Neugierde beobachtete sie die wohlgehütete Seekarte und hielt unwillkürlich den Atem an als zunächst nichts passierte.
      "Da...", murmelte sie und beugte sich ein wenig über den Tisch um besser sehen zu können.
      Unter der geführten Feder begannen langsam die kunstvollen Skizzen von Fabelwesen und Schmuckelementen zu verschwimmen. Die bezaubernde Sirene auf ihrem Felsen schien sich zu bewegen während das Haar für eine Sekunde im nicht vorhandenen Wind zu flattern begann. Die Windungen der Seeschlage zuckten unter dem Federkiel und ein flüchtiges Blinzeln später, hatten die Verzierungen jede Form verloren. Eine neblige Wolke aus dunkler Tinte folgte der Eulenfeder über das Pergament.
      Plötzlich zuckte Florence' Hand nach vorn um die Bewegung Nightingales zu unterbrechen. Kurz bevor ihre Fingerspitzen seinen Handrücken streiften, zögerte die Kartografin und zog die Hand wieder zurück.
      "Warte. Nicht bewegen.", sprach sie ruhig.
      Und während Nightingale still hielt, formte sich die Tinte zu schmucklosen Linien und diese wiederum bildeten schlichte Buchstaben, die sich zu Wörtern aufreihten. Erkenntnis blitzte in den rehbraunen Augen auf.
      "Ich glaube nicht, dass ich das wirklich sage, aber du hattest anscheinend Recht. Alle Wege führen nach Wesyn.", flüsterte Florence mit einem rätselhaften Grinsen und überflog die Zeilen, die sich in der schnörkellosen Handschrift von Cornelius Ainsworth gebildet hatten:

      Die Königin aus Stein
      thront dort am Fels allein,
      ihr Klagelied im Wind,
      hallt durch ihr Labyrinth.
      Die Königin aus Stein
      thront dort am Fels allein,
      die Welt steht still und lauscht,
      wenn sie es will!
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Dämliche Eule.
      Verflucht dämliche Eule. Noch während dieses Mistvieh (konnte man es eigentlich Vieh nennen?) nach seinem Finger zu schnappen suchte, zog Nightingale die Seinen eilig aus dem Weg. Das Gesagte der Eule war nicht wirklich verwunderlich, zeigte der Eulerich durchaus einen erwarteten Beschützerinstinkt dieser Kartografin gegenüber. Mit Sicherheit war sie nicht halb so verwöhnt wie Liam gedacht hatte, jedoch immer noch verweichlicht, wenn man sie im Gegenlicht der Öllampen auf seinem Tisch betrachtete.
      "Zu gut...", murmelte er und schüttelte den Kopf. "Wenn du das meinst, Flattermann."
      Eine gewisse Spitze konnte er sich nicht verkneifen, denn auch wenn Florences Wissen über ihren Großvater wertvoll und richtig war, so änderte es nichts an der Tatsache, dass der Kapitän sie einfach nicht leiden konnte. Sie und ihre verflucht von sich selbst eingenommene Art und Weise. Darüber konnte auch ein hübscher Hintern nicht hinwegtäuschen. Für die Nacht wäre sie wohl eine willkommene Abwechslung, aber wenn es um die Befehlskette ging...
      Und warum dachte er darüber nach, während er sich auf die Feder konzentrierte?
      Sachte schwebte die Feder über die Karte und ganz langsam begann sich etwas zu tun. Er dankte den Himmeln, dass Florence ihre Hand wieder zurück zog und sich auf den Hinweis besann. Er mochte es nicht, wenn ihn Menschen berührten. Es fühlte sich jedes Mal an wie ein Reibeisen auf seiner Haut.
      Als sich die Tintenflecken zu Buchstaben kräuselten und der Wüstenwind am Holz zerrte, blickte Nightingale zu den Buchstaben hinab und seufzte schwer. Nie hatte er gehofft, sich zu irren. Er wollte nicht nach Wesyn. Nicht nach...
      "Offenbar...", murmelte er schwermütig und ließ die Feder fallen. "Es spielt eindeutig auf die Felsformation an. Die Steinkönigin von Wesyn. Verdammter Affendreck..."
      Achtlos drehte er sich um und ging in Richtung des großen Fensters. Er musste nachdenken. Liam musste begreifen was geschehen war und akzeptieren, dass sein Idol, sein Meister...Sein Freund!...verstorben war und offenbar bereits begraben, wenn er die Worte der jungen Frau richtig deutete.
      Erst nach einer kurzen Weile atmete er durch und drehte sich um, um erneut achtlos an ihr vorbei zu ziehen.
      Mit einem Schwung riss er die dünne Holztür auf und wanderte zur Reling, von wo aus das Fest noch immer in vollem Gange war. Mittlerweile ertönte sogar Musik von unten.
      "AUFWACHEN IHR KIELRATTEN!"; donnerte er über die Ebene. "GENUG DES SCHMAUSENS UND TRINKENS! LAGER BEFÜLLEN WER ES NOCH KANN UND FLUGFÄHIG MACHEN! BEI SONNENAUFGANG FLIEGEN WIR NACH WESTEN!"
      Schweigsam wandte er sich ab und erinnerte sich an das Leck im Kessel.
      "Arnaud!"; rief er erneut herunter, ehe er ein "oui?" hörte. "Zu mir. Wir haben zu tun!"
      Nachdem er alle Befehle gebellt hatte, ging er zurück in die Kajüte, wo die nervige Kartografin noch immer verweilte.
      "Zwei Dinge", kommandierte er. "Punkt 1: Du bist kein Mitglied dieser Crew. Und dennoch wirst du auf meine Befehle hören, ist das klar? Keine Alleingänge mehr! Punkt 2: Denkst du, du kannst deine arrogante Art für ein paar Stunden ausschalten und einen Kurs nach Wesyn suchen? Ich muss in den Kesselraum."
      Er wartete nur kurz auf eine Antwort ehe er sich auf der Ferse herum drehte und zur Tür stapfte, das Wams bereits wieder entkleidend. Als er an der Tür stand und das Wams achtlos in die Ecke warf, drehte er sich nochmals halb herum.
      "Cornelius...", begann er. "Starb er friedlich?"

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    • Die Steinkönigin von Wesyn war kein gewöhnliches Monument.
      Der erste Fürst Wesyns ließ einst zu Ehren seines verstorbenen Eheweibs ein kunstvolles Gewölbe in die atemberaubende Felsformation schlagen, das heutigen Herrschern des Fürstentums als Residenz diente. Jeder in Wesyn kannte die Geschichte seit dem Kindesalter.
      "Kein Zweifel, was Großvater Cornelius beschreibt, muss die Steinkönigin sein.", stimmte Florence ohne Widerworte zu. "Der geschichtlichen Überlieferung nach, hat der erste Fürst Wesyns nicht nur das Gewölbe am Fuße errichten lassen sondern auch seine Geliebte auf dem höchsten Punkt zur Grabe gelegt damit sie von dort aus den blauen Ozean überblicken und über das Fürstentum wachen konnte. Der Fürst war untröstlich über den Verlust seiner Frau, dass er über Jahrzehnte jegliche Form von Musik in ganz Wesyn verbot. Eines schicksalshaften Tages soll ein eigentümliches Lied in der Stadt zu hören gewesen sein. Ein wehmütiger Klang, der das Herz des Fürsten erweichte, als er begriff, dass die lieblichen Töne aus dem Gewölbe erklangen. Er glaubte an eine Botschaft seiner Liebsten und beendete die Jahrzehnte der Trauer. Heute weiß jeder, dass die labyrinthartig angelegten Straßen Wesyns und Durchlässe im Fels dafür verantwortlich sind. Steht der Wind günstig, hör es sich an als singe der Felsen."
      Mit verträumten Blick verfolgte Florence den Schwung der Wörter, doch als sie geendet hatte und aufsah, war Nightingale bereits ohne Ankündigung aus der Kajüte verschwunden. Die Mundwinkel der Kartografin verzogen sich missmutig nach unten.
      "Überaus unhöflich, wenn Sie mich fragen, Miss.", schnarrte Archimedes und hüpfte mit klickenden, scharfen Krallen über den Kartentisch, um seine Feder mit dem Schnabel aufzupicken.
      "Dich hat aber niemand gefragt, Archie.", murmelte Florence und schickte sich an das Chaos aus unzähligen Karten und Pergamentrollen zu beseitigen, dass sie bei ihrer hektischen Suche verursacht hatte. Mit jeder Sekunde ohne den verhängnisvollen Rum klärte sich der Verstand ein wenig mehr. Mit behutsamen Fingern hob sie die Karte ihres Großvaters auf und in ihrem Blick lag ein Schimmer der Trauer. Erst als Nightingale mit schweren Schritten zurückkam, rollte sie das Papier vorsichtig zusammen und verstaute es in einer schützenden Hülle aus gegerbtem Leder. Geräuschvoll schloss sie die angelaufene Silberschnalle und platzierte das kostbare Gut zentral auf dem Tisch.
      Neben Florence hatte Archimedes den Kopf unter das silbrige Gefieder gesteckt und drehte eigenhändig, pardon, mit dem eigenen Schnabel die fehlende Feder in das dafür vorgesehene Gewinde.
      Nightingale kehrte zurück und Florence bemühte sich um ein neutrales Lächeln. Die Antwort kostete die Kartografin, sehr zur eigenen Überraschung kaum Überwindung. Sie nickte.
      "Das sollte kein allzu großes Problem sein. Bis Sonnenaufgang bin ich fertig.", antwortete sie knapp, da sie kaum erwartete, dass der Pirat sich zu einem Plausch hinreißen ließ. Was sie sichtlich verwunderte, war die zögerliche Frage des Mannes, der gewöhnlich mit donnernder Stimme jeden Raum für sich einnahm. Silas hatte bereits durchblicken lassen, dass Nightingale während seiner Jahre auf der Revenge zu dem älteren Mann aufgesehen hatte. Und wenn er eine Karte wie diese besaß, musste Cornelius Ainsworth etwas in dem Jungen gesehen haben, dass dieser vermutlich selbst noch nicht ahnte.
      "Ja.", flüsterte Florence gerade laut genug und berührte andächtig das Leder der Kartenhülle. "Im Kreise seiner Familie und friedlich in seinem eigenen Bett. Es tut mir leid, Liam."
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    • Liam Nightingale war kein gefühlsduseliger Mann.
      Wenn man es genau betrachtete, konnte man ihm eher vorwerfen, zu wenig denn zu viel zu empfinden. Und doch erinnerte sich in den Sekunden, als Florence ihm das Ende seines Lehrmeisters mitteilte, an eine Stimme im Dunkeln, die er lange nicht mehr gehört hatte. Ein tiefes, freundliches Knurren, ein Grummeln vielleicht sogar. Und ein Mann im Gegenlicht der Sonne, der einem verlotterten Burschen ein Stück Brot reichte.
      Nightingale nickte gehörig und drehte sich wieder von ihr fort, den Blick in die Nacht gerichtet und das Licht der Sterne Willkommen heißend.
      "Das ist gut", sagte er mit rauer Stimme. "Er war ein guter Mann."
      Vielleicht nicht der Beste auf diesem Planeten, aber ein guter Mann. Und während Nightingale in die Nacht hinaus sah, erschien ihm seine Welt erneut ein Stückchen grauer als zuvor.
      Nicht, dass sie vorher Farbe besessen hätte.

      Die Nacht verzog in geschäftiger Eile.
      DIe Crew war nicht in der besten Verfassung, als sie der Kapitän zur Ordnung rief. Clara und Chimp erwiesen sich als die einzigen, die sich einigermaßen bewegen, geschweige denn denken konnten. Der Vorteil an einem rauschenden Fest war neben der Tatsache des Spaßes auch die Tatsache, dass der Laderaum nicht mehr derart bestückt werden musste wie vor Ausbruch der Festivität. So war es nicht verwunderlich, dass die Starfall entgegen aller Voraussagen in beinaher Rekordzeit hätte beladen werden können, wenn nicht Trigg zweimal die Ladung versehentlich am Feuer in Brand gesetzt hätte. Der Vizekapitän erwies sich vielmehr als derartiges Hindernis, als dass man ihn irgendwann an den Mast binden musste, wo er weiter herum stänkerte und alle Nase langs ein Crewmitglied obszön anpöbelte, bis Clara ein Einsehen hatte und den Dieb mit einem harten Hieb ins Koma schlug.
      Hurley hatte sich indes auf dem Deck eingerichtet und sah der MEute, zu wie sie eilig die Waren verlud und lauschte, wie aus dem Kesselraum die Geräusche von Schweißgeräten, wistorischen Flüchen und schweren Hammerschlägen erklangen. Es war ein Wunder, dass Arnaud und Liam dieses Leck stopfen konnten, bedachte man die Tatsache, dass die Starfall einen weiten Weg vor sich hatte. Sie würden sicherlich nur langsam fliegen können, aber der Mitwirkung der Mannschaft war es zu verdanken, dass die Starfall pünktlich zum Sonnenaufgang die Motoren startete und sich langsam in die Lüfte hob.
      Nightingale kam verschwitzt und schmutzig aus dem Kesselrauf hinauf gestolpert und eilte die Stufen zum Steuer hinauf. David hatte bereits Stellung bezogen und nickte, während Liam zu Florence sah.
      "Sind wir so weit?", fragte er.

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    • Florence blickte nachdenklich auf den leeren Fleck im Türrahmen, den Nightingale hinterließ.
      Die gewöhnlich unbeugsame Stimme wie das Donnergrollen im dunklen Himmel war nie stiller gewesen als in diesem Augenblick. Die Worte drangen deutlich an ihr Ohr, doch kamen ihr vor wie ein leises Flüstern in der Nacht. Die Frau nickte schweigend, obwohl der Pirat längst den Raum verlassen hatte. Nightingale und sein Verhalten gaben ihr stets neue Rätsel auf, von denen sie nicht wusste, ob sie diese wirklich lösen wollte. Die Heftigkeit seiner Reaktion auf ihre unbedachten Berührungen, gingen der Frau nicht aus dem Kopf. Stets saß er abseits seiner Mannschaft, beobachtete und befahl mit sicherem Abstand die Männer und Frau an Bord. Sie konnte sich nicht entsinnen während ihrer Stunden an Deck der Starfall jemals beobachtet zu haben, dass ein Mitglied der Crew es wagte ihm auch nur eine Hand auf die Schulter zu legen. Bisher hätte sie es auf den Kapitänsrang geschoben, doch nun wuchs die Frage in ihr heran, was Nightingale in dem zerstörten Distrikt von Million Towers und darüber hinaus geschehen war. Sie dachte an die beinahe unscheinbare Narbe auf seiner Brust. Welche Spuren hatte der Niedergang von Eden Falls hinterlassen? Während Florence die benötigten Karten sorgfältig zusammenstellte, achtete sie dieses Mal darauf, kein unnötiges Durcheinander anzurichten und die Räumlichkeiten mit dem gebührenden Respekt zu behandeln. Beim Hinausgehen löschte sie vorsichtshalber die entzündeten Kerzen und drehte ebenfalls an dem Ventil der vertaubten Laterne. Die Kapitänskajüte versank im Schatten der Nacht.
      Florence zog die Tür leise hinter sich ins Schloss und sperrte mit der Kapitänskajüte auch die unzähligen Fragen weg.

      Pünktlich zum Sonnenaufgang war die Crew der Starfall bereit.
      Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten Florence an der Nase und vertrieben die Kälte der Wüstennacht aus den müden Knochen. Die Folgen des Rums zeichneten sich in dem geschmälerten Blick der Kartografin ab, die mit einem frustrierten Brummen die getönte Brille über die lichtempfindlichen Augen zog. Die passende Linse war mit ein paar geschickten Handgriffen schnell gefunden. Augenblicklich legte sich die Spannung der Muskeln ein wenig und linderte den pochenden Kopfschmerz. Dazu sei gesagt, dass die fleißige Passagierin fast die ganze Nacht mit allerlei filigranen Instrumenten einen zügigen aber ruhigen Kurs über die Wüste und gen Westen berechnet hatte. Einen weiteren Zwischenfall konnte keiner dem angeschlagenen Luftschiff zumuten. Das Ergebnis zeigte sich in Form einer sorgfältig angefertigten Kopie einer Karte, die sie aus der Kajüte mitgenommen hatte. Da sie das Original nicht bekritzeln wollte, hatte sie in aufwendiger Handarbeit das Dokument kopiert.
      Mittlerweile war es kein Gerücht mehr, dass Florence neue Bewegung in die verfahrene Suche nach dem Artefakt gebracht hatte. Ein Ruck ging durch das Luftschiff und wenige Minuten später rumpelten die Motoren geschäftig los. Die Starfall erhob sich trotz sichtlicher Schäden und einem notdürftigen Flickenteppich in die Lüfte.
      Das Ziel war Wesyn und die Kartografin sah mit gemischten Gefühlen gen Westen, während die Morgensonne in ihrem Rücken den Horizont eroberte.
      "Guten Morgen...", brummte sie zurück, obwohl sie keine angemessene Begrüßung gehört hatte. Florence hatte den nötigen Kurs für das erste Teilstück der langen Fahrt bereits mit David besprochen und ihm die Koordinaten mitgeteilt, der er anpeilen konnte bis es Zeit war die Flugrichtung anzupassen.
      "Es ist alles bereit, Käpt'n.", antwortete sie schließlich. "David habe ich über den neuen Kurs bereits instruiert. Wir werden gemäßigt und nicht zu hoch fliegen um Treibstoff zu sparen und die Belastung für das Schiff so gering wie möglich halten. Eine weitere Bruchlandung...Herrje!"
      Florence stockte mitten im Satz nachdem sie sich zu Nightingale umgedreht hatte und sich einmal mehr mit einer entblößten Männerbrust konfrontiert sah. Durch die abgedunkelten Gläser blieb ihr Blick verborgen und sie war bei weitem nicht darüber verlegen, aber die Männer auf der Leviathan waren deutlich weniger freizügig gewesen. Daran musste sich auch Florence erst wieder gewöhnen. Der unverkennbare Geruch harter Schweißarbeiten im Maschinenraum lag in der Luft und ergab eine Mischung aus salzigem Schweiß, Treibstoff und erhitztem Metall.
      "Sind dir die Hemden ausgegangen?", platzte es ungefiltert aus ihrem Mund heraus ehe sie gedehnt seufzte und sich an die Nasenwurzel fasste. "Was ich eigentlich sagen wollte: Ich habe mir die ganze Nacht den Kopf über dieses Rätsel zerbrochen. Gemäß dem Fall, dass ihr wirklich in die Gewölbe des Fürstensitzes müsst, haben du und deine Leute ein Problem. Und alles deutet darauf hin, dass das Gesuchte bei der Steinkönigin zu finden ist. Hör zu, ich möchte dir helfen. Ich kann euch Zutritt zu den fürstlichen Räumlichkeiten verschaffen. In Kürze findet dort im Zuge der Feierlichkeiten zu Ehren der Gründung des Fürstentums Wesyn ein Maskenball statt und ich bin im Besitz einer Einladung. Mein Großvater hat dir diese Karte nicht ohne Grund gegeben, also ist es das Mindeste, was ich tun kann um seine Entscheidung zu ehren."
      Florence drehte den Kopf zu Nightingale.
      "Ich helfe dir hinein, der Rest liegt bei dir. Danach verlassen die Starfall und du Wesyn. Und du bist mich los."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Nightingale blickte die Kartografin mit einer heraufgezogenen Augenbraue an und seufzte innerlich. Erst eine große Klappe, dann die prüde Anstandsdame? Konnte diese Frau einmal in ihrem zu etwas entscheiden?
      Müde richtete er sich auf und entdeckte etwas interessantes. Sie hatte es tatsächlich geschafft, die Karte zu kopieren und dabei jedwede EInzelheit dieser Schönheit einzufangen. Selbst die Schwünge der Schriften hatte sie perfekt nachgeahmt. Das war interessant, fand der Kapitän und blickte anerkennend über ihre Schulter auf die Karte hinab.
      Der Kurs den sie angeschlagen hatte, erschien ihm korrekt. Auch wenn die Navigation nicht sein Steckenpferd war, führte er dieses Schiff schon lange genug, um feststellen zu können, dass die Kleine durchaus ihr Wort hielt.
      "In Ordnung", nickte er ihr zu und grinste das erste Mal ein wenig schief. "Wenn dir nicht gefällt was du siehst, halte ich es wie mit den Wistoriern: Schau einfach weg und starr mich dabei nicht an. Dann wirkt das Ganze auch überzeugend!"
      Kurz zwinkerte er ihr zu und fragte sich im selben Moment, warum er das eigentlich tat, ehe er sich zu David drehte.
      "Der Kurs ist angelegt?"
      "Aye Kapitän!", nickte der Roboter und begann die Starfall in den Wind zu legen.
      "Gut. Halt das Schiff gerade und melde, wenn du es Rumpeln hörst. Möglicherweise ist uns dann ein Motor geplatzt."
      "Was?"
      "Haha!", lachte der Kapitän freudlos und wusste, dass er es ernster meinen sollte.
      Trigg hatte derweil die restliche Crew auf ihre Plätze delegiert und folgte den ersten Ordern des Kapitäns. Erst nach einer Weile schwang er sich ebenfalls auf das Zwischendeck und trat neben den Kapitän.
      "Die Crew ist bereit und wir freuen uns auf einen ruhigen Flug. Puh, was hältst du mal von einer Wäsche? Ich meine, du stinkst nicht, aber dein Körper fühlt sich an wie eine Sandschnecke! Wir haben Damen an Bord!"
      "Schnauze, Trigg";brummte Nightingale und sah seinerseits zu seinem Vize. "Du trägst selbst nicht mal ein Hemd.
      "Aber ich sehe dabei gut aus und habe nicht so eine unbehaarte Hühnerbrust wie du!"
      Nightingale seufzte und lehnte sich an die Reling.
      "Wann habe ich deinen Kopf zuletzt in ein Fass Essig getaucht?"
      "Noch nie...", ereiferte sich Trigg empört. "Und ich finde, das solltest du auch nicht. Ich möchte weiterhin so anziehend schön für die Damen dieser Welt sein."
      "Dann halt den Rand und geh auf Position. Bevor wir Wesyn erreichen, müssen wir erst durch die Gebirgsmassive kommen."
      "Eine Frage noch: Wo soll unser Neuzugang schlafen?"; grinste Trigg anzüglich und wies mit dem Kinn zu Florence.
      "Sie ist kein Neuzugang!", sagte Nightingale udn überlegte eine Weile. Dabei fiel ihm erneut eine Strähne ins Gesicht, die er angewohnheitsmäßig zur Seite pustete. "Soll sich einen Platz suchen. Die Kojen sind zahlreich vorhanden."
      "Dachte, du wolltest ihr deine Kajüte anbieten"; schnurrte Trigg und sah träumerisch zu seinem Kapitän. "Ich hätte euch Wein bringen kö-"
      Der Fausthieb war präzise und beinahe übermenschlich schnell.
      Triggs Gesicht verzog sich beinahe augenblicklich und sein Schädel schnappte nach hinten. Nur um gleich wieder an Ort und Stelle zu sein, eine blutende Nase mehr im Gesicht.
      "AUA!"
      "Selbst Schuld! Sag noch mal so etwas Dummes und ich reiße dir den Arsch soweit auf, dass der Maschinenraum reinpasst, klar soweit?"
      "Aye..:", seufzte Trigg und rieb sich die Nase. "Florence, der Kapitän hat mich geschlagen!"
      Erst nach einer Weile fiel Nightingale aus dem Seufzen heraus wieder ein, was Florence eben eigentlich gesagt hatte. Mit einem Mal weiteten sich die Augen des Kapitäns und für eine Sekunde starrte er in die Weite des Himmels, ehe er herumfuhr und zu Florence hechtete und dabei Trigg beinahe über die Reling befördete.
      "Moment!"; donnerte er. "Hast du eben gesagt, es gibt einen Maskenball?? Die Antwort ist Nein! Nein, nein, nein und nochmals Nein!"
      "Ein Ball?", grinste Trigg und hielt sich die Nase zu. "Das wäre ja famos!"
      "Halt deine Klappe, Trigg! Das wäre ganz und gar nicht famos!", äffte Liam ihn nach, die Wut offenkundig im Gesicht. "Ich maskiere mich doch nicht wie ein Clown nur um in den Palast zu kommen! Also wirklich! Auch wenn ich das Ende deines Plans befürworte, muss ich auf einen anderen Weg in den Fürstenpalast bestehen. Ich gehe zu keinem Ball!"
      "Er geht"; nickte Trigg. "Denk nur an all die schönen Frauen in tollen Gewändern!"
      "Ich sage es ein letztes Mal. Halt die Klappe, Trigg", wisperte der Kapitän und sah böse zu seinem Vize.

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    • Im Verlauf von wenigen Sekunden geschahen gleich zwei ungewöhnliche Dinge, die Florence bis zu diesem Moment für völlig undenkbar gehalten hatte. Die dauerhafte Grimmigkeit in Nightingales Gesicht erweichte durch ein spitzbübisches und schiefes Grinsen und verwandelte den stoischen Kapitän für einen flüchtigen Augenblick in eine gänzlich andere Facette seiner selbst. Das Zwinkern setzte dem seltenen Anblick anschließend die Krone auf und Florence stellte sich im Stillen die berechtigte Fragen, ob außer Alkohol noch andere Substanzen im Rum gewesen waren. Etwas verdattert sah sie Nightingale an bis die Bedeutung der fast neckenden Worte ihr in Watte gepacktes Gehirn erreichte.
      "Bild dir bloß nichts ein, Nightingale. Niemand starrt hier irgendjemanden an.", knurrte Florence bissig und heftete den Blick ertappt auf die Karte. Dennoch schielte die Kartografin zu Liam und Silas herüber, die sich bereits in einem erneuten Zankgespräch befanden. Das Bild erinnerte Florence an zwei sich ewig streitende Brüder. Kopfschüttelnd und mit einem sichtlich amüsierten Grinsen wandte sie sich ihrer neuen Pflicht zu und kontrollierte den berechneten Kurs. Erst das Gejammer seitens Trigg holte sie erneut in das laufende Gespräch zurück, dem sie zweifellos mit einem neugierigen Ohr gelauscht hatte.
      "...nur über meine Leiche...", flüsterte sie leise wie eine Maus, als Trigg andeutete, sie würde fortan in der Kapitänskajüte nächtigen.
      Mit einem unüberhörbaren Seufzen näherte sich Florence dem Dieb, dem das Blut geradezu aus der Nase strömte und zog aus den Untiefen der Rocktasche einen fadenscheinigen Fetzen, der sich als Taschentuch entpuppte und mit den Monogrammen der Cartwrights bestickt war. Ohne Vorwarnung drückte sie Trigg den dünnen aber weichen Stoff vor die Nase und bedeutete ihm mit vorsichtigem Druck den Kopf in den Nacken zu legen.
      "Kein Wunder, du provozierst ihn auch bei jeder Gelegenheit. Den Reiz daran kann ich sehr gut verstehen, Trigg, aber vielleicht solltest du für ein paar Tage davon absehen, wenn du nicht mit gebrochener Nase eine Maske tragen willst. Lass mal sehen...", mahnte und scherzte Florence gleichzeitig, wobei sie zwischen Zeilen bereits verriet, dass sie vorhatte zu Nightingale auch seiner rechte Hand mit auf den pompösen Maskenball zu schmuggeln. Die größte Menge an Blut durchtränkte bereits das Taschentuch, als Florence einen prüfenden Blick auf das Nasenbein warf. Der unbelehrbare Dieb hatte mit einem losen Mundwerk mal wieder mehr Glück als Verstand gehabt.
      "Nicht gebrochen.", murmelte sie bestätigend und sah zu Liam, während sie das Tuch wieder über die tröpfelnde Nase presste. "In einem Punkt hat Trigg allerdings nicht ganz unrecht: Du brauchst ein Bad, Käpt'n. Außerdem muss sich niemand über mein Schlafquartier den Kopf zerbrechen. Es ist ungewöhnlich, aber ich stimme Nightingale zu. Ich habe nicht vor Dauergast auf diesem Schiff zu werden."
      Ah, da hatte offenbar jemand an diesem sonnigen Morgen über der Felsenwüste eine längere Leitung als gewöhnlich.
      Florence ließ endgültig von Triggs malträtierter Nase ab und stemmte die Hände in die Hüften, während Liam sich mit Händen und Füßen gegen die Vorstellung wehrte auch nur einen Fuß auf den Maskenball zu setzen.
      "Hör zu, mir fallen ebenfalls gefühlte tausend Dinge ein, die ich lieber tun würde, als auf dieses aufgeblasene Spektakel zu gehen. Hingegen deiner langläufigen Meinung von mir, habe ich mit den Menschen dort wenig gemeinsam. Für den Fall, dass du eine bessere Idee hast, nur zu. Ich verspreche dir, es gibt keinen einfacheren und unauffälligeren Weg in die Gewölbe der Steinkönigin. Außerdem, wenn Ruby mit euch beiden fertig ist, wird ein Clown das Letzte sein, dem ihr ähnlich seht."
      Ein melodischer Pfiff ertönte über dem Deck der Starfall und aus dem morgentlichen Himmel löste sich Archimedes um gehorsam auf der Reling des Zwischendecks zu landen.
      "Einen wunderschönen, guten Morgen, Miss.", flötete die Eule und nickte schließlich ernüchtert den Männern zu.
      "Archie, ich möchte, dass du uns voraus fliegst und in Wesyn eine Nachricht an Ruby überbringst.", erklärte sie und zog einen zusammen gerollten Zettel aus dem Kragen ihrer Bluse, die sie Archimedes übergab.
      "Stets zu Diensten, Miss Cartwright.", schnarrte Archie ehe er sich höflich verbeugte und mit wenigen mächtigen Flügelschlägen in den Himmel entschwand.
      Abschließend drehte sich Florence zu den beiden Männern um. Von der Reling gestützt, kreuzte sie beinahe lässig die Fußknöchel und sah Nightingale an. Als sie zu sprechen anfing, war ihre Stimme bar jeder Spitze und Provokation.
      "Du kannst mich nicht leiden, dass habe ich mittlerweile begriffen und ich tue das alles nicht für dich, Nightingale. Darüber müssen wir uns keine Illusion machen, aber könntest du ein einziges Mal über deinen Schatten springen? Bitte?"
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      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Natürlich ist sie nicht gebrochen", murmelte Liam mürrisch und verschränkte die Arme vor der vernarbten Brust, während er seinen mitleidigen Vize betrachtete, der sich nur allzu gern von schönen Frauen untersuchen ließ.
      Das sarkastische, anzügliche Grinsen blendete der Kapitän aus und schüttelte den Kopf.
      "Du hast sie gehört!", grinste Trigg und sah zu Liam, wärhend Florence an seiner Nase herum hantierte. "Wir gehen zusammen auf einen Maskenball!"
      "Nur über meine Leiche", wiederholte der Kapitän bewusst Florences Ton, um ihr anzuzeigen, dass er sie genau gehört hatte. "Ich gehe auf keinen Maskenball. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Geh mit ihr, Trigg. Und bring mir, was auch immer der nächste Hinweis auf den Stein ist."
      Trigg sah zu Florence und anschließend zu Nightingale, der prüfend unter seiner Achsel schnüffelte, als die Kartografin ihre Bemerkung machte. Und sei es wie es sei, es hatte Momente gegeben, da hätte Liam nicht einmal ansatzweise darüber nachgedacht, ein Bad zu nehmen, sondern denjenigen einfach über Bord geworfen. Und jetzt schnüffelte er an sich. Schon erstaunlich. Auch wenn er gleichsam zu dem Ergebnis kam, dass sein Körpergeruch der SItuation angemessen war.
      "Arbeit hinterlässt Spuren, Miss Cartwright", murmelte Nightingale verstimmt und wanderte zur Reling zurück.
      "Du könntest dich trotzdem einmal waschen. Schadet bestimmt nicht", grinste Trigg und und erhob sich von seiner Inspektion. "Und was ist gegen einen Maskenball zu sagen? Du hast Florence gehört. Es ist der schnellste Weg und beinahe der Einzige..."
      "Wir könnten die Piratenwege gehen...", überlegte Nightingale lautstark und sah die beiden an.
      "Na sicher. Wir steuern das Schiff einfach in die Steinkönigin, bombardieren, was es zu bombardieren gibt und stehlen was dann noch steht. Meinst du das?"
      Nightingale verzog das Gesicht und kam wieder näher zu den Beiden. Jedoch nicht zu nah, sodass er einen sittsamen Abstand zu Florence wahren konnte, wohingehend Trigg ihm eine Hand bereits auf die Schulter legte. Erstaunlicherweise zog er sich hiervon nicht zurück.
      "Wenn du es so sagst, klingt es barbarisch", murmelte Liam.
      "Und dumm", bestätigte Trigg und lehnte sich halb auf Nightingales Schulter, um ihn ins Ohr zu flüstern, während Florence ihre Befehle an Archie gab: "Und davon abgesehen: Wir sehen viele schöne Frauen in freizügigen Gewändern und wer weiß was an diesem Abend geschieht..."
      "Ich schlage dir gleich ein paar Zähne in den Rachen", knurrte der Kapitän und sah seinem Vize direkt ins Auge. "Wesyn ist kein Pflaster für uns."
      Als Florence wieder zu sprechen begann sahen sie beide zu ihr und Trigg hüpfte geradezu an ihre Seite und grinste seinen Kapitän an.
      "Komm schon!", lachte er. "Gib dir einen Ruck. Du könntest mal wieder tanzen! Und hey, wenn man dir eine Laute gibt, könntest du auch was spielen. Er spielt super Laute, shurororororo", lachte Trigg und sah zu Florence.
      "Halt deinen Rand", knurrte Nightingale erneut und verschränkte die Arme. Anschließend nickte er müde. "Gut, von mir aus. Ich kann dich nicht leiden, das stimmt. Aber wenn es der einzige Weg ist, würde ich selbst einem der Sieben Teufel den Schweiß von den Eiern lecken. Also gehen wir es an!"
      "Poetisch...", grantelte David und steuerte das Schiff sorgsam weiter.

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    • Obwohl Florence ein annährend triumphierendes Lächeln zur Schau trug, als Trigg förmlich mit ungebremster Begeisterung an ihre Seite hüpfte, schlich sich ein merkwürdiges Gefühl ein wie ein ungebetener Gast. Eine Sekunde zu lang sah die Kartografin auf die nunmehr leere Schulter des Piratenkapitäns, auf der zuvor die Hand von Silas selbstverständlich geruht hatte. Scheinbar mied Nightingale die Berührung zu anderen Menschen nicht im Allgemeinen und die Gewissheit, dass die Abscheu gegenüber ihrer Person offenbar eine unerträgliche Bürde war, die es mit allen Mitteln zu vermeiden galt, löste einen unerwünschtes Gefühl der Ablehnung in Florence aus. Trotzdem zwang sie sich das unerschütterliche Grinsen aufrecht zu erhalten. Schließlich musste es sie nicht kümmern, was Nightingale schlussendlich von ihr hielt. Es konnte ihr schlichtweg egal sein.
      Stattdessen fokussierte sich die Kartografin auf die beneidenswerten Überredungskünste des Vize, die Ihresgleichen suchten. Ein siegessicherer Ausdruck legte sich wie eine schützende Maske über ihr Gesicht, als sie Trigg zunickte und ein strahlendes Lächeln schenkte.
      Davids blecherne Stimme entlockte ihr schließlich ein Kichern, dass den Knoten in ihrer Brust ein wenig löste. Ohne Zögern ergriff sie die Möglichkeit, das bedrückende Gefühl in den hintersten Winkel ihres Verstandes zu sperren und stürzte sich kopfüber in die neckende Zankerei. Angriff ergab für gewöhnlich die beste Verteidigung.
      "Laute? Oh, das muss ich unbedingt hören. Ein begnadeter Musiker und wortgewandter Poet. Ich bin angenehm überrascht, Käpt'n.", ließ sie mit ernster Miene verlauten wobei jede Silbe vor Sarkasmus triefte, als wären sie darin getränkt worden.
      "Um der Gerechtigkeit Willen...", fuhr die Kartografin fort und lehnte sich leicht zu Silas herüber.
      Florence musste sich leichtfüßig auf die Zehenspitzen stellen, um ein wenig an Größe zu gewinnen und ohne sichtliche Mühe einen flüchtigen Kuss auf die Wange des Vize zu drücken, ehe sie schmunzelnd das Gesicht verzog und tatsächlich tief durch die Nase einatmete als würde sie versuchen etwas in der Luft zu wittern. Trotz der Tatsache, dass Silas für diesen ganzen Schlamassel verantwortlich war, erwies sich seine Gegenwart als leicht und erfrischend. Es war spielendeinfach mit dem Vize zu herum zu albern oder auch ein Gespräch zu führen... wenn er sich nicht gerade Hals über Kopf in eine Katastrophe stürzte. Vielleicht war es auch der Umstand, dass Silas für sie gewohntes Terrain bot während Nightingale es schaffte, dass die Unsicherheit überwog und sie aus der gewöhnten Komfortzone schob.
      "DU solltest auch ein Bad nehmen, bevor wir bei Ruby eintreffen. Die Gute bekommt einen Herzinfarkt, wenn sie euch beide so einkleiden muss.", kicherte Florence. Bis nach Wesyn würden allerdings in der Zwischenzeit noch ein paar Tage vergehen, so viel war sicher.
      "Gut, dann ist es beschlossene Sache.", nickte sich noch einmal zur Bestätigung ehe sie sich von Silas Seite entfernte und auch an Nightingale vorbei schlenderte, um die ihr zu gewiesene Position bei David einzunehmen. Navigation stellte nicht ihr gewähltes Fachgebiet dar, aber als ausgebildete Kartografin besaß sie zumindest das Grundverständnis. Und zweifellos ein außerordentliches Talent dafür.
      "Wir sollten uns zu gegebener Zeit einen geeignete Landeplatz außerhalb von Wesyn suchen. Die Starfall ist zu auffällig um im Hafen einfach anzudocken. Im Schutz der Dunkelheit schleichen wir uns in die Stadt zu Ruby. Wenn meine Berechnungen stimmen, haben wir einen Tag nach unserer Ankunft Zeit uns auf den Maskenball vorzubereiten."
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      We’re all different people all through our lives.
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    • We go where the storms may take us
      Our ways are written in stars
      And we travel along To the islands unknown
      Till we find our luck at last


      Storm Seeker - Sextant


      Auch wenn ihre Stimme vor Sarkasmus troff, schüttelte Nightingale den Kopf. Erneut schien sich das steinerne Gesicht kurz aufzuweichen, während er an die Laute und den ganzen Mist dachte, den er vormals gut konnte.
      "Und auch wenn es deinem Empfinden nach lächerlich sein mochte", begann er und sah Florence das erste Mal wirklich lange in die Augen. Die eine widerspenstige Strähne fiel ihm wieder ins Gesicht. "Ich gebe dir noch etwas zu lachen, Kartografin: Ich war früher ein Barde. Ein Skalde oder wie man es auch nennt. Ich habe in Kneipen gespielt, während ich diente. Viel Spaß mit der Vorstellung."
      Warum er das sagte, wusste er nicht wirklich, aber es amüsierte ihn, welche Empfindungen dies hervorrief. Arnaud hatte ihn seinerzeit sieben Tage bekniet ein altes Trinklied zu spielen. Wenn er es sich recht überlegte, hatte er bereits viele Monde nicht mehr auf der kleinen Laute gespielt, die sich in der hintersten Ecke seiner Kajüte befand.
      "Du hast die Lady gehört", grinste Trigg und stieß sich von der Reling ab, die Florence in Beschlag genommen hatte. "Das Bad erwartet uns, alter Freund. Wie wäre es wenn wir es teilen?"
      Täuschte sich Liam oder war der Mann beinahe leichtfüßig unterwegs, nachdem ihn Florence sogar auf die Wange geküsst hatte? Den Mann, der sie verschleppt hatte? Erstaunlich...
      Trigg jedenfalls genoß es und rieb sich sacht über die Wange während er Florence kurz lächelnd ansah, ehe er sich wieder Nightingales Wutausbruch widmete.
      "Das einzige, was sich gleich teilt, ist dein Hintern!"
      "Das klang aber falsch, mein Kapitän", witzelte Trigg und hielt sich eine Hand spielerisch vor den Mund. "Solch Schweinereien vor einer Lady!"
      "Ich meinte wenn ich hinein trete, du Affenarsch!", rief Nightingale während sie sich gemeinsam zum Unterdeck begaben. Waschzuber gab es zwar keine, aber zumindest konnte man eine Tonne zweckentfremden. Das würde ausreichen müssen, um die feine Nase der Prinzessin zufrieden zu stellen.
      Als Florence ihren Platz bei David einnahm, musste dieser metallisch Blechern.
      "Du mischst die beiden ganz schön auf", murmelte er und steuerte die Starfall auf den gewählten Kurs.


      Drei Tage und eine halbe Nacht flogen sie in seichtem Tempo über die Ebene von Erynn daher.
      Während unter ihnen ein weiteres der Sieben Fürstentümer dahinzog fragte sich die ganze Crew, weshalb sie eigentlich nach Wesyn unterwegs waren. Während der Tage und der ewigen Langeweile hatte Nightingale die Crew an Deck versammelt, um ihnen die neuesten Hinweise zum Fundort des Steins mitzuteilen. Unterschiedlicher hätten die Reaktionen nicht ausfallen können. Während Arnaud und Clara voll der Freude zu sein schienen, bildete sich eine Skeptikerfraktion innerhalb der Mannschaft. Chimp, Ben und auch Orcas bildeten den Gegenpol, der zumindest die Sinnhaftigkeit ihres Unterfangens in Frage stellte. Wieder und wieder brachen an Bord lebhafte Diskussionen aus und aus diesen heraus ließ sich selbst für den langsamsten Verstand ableiten, dass offenbar jeder ein Motiv hatte, diesen Stein zu besitzen oder in Besitz zu nehmen.
      Am dritten Tage, als sie in der Nacht die Richtungssteine nach Wesyn überflogen, stand Nightingale an der Reling. Er hatte eines seiner wenigen saubereren Wämse gefunden und locker übergeworfen, wobei es weiter offen stand als es schicklich gewesen wäre. Das Bad vor einigen Tagen hatte durchaus Wunder gewirkt, jedoch war die tägliche Arbeit an Bord nichts gutes für den Körpergeruch. Nicht, dass er gestunken hätte, jedoch bemerkte man durchaus den Lohn der Arbeit an der leicht staubigen Haut, während sie wieder und wieder den Kessel hatten reparieren müssen.
      "Käptn", murmelte David und wies auf die Steine. "Dort ist Wesyn."
      "Aye. Landung vorbereiten. Wir tun, was die Kartografin sagt", bellte er über das Deck und sah zu, wie seine eifrigen Bienchen über die Bretter huschten.
      Die Starfall war in wahrlich keinem guten Zustand. Das Loch an der Seite hatten sie im Fluge notdürftig mit Sperrholz und Trümmern repariert, doch bedurfte es alsbaldiger Fürsorge. Der Kessel rumpelte mehr als dass er ordentlich den Dampf abpumpte und so hatten sie am zweiten Tage einmal zwischenlanden müssen, um die Schlacke aus dem Kessel zu kratzen. Eine Aufgabe, die Arnaud und Liam nicht gern taten und nach der sie stanken wie zwei ungewaschene Iltisse, aber es war notwendig.
      Trigg stand am Bug und hielt Ausschau nach eventuellen Wachschiffen, während Liam sich sachte zu David lehnte.
      "Such einen guten Ankerplatz. Wenn wir fort sind, schick bitte Arnaud, Chimp und Clara los. Sie sollen einen Zimmermann finden, der die Leckagen repariert", murmelte er und sah mit einem Seitenblick zu Florence. Sie hatten während der Tage kaum miteinander gesprochen und er würde lügen wenn er sagte, dass er es bereute. Doch irgendwie war es schon merkwürdig. "Ben soll sich um die Vorräte mit Orcas kümmern und du wirst die Schiffswache übernehmen."
      "Aye, Kapitän", blecherte der Steuermann. "Was tun wir bei einem Angriff eines Himmelsritters?"
      "Sofern ihr einem begegnet, nehmt die Beine in die Hand und lauft. Flieht von hier. Wir treffen uns am gewohnten Ort."
      "Aye Kapitän."
      Schweigsam segelte die Starfall noch ein wenig weiter, als man die Maschinen abstellte. Es dauerte noch eine gute Stunde, bis David einen Ankerplatz etwas außerhalb der Stadt, hinter einer Felsformation gefunden hatte. Eilig wurden die Segel eingeholt und Luft aus dem Ballon gelassen, damit er nicht so hoch über den Felsen aufragte.
      Selbst die Flagge wurde eingeholt, sodass auch Florence diese das erste Mal sah. Die rötliche Färbung zierte einen einfachen Totenkopf, umgeben von einer Art Zahnrad, das ihn wie eine Krone ummantelte. Auch wenn das nur im Entferntesten so war. Nightingale hatte den Stoff lange nicht mehr gesehen und wunderte sich, dass er noch so gut aussah. Vielleicht sollten sie darüber nachdenken, die Flagge nicht allzu prominent zu zeigen, aber was sollte man machen. Piratenstolz war Piratenstolz.

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      The more you drag me to hell
    • Wesyn ähnelte bei Nacht einem funkelten Lichtermeer eingebettet in eine majestätische Felsenküste.
      Mit gespitzten Ohren lauschte Florence dem vertrauten Klang des Meeres, dessen Wellen sich an den zerklüfteten Felsen brachen und die schimmernden Lichter spiegelten sich wie ein Zwilling des Sternenhimmel auf der unruhigen Wasseroberfläche. Selbst aus weiter Entfernung war das Schauspiel mit bloßem Auge zu erkennen. Die Straßen und Häuser aufgrund der beginnenden Festivitäten bereits hell erleuchtet und erinnerten daran, dass Wesyn sie einst als Hoffnungsschimmer für Reisende des Meeres erstrahlte um den Weg in die Heimat und ans sichere Land zu weisen. Die Fürstenstadt galt als eine der letzten traditionellen Küstenstädte mit altehrwürdigen Gebäuden und einem imposanten Seehafen. Alles überragte die Steinkönigin gleich einer verstummten Beschützerin, die über das weite Meer bis zum Horizont spähte. Florence erkannte sogar die vereinzelten Ehrenfeuer, die in luftiger Höhe auf dem Gipfel der Felsformation entzündet waren.
      b5564023b3f6424a6b8bf7131d474d1a.jpgDie Kartografin stand an vorderster Spitze des Bugs, die Ellbogen entspannt auf die Reling abgelegt und sah der Heimat entgegen, die sie seit Monaten nicht gesehen hatte. Eigentlich sollte sie erst zu Beginn des Winters wieder einen Fuß auf wesynischen Boden setzen. Der außerplanmäßige Besuch spielte dem heiklen Unterfangen perfekt in die Karten. Daheim rechnete niemand mit der jüngsten Tochter der Cartwrights und vor allem nicht mit ihrer Anwesenheit auf dem prunkvollen Maskenball. Florence mied Festivitäten dieser Art allzu gern und die gestelzten Gespräche gefüllt mit falscher Höflichkeit und Ehrbekundungen. Die edle Stadtvilla im Zentrum von Wesyn fühlte sich nach dem Tod des Großvaters kalt und leer an. Selbst in den Jahren davor hatte lediglich Theo es vollbracht, die tristen Tage während des Heimatsurlaubs mit Leben zu füllen. Sofern sie es schafften zum selben Zeitpunkt in Wesyn zu sein. Bedauerlicherweise lagen zwischen den ersehnten Wiedersehen Monate oder gar Jahre. Der schmächtige Jüngling hatte sich schnell in einen stattlichen Seemann entwickelt und Florence war jedes einzelne Mal vollkommen überrumpelt gewesen, wie sehr er sich veränderte. Im Herzen war er stets derselbe unbeschwerte Junge voller Träume und Hoffnung geblieben mit dem einmaligen Funkeln in den meerblauen Augen.
      Bis er eines verhängnisvollen, düsteren Tages nicht zurückkehrte.
      Florence strich eine verirrte, gelockte Strähne aus der Stirn und betrachtete die gesplitterten Muscheln an ihrem Handgelenk. In einer für sie tröstenden Geste drückte sie flüchtigen Kuss auf das gesprungene Perlmutt.
      Volle drei Tage waren in relativer Ruhe vergangen, wenn sie von den Streitigkeiten und Diskussionen der Crew absah. Offenbar unterstützten nicht alle den Entschluss Nightingales und Florence hoffte, dass dieser Zwiespalt unter den Crewmitgliedern nicht für Schwierigkeiten sorgte. Für den Fall, dass eine rasche Flucht von Nöten war, mussten sich die drei im Herzen Wesnys darauf verlassen.
      Nightingale hatte ihre Gesellschaft vermieden.
      Rückblickend betrachtet war ihr Verhalten weder sonderlich klug noch respektvoll gewesen. Nicht, dass der mürrische Pirat ihr mit besseren Manieren entgegen trat. Von Anfang bestand eine feindselige Kluft zwischen ihnen, die mit jedem Wortwechsel weiter anwuchs. Da halfen auf Triggs holprige und wenig geschickte Versuche nicht die Wogen zu glätten. Die Erleuchtung, warum der Gedanke ihr wirklich sauer aufstieß, war Florence bisher nicht vergönnt. Mittlerweile war sie es vielleicht einfach gewöhnt überall problemlos einen Platz finden und offen gestanden, waren die meisten Männer mit denen sie auf den Schiffen reiste, recht simpel gestrickt.
      Florence löste sich von der Reling und kehrte zum Mittelpunkt des Decks zurück als Nightingales Stimme erklang und die Starfall den Sinkflug einleitete. Der Blick glitt über die eingeholte Flagge, die offensichtlich umsichtiger gepflegt wurde als der Rest des Schiffes, oder seine Mannschaft. Befehle wurden über das Luftschiff gebellt und ohne Gepäck, dass es mitzunehmen galt, wartete die Kartografin geduldig darauf zum letzten Mal die Starfall zu verlassen. Lächeln berührte sie zum Abschied den Teil der Reling, den Clara durchschossen hatte, um sie ganz zu Beginn von der Flucht abzuhalten.
      "Sind wir soweit, Käpt'n?", rief sie zu Nightingale herüber, zog den geliehenen Mantel enger um sich und hielt Ausschau nach Silas. Vermutlich sorgte der Vize ohne Moral und Anstand für reichlich Aufruhe auf dem Maskenball, aber ohne ihn, hätte sie den dickköpfigen Kapitän nie dazu überreden können diese einmalige Chance anzunehmen. Außerdem... würde es ohne Silas nur halb so lustig werden.

      Das Straßenlabyrinth von Wesyn machte seinem Namen alle Ehre.
      Zielstrebig führte Florence ihre Begleiter zwischen hübschen Häuserfassaden aus weißem Putz entlang und wechselte dabei so häufig die Richtung, dass ein Fremder leicht den Überblick verlor. Vor den Fensters spross Lavendel in voller Blüte und verbreitete einen warmen Duft nach Heimat. Viele Gebäude waren so alt wie Wesyn selbst und waren im traditionellen Fachwerk erbaut, die modernen Anbauten und Stadtvillen waren gut an ihren massiven Steinfassaden zu erkennen und dem frischen Anstrich in lebendigen Farben.
      Die Kartografin lenkte sie über buckelige Straßen aus antikem Kopfsteinpflaster ebenso wie über ebenmäßige Straßen für althergebrachte und motorisierte Gespanne. Fröhliche Musik erfüllte die Gassen durch Türen und Fenster begleitet von Gelächter und dem altbekannten Klingen der reichgefüllten Gläser und Krüge. Am Vorabend des Ehrentages waren die meisten Feiern bereits im vollen Gange, denn das gewöhnliche Bürgertum der Fürstenstadt feierte seine ganze eigenen Feste dieser Tage.
      Florence stoppte vor einem Geschäft, dass sich aufgrund der ausstaffierten Schaufenster als Schneiderei entpuppte. Feinster Zwirn und edle Stoffe schmückten die Fenster, nebst fertiger Kleidung die offenkundig von Meisterhand gefertigt war.
      "Hier lang...", murmelte Florence und zog die Kapuze etwas tiefer in die Stirn.
      Flinken Schrittes umrundete die Kartografin das ein wenig windschiefe Gebäude und hielt vor einer Seitentür mit abblätternder, rötlicher Farbe. Sie legte den Finger an die Lippen und klopfte.
      Aus dem Innenraum erklang sofort eilige Schritte, die sich der Tür näherten und die ganze Konstruktion vor Aufregung fast aus den quietschenden Angeln riss.
      "Florence, Darling!", flötete es durch den Türrahmen. "Schnell, kommt rein bevor ihr Wurzeln schlagt."
      5d2b249d4c847fc0e8123c22dccf8047.jpgMit einer ungeduldigen Handbewegung scheuchte die Gestalt alle Neuankömmlinge in den Laden und schob von Innen einen schweren Riegel vor die Tür. Mit einem erfreuten Händeklatschen drehte sich die Person um, die Florence bisher mit dem Namen Ruby benannt hatte.
      Ruby stellte sich ein ein durchaus hübscher, junger Mann heraus mit leuchtenden Haaren von der Farbe einer orangenen Katze. Zahlreiche Sommersprossen zierten die feingeschnittenen Wangenknochen und betonten die grünliche Iris. Offensichtlich der Schneidermeister dieses erlesenen Geschäfts, trug er eine farbenfrohe Weste über einem blütenweißen Hemd, die sogar Triggs Garderobe reichlich Konkurrenz machte. Ohren und feingliedrige Finger schmückten kostspieliger Goldschmuck und eindeutig war Ruby der Meinung, nie genug Halsschmuck tragen zu können. Ein verschmitztes Grinsen ließ die erstaunlich femininen Züge erstrahlen.
      "Vor dem Winter habe ich kaum mit dir gerechnet, Liebes, und nun bescherst du mir den abenteuerlichsten Abend des Jahren. Dabei hat der Ball noch nicht einmal angefangen.", kicherte Ruby mit melodischer und angenehm weicher Stimme, ehe er Florence in die Arme zog und ihr links und rechts einen Kuss auf die Wange drückte. "Und als Sahnehäubchen darf ICH dich einkleiden. Darauf warte ich seit Jahren, meine Herren."
      Erst jetzt schielte Ruby zu den beiden Begleitern herüber und bei dem Anblick wuchs das Grinsen von einem Ohr zum anderen.
      Mit federnden, eleganten Schritten ging der Schneidermeister auf die Piraten zu und umrundete die Männer mit grübelnder Miene.
      "Ich wusste schon immer, dass du Geschmack hast, Florence, aber die hier sind ganz exquisit. Wenn ich mich vorstellen darf, Rupert Miles. Freunde und gutaussehende Besucher dürfen mich Ruby nennen. Archimedes hat mich darüber unterrichtet, was ihr vorhabt. Es ist leichtsinnig, gefährlich und eigentlich sollte ich euch alle Drei sofort aus meinem Laden werfen, aber wo wäre da der Spaß. Und unsere kratzbürstige Florence nach langer Zeit wieder in Begleitung zu sehen seit Theo..."
      "Ruby!", fuhr Florence dazwischen.
      "Ah, wir reden also immer noch darüber. Gut, wie du willst. Schließlich sind wir nicht zum Vergnügen hier. Ach, wem will ich etwas vormachen. Mir wird es ein großes Vergnügen sein.", lachte Ruby und musterte die Piraten ohne Scham von Kopf bis Fuß.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Liam Nightingale hatte den Überblick verloren.
      Nach einem hastigen Anlegemanöver und einer genervten Crew, die ihren Tätigkeiten nachging, hatte sich der Kapitän in seine edelste Lederjacke gehüllt und das obligatorische Schwert auf den Rücken geladen. Auf einen Kommentar Silas' hin, dass er dies unmöglich auf einen Ball mitschleppen konnte, hatte er mit einem Knurren und anschließenden Morddrohungen reagiert. Und doch hatte es der 1. Maat irgendwie geschafft, seinem Kapitän die Verantwortung für das ordentliche Auftreten aus dem Rücken zu leiern. So waren sie der Kartografin unbewaffnet, aber zumindest gebadet gefolgt, auch wenn Trigg durch seinen apfelsinenroten Mantel auffiel wie ein bunter Hund. Das lange Haar wehte im Abendwind Wesyns und sie verloren den Überblick, wo die junge Frau sie hinführte. Innerlich ging Liam die Möglichkeiten durch, wie Florence sie um ihr Hab und Gut bringen konnte, ehe er merkte, dass er nichts von seinem Hab und Gut am Leibe trug.
      Sah man von den merkwürdigen Lederhosen ab, in die er sich hatte zwängen müssen. Jetzt, wo er dem wehenden Schopf der Kartografin hinterher sah, fragte er sich, welche Rolle sie eigentlich in Wesyn spielte. Sicherlich wusste er von Cornelius, dass ihre Familie recht wohlhabend und einflussreich war. Aber welche Macht hatte diese Frau, wenn sie die beiden zielsicher durch die Gassen und Straßen der Stadt führte?
      "Oh, schau Liam!", rief Trigg und wies auf ein Fenster, an dem eine junge Frau zu sehen war, welche sich gerade den behelfsmäßigen Mieder gürtete.
      Einen Nackenschlag später war Trigg wieder in der Spur und rieb sich besagte Stelle, während er schmollend an einen schönen Frauenhintern dachte. Mehr als einmal stolperten die beiden Piraten ob der buckligen Strecke und Liam schwor sich Rache, wenn er wieder in seinen Städten war. Sie würde durch Feuer und Kohle marschieren bis ihr die Füße...
      Sie würde gar nicht da sein! Natürlich. Sie war hier. Zuhause. Er war sie los!
      Wurde sein Schritt leichter, während sie vor einem windschiefen Haus innehielten, dessen Farbwahl nebst der Fraglichkeit auch bessere Tage gesehen hatte. Beide Piraten legten den Kopf schief und zogen einen Mundwinkel erstaunt hinauf, als sie von einer fröhlichen Stimme in den Innenraum gescheucht wurden.
      Um in ein Wahnsinnsland von Stoffen zu fallen. Ein Raum, in dem es nach Arbeit und Stoff roch. Nach Garn und Feuer und nach schrecklichen Farben, wie Nightingale befand, als er sich eines der orangenen Teile betrachtete und sogleich mit dem Kopf schüttelte. Nicht in 100 Jahren würde er dieses Machwerk auch nur anrühren.
      Trigg indes durchlebte die vielen Phasen der merkwürdigen Erkenntnis. Zunächst hatte er den jungen Mann namens Ruby für eine Frau gehalten. Das feminine, weiche Gesicht mit den leuchtenden Haaren. Die grazilen schlanken Finger und den herrlichen Schmuck, der Brust so betonte. Erst danach war dem Mann bewusst geworden, dass er einen Mann bewunderte und seufzend hatte er etwas Abstand genommen, ohne ablehnend zu sein.
      "Guten Abend, Rupert", knurrte Liam leidig und stemmte die Hände in die Hüften.
      "Hallo Ruby"; grinste Trigg breit. "Shurorororo, ich bin wohl Silas und dies ist Liam. Eigentlich ist er ein freundlicher Kerl. Ausser an Tagen die mit "g" enden. Und Mittwochs."
      "Trigg?"
      "Ja, ich weiß: Halt deinen Rand.", äffte der Vize seinen Kapitän nach und sah zum Schneider.
      Während Liam sich sichtlich unwohl unter dem Blick fühlte fragte er sich erneut, wer dieser Theo gewesen war. Der Name war bereits öfter gefallen und wäre die Sachlage zwischen ihnen beiden anderes, hätte er wohl nach dem Verbleib gefragt. Dennoch beschloss er, Florence ihre Würde vorerst zu lassen und stattdessen weiter zu granteln:
      "Und was hast du nun vor?", grunzte er und sah Florence an.

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Grüblerisch legte Ruby einen grazilen Finger an die Lippen.
      In einem Rhythmus, um dessen verstummte Medlodie lediglich der Schneidermeister wusste, tippte die Fingerspitze gegen die nachdenklich verzogenen Lippen. Florence kannte diesen intensiven Blick allzu gut, den Fremde zumeist als aufdringlich einordneten. Dabei betrachtete Ruby die Neuankömmlinge mit dem Ausdruck eines Künstlers, der versuchte den idealen Punkt auf einer nackten Leinwand zu finden um den ersten Pinseltrich zu setzen. Vor seinem inneren Auge schälte Rupert die Männer nicht begierig aus ihren Kleidern der Lust wegen, sondern grübelte bereits über die Materialien und schmückenden Verzierungen nach, die Vorzüge betonten und kaschierten, was ungesehen bleiben sollte. Obwohl Ruby arge Zweifel hegte, dass es überhaupt einer geschickten Verhüllung bedurfte.
      Die Gezeiten des Meeres und der harsche Wind in schindelerregenden Höhen hinterließ unverkennbare Spuren ebenso wie die harte Arbeit an Deck eines Luftschiffes. Seine Augen erspähten die schwieligen Hände als folgen des kräftigen Griffes am Tauwerk und Umgangs mit schweren, klobigen Werkzeugen ebenso wie die helleren Hautflecken von umherfliegenden Funken und Metallspähnen als Folge anstrengender Schweißarbeiten in überhitzten Kesselräumen.
      Wie ein Jäger auf der Pirsch umrundete Ruby erst Silas mit einem frechen Grinsen.
      "Der hier gefällt mir, er hat Humor. Zu schade, du weißt wirklich nicht, was dir entgeht, Silas Trigg", kicherte der Schneider und ließ den Namen samt wie Honig über seine Zunge rollen, wohlwissend um die wortlose aber höfliche Zurückweisung. Scherzend zwinkerte er Silas zu und nahm die Ablehnung weder übel noch in nachtragender Art. "Ach, mein bedauernswertes Herz, aber ich werde es überleben."
      Geschickt zog er ein Notizbuch aus dem freizügig geschnittenen Hemdkragen. Das flinke Gekritzel eines Bleistiftes erfüllte den Verkaufsraum des Ladens während Ruby eine scheinbar willkürliche Anordnung von Zahlen notierte.
      Schließlich umkreiste der Schneider den brummeligen, hochgewachsenen Piratenkapitän an. Die Persönlichkeiten der Männer hätten unterschiedlicher nicht sein können und er fragte sich ernsthaft, wie es ein Mann wie Silas schaffte neben seinem Vorgesetzten noch den Kopf auf den Schultern zu behalten. Liam Nightingale schien nicht mit der Tugend der Geduld geboren worden zu sein.
      Auch zu Liam kritzelte er krumme und schiefe Zahlen auf das geknitterte Papier, ehe der Buch mit einem lauten Aufseufzer zuschlug.
      "Damit kann ich arbeiten.", verkündete Rupert. Er hatte zu keinem Augenblick ein Maßband als Hilfsmittel benutzt. Immerhin war er nicht völlig umsonst der beste Schneidermeister in Wesyn - Zumindest in der Stadt.
      Bevor Florence mit ebenso wohklingender Höflichkeit antworten konnte, Ruby roch bereits den darauffolgenden Ärger in der Luft, ging der Mann mit den leuchtend, rötlichen Haaren mit einem breiten Lächeln dazwischen.
      "Mein üblicher Vorschlag würde beinhalten euch alle Drei zum Spielen nach draußen zu schicken, aber das gestaltet sich als schwierig. Am Besten erregt ihr keinerlei Aufmerksamkeit bis zum morgigen Maskenball. Allerdings sind wir hier sehr gut versorgt um eine eigene private Festlickeit zu starten.", fuhr Ruby fort und krümmte den Zeigefinger in einer lockenden Geste, um seine Gäste aus den Verkaufsräumlichkeiten über eine knarzende Wendeltreppe in die privaten Räume über dem Laden zu führen. Dort begrüßte Florence und ihre Begleiter ein gemütliches Kaminzimmer, samt winziger Kochnische und einer außergwöhnlich gut ausgestattete Bar. In Flaschen und Karaffen aller Formen und Größen schimmerten Spirituosen aller Farben. Ruby entkorkte eine bauchige Kraffe und füllte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in drei Kristallgläser mit Diamantschliff.
      "Seid meine Gäste und bedient euch an den Köstlichkeiten meiner Privatsammlung. Ich war so frei und habe ein kleines Abendessen für euch vorbereitet.", sagte Ruby und deutete auf ein paar kleine silberne Servierplatten mit geräuchertem Fisch, geschnittenem Obst und anderen Kleinigeiten. "Für heute Nacht steht euch mein Schlafzimmer zur Verfügung. Einfach die Wendeltreppe weiterhinauf bis unters Dach. Die Nächte in Wesyn sind derzeit sehr stickig, ich empfehle die Balkontür zu öffnen."
      "Und wo willst du schlafen?" fragte Florence verwirrt.
      "Gar nicht. Ich werde mir die Finger blutig nähen und schneidern, damit auf dem morgigen Ball ganz Wesyn nur Augen für euch hat.", zuckte der Schneidermeister mit den Schultern und raffte ein mysteriöses, unhandliches Paket unter den Arm.
      Aus dem geöffneten Decke lugte ein Zipfel dunklen Stoffes hervor bestickt mit einer eleganten Goldstickerei. Mit einem breiten Grinsen nahm er bereits die erste Stufe wieder hinab in den Laden.
      "Und benehmt euch.", mahnte Ruby über die Schulter und verschwand bereits die Wendeltreppe herunter, da ertönte die Stimme aus der Dunkelheit am Fuß der Treppe erneut mit einem ungewöhnlich ersten Unteron. "Bevor ich es vergesse. Kapitän Nightingale? Würdest du mir einen Augenblick Gesellschaft leisten?"
      Ruby hielt es wohl nicht nötig eine Erklärung dazu zu liefern und stolzierte unbeirrt die Treppe herunter.
      “We all change, when you think about it.
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    • Die unsteten Bewegungen des Schneiders irritierten die beiden Piraten nur für eine kurze Zeit.
      Silas Trigg war bereits einigen verrückten Gestalten begegnet und nicht wenige davon erschienen ihm beinahe geisteskrank wenn man es genau betrachtete. Doch dieser hier war anders. Dieser Schneider war durchweg in der Lage, die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich zu ziehen und Trigg schloss zumindest nicht aus, dass er an dem Leibe des Schneiders durchaus Gefallen fand. Sicherlich, in Eden Falls war es damals ein offenes Geheimnis gewesen, dass Trigg sich zu beiderlei hingezogen fühlte, jedoch war er dafür stets verurteilt worden. Außer von einem Mann. Und dieser grunzte gerade neben ihm und versuchte seine Ungeduld in Worte zu fassen.
      Amüsiert betrachtete Trigg den Schneider wie er sich Notizen machte und enstpannte sich in dem Moment, als auch Liam vermessen und beschriftet war.
      Dieser war noch immer schlecht gelaunt und so manches Mal fragte er sich selbst woher das kam. Vielleicht von den Schreien in seinen Kopf, den anklagenden Blicken und dem Hunger, den er empfand. Mit Erstaunen konnte er nicht umhin zu bemerken, dass der Schneidermeister nicht einmal ein Maßband brauchte, um die Größen einzuschätzen. So wie man einen guten Soldaten an seiner Körperhaltung erkennen konnte, so musste auch Liam anerkennen, dass der Mann verstand, was er tat. Auch wenn er das Gehabe des Mannes mit einem Augenrollen quittierte, während Trigg amüsiert kicherte. Liam hätte Wetten darauf abschließen können, dass wenn Florence sich etwas williger gezeigt hätte, er heute Nacht einer lauschigen Bettgymnastik zwischen allen Dreien hätte lauschen dürfen. Innerlich dankte er dem Umstand, dass Florence sich an Niemandem besonders interessiert zeigte. Ob sie vielleicht...?
      Noch ehe er den Gedanken zu Ende führen konnte, wurden sie alle in ein Kaminzimmer geführt, das an Behaglichkeit das Seine suchte.
      Trigg erschien maßlos erfreut, derartige Architektur zu sehen und breitete die massigen Arme aus.
      "Shurororororo, Liam schau! Das sieht aus wie im Himmel!"
      Grunzend nickte der Kapitän, der zumindest die Behaglichkeit des Raumes nicht verkannte. Gerade die Bar entlockte dem Brummbär unter den Piraten doch ein kurzes, aber unverkennbares Grinsen.
      Mit leuchtenden Augen tappste Trigg durch den Raum und schaffte es immer wieder mit Geschick und Einflussnahme, Unfälle zu verhindern. Liam selbst nahm das Angebot des Schneiders an und griff sogleich zu einem der drei bauchigen Gläser als sie eingeschenkt wurden. Er wusste nicht, was es war, aber goss es mit einem schnellen Schluck hinab.
      "Uh, sogar ein geräumiges Schlafgemach!"; ereiferte sich Trigg. "Ich schlafe bei Ms Florence im Bett, damit das klar ist!"
      "Trigg?"
      "Ja?"
      "Mach den Nichtschwimmer. Halt den Rand!", knurrte der Kapitän und nickte in Richtung der Balkontür. "Werde auf dem Balkon schlafen, wenns Recht ist. Ich mag die Luft nicht. Je frischer, desto besser."
      Und umso mehr Abstand konnte er von den Anderen halten.
      "Du bist ein Spielverderber! Sei nett zu unserem Gastgeber und lass uns die Speisen genießen!", sagte Trigg und begab sich bereits in Richtung des Festmahles. "Habt vielen Dank, Ruby!"
      Ein Lächeln, das einen Sonnenuntergang beschämen hätte können, brachte der Dieb zustande und zog sich einen Stuhl heran. "Ms Cartwright?", fragte er und wies auf den Stuhl. "Wenn ich bitten darf?"
      Nightingale wollte sich gerade hinzugesellen, als er gerufen wurde.
      Mit einem Grunzen stellte er das Glas ab und bewegte sich durch die Stube, ehe er dem Schneider folgte. DIe Treppe war eng und recht schwer zu gehen, aber Liam schaffte es dennoch mit dem notwendigen Geschick. Irgendetwas stimmte nicht, aber er konnte sich nur ausmalen, das jetzt der große Vortrag in Richtung "achten Sie auf die junge Lady" kam. Er würde einen verfluchten Teufel tun.
      "Was kann ich für dich tun, Schneider?", fragte er als er unten angekommen war.

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • "We accept the love
      we think we deserve."

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      Zum selbigen Zeitpunkt, in dem Florence mit einem fröhlichen Lachen über die Gentleman-Allüren von Silas den angebotenen Stuhl annahm, wartete der Schneidermeister geduldig auf den Piraten am Fuß der schmalen Wendeltreppe. Ein schmales Lächeln schmückte das feingeschnittene Gesicht, denn ein losgelösten Lachen dieser Art hatte er bereits seit langer Zeit nicht mehr von der Kartografin vernommen. Liam Nightingale wirkte zu groß für das beengte und windschiefe Geschäft, dass Ruby mehr liebte als alles andere auf der Welt. Die schönsten Erinnerungen seines Lebens versteckten sich zwischen edlem Samt und dem unwiderstehlichen Flitzern von Gold- und Silberfäden. Ein Blick in das Gesicht des Kapitäns reichte dem Schneider aus, um die düstere Vorahnung darin abzulesen. Ein solches Gespräch wartete allerdings nicht in den hinteren Zimmern seiner Werkstatt auf ihn. Stumm bedeutete der junge Mann mit dem klimpernden Goldschmuck um den schlanken Hals Liam ihm zu folgen. Erst als er die hölzerne Schiebetür, die Laden und Werkstatt voneinander trennte, zuzog, schien Ruby seine Stimme wieder gefunden zuhaben.
      "Nein.", begann er mit einem Schmunzeln. "Ich weiß, dass du auf eine Ansprache von mir wartest, aber Florence ist eine erwachsene Frau genug und ich, den Göttern sei Dank, bin nicht ihre Mutter. Sie kann auf sich selbst aufpassen und da sie dir und deinen Leuten offensichtlich freiwillig Hilfe anbietet, muss zumindest etwas Gutes an dir sein."
      Ruby verfing sich nicht in unnötige Warnung, wie gefährlich das Unterfangen war oder welche Konsequenzen drohten, sollte etwas schieflaufen. Wie er bereits sagte, er war weder tadelnde Mutter noch übervorsichtiges Kindermädchen.
      "Trotzdem, wenn ihr etwas passiert, verbringst du den Rest deines Lebens als mein persönliches Nadelkissen, verstanden?", fragte Ruby und bohrte demonstrativ eine sehr lange, sehr spitze Schneidenadel in einem alten Nadelkissen das bereist mit unzähligen spitzen Artgenossen gespickt war. Es war erschreckend, wie sich Rubys hübsche Augen binnen weniger Wimpernschläge verfinsterten, ehe er sein altbekanntes und neckendes Lächeln auflegte.
      "Ich bin nicht dein Problem, Nightingale. Sondern er.", flötete Ruby und deutete mit dem Daumen über die Schulter zu einer unbestückten Schaufensterpuppe auf dessen Schultern die Metalleule Archimedes hockte. Die Eule erspähte Liam und schlug einmal, zweimal mit den beeindruckenden Schwingen um genug Auftrieb zu sammeln. Elegant glitt der Blechvogel auf den Arbeitstisch, der beinahe den kompletten Raum der Schneiderei einnahm.
      Begleitet von metallischem Klimpern schüttelte Archimedes sein Gefieder aus und blickte ein wenig zu intensiv für ein künstliches Konstrukt in das mürrische Gesicht des Mannes. Ein würgendes Geräusch begleitet von zischendem Dampf aus den Bauteilen und Zahnrädern am kurzen Hals der Eule erklang ehe Archimedes eine zusammengerolltes Pergament wie ein Gewölle aus dem Schnabel hervor würgte.
      "Für Sie, Käpt'n.", schnarrte Archimedes und drehte ruckartige den Kopf von Links nach Rechts, als müsste er die innenliegenden Zahnräder wieder korrekt positionieren. "Der Anblick der Karte scheint eine versteckte Erinnerung wach gerufen zu haben. Es war ausgesprochen verwirrend, müssen Sie wissen. Offenbar hielt es mein Erbauer in all seiner Weisheit für angebracht, dieses Botschaft bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu versiegeln."
      Im Hintergrund schlüpfte Ruby aus der Werkstatt. Er mochte die Aufmerksamkeit lieben und besaß bei Zeiten ein schnelleres Mundwerk als ihm gut tat, aber er war nicht taktlos.
      "Cornelius wollte, dass sie dies erhalten, wenn die Zeit gekommen ist. Auch wenn sich mir der nachvollziehbare Grund nicht erschließt,", wiederholte Archimedes bekräftigend und schob mit einer diamantartigen Kralle das Pergament über den Tisch in Liams Richtung. Tatsächlich war die winzige Papierrolle mit demselben blauen Wachs versiegelt, wie es auf der seltsamen Karte zu finden war. In schnörkelloser Anschrift stand der Name William Nightingale darauf.

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      William,

      solltest du dieses Schreiben in den Händen halten, bedeutet es, dass du Archimedes gefunden und das Rätsel der Karte entschlüsselt hast. Gratulation, mein Junge.

      Bedauerlicherweise bedeutete auch, dass ich nicht mehr unter den Lebenden weile und leider mein Versprechen einer Einladung nach Wesyn nicht mehr nachkommen kann. Es tut mir leid, William.

      Das Wissen um das Verborgene in den Gewölben der Steinkönigin spielte mir ein alter Freund aus Kindheitstagen zu. Er ist ein Experte für Legenden und Mythen. Ich hatte ihn vor Beginn meines Ruhestandes gebeten, etwas für mich zu überprüfen.
      Ich weiß nicht, was du vorfinden wirst und ob es deiner Suche nützt. Allerdings hoffe ich als der alte Narr, der ich bin, dass es dich deinem Frieden ein Stückchen näherbringt. Ich bedauere, dass ich nicht mehr die Chance bekam, dich als Kapitän deines eigenen Schiffes zusehen. Zweifellos bist du das mittlerweile. Ich wusste vom ersten Augenblick, dass das Schicksal großes für dich bereit hält. Vom ersten Blick in das schmutzige Gesicht eines ausgehungerten Waisen bis zu dem zornigen Funkeln in deinem Blick. Die Welt hat die mehr Leid beschert, als ein Mensch tragen kann und du hast zurück geknurrt. Du hast überlebt.

      Ich wünsche dir, von ganzem Herzen, dass du findest, was du suchst.
      Wir geben uns mit dem zufrieden, von dem wir überzeugt sind, dass wir es verdienen.
      Aber das ist nicht alles. Wenn du auf deiner Suche in die Ferne blickst, vergiss nicht, dass die Dinge, die wir verdienen und häufig übersehen bis zu es zu spät, zumeist direkt zu unseren Füßen sind.

      Wir müssen nur von Zeit zu Zeit den Blick ein wenig senken.

      Cornelius Ainsworth


      P.S. Pass für mich auf meine Enkelin auf.
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