The Legend of Starfall [Winterhauch & Nico]

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    • Langsam erhob sich der Schiffsarzt auf die müden Beine und sah in die Nacht hinaus. Mittlerweile hatten sie den achten Bezirk der Stadt gut hinter sich gelassen und nur die fernen Lichter der Türme zeugten noch davon, das Leben in den Molochs der Straßen herrschte. Ben fragte sich öfter, wie es zustande gekommen war, diese Stadt zu gründen. Legenden über Legenden rankten sich um diese gigantische Ansammlung von Metall und Stein, aber nur wenigen wussten um den Ursprung. Doch er, der alte Schiffsarzt, hatte es gelesen. Nun, vielmehr Chimp hatte es und es mit ihm geteilt, aber seltsam wehmütig sah er den Türmen entgegen und gleichsam der Ödnis im Rücken, die sich dort auftat.
      Zwischen den Stadtbezirken lag zumeist nicht viel Land, sodass man die Kontrolle halten konnte. Jedoch fand sich, nach dem Südtore des achten Bezirks, eine Art von Steinwüste zwischen dem Achten und dem Elften Distrikt. Als würde dort etwas fehlen, was nie da war.
      Hinsichtlich des Medikaments gluckste Ben.
      "Nein, es ist nicht zugelassen, da haben Sie Recht", murmelte er und seufzte, ehe er den Kopf schüttelte. "Ja, das ist wahr. Es heoßt Konzentration Eins. Keine Ahnung, wieso. Das Geheimnis des Ganzen kennt nur Trigg. Und der Kapitän, ja ja. Vielleicht sollten Sie einen der beiden fragen, wenn Sie mehr wissen wollen."
      Hinsichtlich ihres letzten Satzes schluckte der Schiffsarzt und lehnte sich schwer auf die Reling.
      "Ja ja, eine vertrackte Situation. Meine Mutter würden sagen: Himmelschreiende Scheiße. Aber vielleicht kann der Kapitän erneut Gnade vor Recht ergehen lassen, meinen Sie nicht auch?"
      "BEN!"
      Diesmal klang Claras Stimme nicht nach dem geduldigen Weibe, das er kannte.
      "Entschuldigt", murmelte er und neigte leicht den Kopf ehe er sich umdrehte und über das Deck huschte. "Ich komme, ich eile, ja ja!"


      2 Stunden später

      Die Welt versank mehr und mehr in Dunkelheit.
      Während die Minuten vergingen und die Crew weiterhin dem Ende ihrer Reise entgegen sah, schien die Sonne gänzlich hinter dem Horizont verschwunden zu sein. Die Starfall schoss mit brummenden Motoren und beinahe rauchenden Rotoren auf dem Heck in Richtung Morgensonne, die noch zu erahnen war, als ein Schimmer der Hoffnung durch die Crew glitt.
      Vorne am Bug hatte Chimp Land entdeckt. Nicht, dass es schwer zu finden war. Sie hatten den Elften und Zwölften Disktrikt überflogen, der lediglich die Wohngebäude der armen Bevölkerung beherbergte. Türme, die mehr Dreckhaufen und Termitennestern glichen erhoben sich schweigend und beinahe anklagend in die Höhe, während Clara, Trigg und Ben betroffen hinab sahen. Sie alle wussten, dass die Slums dieser STadt das Schlimmste war. Die Splitterreiche suchten noch ihresgleichen für derartige Menschenunwürdigkeit, wenn man es genau betrachtete.
      Kinder, die verletzt und verstümmelt im Dreck spielten. Die ihre eigene Fäkalien aus purer Not verspeisten und gleichsam wünschten, der Blitz möge sie holen. Das ein ums andere Mal hatten sie in die Fenster gesehen und die sehnsuchtsvollen Blicke erkannt. Blicke, die Jeder von ihnen einst geteilt hatte.
      Und dann...
      Dann hatten sie den 13. Distrikt betreten.
      Eden Falls war einst ein Wohnbezirk wie viele Andere gewesen. Meterhohe Türme, nicht ganz so hoch wie die der Herzstadt, aber durchaus beachtlich, erhoben sich einst aus dem Meer von Beton. Kinderlachen und Gespräche hallten durch die Straßen, die meist von kleinen, aber stabilen Geschäften gesäumt wurde. Noch immer glaubte man eben diese GEräusche zu hören, auch wenn der Distrikt unter ihnen mehr einer Wüste aus Trümmern glich.
      Als hätte ein gigantischer Sturm gewütet, streckte sich der Disktrikt in all seiner Schrecklichkeit vor ihnen aus und offenbarte die Grausamkeit der Realität. Trümmer über Trümmer säumten die Strecke, mal wenig, mal hoch aufgetürmt. In den Straßen brannte weder Licht noch erschallten Stimmen. Als wären die Menschen mit einem Mal aus der Stadt geflohen, regte sich hier rein gar nichts mehr, während die Starfall langsam über die Stadt hinweg tuckerte.
      Trigg, der neben Florence an der Reling stand, seufzte schwer.
      "Willkommen daheim", murmelte er der grauen Mondeshälfte entgegen und sah auf die Trümmer hinab. Es war nicht schwer, sein altes Haus zu finden. Und auch nicht die Straße, in der sie früher gespielt hatten. Nur dass diese nicht mehr war.

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      The more you drag me to hell
    • Eine Ödnis aus Ruinen erstreckte sich soweit das Auge reichte.
      Zumindest kam Florence das Ausmaß der Zerstörung unendlich vor, während die kühle Nachtluft um ihre Nase wehte. Die Gerüche des Slums, die sie vor kurzer Zeit überflogen hatten, schienen sich hartnäckig zu halten obwohl sich ein entfernter Eindruck von Rauch dazu gesellte. Eine Einbildung, denn in Eden Falls brannte keine einzige Lichtquelle. Völlig Dunkelheit überzog die Trümmerberge aus Schutt, die vor langer Zeit das Zuhause vieler Menschen gewesen sein mussten. Die Götter wussten, welche Grausamkeit hier gewütet und wie viele Seelen unter Schrott und Stahl ein bemitleidenswertes Ende gefunden hatten. Ein eiskalter Schauer lief Florence über den Rücken und ihre Finger klammerten sich um das Holz der Reling. Die Kartografin hatte den Weg an den Bug des Luftschiffes gefunden und schaffte es nicht, den Blick von der Tragik zu ihren Füßen zu nehmen.
      Zuerst hatte Florence die leichtfüßigen Schritte von Trigg nicht bemerkt, der sich langsam dem Schiffsbug näherte und letzten Endes ungewöhnlich schweigsam neben ihr verharrte. Ein vorsichtiger Blick aus dem Augenwinkel der Kartografin musterte das markante Profil von Silas über dessen Gesichtszüge sich ein seltsamer Ausdruck legte. Im fahlen Mondlicht war schwerlich zu sagen welche Empfindung gerade in seinem Gesicht überwog. War es Schwermut oder ein Schatten alter Traurigkeit?
      Die eigenartige Stimmung in der Luft schnürte Florence die Kehle zu und selbst gemäß dem Fall sie hätte die richtigen Worte gewusst, wollte einfach kein Laut über ihre Lippen kommen. Aber die junge Frau blieb, als wären ihre Füße mit den spröden Holzplanken des Decks verwurzelt. Etwas sagte ihr, dass sie bleiben sollte.
      Silas murmelte leise und beinahe wäre seine Stimme vom gemächlichen Rauschen des Windes verschluckt worden.
      Kaum merklich weiteten sich die in der Dunkelheit fast schwarz wirkenden Augen der Kartografin angesichts einer grausamen Wahrheit. Den identischen Gesichtsausdruck hatte sie schon einmal zuvor gesehen und zwar als Trigg davon erzählt hatte, wohin es Nightingale beim Besuch von Million Towers verschlug. Hieß das, dass auch der grimmige Kapitän der Starfall in Eden Falls aufgewachsen war?
      Sie versuchte sich zu erinnern, was die jüngsten Geschichtsbücher über diese verheerende Katastrophe berichteten, aber von dem Anblick war ihr Verstand wie gelähmt.
      "Eden Falls...", wisperte Florence mit ebenso leiser Stimme und in der Ferne erblickte sie das metallische Schimmern von Archimedes Schwingen. Die Blecheule flog der Starfall ein kleines Stückchen voraus und segelte gemächlich auf den Nachtwinden dahin.
      "Du bist hier aufgewachsen...", murmelte sie obwohl sein Flüstern diese Tatsache bereits offenbarte. "Was ist hier passiert?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Sachte lehnte der Dieb sich an die Reling des Schiffes und genoß die kühle Brise der Nachtwinde, die so langsam in die Tageslichter übergingen. Am Horizont zeichnete sich bereits leichtes Rosa ab, sodass von einem baldigen Tagesanbruch ausgegangen werden konnte. Sachte wischte er sich durch das lockige, lange Haar und seufzte schwer, ehe er Florence seine Aufmerksamkeit schenkte.
      "Das ist richtig", nickte er. "Meine Familie lebte in den Slums dieser Millionenstadt und war zufrieden damit. Wir wuchsen nicht weit von hier auf, ich und meine Geschwister. Gleich da vorne."
      Er wies müde mit dem Finger auf einen großen Trümmerhaufen, der sich in einiger Ferne erhob. Dort hatte einstmals ein großer Turm gestanden, gefertigt aus Lehm und Dreck hätte es den Anschein machen können. Doch viel eher erinnerte sich an die Wärme der Lichter, der Feuerstellen und der lachenden Kinder, die durch die Flure gehallt hatten. Als wäre es ein einziges großes Kinderheim gewesen. Grinsend und seltsam wehmütig dreinblickend sah der Dieb die Trümmer entlang und lehnte sich etwas auf das Holz, ehe es zu knarren begann.
      "Was passiert ist...", murmelte er und zuckte die Achseln. "Menschliche Habgier würde ich sagen. Oder Naivität? Ich weiß es nicht genau. Der 13. war den Oberen der einstelligen Distrikte schon immer ein Dorn im Auge. Ein Schandfleck auf der weißen Karte, jedoch so zahlreich, dass man sie nicht entfernen konnte, ohne EInbußen in der Wirtschaft zu befürchten. Was soll ich sagen...Die Straßen von Eden Falls waren gefährlich und nicht gerade sauber, wenn du verstehst. Und eines Tages schafften es die Bewohner, sich selbst auszumerzen. Einfach Habgier..."
      Er zuckte erneut die Achseln und seufzte nochmals schwer, jedoch konnte selbst der wohl Unbedarfteste an Bord erkennen, dass sich hinter dem spiegelnden Blick des Diebes mehr verbarg. Ein "Mehr", das er nicht zu berichten bereit war, auch wenn es ihm die Seele erleichtert hätte. Aber wie hätte er es erzählen können? Das Geheimnis, das Jeden einte, der dem 13. entkommen konnte? Es blieb dabei, dass er die junge Frau von Bord schaffen musste, so sehr er auch ein paar attraktive Beine und den Rest des attraktiven Körper an Bord schätzte. Er blickte zu Archie und wollte gerade Luft holen, die Eule zurück zu beordern, da er ein Glitzern im Augenwinkel bemerkte.
      Zunächst dachte der Seemann, es sei eine verirrte Träne oder gar mehr. Jedoch bei näherem Hinsehen blickte er auf ein schimmerndes Konstrukt am Horizont und für einen Moment überlegte der Dieb, ob er die Kanonen scharf machen lassen sollte.
      Erst im nächsten Moment erkannte er das schäbige Beiboot der Starfall.
      "Der Kapitän!", rief er über die Schulter und wollte gerade grinsen zu Florence sehen, als er die Segel hinter dem Beiboot bemerkte.
      Das war nicht gut!
      Hinter dem Beiboot, das offenbar mit hoher Geschwindigkeit flog, erhoben sich aus dem Nebel der Nacht weitere Luftschiffe. Allesamt trugen sie rote Segel und waren eher Korvetten gleich. Wesentlich schneller als die Starfall und wesentlich wendiger. Und sie alle trugen die Flagge der Fürstin von Million Towers!
      "Heilige Scheiße", murmelte er und drehte sich um. "ALLE MANN AUF GEFECHTSSTATION! BEN: KURS HALTEN UND VOLLEN SCHUB! ARNAUD, CLARA UND HURLEY: AN DIE KANONEN! LADEN UND BEMANNEN!"
      Trigg sah nochmals zu dem Schiff und schätzte die Entfernung.
      "Ich weiß, du bist nicht Mitglied dieser Mannschaft, aber ich brauche Jemanden, der einen Kurs finden kann! In etwa zehn Flugmeilen beginnt das "Kalte Gebirge". Eine Zackenschlucht, wo wir abtauchen können. Meinst du, du kannst einen Kurs finden? Die Karten findest du in der Kapitänskajüte. Schau nicht nach Links oder Rechts. Nimm die Karten vom Tisch und bring sie an Deck. Gib Ben Kommandos, er wird sie ausführen!"
      Trigg sah zu Ben. "MS FLORENCE BESTIMMT DEN KURS! DU FLIEGST! CHIMP: GEFECHTSSTATION!"
      Knurrend folgte die Mannschaft erneut erstaunlich präzise den Befehlen des Diebs, der sich selbst bewaffnete und zu den Steuerbordkanonen begab. Eilig begann er, eine der Kanonen mit den danebenliegenden Kugeln und Schießpulver zu beladen, während er die donnernden Kanonen der Korvetten bereits hörte.
      Das würde ein Spaß!

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    • Florence überblickte die Trümmerlandschaft von Eden Falls und fühlte heiße Scham allein bei dem Gedanken, dass sie sich pausenlos über den goldenen Käfig beschwerte, als den sie ihr gesamtes Leben betrachtete. Die Privilegien ihrer Geburt und die damit verbundenen Verpflichtungen, die engstirnigen Erwartungen ihrer Familie, verblassten angesichts der leblosen Ruinen im Schatten vom Million Towers. Sie würde nie begreifen, wie sich nagender Hunger anfühlte. Oder was es bedeutete zu frieren, wenn das wenige Brennmaterial ausging und keine Kleidung gefüttert mit kostbaren Fellen sie wärmte. Sie konnte nicht verstehen, wie sich der Schmerz in die Eingeweide fraß beim Anblick der zerstörten Heimat und der Erinnerung an den Verlust von Freunden und Familie. Wie gerne hätte sie Silas tröstende Worte geschenkt und gesagt, dass sie verstand. Die Erkenntnis, dass sie das das Ausmaß niemals begreifen würde, hinterließ einen bitteren Beigeschmack auf der Zunge. Sie war ein verwöhntes Mädchen, dass sich über Lächerlichkeiten beklagte und in diesem Augenblick kam sich die Kartografin furchtbar dumm vor.
      Die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen gepresst, schluckte Florence die Bitterkeit und auch das Mitleid hinunter, das garantiert das Letzte war was Silas von ihr hören wollte. Ein Blick in sein Gesicht reichte aus und die junge Frau wusste, dass der Mann an ihrer Seite keine weitere Frage zu seiner Geschichte beantworten würde. Manchmal hatte Theo sie auf dieselbe Art angesehen, mit dem unterschwelligen Wunsch etwas mit anderen Menschen zu teilen und es doch nicht fertig brachte die Worte über die Lippen zu bringen.
      Mehr zu sich selbst schüttelte Florence sachte den Kopf und tat das Einzige, das in ihrer wenigen Macht stand. Sie blieb.
      Silas durchbrach die Stille und die Kartografin folgte seinem Blick in Richtung des Horizonts. Sie war erleichtert den Anflug des Grinsen auf seinem Gesicht zu sehen. Obwohl sie Trigg kaum kannte, wirkte der ernsthafte und verbitterte Zug um seine Mundwinkel befremdlich.
      "Wunderbar, soll ich die Planke schon vorbereit...", begann Florence ihrerseits mit einem Grinsen ehe Trigg Alarm schlug.
      Hektisch kehrte das Leben an Deck zurück.
      Florence wirbelte auf dem Absatz herum und glaubte sich verhört zu haben. Sie war Kartografin keine Navigatorin! Den Umgang mit den feinmechanischen Messinstrumenten hatte sie nur flüchtig erlernt. Wie bei einem Goldfisch im Glas öffnete und schloss sich ihr Mund wieder.
      Trigg musste den Verstand verloren haben wenn er den Erfolg einer waghalsigen Flucht in schwindelerregender Höhe einer eigentlichen Fremden anvertraute. Beim ersten ohrenbetäubenden Donnern fremder Kanonen begriff auch die erstarrte Florence, dass es keineswegs ein leichtfertiger Witz war. Sie straffte die Schultern und nickte entschlossen.
      Um keine wertvolle Zeit zu verlieren, griff Florence beherzt in ihre Röcke um nicht über den Saum zu fallen und eilte über das Deck davon. Zügig fand sie den Weg und balancierte geschickt die schwankenden Bewegungen des Schiffes aus. Glücklicherweise war jedes Luftschiff mit ähnlicher Bauweise konstruiert worden, sodass sie gar nicht erst den Weg in den Bauch der Starfall benötigte. Schwungvoll riss sie die Tür auf und dachte an die mahnenden Worte von Trigg. Angesichts der brenzligen Lage hatte sie ohnehin keine Zeit neugierige Blicke zu riskieren. Florence stürzte auf den Tisch im Zentrum des Raumes zu und beäugte das Chaos an Karten, Papieren und Schreibwerkzeug. Tintenflecken verliehen dem Holz ein eigenartiges, gesprenkeltes Muster. Sie wischte ein paar Bleistifte und anderes Kleinzeug bei Seite und versuchte in dem Berg aus Land- und Seekarten die Richtige zu finden. Verwundert hielt Florence kurz inne und hob mit vorsichtigen Fingern eine vergilbte Karte hoch. Sie war mit viel Sorgfalt von Hand gezeichnet worden und zeigte ein detailliertes Abbild der bekannten Welt. Sie war liebevoll gestaltet mit winzigen, kunstvollen Zeichnungen einer Seeschlange in der Splittersee. In einer andere Ecke entdeckte sie eine hübsche Sirene auf einem Felsen. Sie kannte die Seewege, die auf der Karte eingezeichnet waren. Es waren die Routen die ihren Großvater berühmt gemacht hatten, durch Gebiete voller scharfkantiger Felsen und unregelmäßiger Gezeiten, aber diese eine Karte war zu kunstvoll um ein einfaches Werkzeug zu sein. Sie war ein Geschenk gewesen.
      Tatsächlich entdeckte Florence auf der Rückseite bläuliche Wachsrückstände, die einst ein Siegel gebildet hatten.
      Und wenn sie die Karte an den vorhandenen Faltlinien knickte ergab das blaue Wachs die stilisierte Darstellung einer Eule. Das Familiensiegel der Ainsworth. Also hatte Trigg die Wahrheit gesagt.
      Ein lauter Knall unweit der Starfall holte die Kartografin zurück in die Realität.
      Sie legte die Karte zurück und fand schließlich die Karten, die sie benötigte um das richtige Gebirge zu finden. In Eile warf sie sich eine Tasche um und stopfte ein paar Instrumente hinein. Angesichts der Umstände würde Nightingale es ihr sicher nachsehen, dass sie sich an seinen Sachen bediente. Immerhin hatte sie nicht vor die Dinger zu behalten. Florence verließ die Kapitänskajüte ebenso schnell, wie sie eingetreten war.
      Die Morgendämmerung kündigte sich an und Florence versuchte die wärmenden Sonnenstrahlen, die langsam über die Horizont krochen als gutes Zeichen für einen riskanten Flug zu sehen. Sie nahm jede zweite Stufe auf dem Weg zur Position des Steuermannes empor und war trotz der Ankündigung etwas überrascht neben David auch Ben dort zu entdecken.
      Florence warf dem Mann am Steuer einen nervösen Blick zu, während sie eilig aber sorgfältig die Karten auf einem kleinen Tisch ausbreitete und mit kleinen Gewichten aus Blei beschwerte, damit nichts davon flatterte. Mit ungeübten Handgriffen arretierte sie den mitgebrachten Sextanten während sie mit geschultem Auge die aktuellen Position auf der Karte ausfindig machte.
      "Wenn du ein gläubiger Mensch bist, Ben, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt um mit dem Beten anzufangen.", sagte sie mit einem wackeligen Grinsen und zog einen altmodischen Kompass aus dem geliehenen Beutel.
      "Korrigier den Kurs um Fünfzehn Grad steuerbord. Wir müssen Richtung Westen", murmelte Florence gerade laut genug für David und fuhr mit Finger über die Karte, ehe sie auf das kalte Gebirge traf. In der Karte war ein kleiner Korridor eingezeichnet, der durch das Gebirge führte. Der Kurs war nachträglich und mit flüchtiger Linienführung gezeichnet worden und gehörte ganz offenbar nicht zur ursprünglichen Version. Die Chancen standen hoch, dass ihre Verfolger dieses Schlupfloch nicht kannten. Sie konnte an den felsigen Kluften zerschellen. Ebenso wie die Starfall wenn Florence nicht präzise ihre Aufgabe erledigte.
      Die Kartografin versuchte die Unruhen in den Hintergrund zu drängen und blickte nach Korrektur des Kurses durch das Teleskop des Sextanten. Mit einem dezenten Klicken wechselte Florence mehrfach die unterschiedlichen Linsen, bis sie die Umrisse des Gebirges am Horizont ausmachen konnte. Sie drehte an den winzigen Zahnrädchen um den Winkel zu imitieren, der neben dem Beginn der Schlucht notiert war. Ein Lächeln umspielte ihr Gesicht als sie sicher war, das rettende Schlupfloch gefunden zu haben.
      "David, du musst sie ruhig halten, kriegst du das hin? Wenn wir den Eingang zur Zackenschlucht passiert haben, müssen wir zügig und präzise die Richtung wechseln. Jeweils im Abstand von Zehn Schlägen."
      Demonstrativ klopfte Florence beeindruckend ruhig auf das Holz und zählte dabei bis Zehn, beim letzten Klopfen sah sie den Steuermann an und suchte nach Bestätigung. Auf einer weiteren Karte, einer vergrößerten Version der Schlucht, waren die waghalsigen Richtungswechsel zu sehen. Einmal falsch gelegen und die Starfall kollidierte mit massivem Fels.
      "Beim jedem zehnten Schlag gebe ich die Richtung vor.", sagte sie und warf einen erneuten Blick durch das Teleskop, um den Kurs zu kontrollieren, die Berge kamen unaufhaltsam näher und ihr Weg in die Freiheit war nicht mehr als eine viel zu winzig wirkender Schatten zwischen scharfkantigen Felsen.
      “We all change, when you think about it.
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      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • David hatte sich ausgebreitet.
      Sein mechanischer Körper bestand - ähnlich wie Archies - aus einzelnen metallenen Elementen, die sich durch Hydraulik und diversen Kugelgelenken bewegen konnten. So war es auch nicht erstaunlich, dass David nochmals größer erschien. Mit einer gewaltigen Körpermasse von Eisen stand er ausgebreitet wie eine Spinne vor dem Steuer. Zwei metallene Arme hielten das Steuer eisern umklammert, während ein dritter vermeintlicher Arm um den Schubhebel geschlungen war. Der vierte Arm hielt eine simple Windfackel, ein Mittel zur Navigation. Mittels dieser einfachen Technik hatte ihm Nightingale gezeigt, wie er den Windwiderstand messen konnte, um einen Kurs leichter zu halten.
      Der Kompass vor dem Steuer spielte regelrecht verrückt, zeigte aber beträchtlich klar in Richtung Westen. Nun, zumindest fast.
      Als Florence die Brücke hinauf gehechtet kam, zog er mit der dritten Hand seinen Hut vom Kopf und gab ein blechernes Keuchen von sich. Womöglich hätte es eine Art lachen sein können, wenn er noch einen Körper gehabt hätte.
      "Ben ist kein gläubiger Mann", blecherte er und starrte nach Vorne.
      Es war schon eine Weile her, dass er einen Sextanten gesehen hatte und hätte er lächeln können, er hätte es getan. Stattdessen sah der Steuermann dem Tagewerk der Kartografin zu, während die Starfall beträchtlich an Geschwindigkeit gewann. Der Ballon gab bereits beängstigende Geräusche von sich und die Takelage begann zu knarren, während der Wind durch sie hindurch ging. Trigg und die anderen hatten ihre Stellungen bezogen und während der Dieb auf dem Mast herum turnte und sich selbst an eben Jenen band, damit er nicht fiel, kam das Beiboot des Kapitäns immer näher. Das Donnergrollen wurde lauter und es dauerte nicht lange in Florences Recherche, da flogen die ersten Kanonenkugeln an ihnen vorbei. Mit einem gewaltigen Zischen durchteilten sie die Wolken und rissen das Tuch des Windes entzwei, konnte man meinen.
      "KANONEN KLAR!", brüllte Trigg und hielt ein Fernglas von der Größe eines kleinen Stocks an sein Auge. "FEUER!"
      Ein Donnern, schlimmer als der Donner der ewig grünen Insel, erklang in der Flur, als die Steuerbordkanonen zu feuern begannen. Hurley wurde zurückgeschleudert, während Clara und die anderen ihren Platz behaupteten.
      Die Kugeln flogen beinahe ins Nichts, doch trafen wohl eines der Segel. Man hörte bereits Nightingales wütendes Gebrülle während er versuchte, das Beiboot entlang des Schiffes zu steuern.
      Schweigsam lauschte David den Befehlen der jungen Frau und richtete die Starfall gemäß dem Geheiß aus.
      "Fünfzehn Grad Steuerbord!", wiederholte er. "Halte sie ruhig."
      An anderer Stelle hatte das Beiboot beinahe die Starfall erreicht.
      Nightingale befand sich an Bord und auf seinem Gesicht zeichnete sich mehr und mehr ein gehetzter Ausdruck ab. Vielleicht hätte er auch wütend sein können, wenn er nicht just in dem Moment den Kopf hatte einziehen muss. Mit einem Krachen, lauter als mancher Pistolenschuss, zerschmetterte es die östliche Reling des Schiffes, gepaart mit einem unmännlichen Gebrülle von Nightingale, der sein Beiboot längsseits ausrichtete. Es war keine Zeit für ein Andocken!
      Trigg verfing sich in seiner eigenen Beinschlinge und ratterte wie eine sich abwickelnde Spule den Mast hinab, während Clara mit einem gezielten Schuss einen Mast einer Korvette treffen konnte.
      "AYAYAYAYAYAYAYYAYAYAYA", schrie Trigg.
      "Volltreffer!", rief sie und streckte jubelnd die Hände in die Luft, während Hurley sich über die zerschmetterte Reling hängte.
      "Hach, wir haben Schäden!", rief er stattdessen.
      "Wir haben immer Schäden!", sagte Ben, der eine weitere Kanone abschoss. Zur Belohnung schlug eine gegnerische Kugel im Heck ein und verfing sich in den Stahlplatten.
      "Ja, aber dieses Mal ist es - hach - in der Außenwand. Dort ist ein Loch. Wir verlieren Sprit!"
      "WAS?!", donnerten die Mitglieder der Mannschaft unisono, während Nightingale mit einem beherzten Sprung in das Loch sprang.
      Trigg war derweil unten angekommen und leicht grünlich im Gesicht. Das Blut auf seiner Stirn stammte vom Deck, auf welches er beherzt aufgeschlagen war.
      "Shurorororo, auf in den Kampf, Männer!", rief er und zog seine Waffe.
      "Hey!"
      "Und Frauen! Und Frauen natürlich! Achtet auf die Kanonen, zieht die Köpfe ein und richtet die Waffen aus! Und Florence: Bring uns verflucht noch mal hier raus!"
      Eine weitere Kugel schlug ein und hätte Trigg beinahe geköpft, wenn es nicht der zehnte Schlag gewesen wäre und David den Kahn ein wenig verschoben hätte.
      "Ei verflucht."
      Von unten erklang donnerndes Gehämmer. Arnaud und Liam versuchten, den Kessel abzudichten, damit sie keinen Treibstoff verloren. Man hörte von unten gedämpft die laute Stimme des Kapitäns.
      "LIAM VERDAMMT NOCH MAL! WIR BRAUCHEN DICH AN DECK! ICH KANN DIE KUGELN NICHT MIT MEINEM AUSSEHEN ABWEHREN!", schrie Trigg aus Leibeskräften.

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    • Die Welt entschleunigte bis Florence das Gefühl hatte sich in Zeitlupe zu bewegen.
      Mit voller Konzentration richtete sie den Blick in das tiefschwarze Maul der Schlucht, die sie durch den massiven Gebirgskranz führen würde. Der Lärm reduzierte sich auf ein statisches Hintergrundrauschen während ihre Knöchel wartend über dem fleckigen Holz ruhten. Möglichst ruhig atmete die Kartografin ein bis ihre Lungen zum Bersten gefüllt waren ehe sie ebenso langsam den Atem wieder ausstieß. Den Luxus sich um herumwirbelnde Splitter und Schiffsteile zu sorgen, hatte Florence nicht. Allerdings war sie hinter dem metallartigen Schild, den Davids Körper unmittelbar vor dem Steuer bildete, relativ gut geschützt.
      Die bedrohliche Schwärze näherte sich unaufhaltsam und mit rasanter Geschwindigkeit, die den meisten Menschen wohl eine gehörige Portion Furcht eingeflöst hätte. Florence spürte nichts außer dem peitschenden Wind im Gesicht und das Pochen ihres eigenen Herzens, dass beneidenswert ruhig in der Brust schlug. Ein letzter Blick flog über den halsbrecherischen Kurs der Schlucht, die zu ihrem Glück in natürlicher Regelmäßigkeit die Biegungen wechselte. Sie prägte sich die Reihenfolge der Richtungswechsel gut ein.
      Ein flüchtiger Blick huschte zu David, dem sie zuversichtlich zu nickte wobei sie zumindest hoffte, dass sie nicht allzu nervös aussah.
      Wenige Sekunden später verschluckte die Dunkelheit des Gebirgspasses das Luftschiff und ihre Knöchel schlugen ein erstes Mal auf das Holz.
      Das spärliche Licht der Morgensonne reichte kaum aus umgenug Helligkeit in die Schlucht gespickt mit scharfkantigen Felsen bringen, dass eine Navigation auf Sicht überhaupt möglich gewesen wäre.
      Die Kartografin verdrängte die belastenden Emotionen, die an den Innenwänden ihres Schädels kranzten wie ausgehungerte Tiere.
      Sie konnte es sich nicht leisten einen Gedanken daran zu verschwenden, wie viele feindliche Korvetten ihnen im Nacken saßen, durfte sich nicht von dem ohrenbetäubenden Einschlägen der Kanonenkugeln ablenken lassen. Florence durfte nicht darüber nachdenken, ob Nightingale in seinem wendigen Beiboot überhaupt ohne Gefahr ein Andockmannöver wagen konnte. Die Entfernung von Beiboot zur Felswand war so lächerlich winzig, das ein unachtsames Zucken des Steuerrades eine Kollision verursachte. Sie die Überlegung nicht zulassen, die sich irrational in ihren rasenden Synapsen ausbreitete, welche Folgen es haben könnte, wenn Silas lebensmüde genug war um seine speziellen Fähigkeiten ein weitere Mal in dermaßen kurzer Zeit zu verwenden und ob die Folgeschäden als Konsequenz von Dauer waren. Florence schob die Namen aller von sich, die sie in den letzten Stunden gelernt hatte, strich die Erinnerung an die Gesichter aus ihrem Verstand.
      Ein letzter tiefer Atemzug und schloss die Augen.
      Sie würde sich nicht ablenken lassen von den bedrohlichen Felswänden, die sich vor den Richtungswechseln vor ihnen auftürmten und lediglich darauf warteten, dass Stahl und Holz an ihnen zerschellten und Segel an den Felsvorsprüngen zerrissen wie dünnes Papier. Aus einem ängstlichen Reflex heraus würde sie nicht die Leben riskieren, die ihr anvertraut wurden. Florence verließ sich auf David und fokussierte sich gänzlich auf die präzise Einhaltung des veranschlagten Rhythmus. Still und ohne Hektik zählte sie die Zahlenfolge ab und anstatt der erwartete Zehn durchschnitt die Stimme der Kartografin den Wind und die dämmrige Finsternis.
      "Steuerbord. Jetzt!" Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs, Sieben, Acht, Neun. "Backbord. Jetzt!"
      Links, rechts, rechts, links.
      Für den Bruchteil eines Moments bestand Florence ganzes Universium aus Zahlen und Richtungen.
      Die blecherne Imitation einer schreienden Eule echote von den Felswänden, als Archimedes sich todesmutig auf einen der feindlichen Steuermänner stürzte, der in Panik nach dem metallischen Attentäter schlug und dabei seine wichtigste Pflicht vernachlässigte.
      Die Stimmen an Deck bildeten einen Chor mit den buntesten und unterschiedlichsten Stimmfarben und doch verstand Florence kein einziges Wort. Die Silben rauschten bedeutungslos an ihr vorbei. Hinter ihr ertönte ein abgeschnittener Schrei gefolgt von einer massiven Explosion, die das Deck des Starfall erzittern ließ. EIne Korvette musste in Folge des letzten Wendung mit dem massiven Fels kollidiert sein. Die Hitze der Detonation brannte im Nacken und verdeutliche wie nah ihnen die Verfolger und Handlanger der Fürstin auf den Fersen waren.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Nach der gewaltigen Detonation riss es Trigg förmlich von den Füßen.
      Während David sein möglichstes tat, die Schreie der anderen auszublenden und nicht darauf zu achten, wohin das Beiboot tingelte, folgte er den Befehlen der jungen Kartografin, die sie erstaunlich präzise durch die Schlucht manövrierten. Er würde sogar soweit gehen, um festzustellen, dass sie es mindestens genauso geschickt anstellte wie Liam selbst. Wenn er nicht trank oder gerade von einer Nuttenprellung zurückkehrte.
      Sachte schwankte die Starfall durch die meterhohen Schluchten. Und trotz des Donners hinter ihnen erschien die Welt noch immer in Flammen zu stehen. Zwischenzeitlich hatten sich Hurley und Clara am Heck postiert und dort die beiden einzigen Kanonen besetzt, die schussfähig waren. Immer wieder donnerten die Schüsse durch die Schlucht und schlugen an den Seitenwänden ein. Brockenweise stürzten Felsstücke in die Tiefe, während das Schiff sich ungewohnt behände fortbewegte.
      Bewegung an Deck kam erst zurück, als Liam aus dem Unterdeck aufs Oberdeck stieg.
      Der Kapitän hatte einige Prellungen abbekommen und eine Wunde auf seiner Stirn blutete stark, während er sich an den Seilen hinaufzog und schweren Fußes auf das Deck stieg.
      "Was soll das?!", donnerte er und sah zu Trigg.
      Dieser zuckte die Achseln und begann zu lachen.
      "Shuororororo, was meinst du?!"
      "Sollte diese Irre nicht fort sein?", fragte Liam über den Lärm hinweg und zog sein Schwert aus der Scheide, als er sich auf den Weg zum Heck machte. "Und jetzt fliegt sie mein Schiff!"
      "Sie navigiert, du Ochse! Und jetzt tu was, wir werden beschossen!"
      Grummelnd duckte sich Liam unter einer Kugel weg und sah mit Tränen in den Augen zu, wie die Bugfigur sorgsam enthauptet wurde. Gott, die arme Mathilda...Sie war so wunderschö-
      Ein weiteres Zischen um seine Ohren rüttelte ihn wach und er zog sich unter dem Getöse der Korvette hinter ihnen auf das Heck. Wütend sah er David an, der mit piependen Augen zur Seite blickte. Mit bebender Unterlippe trat er an Florence heran, die gerade einen Takt ausließ und knurrte.
      "Wehe, du versenkst es."
      Das Schwert in Händen wandte er sich um und legte einen Fuß auf die Reling. Die Korvette, die sie verfolgte, war nah. So nah, dass man die Gesichter der Feinde bereits sehen konnte. Wie sie auf sie zeigten und die Kanonen durchluden, aber auch sichtlich Schwierigkeiten hatten, den Kurs zu halten. Es wurde Zeit.
      "Kurs halten!", rief Liam, ehe er sich erinnerte, dass er das Schiff nicht befehligte.
      Grummelnd und missmutig stellte er sich auf die Reling und hielt mühevoll das Gleichgewicht. Eine Kanone wurde durchgeladen auf der anderen Seite. Sehr gut!
      Leicht ging er in die Knie und holte mit seinem Schwert aus als trüge er einen Knüppel. Sacht und seitlich über die Schulter geschwungen und bereit, etwas zu treffen, sofern es nur in seine Reichweite kam. Sachte atmete Liam ein und aus, ehe er den Kanonendonner hörte.
      Hurley hatte sich in weiser Voraussicht zur Seite geworfen, als das Schwert des Kapitäns sirrend durch die Luft schnitt. Mit einem gewaltigen "KLONK" trafen Schwert und Eisenkugel auf einander und eigentlich hätte es -den Gesetzen der Physik folgend - den Kapitän zerreißen müssen.
      Doch erstaunlicherweise geschah das Gegenteil.
      NAch dem Klonk erfolgte ein Seufzen des Himmels wie es schien, denn die Kugel stoppte in ihrem Streben, stetig nach vorn zu fliegen. Wie ein geschlagener Ball schoss sie stattdessen in die andere Richtung und schlug zielsicher im Rumpf der Korvette ein, die trudelnd in den nächsten Felsen stürzte.
      Sie mussten aus dieser verdammten Schlucht raus!

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Bei der Bezeichnung "diese Irre" zuckte Florence' Augenbraue gefährlich.
      Eine ruhige Sekunde um sich mit einer gepfefferten Antwort zu revanchieren, blieb der Kartografin bedauerlicherweise nicht. Schließlich hatte sie in Million Towers den Hals riskiert um Nightingales verlorenen Kanonier an Deck der Starfall zubringen und schöpfte augenblicklich alles vorhandene Talent und Wissen aus um sein geliebtes Schiff sicher durch eine felsige Todesfalle zu manövrieren. Allein die brummige, tiefe Stimme des unverschämten Piraten sorgte dafür, dass der Pulsschlag einen besorgniserregenden Rhythmus anschlug. Und das keinesfalls vor kaum zu zügelnder Begeisterung.
      Ruckartig fuhr Florence' Kopf herum und durch den winzigen Spalt, den sie ihre Augen geöffnet hatte, sah sie Nightingale verbissen an. Um es mit einfachen Worten auszudrücken: Hätten Blicke töten können, wäre der Mann auf der Stelle tot umgefallen.
      "Vielen Dank für den hilfreichen Ratschlag, Käpt'n.", zischte die Frau, der vor Konzentration und Anspannung der Schweiß auf der Stirn stand. Vielleicht war es auch der verbliebene Rest an sengender Hitze der vorherigen Explosion. Hätte er sich gegenüber der jähzornigen Fürstin wie ein Gentleman verhalten, hätten sie keine Armada von feindlichen Korvetten am Hintern kleben.
      Die Knöchel klopften erneut zur Acht auf das Holz und sie reckte das Kinn hoch zu David.
      "Kurs halten", wiederholte sie den Befehl von Nightingale in ihrem Rücken wohlwissend, dass es ihn auf die Palme brachte, dass sie momentan sein Schiff befehligte und durch die gefährlichen Windungen navigierte. Neun. "Steuerbord. Jetzt. Das war's! Gib Gas, David!"
      Sollte der Steuermann ruhig zeigen ob die Starfall wirklich so schnell war, wie es in den Papieren stand. Zumindest war sie für ein Luftschiff ihrer enormen Größe äußerst wendig. Etwas von der drückenden Last fiel von ihren Schultern ab, als sie einen gleißenden Lichtschimmer am Ende der zerklüfteten Schlucht entdecke. Ihr Blick wanderte an den Felswänden hinauf. Durch die Detonation und die aufprallenden Kanonenkugeln schien das Gestein heftig zu erzittern. Von oben begann kleinere Felsen und staubiges Geröll auf die Starfall und die übrig gebliebenen Verfolger zu rieseln. Florence fragte sich ob die Fürstin selbst sich ebenfalls in ihrer Wut in den schmalen Pfad gestürzt hatte. Bei den lockeren Felsvorsprüngen kam der Kartografin eine Idee.
      "Clara! Ben!", rief sie zum Heck herüber und sah gerade noch wie Nightingale mit dem Schwerte eine Kanonenkugel in der Luft bremste, die vermutlich das Schiffsheck inklusive Steuermann und Florence in der Luft zerrissen hätte. Das war physikalisch ein Ding der unmöglich, kein Mensch konnte eine solche Kraft besitzen. Andererseits hatten einige der Crewmitglieder bereits bewiesen, dass sie merkwürdige und eigenwillige Talente besaßen. Da war es nicht verwunderlich, dass auch der Käpt'n versteckte Fähigkeiten besaß, die nicht in den Steckbriefen erwähnt wurden.
      Die Frau in Davids Rücken besann sich und schüttelte den Kopf, als versuchte sie die Ablenkung abzuschütteln.
      "Clara, Ben. Seht nach oben! Feuert auf die Risse zu beiden Seiten in der Felswand.", rief sie über den Lärm hinweg. Mit etwas Glück und dem richtigen Timing sollte das herab stürzende Gestein ihre Häscher treffen aber ihnen zumindest fürs erste den Weg versperren um etwas Sicherheitsabstand zu gewinnen.
      Als der Bug geradeso das Ende des riskanten Fluchtwegs passierte, wirbelte Florence erneut herum.
      "JETZT! FEUER!"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Konnte diese Frau noch nerviger sein?
      Während Nightingale noch der Korvette hinterher starrte und sich der Flammen ergötzte, die das Schiff wie einen Kometen aussehen ließen, fragte er sich innerlich, wie lang sie noch durch diesen Irrgarten von Scheiße fliegen mussten? Die Schluchten um Million Towers waren lang, aber er hatte sie kaum so lang in Erinnerung. Mit einem kurzen Schniefen legte er das Schwert auf der Schulter ab und wischte sich einen Blutfaden aus dem Gesicht.
      Da fiel ihm ein:
      Hatte sie gerade seinen Befehl wiederholt? Wie ein Kapitän???
      Dem Lachen in seinem Rücken ("Shurororororoorororo") nach zu urteilen, traf er nicht nur ins Schwarze, sondern hatte den verdammten Mahlstrom der Schwärze aufgetan. Kurz schloss Nightingale die Augen und stellte sich eine Zukunft ohne diese Irre vor, die ihm sein Schiff durch die Schluchten-
      Halt Stop!
      So nicht!
      Sie war eine Usurpatorin, die sich unrechtmäßig Zugang auf diesem Schiff verschafft hatte. Dieses Mal offenbar willentlich, weil sie schon wieder hier war, obwohl sie weg sein sollte. Wie dieser merkwürdige Pilz, den man nicht mehr weg bekam, wenn man ihn zu lange ansah. Grimmig drehte er sich auf der Reling um und sprang auf das Heck, als Florence ihren Befehl an Clara und Ben rief.
      Und beide taten was sie sagte! Sogar gleich. Und zackig. Als wäre sie...Nein! Das durfte er nicht denken. Jedoch noch ehe Liam Luft geholt hatte, um seinen Unmut kund zu tun, riefen beide unisono:
      "AYE KÄP-"
      Und hielten inne.
      "SCHNAUZE!", donnerte Nightingale und zeigte wütend auf beide. Sein Mund stand hierbei so weit offen, dass er gut eine Einflugschneise hätte bilden können. "Feuert", murmelte er anschließend viel zu leise als dass man es hören konnte.
      David indes legte den Schubhebel um und blecherte vor sich hin, wärhend die Motoren ansprangen und auf volle Leistung gingen. Röhrend wie ein alter Auspuff knatterten die Zahnräder über die Führungsketten und mit einem gewaltigen Knall machte die Starfall einen Ruck nach vorne.
      Aus dem Maschinenraum erklang ein männlicher Schrei, während alle anderen einen Satz nach hinten machten, als sich David in den vollen Schub legte.
      "Jippieh", sagte er roboterhaft monoton, während Clara und Ben die Kanonen ausrichteten.
      Mit einem gezielten Schuss, der nach Florences Befehl erfolgte, rissen die die Kugeln Löcher in die Felswand. Dessen nicht genug, fielen sie auch noch perfekt abgepasst auf ihre restlichen Verfolger und versperrten die Schlucht. Ein guter Kapitän musste eingestehen, dass die junge Dame dort an seinen Karten Talent besaß. Und das nicht wenig. Selbst das Jubeln der Mannschaft war echt, als sie ihre Fäuste hoch rissen und der jungen Dame zuprosteten. Selbst Clara blies sich nur eine Strähne aus der Stirn.
      Liam jedoch war genervt.
      Genervt war nicht das rechte Wort, werter Freund. Stocksauer traf es eher. Wütend stapfte er über das Deck auf Florence zu und blieb gefühlt zwei Zentimeter vor ihrem Gesicht stehen und beugte sich hinab.
      "DU!", donnerte er. "Du! Du...Du....Wie kannst...Du...."
      "Beruhig dich, alter Ochse!", rief Trigg und grinste. "Sie hat uns diesmal gerettet."
      "HALT DEINEN VERTEUFELTEN RAND DU NUTTENPRELLER SONST SCHICKE ICH DEINEN ARSCH ZU DEN FISCHEN!"
      Das Schreien des Kapitäns hatte ein merkwürdiges Level angenommen, aber das Lachen von Trigg und den anderen war echt, als sie einstimmten und die Fahrt fortsetzten.
      "Ha. Ha. Ich. bin geradezu. Wild.", bemerkte David abgehackt und wesentlich später.
      "Wir müssen landen", murmelte Liam und seufzte. Unwirsch schob er sich an Florence vorbei und blickte auf seine (!) Karte, die sie mit Gewichten entweiht hatte.
      David linste mit auf die Karte und war sich unsicher, ob Nightingale noch etwas sagen würde. Doch die Auswahl war nicht gerade groß. Die Starfall würde nicht lange in der Luft bleiben können, so viel stand fest.
      "Flieg noch zehn Meilen weiter. Da ist eine Steinwüste. Setz uns dort ab", sagte er zu David und anschließend zu Florence.
      Eine Sekunde lang öffnete er den Mund erneut und wollte etwas sagen, klappte ihn jedoch unverrichteter Dinge zu. Stattdessen stapfte er wütend in Richtung des Maschinenraums davon.
      David indes sah ihm hinterher und anschließend zu Florence.
      "Das haben Sie gut gemacht"; blecherte er.

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      The more you drag me to hell
    • Viel Zeit blieb Florence nicht, um sich über den Erfolg des Manövers zu freuen.
      Aus allen Winkel des Schiffsdecks trug der Wind begeisterten Jubel heran und zum ersten Mal seit sie die Starfall betreten hatte, fühlte sich Florence nicht mehr wie ein störender Fremdkörper zwischen den eingeschworenen Verbündeten. Das verblüffende Gefühl von Zugehörigkeit stellte sich ein und zauberte ein strahlendes, befreites Lächeln auf ihr Gesicht, das scheinbar von einem Ohr zum Anderen reichte. Die Erleichterung über die gelungene Flucht durchflutete die Kartografin mit einer Welle aus purem Adrenalin und hinterließ eine angenehme Leichtigkeit in ihrem Kopf. Ein schwindelerregender Triumph, der dadurch gekrönt wurde, dass Nightingale sie verdattert ansah. Allerdings hielt die Freude darüber nicht allzu lange an. Wütend stapfte der Kapitän des Luftschiffes in ihre Richtung und hatte dabei verdächtige Ähnlichkeit mit einem wutschnaubenden Ochsen. Florence sollte hoch angerechnet werden, dass sie keinen ängstlichen Schritt zurückwich, als der hochgewachsene Pirat mit der säuerlichen Miene lediglich wenige Zentimeter vor ihr stoppte.
      Auf die donnernde Stimme reagierte die Kartografin mit einer erwartungsvoll erhobenen Augenbraue, die ihn förmlich stumm dazu aufforderte seinen gestammelten Satz zu beenden.
      Bitte, sprich weiter. Zumindest blitzten die stichelnden Silben geradezu in den rehbraunen Augen. Der bernsteinfarbene Ring um die pechschwarze Iris verstärkte den Eindruck dabei. Mühevoll versuchte Florence den ernsten Gesichtsausdruck aufrecht zu erhalten, doch das haltlose Geschrei des Piraten und das darauf folgende amüsierte Gelächter seiner Crew forderte zwangsläufig den wohlverdienten Tribut. Die junge Frau hob die Hände und verbarg das heran nahende Kichern wenig überzeugend hinter den Fingern. Ausgerechnet David mit seiner monotonen Sprechweise, die im abstrakten Kontrast zu den gesprochenen Worten blechern hinter ihr erklangen, haben Florence den Rest. Die Chance weiterhin standhaft zu bleiben, flog einfach über Bord.
      Selbst als Nightingale sie grob zur Seite bugsierte, hörte das belustigte Glucksen aus ihrer Kehle einfach nicht auf. Sie beobachtete mit glitzernden Lachtränen in den Augen, wie er die Gewichte auf den Karten beäugte als hätten sie ihn persönlich beleidigt.
      Mit dem Zeigefinger wischte sich Florence über das rechte Auge und blinzelte zum metallischen Steuermann und einem fassungslosen Kapitän herüber. Allmählich beruhigte sich die Kartografin und holte mit einem zitternden Atemzug dringend benötigten Sauerstoff zurück in ihre Lungen. Da bemerkte sie erst, dass Nightingale sie anstarrte. Florence verstummte und wartete ein weiteres Mal darauf, dass er etwas sagte. Dieses Mal erreichte sie kein zorniges Gestammel. Erstaunlicherweise entschied sich Nightingale für die schweigende Variante und stapfte einfach davon.
      Florence setzte ihm mit wenigen eiligen Schritten nach und blieb jedoch an der Reling stehen, die das Schiffsdecke überragte. Mit beiden Händen stützte sie sich darauf ab und lehnte sich mit einem Grinsen auf den Lippen vor.
      "Was du sagen wolltest war: Ich bin dir auf ewig dankbar, dass du mein Schiff und meinen Arsch vor der glühenden Rache meiner verschmähten Geliebten gerettet hast! Und es tut mir leid, dass ich dich eine Irre genannt habe!", rief sie ihm nach, wobei er ein stürmische Böe die ungebändigte Mähne über die Schultern wehte.
      Danach verlagerte sie ihr Gewicht spielerisch zurück auf die Fersen und drehte sich zu David um.
      "Danke, David.", sagte sie und meinte es von ganzen Herzen ehrlich.
      Ihr Blick glitt über das von Trümmern übersäte Schiffsdeck und ohne weiter darüber nachzudenken, raffte sie sie Röcke der Seite ein wenig hoch um mehr Beinfreiheit zu gewinnen und hüpfte die Stufen herunter und begann anstandslos der Crew beim Aufräumen des Decks zu helfen. Bis zum gewünschten Ziel würde noch ein wenig Zeit vergehen und während sie kleinere Schutt- und Geröllhaufen zusammenfegte, verschwand keine Sekunde das Lächeln aus ihrem Gesicht.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Gott, wie ihm diese Frau auf die Nerven ging.
      Bei den sieben Teufeln von Agramor, es verblieb ihm ein Rätsel, wie sie auch noch so talentiert sein konnte. Auf ihren letzten Satz hin hatte er nur ein unwirsches Grunzen von sich gegeben und Liam war Florence seither aus dem Weg gegangen. Nicht, weil sie ihn körperlich nicht ansprach, sondern eher, weil er sie schlichtweg nicht mochte.
      Talentiert zu sein war eines, hochmütig etwas anderes. Und Liam empfand sie schlicht als hochmütig. Während die Crew die Trümmer der Schlacht versorgte, hatte er Arnaud an eine Seite des Decks gerufen. Seine Jacke störte, sodass er sie in seiner Kajüte ablegte. Darunter kam ein Wams zum Vorschein, das seine besten Tage bereits hinter sich hatte. Ein alter Schweißfleck zierte den Rücken und die ausgerissenen Ärmel, sodass man beinahe bis zu seinen Schultern sehen konnte. Nichtsdestoweniger zeigte sich der Kapitän in guter Form, während er sein Schwert sorgsam in seiner Kajüte verstaut hatte. Gleich neben der Karte, die eigentlich Niemand anfassen durfte.
      "Wir sollten den Rumpf dort verstärken, wenn wir landen", murmelte Arnaud und wies auf die blank gelegte rechte Außenseite. "Hörst du mir zu?"
      Liam blinzelte und löste den Blick von Florence und nickte.
      "Ja, verstärken", nickte er und sah zu der entblößten Seite. "Wir könnten es auch mit Eisen zuschweißen."
      "Woher nehmen, wenn nicht stehlen?", fragte Arnaud und stemmte die behaarten Arme in die Hüften. Auch er hatte das wenige, das er am Leibe trug auf das mindeste reduziert, sodass man seine behaarte Brust recht prominent begutachten konnte.
      Nightingale überlegte und ging an der Reling auf und ab während er sich mehr denn je fragte, warum er das alles auf sich nahm.
      "Wir versuchen es mit Holz", sagte er schließlich und nickte. "Wir haben noch Restbestände und können ein wenig der Bilch reduzieren. Der Kessel muss geschweißt werden und wir müssen zumindest Metallteile haben. Also nehmen wir den Kerker auseinander würde ich sagen."
      Nach einer kurzen Gesprächsphase widmete er sich der Reinigung des Schiffes. Sorgsam darauf bedacht, nicht zu nah zu Florence zu gelangen.

      Die Starfall setzte erst eine Stunde später zum Sinkflug an.
      Man kann es halten wie man will, verehrter Freund. Das Schiff war in einem beklagenswerten Zustand. Die rechte Seite lag blank, der Motor gab nur noch ein Stottern von sich und den gellenden Schreien nach zu urteilen, als es härter als notwendig aufsetzte, war auch das Bremssystem nicht mehr aktiv. David gab sein möglichstes, doch brachte er es lediglich auf eine Notlandung in einer Steinwüste.
      Rund um sie herum fand sich nichts als Stein und Sand. Eine trostlose Gegend, die bis zum Erreichen des nächsten Bergmassivs anhalten würde. Gerade so hatte es Liam geschafft, David in Richtung einer kleinen Oase zu locken, sodass sie zumindest frisches Wasser besaßen, das sie verzehren konnten.
      Doch nun galt es erst einmal, die notwendigen Reparaturen für den Tag durchzuführen. Danach - so wurde es in der Mannschaft laut - sollte man sich zu einem Fest zusammenfinden. Ein Fest, um die eigene Raffinesse zu feiern. Natürlich.
      "Alle Mann von Bord!", rief Nightingale laut über den Rest fort. Die Hitze der Arbeiten hatten ihn dazu getrieben, auch das Wams von seinem Körper zu entfernen. Darunter zeigte sich erstaunlich blasse Haut und eine feine Narbe direkt über seinem Herzen. Er lehnte sich auf die Reling und blickte zu seiner Crew.
      "Allesamt: Lager einrichten! Ben, Clara: Bettstätten aufstellen. Hurley: Feuer schüren und Vorräte der Kombüse sichern. Silas und Chimp: Umgebung sichern! Cartwright..."
      Eine Sekunde lang zögerte er und seufzte schließlich. Sie musste von Bord. Er ertrug es nicht länger, sein Schiff zu teilen.
      "Hilf Hurley!"
      Er selbst blieb mit Arnaud an Bord und machte sich auf den Weg in den Kesselraum, um zumindest die Schweißarbeiten zu schaffen. Die Frage des Treibstoffs stellte sich danach erst.

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      The more you drag me to hell
    • Mit dem Handrücken wischte Florence sich den glitzernden Schweiß und die störrischen, schwarzen Locken aus der Stirn.
      Obwohl die Kartografin die sommerliche Jahreszeit ohne Zweifel dem bitterkalten Winter vorzog, stellte sich die brütende Hitze der Felsenwüste als eine harte Prüfung ihrer Toleranz heraus. Unbarmherzig brannte die Sonne auf die Köpfe der Mannschaft nieder und selbst der Sand zu ihren Füßen nebst den kargen kargen Felsen reflektierten das Licht aus allen Himmelrichtungen. Notdürftig bändigte Florence die Lockenmähne mit einem Stirnband. Ein kläglicher Fetzen, den sie schweren Herzens mit einer Klinge aus dem Rocksaum geschnitten hatte. Die feinen Härchen im Nacken klebten unangenehm an der Haut und allein der Anblick auf das verlockende Ufer der Oase entwickelte sich zur härtesten Folter, die sich Florence ausmalen konnte. Mit einem prüfenden Blick über die Schulter auf die versammelte Mannschaft der Starfall verzichtete sie aber auf die Versuchung eines Bads. Die Ärmel der Bluse, die innerhalb weniger Stunden den strahlend weißen Farbton bereits eingebüßt hatte, schob sie unwirsch bis über die Ellbogen und öffnete die ersten Knöpfe in dem verzweifelten Versuch sich etwas Kühlung zu verschaffen. Mit den voranschreitenden Stunden, in den die Crew die nötigsten Reparaturen vornahm, beschäftigte sich damit eimerweiße Schutt und Geröll von Bord zu schaffen.
      Gegen Mittag, als die Sonne am höchsten Stand und drohte die Gehirnzellen zu schmoren, hatte sie ein frustriertes Schnauben von sich gegen und war wenig damenhaft unter Deck davon gestapft um für ein paar Minuten zu verschwinden. Als Florence aus den Mannschaftsquartieren zurückkehrte, hatten die wallenden Röcke deutlich an Volumen verloren. Kurzerhand hatte sie grob die verschiedenen Lagen herausgetrennt und hatte nur den blickdichten, oberen Teil übrig gelassen. Ein ausgefranster Schlitz war in Eile in den Stoff geschnitten worden und reichte bis knapp über dem rechten Knie, um ihr mehr Beinfreiheit zu lassen. Um die unnötigen Lasten erleichtert, stürzte sich die Frau wieder in ihre Arbeit. Dass Nightingale einen großen Bogen um sie machte, sollte ihr dabei nur recht sein. Angesichts der kaum erträglichen Hitze fehlten Florence die starken Nerven für eine weitere Auseinandersetzung und der anschließenden strapazierenden Prüfung, wer von ihnen den größten Dickschädel besaß. Der Mann war einfach unausstehlich, ungehobelt und...Florence blinzelte gegen das harsche Licht der Sonne zu Nightingale herüber.
      Und starrte. Sie hätte gerne eine andere Beschreibung dafür genutzt, aber es ließ sich nicht abstreiten, dass sie den Mann anstarrte.
      Der Anblick unerhörter Mengen bleicher Haut eröffnete sich, mit einem eindeutigen Schweißfilm der von körperlicher Anstrengung zeugte und in der Sonne unverschämt schimmerte, wie ein faszinierender Kontrast zu ihrer eigenen dunklen Teint. Der Gedanke erinnerte sie auf erschreckende Weise an die billigen Groschenromane, die ihre Schwester heimlich zu lesen liebte, in denen die Protagonistin klischeehaft bei solch einer Aussicht der Atem stockte. Florence schnappte nicht nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber sie starrte ohne Zweifel auf die wohl definierte Brust des unerträglichen Mistkerls.
      Während das nutzlose Ding namens Gehirn zwischen ihren Ohren sich endlich daran erinnerte, welche gottgegebenen Funktionen es eigentlich besaß, blinzelte Florence bei der Erwähnung des eigenen Namens etwas verwundert, als hätte sie nicht richtig zugehört.
      Ruckartig schnappte der Blick nach oben in Nightingales Gesicht und registrierte am Rande die kaum merkliche Narbe. Wirklich Zeit über den Ursprung zu rätseln blieb der Kartografin allerdings nicht. Gleichzeitig beschämt und verärgert, schob sie die aufblühende Neugierde in die hinterste Ecke ihres Schädels.
      Sollte sich dieser Hornochse nur nichts einbilden, er war auch nur ein Mann wie alle anderen.
      Fragend sah sie Nightingale an und wartete förmlich darauf, dass er die wirklich ungeliebten Tätigkeiten aus dem nicht vorhandenen Ärmel zauberte. Sie war angenehm überrascht, als er davon absah ihr etwas Entwürdigendes aufzuhalsen.
      Mit Zeige- und Mittelfinger tippte sich die Kartografin in einem halbherzigen Salut gegen die Stirn und gab zum ersten Mal kein Widerwort. Die gnadenlose Hitze forderte offenbar auch bei der spitzfindigen Florence die letzten Energiereserven.
      "Aye, Käpt'n.", flötete sie grinsend. Na gut, ein wenig war vielleicht noch übrig.
      Abgesehen davon hielt es Florence tatsächlich für sinnvoll, dass sie Hurley ein zusätzliches paar Hände lieh. Mit einem zerschmetternden Schlüsselbein war das Tragen von Vorräten sicherlich keine einfache Sache. Kurzerhand verschwand sie mit dem Kanonier unter Deck um Vorräte hervor zu holen. Darunter befanden sich Brot, das für ihren Geschmack etwas zu hart war, getrocknete Früchte, Fleisch und Hartkäse. Der klassische Proviant an Bord eines Schiffes, der sich über einen langen Zeitraum hielt. Zu ihrer Freude fand sich allerdings auch ein wenig frisches Obst, bei denen sie großzügig die Druckstellen ignorierte. Körbeweise verfrachteten Hurley und Florence die einfachen Speisen zu Tage und in Richtung des provisorischen Lagers am Ufer der Oase. Die exotische Flora bot ein wenig wohltuenden Schatten, doch so heiß es am Tage war umso frostiger konnten die Nächte in den einsamen Wüsten sein.
      Mit einem Ächzen stellte Florence nach gefühlten Ewigkeiten des Hin und Her die letzte Kiste gefüllt mit flaschenweise billigen Rum im Schatten ab. Nicht das beste Zeug, aber zweifellos mit der dreifachen Wirkung.
      "Ich begreife nicht, wie ihr diesen Fusel runterbekommt.", murmelte sie und sah sich nach Hurley um, der dabei gewesen war Holz für das Lagerfeuer zusammen zu klauben. Der erhitzte Sand rieselte in ihre Stiefel und mit einem genervten Seufzen trat sie das klobige Schuhwerk von den Füße, um die Zehen im weichen Wüstensand zu vergraben.
      "Was macht dein Arm?", fragte Florence schließlich deutlich freundlicher. "Brauchst du Hilfe beim Feuer?"
      “We all change, when you think about it.
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    • Nightingale gefiel das alles nicht.
      Nicht nur aufgrund der Tatsache, dass eine junge Frau ungefragt auf seinem Schiff beherbergt wurde, sondern auch vermittelt durch die Tatsache dass sie gegen seine Autorität rebellierte. Frech, dachte Liam während er nach seinen Befehlen das Nicken seiner Crew abwartete. Von Florence erntete er den erwarteten Kommentar, den selbst Chimp mit einem schnarchenden Prusten kommentierte.
      "Aye Käpt'n", äffte er sie nach und streckte ihr anschließend sehr männlich die Zunge heraus während er sich auf die Reling legte und die Schäden des Schiffes ins Auge nahm.
      Das würde eine lästige Überfahrt. Und er hatte nicht einmal einen Kurs. Kein Ziel, dass er ansteuern konnte. Wie bereits seit Monaten nicht wirklich. Sie fuhren umher wie eine ziellose Schar Räuber, die ihr Handwerk verlernt hatten. Er lauschte. Liam lauschte an jedem Hafen, in jeder Taverne nach einer Spur, einem Hinweis, einem Gesäusel von Informationen. Doch nichts. Niemand kannte den Stein und wo er zu finden war. Nicht einmal Gerüchte. Wenn er ehrlich war, würde er nicht mehr allzu lange seine Crew bei Laune halten können.
      "Starren wir die Neue an?", fragte eine Stimme aus dem Hintergrund so nah an seinem Ohr, dass er zusammen fuhr.
      Tatsächlich hatte er weder gemerkt, wie Silas sich angeschlichen hatte noch, dass er Florence regelrecht prominent auf den Hintern gestarrt hatte, während sie die Vorräte aus der Kombüse schleppte. Herrgott, was war denn nur los mit ihm.
      "Was tu ich?!"
      "Shurororo, ich verstehe dich, alter Freund. Sie ist ein wunderbares Stück göttlicher Schöpfung, findest du nicht. Diese Brüste, diese Beine und oh, dieser Hintern sind einfach göttlich. Ich würde gerne -"
      "Silas", grunzte Liam genervt und seufzte. "Und sie ist keine Neue!"
      "Sie hat das Schiff gerettet, hilft der Crew, nennt dich Käpt'n..."
      "Ich bin der Kapitän, dass sie hilft ist das Mindeste und gerettet würde ich das nicht nennen. Allenthalben verhindert, dass wir abstürzen."
      Silas seufzte und grinste breit während er seine behaarte Brust in die Sonne hielt.
      "Weißt du...Du könntest netter sein", murmelte er. "Sie ist eine Ainsworth. Das hat sie bewiesen."
      "Nimm diesen Namen nicht in den Mund. Ich möchte nicht wieder davon hören! Mir ist egal, wo sie herkommt und wer sie ist", zischte Liam und richtete sich auf. Eine Sekunde lang teilten die beiden Freunde einen ernsten Blick, dass man davon ausgehen konnte, dass sie sich gleich an die Gurgel gingen.
      Erst danach grinste Silas dämlich und breit.
      "Wenn das so ist...Hast du was dagegen, wenn sie und ich...Du weißt schon?"
      Gott, dieser Einfaltspinsel. Eine Sekunde lang zuckte eine Wut durch Liams Körper, die er umgehend niederkämpfte und den stoischen Blick beibehielt.
      "Tu was du willst", murmelte er freudlos. "Mach deine Arbeit und vergnüge dich danach mit wem du willst."
      "Aye Cap!"
      Kopfschüttelnd sah er Silas hinterher und konnte nicht umher eine gewisse Wut auf seinen Vize zu verspüren. Wie konnte man nur verantwortungslos sein und einem Frauenhintern derart...
      Gut, vielleicht hatte sie eine schöne Kehrseite.

      Hurley indes hatte das Feuer aufgestapelt und grinste breit, als Florence hinzu kam.
      "Hach, ach was", lachte er. "Das haben wir gleich!"
      Mit einem meckernden Lachen schichtete er die Lagen von trockenem Holz zusammen und zu einem kleinen Türmchen auf. In die Mitte hatte er eine rötliche Flüssigkeit gegossen, die er noch experimentell erforschte. Hurley wusste, dass die Mischung aus den Chemikalien des Nordens mit Schießpulver nicht immer die besten Ergebnisse brachen, aber es musste doch möglich sei-
      BUMM!
      Mit einem gehörigen krachen sprengte sich das Lagerfeuer beinahe selbst in die Luft. Holzsplitter und eine Welle von Steinsand wurden in die Luft geschleudert und verteilte sich schneller als Treisand auf allem was Ablagefläche bot. Chimp wich gerade so einem Stock aus, der sich wie ein Pfeil in die Bordwand des Schiffes bohrte, woraufhin ein ohrenbetäubendes Heulen des Kapitäns vernommen werden konnte. Doch ab dieser kleinen Katastrophen (ein Stein landete mit einem KLONK an Davids Kopf) brannte das Feuer in einer Art Feuerkule mit Wassergraben drum herum. Hurley begann erneut zu lachen.
      "Kekekekeke, das hat funktioniert! Hach wie schön", grinste er und betrachtete die Flamme fasziniert. Erst danach trat Clara an ihn heran und verpasste ihm einen Klaps auf den Kopf.
      "Dummkopf!", murmelte sie und wanderte weiter Richtung Schiff.
      Erst beim Abgang wurde ersichtlich, dass ein Stein ihren Hut durchbohrt hatte. Ihren kostbaren Hut.
      "Du machst dich auf jeden Fall, Cartwright", grinste Hurley als er sich aufrappelte und eine Rumflasche entkorkte.
      "Kannst du die Grillstatt aufbauen? Wir brauchen ein wenig Fleisch für die Meute, sonst fressen wir uns noch gegenseitig an. Scheinst dich recht heimisch zu fühlen, was?"
      Hurley grinste während er sich leicht gegen eine Kiste lehnte, die von Stöcken malträtiert war.
      "Meinem Arm gehts soweit gut, danke der Nachfrage. Denke, das gibt sich bald wieder. Mir macht eher Sorgen, dass wir ziellos umherirren."

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    • Das haben wir gleich. Während Florence' Gehirn noch den Gedanken verfolgte, dass es womöglich die klügere Idee wäre zwischen den palmenartigen Gewächsen der Oase oder einem der Felsen in Deckung zu gehen, war die Kartografin bereits auf bloßen Füßen an Hurley heran getreten und spähte neugierig über dessen Schultern. Der Satz hätte bei einem vernunftbegabten Menschen mit gesundem Überlebensinstinkt ohne Zweifel einen Fluchtreflex hervor gerufen nach allem, was sie bereits von den explosiven Talenten des Kanoniers gesehen hatte. Und obwohl die Warnung in ihrem Schädel schriller klingelte als jeder spitze Schrei der Empörung seitens ihrer Schwester, sah Florence mit eindeutiger Faszination dabei zu, wie Hurley verschiedene Substanzen vermischte als improvisiere er ein neues Kochrezept.
      Die unüberhörbare Explosion erschütterte den Wüstensand und wirbelte unerhört große Staubwolken in die Luft auf.
      Augenblicklich Florence den Unterarm schützend vor die Augen und verlor anschließend durch die Druckwelle das Gleichgewicht im weichen, körnigen Sand. Unzeremoniell und mit wenig Eleganz landete die Kartografin plump auf ihrem Hinterteil und bedeckte den Mund mit der Hand, um nichts von dem aufgewirbelten Sand zu verschlucken. Hustend blinzelte sie feine Staubkörnchen aus den Augenwinkeln und benötigte einen Moment, um wieder klar sehen zu können. Glücklicherweise war sie dieses Mal von herumfliegenden Zweigen und Steinen verschont geblieben, anders als das Luftschiff und das Equipment der Crew. Florence riskierte einen Blick in Richtung des Zeppelins, der zu ihrer Erleichterung unbeeindruckt in den letzten Nachwehen der Druckwelle von einer Seite zur Anderen schwankte.
      Florence rutschte zurück zu Hurley ans Feuer.
      "Ich muss zugeben, dass war unnötig spektakulär, aber das Feuer kann sich sehen lassen.", lachte Florence leise und schüttelte den rieselnden Steinsand aus den Haaren.
      Nach Hurleys Aufforderung machte sich Florence daran, eine einigermaßen stabile Kochstelle aus den mitgebrachten Materialien zu errichten. Ein wenig knifflig, aber am Ende konnte sich das Ergebnis sehen lassen. Die Konstruktion bestand aus einem hitzebeständigen Metallrahmen, der die Luftzufuhr gewährleistete und einem verkohlten Eisengitter. Den angebrannten Resten nach zu Urteilen, wurde es häufiger für Zwecke dieser Art verwendet und hätte dringend mal eine Reinigung benötigt.
      Bei der Frage des Kanoniers zögerte Florence, da sie kurz überlegte ob er ihre Anwesenheit an Bord der Starfall ansprach oder schlicht und ergreifend den Fakt, dass sie der brütenden Hitze der Wüste mit nackten Füßen trotzte. Am Ende beließ sie es bei der zweiten Variante, die weniger verfänglich zu beantworten war. Beiläufig zuckte sie mit den Achseln.
      "Die Sommer in Wesyn sind lang und heiß, aber ich mochte diese Zeit des Jahres schon als kleines Kind am liebsten. Die Tage erschienen mir unendlich lang und es gab so viel zu entdecken. Was ist mir dir, Hurley? Ich will nicht zu neugierig wirken, aber macht dir das trockene Klima der Wüste nicht zu schaffen? Zugegeben, ich weiß eigentlich nichts über das Meeresvolk und die Wenigen, denen ich begegnet bin, waren nicht von der gesprächigen Sorte. Entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein."
      Die letzten Handgriffe erledigt, setzte sich Florence zurück in den Sand und streckte die Beine aus ehe sie locker die Knöchel übereinander kreuzte. Fragend sah sie zu Hurley auf, der an der Kiste lehnte und legte den Kopf schief, als hätte er gerade ein streng gehütetes Geheimnis preisgegeben.
      "Ziellos?", wiederholte Florence. "Kein Schatz, den der Käpt'n begehrt? Keine Reichtümer und Geheimnisse, die es sich zu rauben lohnt?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Hurley stellte das Lachen in dem Moment ein, als Florence zu sprechen begann. Erst nachdem sie geendet hatte, grinste er breit, sodass das Blau seiner Haut eine Spur heller wurde. Der Arm in seiner Schlinge versuchte, sich zu bewegen, was jedoch mit einem Zischen kommentiert wurde.
      "Wesyn, huh?", murmelte Hurley. "Hach, da bin ich noch nie gewesen. Ist es schön dort oder verfolgt man Meinesgleichen dort auch so wie in anderen Fürstentümern?"
      Er sagte es mit einer Leichtigkeit, die einem Zuhörer eine Gänsehaut verpassen konnte. Sprach Jemand derart leichtfertig über Jahrhunderte der Misshandlung und des Todes seiner Liebsten, wirkte es ein wenig weltfremd. Egal, wie sehr man in der Welt verwurzelt war.
      "Du bist nicht neugierig, hach", murmelte Hurley. "Die Fragen hat Jeder früher oder später. Hach, mir macht es schon recht zu schaffen. Ich habe nur den Vorteil, das mein Volk nicht schwitzt und meine Haut recht durchlässig ist. Ich kann vermutlich länger in der Sonne stehen als du und bräuchte länger zur Erholung. Und ja, wir sind recht verschlossen zumeist, hach. Das liegt aber an der Tatsache, dass man uns für jede Silbe verfolgen könnte."
      Ein meckerndes Lachen später seufzte er.
      "Bevor ich hier ein Zuhause fand, ging es mir nicht anders. Hach, ich habe drei Wochen kaum gesprochen, ehe der Kapitän mich dazu brachte. Manchmal brauch es nur ein wenig der Öffnung, bevor man sich versteht, nicht wahr?"
      Grinsend zwinkerte der Kanonier ihr zu und legte die ersten Fleischscheiben beinahe achtlos auf den dreckigen Grillrost. Brutzelnd und Kokelnd begann das Fleisch seines Garungsprozess und hüllte die Luft innerhalb der gespannten Segel in einen süßlichen Dunst von bratendem Fleischgeruch. Es lockte die Fliegen, aber auch die Crew an, denn immer mehr Köpfe lugten hervor und begannen, sich zum Feuer zu begeben. Flaschenweise wurde der Rum seiner Dunkelhaft entledigt und die staubigen Flaschen dekantiert. Korken wurden umhergespuckt und man begann, sich zuzuprosten. So fanden auch zwei Flaschen zu Hurley und Florence, die ihre von Ben erhielt, der ihr zugrinste und nickte, ehe er sich zu David begab.
      "Oh es gibt einen Schatz", murmelte Hurley und beugte sich leicht zu ihr hinüber. "Wenn nicht sogar den größten aller Schätze. Sagt dir der Stein von Ardashir etwas? Der Wunscherfüller?"


      Mit der mehr und mehr steigenden Sonne steigerte sich auch die Hitze auf dem improvisierten Zeltplatz. Gemeinsam hatten die verbliebenden Mitglieder der Crew unter Anleitung ihres Kapitäns, der selbst völlig ungerührt in der brüllenden Sonne stand, verschiedene Laken und Segelreste aufgespannt, die ihnen zumindest etwas Schatten spendeten.
      Liam hatte sich zwischenzeitlich von dem Schock, sein geliebtes Schiff durchbohrt zu sehen, erholt und saß seufzend auf einem Fass, etwas abseits der Anderen und blickte auf den Horizont. Schweigsam betrachtete er seine Crew die sich um das behelfsmäßige Feuer scharte und drehte eine Flasche in der Hand. In ihr befand sich schlichtes, einfaches Wasser, dass er sich aus den Vorratsfässern abgefüllt hatte. Während er Trigg dabei beobachtete, wie er eine Flasche Rum ansetzte und drei kräftige Schlucke genoß, musste er grinsen und an ihre Unterhaltung denken. Ob er es wirklich drauf anlegte, die Neue...
      Sie war nicht neu!, schüttelte er den Kopf und mahnte sich selbst zur Ordnung, während er die Flasche an den Mund setzte.
      Sie war nicht neu. Und sie würde auch schon gar nicht in der Mannschaft aufgenommen! Nur über seine verfluchte Leiche. Sollte Trigg mit ihr tun, was er wollte, ihn kümmerte es nicht.
      Gierig leerte er die Flasche aus und warf sie in den Sand, ehe er am Kratzen seines bloßen Oberkörpers merkte, dass sich der Sand in seine Haut fraß. Es würde zumindest fällig,d ass sie sich wuschen. Definitiv.

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    • "Ehrlich gesagt, gibt es in Wesyn trotz der nähe zum Ozean wenige Angehörige des Meeresvolkes.", antwortete Florence nachdem sie Hurley mit einem wissbegierigem Ausdruck in den Augen zugehört hatte. "Zumeist sah ich sie auf den Schiffen, die im Hafen vor Anker lagen. Ich glaube nicht, dass eine sonderliche Feindseligkeit bestand, aber verzeih mir, ich hab bisher zu meiner Schande wenig darüber nachgedacht. Wesyn besitzt einen der ältesten und größten Seehafen der Splitterreiche. Es ist seit jeher eine liebgewonnene Tradition, dass neue Rekruten, egal ob See- oder Luftfahrt, zuerst auf einem klassischen Seeschiff dienen ohne den technischen Schnickschnack. Mein Großvater erzählte, dass die Grünschnäbel erst Komfort neuer Schiffe zu schätzen wissen, wenn sie zuerst durch eine harte und entbehrungsreiche Prüfung gegangen sind. Seeluft schnuppern, sozusagen. In der ersten Überquerung der Meere habe ich mir innerhalb von wenigen Tagen die Handflächen am Tauwerk blutig geschürft. Wir wussten gar nicht, wie man richtig anpackt, weil auf den Ausbildungsschiffen oft alles völlig maschinell funktioniert oder Muskelkraft mit Robotern ersetzt wird."
      Verwundert behielt sie Hurley im Auge, dessen unverfängliche Offenheit sie wahrlich verwirrte. Sicherlich lag die Tragödie in der Vergangenheit, aber dennoch wirkte die Mühelosigkeit, mit der Hurley sprach, befremdlich. Sie war Menschen mit schwerem Trauma begegnet, denn nicht jeder Reise zu Wasser oder in der Luft blieb ohne Gefahren. Exotische Kreaturen unter dem Meeresspiegel und Plünderer sowie Piraten jeden Elementes waren keine Seltenheit. Vor allem nicht in der zerrütteten Fürstentümern des Splitterkontinents, wo sich die Fürsten gut und gerne sogar noch gegenseitig die Butter vom Brot klauen würden - wenn sie könnten.
      Ein ungläubiges Schnauben erklang als Hurley über den Käpt'n sprach und Florence die Hand nach der Flasche ausstreckte, welche die Kartografin mit einem dankbaren Lächeln von Ben entgegen nahm. Prüfend schnupperte sie an der entkorkten Flasche und bekam den Eindruck bereits von dem scharfen Geruch billigen Alkohols betrunken zu werden. Sie musste dringend dafür sorgen, dass besserer Rum in die Vorratskammer kam. Über den eigenen Gedanken irritiert, setzte sie zügig die Flasche an die Lippen und hustete kaum benetzte der brennende Rum ihre Kehle.
      "Das Teufelszeug ist ja furchtbar!", würgte sie hervor und fühlte jeden Zentimeter, den der Rum durch ihre Speiseröhre nach unten floss. Sie schielte zur Nightingale herüber, der abseits allein auf einem Fass thronte. Merkwürdig.
      "Ich hätte Nightingale nicht für den einfühlsamen Typ gehalten.", murmelte sie, als sie endlich wieder Silben zu Stande brachte, die sich nicht anhörte, als hätte sie gerade brennenden Treibstoff geschluckt.
      Florence räusperte sich und kam Hurley ein kleines Stückchen entgegen als sie verschwörerisch die Köpfe zusammensteckten.
      Die Augen wurden etwas größer, als der Kanonier mit der bläulichen Haut ihr geheimniskrämerisch die Antwort zuflüsterte. Mehrmals blinzelnd sah sie ihn an und kräuselte dabei auf eine spezifische Art die Nase, wenn sie eingehend über etwas grübelte.
      "Das Stein von Ardashir ist ein Mythos, Hurley.", murmelte sie mit einem flüchtigen Blick in Richtung Nightingale. "Eine Legende, die sich die Seefahrer und Kapitäne der Lüfte seit Generationen erzählen. Ein Stein, der dem glücklichen Finder einen Herzenswunsch erfüllt."
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      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Hurley brach in meckerndes Gelächter aus, nachdem sich Florence an dem billigen Rum verschluckte. Er warf seinen Kopf so weit in den Nacken, dass es seine spitzen Reißzähne entblößte, ehe er sich wieder nach vorn wippte und Florence ansah.
      "Hach, deswegen heißt es ja Teufelszeug", grinste er breit und nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche. "Uns fehlen Musiker, so viel steht fest. Und es macht nichts, dass du über das Meeresvolk nicht nachgedacht hast. Das tun die Wenigsten. DIe meisten übersehen uns geflissentlich und versuchen, sich nicht anmerken zu lassen, dass wir existieren. Aber die Ausbildungsregeln klingen lustig. Also hast du das auch gemacht? Auf einem Seeschiff gelernt, meine ich=? Wir haben uns schon gefragt, woher dieses Talent kommt."
      Er lehnte isch sachte zurück und betrachtete das Fleisch, das zum rechten Zeitpunkt immer wieder von jemand Anderem gedreht wurde. Als wären sie alle eine perfekt abgestimmte Maschine. Selbst Orcas, offensichtlich nicht in Plauderlaune, schnippste mit den Fingern und drehte damit das Fleisch in rasanter Abfolge.
      Seufzend nickte er grinsend.
      "Hach, du kennst Liam noch nicht recht", murmelte er. "Du würdest dich wundern. Er ist ein guter Mann. Tief hinter seiner wütenden Schale. Ich glaube, wenn das damals nicht mit dem 13. Bezirk passiert wäre..."
      Doch Hurley schüttelte den Kopf. DAs waren Dinge, die der Kapitän besser selbst erzählte. Geheimnisse. Hurley hasste Geheimnisse. Umso mehr, wenn er eine Flasche Rum an der Kehle hatte, die ihm die Kiemen ausbrannte.
      "ESSEN!"
      Triggs Stimme hallte über den Platz und galant kam er mit schnellen Schritten zu Hurley und Florence gewackelt. Er torkelte bereits leicht, was sicherlich nicht nur an einer fast komplett ausgeleerten Flasche Rum lag, die er am Gürtel trug.
      "Hier meine Lieben", nuschelte er und reichte die Teller weiter. "Esst! Trinkt! Erfreut euch des Lebens, shurororororo!"
      Schwerfällig ließ sich der Dieb auf einem Stein unweit der beiden nieder und biss herzhaft in ein Stück Fleisch. Und verbrannte sich die Lippen. Was nicht weiter erstaunlich wäre, denn das Fleisch dampfte schlimmer als der Kessel der Starfall.
      "AY VERFLUCHTNOCHEINS!", schrie er der Dieb udn es erschien, als würde seine Zunge länger und länger werden.
      Gerade jedoch verstummte er wieder als Florence ihren letzten Satz sagte. Mit erhobenen Augenbrauen sahen sowohl Hurley als auch Trigg sie aufmerksam an und grinsten zur gleichen Zeit breit. Triggs Gesicht verzerrte sich regelrecht, während seine Haare ihm wieder und wieder ins Gesicht fielen.
      "Natürlich ist es ein Mythos", grinste der Dieb. "Shurorororo, deswegen sind wir auch alle auf dem Kutter hier. Weil es nur ein Mythos ist."
      "Hach, wenn es so wäre, Florence, wüssten wir alle Besseres zu tun. Doch der Kapitän hat diese Karte. Diese Karte von...äh...wie hieß es noch?"
      "Ainsworth!", lallte Trigg und wies auf den Blauhäutigen. "Die Karte von Ainsworth! Und er vertraut ihr mehr als uns. Und er glaubt, dass dort etwas ist. Irgendwo am Horizont. Als wir dich aufgelesen haben, sollte uns dieser Geologe ein Gerücht weiter erzählen. Von dem Stein. Also DIESEM Stein."
      "Sie hat es verstanden, hach."
      "Hat sie?", fragte Trigg und seufzte. "Oh schau! Liam sitzt wieder abseits!"
      "Hach, das tut er immer, wenn es um Spaß geht."
      "Ja, ein totaler Miesepeter, bäh!", Trigg streckte ihm die Zunge heraus. "Dirnen vögeln geht, aber wenn es um die Mannschaft geht ist er verschlossener als ein Jungfrauenschoß! Wie siehst du das, Neue?"
      Der Dieb lehnte sich halb und sehr wackelig zu Florence und sah sie erwartungsfroh an.

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    • Florence nickte eifrig nachdem sie den Anblick der messerscharfen Zähne verdaut hatte.
      Unter anderen Umständen wäre es ein Leichtes gewesen den Hurley zu fürchten, aber in diesem Augenblick unter all den Raufbolden und zwielichtigen Piraten fühlte sich die Kartografin keine Sekunde lang bedroht. Ein Arzt hätte ihr sicherlich eine Spur von Wahnsinn attestiert, sollte sie jemals diese Gedanken laut aussprechen. Als sie Hurley antwortete, schwang der unüberhörbare Stolz in ihrer Stimme mit.
      "Selbstverständlich habe ich auf einem traditionellen Seeschiff gelernt. Technik ist so lange nützlich, bis sie versagt. Ein Jahr bin ich ununterbrochen auf dem Ozean gewesen ohne ein Fleckchen Land zu betreten. Da gewöhnt man sich an Einiges.", lachte sie und sah erst auf, als Silas ihr einen Teller mit duftendem Fleisch unter die Nase hielt. Allein bei dem verlockenden Geruch grummelte der Magen missmutig und Florence wurde bewusst, wie hungrig sie tatsächlich gewesen war. Dieses "Einiges", das sie beiläufig andeutete, beinhaltete die gähnende Langeweile sobald der Wind abflaute, der Verzicht auf jegliche Privatsphäre in den Quartieren und das miesteste Essen, das sie je gekostet hatte.
      Förmlich ausgehungert, verschlang Florence die ersten Bissen und schaffte es dabei im Gegensatz zu Trigg sich nicht jegliche Geschmacksknospen zu verbrennen. Sicherlich fehlte es an Gewürzen, aber in diesem Moment, war es das Beste, das sie je gegessen hatte.
      "Ich bezweifle nicht, dass Nightingale auch gute Seiten hat. Deswegen ist er trotzdem ein arroganter Mistkerl.", murmelte sie zwischen zwei Bissen und spülte alles mit einem beherzten Schluck Rum herunter. Für eine Tochter aus einer angesehenen und wohlhabenden Ingenieursfamilie ließen die Tischmanieren überraschenderweise sehr zu wünschen übrig. Zufrieden und den ersten Hunger gestillt, leckte sie sich wenig damenhaft etwas übriges Bratenfett von den Fingerspitzen.
      Florence stockte in der Bewegung und blinzelte ungläubig zu Hurley und Silas herüber. Wollten die beiden tatsächlich andeuten, was sie glaubte?
      "Das ist ein schlechter Scherz, oder?", fragte sie und erlebte dabei ein Déjà-Vu, denn der Wortlaut schien sich fest in ihrem Fragenkatalog zu etablieren seit sie die Crew der Starfall näher kennenlernte. "Nightingale jagt euch für ein Ammenmärchen kreuz und quer über den Kontinent? Dann ist er nicht nur arrogant sondern auch noch verrückt. Den Stein gibt es nicht."
      Bei der Erwähnung ihres Großvaters wurde die Kartografin hellhörig.
      "Ich habe die Karte gesehen, als ich seiner Kajüte war. Und sie...", setzte Florence an und wurde durch die Kabbelei der Männer unterbrochen und während das Gespräch ein Eigenleben entwickelte, hatte sie den sprichwörtlichen Faden verloren. In Vergessenheit geraten, was sie eigentlich mitteilen wollte, legte Florence die Finger an die eigenen Lippen und sah mahnend zu Trigg.
      "Herrgott, sei nicht so laut.", scherzte sie und lachte. "Sonst schickt uns der Käpt'n zu Strafe noch früh in die Kojen. Aber um deine Frage zu beatworten: Dafür, dass er mir so vehement aus dem Weg geht, sieht er mir ziemlich häufig auf den Hintern. Was? Denkt ihr wirklich ich merke sowas nicht?"

      Bedauerlicherweise ohne feierliche Musik aber mit reichlich Gelächter und Rum schritt der späte Nachmittag voran, bis die Sonne schließlich Erbarmen zeigte und langsam hinter dem kargen Wüstenhorizont verschwand. Florence, die eine beträchtliche Menge an Rum bereits verkraftet hatte, schien es sich gemütlich gemacht zu haben. Tatsächlich lehnte sie mit dem Rücken an Hurleys unverletzter Seite und hatte den Kopf in den Nacken gelegt, um die ersten Sterne am Firmament zu beobachten. Sie bewies ein weiteres Mal das es ihr schnurzegal war, woher der Kanonier stammte. Die Beine hatte sie locker über Silas Schoß geworfen und stieß mit ihm gelegentlich mit dem Teufelszeug an. Durch halbgeöffnete Augenlider erfasste sie die glühenden Schweife der Sternschnuppen, die am klaren und blauschwarzen Nachthimmel gut zu sehen waren.
      "Das erinnert mich an etwas.", sprach sie leise aber deutlich, obwohl die Silben mittlerweile etwas schleppend über ihre Lippen kamen. "Mein Großvater liebte es für uns Kinder kleine Rätsel zu verstecken, während er auf Reisen war. Theo und ich haben jeden Abend über den Büchern und Sternenkarten gesessen, die er uns da gelassen hatte. Er hat kleine Botschaften zwischen den Seiten oder im Pergament verborgen. Die Karten...die Karten...DIE KARTE!"
      Ruckartig setzte sich Florence auf und sah erst Silas und dann Hurley mit einer Miene an, als erwartete sie, dass die Männer genau wusste wohin ihre Gedanken davon galoppierten.
      "Verflixt noch eins! Die Karte! Die Karte!"
      Mit einem Satz sprang die Kartografin auf und ignorierte dabei die verwirrten Blicke, beinahe wäre sie gefallen und stützte sich kurz auf Silas Schulter ab, der noch verdattert im Sand saß. Sie wirbelte im Sand herum und rannte mit flatterndem Rocksaum - dankbar für den genialen Einfall mit dem improvisierten Gehschlitz- zurück zur Starfall, vorbei an den Betrunkenen und Feiernden...und einem stoisch dreinblickenden Nightingale. Florence stolperte durch den knöchelhohen Sand und erklomm etwas wackelig die herabgelassene Strickleiter um an Deck zu kommen. Ohne vorher um Erlaubnis geben zu haben, betrat sie die Kapitänskajüte und fischte hektisch die Karte ihres Großvaters vom Tisch in der Mitte. Barfuß huschte sie samt Karte an die große Fensterfront der Kajüte und hielt die Karte in das silbrige Mondlicht. Konzentriert, trotz des nebligen Schleiers über ihren Augen, drehte und wendete sie das alte Kunstwerk in verschiedene Winkel - bis ihre Augen zu leuchten begannen. Die schmuckvollen Zeichnungen, die ihr zuvor als unnötiges Beiwerk aufgefallen waren, schimmerten im blassen Licht des Mondes und als sie mit dem Finger darüber fuhr spürte sie eine dezente Erhabenheit der Tinte.
      "Ha! Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen!?", rief sie triumphierend aus.
      “We all change, when you think about it.
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    • Als die Sonne sich dem Horizont näherte, begann das Fest lauschig zu werden. Werden sich Trigg langsam ins Koma soff und immer wieder davon sprach, die Wärme eines weiblichen Schoßes erkunden zu wollen, lehnte Hurley an einer Proviantkiste und seufzte schwer, nachdem auch ihm der Rum zu Kopf stieg. Die schweren Arme des Kanoniers lagen in seinem Schoß und umarmten eine der staubigen Flaschen Rum, deren Inhalt sich bereits auf sein Hosenbein ergossen hatte. Sachte döste der Kanonier vor sich hin während die übrigen Mitglieder der Crew sich angeregt unterhielten.
      Clara saß mit überschlagenen Beinen bei Ben und betrachtete, wie dieser versuchte, ihr den Aufbau eines menschlichen Körpers im Sand zu erklären. Freilich durch den Alkohol getränkt, schwankte selbst der Arzt bedenklich hin und her während Clara eines ihrer seltenen Gelächter zum Besten gab.
      David hatte sich zusammen gesetzt und war auf normale Mannesgröße geschrumpft und unterhielt sich neben dem Feuer offenbar mit Orcas, der mit einer Hand gestikulierte. Chimp las ein Buch bei den Flammen und merkte nicht, dass er Jenes falsch herum hielt, während sein Humpen bedenklich voll überschwappte.
      Es wurde gerade ruhiger, als Trigg sich zu Florence wenden wollte, seiner Absprache mit dem Kapitän eingedenk und breit grinsend zum Sprechen anhob.
      "Nun, Florence...", murmelte er. "Ich habe mich gefragt, ob du und ich nicht besser in eine Koj-"
      Weiter kam er nicht, da die junge Frau wie vom Deibel gejagt aufsprang und sich in einer Windeseile in Bewegung setzte. Erstaunt zuckte Hurley aus seinem Dämmerschlaf und sah den wehenden Röcken nach. Trigg sah erstaunt auf den leeren Fleck, wo Florence noch eben gesessen hatte und schien den Stein darunter zu beneiden.
      "Weg...", wisperte er und legte den Kopf schief.
      Hurley indes sah wie Clara der wild gewordenen Kartografin hinterher.
      Was sie gefunden haben mochte? Er hoffte nur, dass sie nicht in die Kapitänskajüte schoss. Nightingale mochte das gar nicht. Rein gar nicht.
      "Hach...Diese Jugend..."

      Die Kajüte eines Kapitäns war sein Heiligtum, werter Freund.
      Soviel musste gesagt werden. Auch für Liam Nightingale galt diese ungeschriebene Regel eisenhart an Bord der Starfall. Der Raum unter dem Steuer war des Kapitäns. Betrat man ihn durch die dünne Tür mit dem hässlichen, zerbrochenen Bullauge, so lief man direkt auf einen klassischen, wuchtigen Schreibtisch zu. Nicht, dass Nightingale hier wichtige Geschäfte tätigte. Er hatte es sich von Ainsworth abgeschaut, derartiges in seiner Kajüte zu beheimaten. So lagen auf diesem Tisch, dessen Platte mit einer Öllampe erhellt werden konnte, Kartenmaterial übereinander. Verschiedenste Länder wurden hier abgebildet. Von den Bergen von Wesyn bis hin zur hintersten Gefängnisinsel des Protektorates Rot. Die Wände rund um sie herum waren regelrecht vollgestopft mit allerlei Bücherrücken, deren Inhalt man im besten Leben nicht einmal ansatzweise entziffern konnte. Auf dem Boden befand sich kein Teppich, wie man es hätte erwarten können. Stattdessen waren die schweren Dielen auch hier verlegt worden und knarrten fies, wenn man sich bewegte.
      Da der Kartentisch sich in der Mitte befand war es beinahe ein leichtes, dort Karten zu stibietzen.
      Und Nightingale wäre wohl nicht aus seinem Dämmerschlaf erwacht, den er sich in der Schwärze der hintersten Ecke gegönnt hatte, wäre Florence nicht wie ein Derwisch durch die Tür geflogen und hätte an seinem Tisch - SEINEM - eine Karte gestohlen. Und von allen wertlosen Fetzen Papier musste es ausgerechnet die Karte sein, die der Kapitän selbst vergötterte.
      Wütend erhob er sich sachte aus dem Sessel in der hinteren Ecke neben der Tür und zog sein Schwert samt Scheide aus der Halterung am Stuhl hervor, bevor er sich Florence näherte.
      "Ha! Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen!?", rief sie triumphierend aus.
      "Du hast ganz schön Mut, Cartwright", knurrte Liam und trat einen geräuschvollen Schritt in den Raum hinein.
      Seine Gestalt füllte den Rahmen der Tür, des rettenden Eilandes, beinahe vollständig aus, als er die Tür mit einem kräftigen Krachen ins Schloss fallen ließ. Auf seinem Gesicht stand der blanke Abscheu, ja geradezu eine Art von Hass geschrieben, während er die zerschlissene und offensichtlich leicht betrunkene Kartografin ansah.
      "Lass sofort die Karte los", sagte er bestimmend und zog sein Schwert aus der Scheide. "Es haben schon Menschen für Weniger ihre Hände verloren. Also runter damit!"

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    • Du hast ganz schön Mut, Cartwright.
      Mit einem erschrockenen Aufschrei drehte sich Florence herum und presste sich unter stockenden Atemzüge die Hand gegen die Brust. Nightingale hatte sich wie ein unbezwingbarer Fels im Raum auf gebaut und warf der Kartografin einen mordlustigen Blick zu, der jeden anderen vermutlich dazu veranlasst hätte um sein Leben zu betteln. Dank des unerhörten Menge billigen Rums von zweifelhafter Qualität und Herkunft, verließ eine eigenartige Mischung aus überraschtem und gleichzeitig erleichtertem Seufzer die Lippen. Der beschleunigte Rhythmus ihres Herzschlages beruhigte sich langsam wieder während Florence den Schneid besaß den Käpt'n vorwurfsvoll anzufunkeln.
      "Herrgott, willst du mich zu Tode erschrecken?", stieß sie atemlos hervor und wollte bereits durch den nächsten Redefluss stolpern, da blitzte im fahlen Mondlicht die Reflexion einer Schwertklinge auf.
      Die Genugtuung würde sie Nightingale nicht gönnen, aber für einen flüchtigen Augenblick fühlte Florence das Phantom eines eisigen Hauchs blanken Stahls an ihrer Kehle. Dem Ausdruck auf seinem Gesicht nach zu urteilen, war er durchaus dazu bereit seine Drohung in die Tat umzusetzen. Daran zweifelte Florence keine Sekunde und da sie alle ihre Finger und Gliedmaßen allzu gern behalten wollte, musste sie mit dem nötigen Feingefühl agieren.
      "Ist das dein Ernst?", fragte Florence und nickte in Richtung der gefährlichen Klinge. "Pack dein Schwert wieder ein, Nightingale, es ist zweifellos beeindruckend, aber ich muss dir unbedingt etwas zeigen."
      Der erzürnte Pirat machte keinerlei Anstalten der freundlichen Bitte zu folgen und Florence wagte es entnervt die Augen zu verdrehen. Dafür besaß sie im Augenblick zu wenig Geduld und hatte eindeutig zu viel mit Silas von dem Rum genascht. Dabei wollte sie Nightingale gerade tatsächlich helfen, was dieser eingeschnappte Esel einfach nicht verstehen wollte. Bedächtig stieg Florence die wenigen Stufen vor den Fenstern hinab und näherte sich dem größeren Mann mit entschlossener Miene. Mit einem prüfenden Blick auf die bedrohliche Klinge schlich sich ihre Hand auf den Schwertarm um diesen ohne Worte aber mit bittender Geste etwas zu senken. Florence legte den Kopf ein wenig zurück und sah Nightingale einfach an. Feingefühl, waberte es träge in ihrem Verstand.
      "Könntest du bitte den gewaltigen Stock aus deinem Arsch ziehen und für einen Moment vergessen, dass du mich nicht leiden kannst? Weil ich dir etwas wirklich, wirklich Wichtiges zeigen muss.", kam es stattdessen aus ihrem Mund ehe die Silben wie ein Wasserfall aus ihr heraus sprudelten. "Silas und Hurley haben mir am Feuer von dieser Karte erzählt, die mein Großvater Cornelius dir überlassen hat. Ich hatte sie vor unserer kleinen Verfolgungsjagd kurz gesehen, als ich die Karten vom Tisch geholt habe. Jedenfalls, saßen wir am Feuer und sie erwähnte, dass du auf der völlig wahnwitzigen Suche nach dem Stein von Ardashir bist, was ich für komplett verrückt halte, aber die zwei schienen davon überzeugt...und...wo war ich? Genau, die Karte. Mein Großvater hatte eine Vorliebe dafür Botschaften auf Karten und in Büchern zu verstecken. Mir ist Vorhin schon aufgefallen, dass etwas mit dieser Karte nicht stimmt. Für eine praktische Seekarte ist sie zu verschnörkelt und verspielt. Außerdem stimmen die Breiten- und Längengrade nicht."
      Mit Nachdruck, dennoch auf seine Kooperation angewiesen, schleifte sie den größeren Mann förmlich hinter sich herum zurück zu den Fenstern und zog ihn schließlich an ihre Seite während sie die Karte erneut ins Mondlicht hielt.
      "Sieh dir das an.", forderte sie ihn auf und führte mit federleichtem Druck die Fingerspitzen an sein stoppeliges Kinn um seinen Blickwinkel zu korrigieren, damit er den schillernden und perlmuttartigen Schimmer der Tinte erkennen konnte. "Mein Großvater hat die Tinte mit Regenbogen-Perlmutt gemischt. Es wird aus der Schale einer bestimmten Muschelart gewonnen, die es nur an den Küsten von Wesyn gibt. Das Lichtspiel der Muscheln ist einzigartig und ausschließlich im Sommer bei Nacht zu beobachten. Die Küste leuchtet, als hätte jemand die Nordlichter vom Himmel geholt. Es lässt sich sogar zu einer harten Legierung verarbeiten und hat ähnliche Eigenschaften wie Metall, weshalb es manche Leute auch Mondsilber nennen. Worauf ich hinauf will:
      Das ist keine Karte, Liam. Sie soll nirgendwo hinführen. Das ist ein Rätsel."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”