The Legend of Starfall [Winterhauch & Nico]

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    • Hurleys Lachen hallte meckernd durch den Schankraum, der sich mehr und mehr mit Leben zu füllen schien. Die Gespräche setzten wieder in der gewohnten Lautstärke ein und vermummten zu einem Hintergrundbrummen, während die Getränke reichlich konsumiert wurden. Trigg ergab sich dem Schicksal der warmen, recht nach Schießpulver riechenden Hand des Kanoniers und legte den Kopf geschmeidig auf dessen Schulter ab.
      Beinahe einträchtig schloss er lächelnd die Augen, während Hurley ihm den Kopf tätschelte.
      "Hach...Armer Irrer...", murmelte er und grinste verträumt auf Triggs schlafendes Gesicht. "Und ich würde nicht sagen, dass dich Niemand anrühren würde. Glaube mir, Männer werden zu Ungeheuern wenn sie Gelüsten frönen."
      Niemand wusste es besser als der Angehörige eines Volkes, das vom Aussterben bedroht war. Sachte zog er die Stirn in Falten und seufzte, während er sorgsam vorsichtig an seinem Drink nippte.
      "Menschen können wahnsinnig werden, wenn die Begierde sie gefangen nimmt. Ich verlor meine Familie und meine Geliebte durch eine Begierde. Die Männer kamen des Nachts in unser Dorf und schlachteten uns wegen unserer Augen ab. Hemmungslos und sensengleich scherten sie durch die Unseren und machten keinen Hehl um ihre Begierde. Ich sah zu, wie meine Geliebte vergewaltigt und umgebracht wurde in dieser Nacht..."
      Eine Weile lang verdunkelte sich seine Stimme und sein Blick wirkte seltsam gefasst und klar, entgegen zu der sonstigen Irre, die er zur Schau stellte. Und mit einem Mal vermochte man dem Kanonier zu glauben, dass er rücksichtslos töten würde, wenn er dazu gezwungen war. Seine kräftigen Hände malten den Schwung des Glases nach während er Florence ansah.
      "Hach, vielleicht, vielleicht nicht, Florence", murmelte er. "Besonders ist ein starkes Wort. Ich habe es auch einst gedacht, als mich Nightingale aus einem Sklavenkonvoi befreite. Ich erinnere mich an den jungen Mann, der mir grinsend die Hand reichte und mich aus dem Dreck zog. Der sich nicht scheute, einen Mutanten anzufassen, obgleich man ihm abriet. Ich hielt mich für besonders..."
      "Du bist besonders" lallte Trigg und gab ihm ein Küsschen auf die blaue Wange, was der Kanonier mit einem verzogenen Mund kommentierte.
      "Hach, du brauchst dir keine Sorgen zu machen", grinste der Kanonier breit und entblößte eine Reihe spitzer Zähne. "Sie wirken alle wie Monster und manche würden rücksichtslos für unseren Herzenswunsch töten, aber keiner würde dich anrühren wenn der Kapitän dies befiehlt. Ich glaube, selbst Clara würde mit dir auskommen wenn er es ihr sagen würde. Aber zur Sicherheit: Halt dich lieber von ihr fern. Sie ist nicht gut auf andere Frauen zu sprechen, kekekeke."
      Silas schmatzte lautstark, ehe seine Augen sich flatternd zu öffnen begannen und er in die Runde blickte.
      "Oh, wie schön. Ihr seid auch hier!", grinste er vernebelt und seufzte. "Worüber reden wir?"
      "Über Liam", murmelte Hurley und nippte an seinem Drink.
      "Ah ja...Tragisch, ganz tragisch...Wenn ihr mich fragt", begann dich Trigg und beugte sich verschwörerisch zu Florence und Hurley herüber. "Mag er diese Kartografin von neulich insgeheim. Immerhin hatte sie die Eier ihm entgegen zu treten. Aber sagt es ihr nicht! Psst!"
      "Hach je...", seufzte Hurley grinsend und schüttelte den Kopf.

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Florence senkte peinlich berührt den Blick in das halbvolle Glas.
      Das dumme Gefühl gerade mit vollem Anlauf und Kopfsprung in ein Fettnäpfchen getreten zu sein, kroch unangenehm Nacken herauf. Bei all der lockeren und überwiegend fröhlichen Stimmung hatte die Kartografin tatsächlich vergessen, wer ihr gegenüber auf einem der gebrechlichen Barhocker saß. Das Meeresvolk lebte mit der ständigen Gefahr durch Schmuggler und Raritätenjäger wie wilde Tiere verfolgt und eingesperrt zu werden. Die dubiosen Schwarzmärlte allerorts feilschten um die mit eisiger Grausamkeit erbeuteten Kostbarkeiten und überboten sich gegenseitig bis die Preise durch die Decke schossen. Bei der bloßen Vorstellung totenbleicher Augäpfel in fragwürdigen Gläsern und scharfkantigen Zähnen, die wie Perlen an einer Schnur aufgereiht waren, stellte sich bei Florence augenblicklich eine drückende Übelkeit ein, die ihr die Galle in die Kehle trieb. Die einzelnen Regierungen unternahmen kaum etwas gegen den verbotenen und blutigen Handel, der sich nicht auf einzelne Körperteile beschränkte. Frauen, Kinder...auf den verdeckten, illigalen Sklavenmärkten gab es genug, die den Besitz eines Mitglieds des Meeresvolkes für Luxus hielten und ihr Eigentum mit ekelerregendem Stolz vorführten wie ein exotisches Tier.
      Florence sah keine Gerüchte über irrwitzige Verwünschungen oder lächerlichen Aberglauben während sie Hurley ansah und schließlich ein gedehntes Seufzen ausstieß. Eine nutzlose Entschuldigung kam nicht über ihre Lippen. Leere Worte linderten weder den Schmerz des Kanoniers noch änderten sie etwas an der tragischen Vergangenheit. Mitfühlend, obwohl sie den Schmerz kaum mit dem eigenen Verlust vergleichen konnte, der gegen Hurleys Geschichte so winzig erschien, legte sie flüchtig aber sanft eine Hand auf den mit dunkler Tinte verzierten Unterarm. Das Thema erschien ihr zu schwerwütig für eine versoffene Hafenkneipe, aber niemand schenkte ihnen großartige Beachtung.
      Eine zweite Erkenntnis holte sie an diesem Abend ein: Nightingale hatte augenscheinlich die Angewohnheit heimatlose Streuner aufzulesen.
      "Ich hoffe, die Männer haben ihre gerechte Strafe für ihre Taten erhalten.", antwortete Florence mit gedämpfter Stimme und zog die Hand zurück. In ihrer Stimme schwang nichts geringeres mit als aufrichtiges Mitgefühl.
      Es war Trigg, natürlich Trigg, der die verdunkelte Stimmung unfreiwillig wieder anhob und tatsächlich ließ sich das Schmunzeln auf ihren Lippen nicht vermeiden. Es war kein höhnischer Gesichtsausdruck darüber, dass Silas sich offenbar ins Dilirium abgeschossen hatte oder ein verschmitztes Lächeln um einen Mann um den Finger zu wickeln, sondern ein warmes und ganz und gar ehrliches Lächeln.
      "Herzenwunsch?", flüsterte Florence.
      Bei der Erwähnung klickte etwas im hintersten Winkel ihre Verstandes. Das Wort war ganz und gar gewöhnlich, aber war begleitet von einem weit entfernten Echo. DIe Kartografin schüttelte den Kopf und verzog angesichts der beißenden Alkoholfahne, die sich mit dem billigen Parfum der Dirne mischte die noch vor wenigen Augenblicken an Silas Arm gehangen hatte, das Gesicht.
      "Keine Sorge, ich verrate es niemandem.", flüsterte sie als Antwort und tätschelte fürsorglich die Wange eines schwankenden und lallenden Triggs. Mit einem flüchtigen Seitenblick sah sie Hurley an, eigentlich wollte sie nicht übermäßig besorgt wirken aber irgendwie konnte sie nicht anders.
      "Denkst du nicht, es wird langsam Zeit, dass Trigg in die Koje kommt bevor Big Al ihn mit dem Kopf voran aus dem nächsten Fenster wirft?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

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    • Wohlig frisch erschien selbst die leichte Bewegung an seinem massigen Unterarm, während er beinahe neugierig zur jungen Frau sah, die ihre Hand so majestätisch wie unscheinbar auf seinen Arm legte. Es gebot einer merkwürdigen Gleichung, dass sowohl Liam als auch Florence offenbar keine Scheu empfanden, die Haut eines Mutanten zu berühren. Unter ihren Händen wurden sie das leicht feuchte seiner Haut spüren, die Kälte und den kaum vorhandenen Pulsschlag des Lebens. Sachte stellten sich seine Kiemen auf, die er sorgsam mittels eines Halstuchs zu verdecken wusste und seine Augen begannen in einem wunderschönen scharlachrot zu leuchten. Nur kurz, als durchflackere sie das Leben selbst, ehe sie wieder die übliche Färbung annahmen.
      "Die Männer leben noch heute und sind mittlerweile hohe Tiere in gehobenen Positionen", grinste Hurley und zuckte die Achseln. "Aber mir ist es gleich. Wir alle leben unseren Traum und versuchen nichts anderes als zu überleben, nicht wahr?"
      Er musste so denken. Er musste es verbannen, diese traurigen Gedanken, diese Erkenntnisse, die er gewonnen hatte. Und jeder in der Crew wusste, dass sie einander früher oder später bekämpfen würden. Also galt es, die Glückseligkeit und Einfachheit ihres Lebens noch eine Weile aufrecht zu halten. So lange es ging!
      Schweigsam nickte der Kanonier ihr zu und versuchte, den massigen und doch beinahe flüssigen Körper seines Kameraden aufzusatteln. Anders konnte man es nicht nennen, als der Kanonier umgriff und Trigg am Gürtel auf seine Schulter zog. Zumindest versuchte der Vizekapitän es, sich dagegen zu wehren und die grobe Behandlung zu kommentieren ("Grobian! Verruchte Anmache!"), wurde aber alsbald des Schweigens Herr, als die Müdigkeit seine Knochen wieder heimsuchte.
      "Vielleicht hast du Recht. Alsdann, Florence. Hat mich sehr gefreut und ich hoffe, du findest, was du suchst im Leben", grinste Hurley und wollte sich bereits mit einem kalten Seitenblick von Al verabschieden, als der Raum regelrecht explodierte.

      Staub und Wind trat heran, als die Tür regelrecht zur Seite geschleudert wurde und den Blick auf den Abendhimmel von Coldhaven freigab. In den winzigen Türmen, die man im Hintergrund gerade so erblicken konnte, spiegelten sich noch die Lichtreflexe der Gaslampen in den Zimmern oder der Öllampen, die man zum Beleuchten verwendete. Und beinahe wäre dieser Anblick mit dem zweiten der Monde idyllisch gewesen, wenn nicht zeitgleich vier bewaffnete Soldaten in den Raum geprescht wären.
      Ihre Leiber steckten in schwarzen, schweren Lederklüften und ihre Gesichter wurden durch weiße, ausdruckslose Masken verdeckt, die nur Sichtschlitze eingeritzt bekamen. Lederstiefel, die aus einem schweren Winter hätten stammen können, trampelten auf den Holzdielen herum und schubsten die Gäste beinahe unsanft aus dem Weg, während sie einen Weg für Jemanden zu formen schienen. Erst nach einer Weile betrat eine Frau die Schänke, die nicht fehlerhafter am Platz sein konnte als ein Sommerwind.
      In eng anliegende Lederhosen gehüllt und mit einem leicht sitzenden Rüschenleinen sah sie Florence in der Kleidung beinahe unglaublich ähnlich. Nur das ihre wilden Locken aus feuerrotem Samt zu bestehen schienen, während scharfe, grüne Augen durch den Raum huschten. Sie suchte Jemanden und dieser Tatsache eingedenk, war es umso mehr verwunderlich, dass die Besucher der Schänke beinahe augenblick das Haupt senkten und in ihre Gläser starrten. Was sollte man auch sonst vor einer Fürstin tun, wenn sie in eine der miesesten Hafenspelunken des Landes eintrat.
      "Sire, vielleicht solltet Ihr...", begann eine der vermummten Wachen zu sprechen, aber die junge Frau riss sich trotz ihrer schlanken und zierlichen Gestalt los und warf den Umhang beinahe von sich, den sie um die Schultern trug. Schwarzer Samt mit einem goldenen Wappen. Dem Wappen der Stadt, wenn man genau hinsah.
      Das ebenmäßige Gesicht fixierte Hurley, der eine Hand hob und grinste.
      "Tach auch!"
      Sogleich richteten sich sieben Hakenbüchsen auf den Blauhäutigen. Sieben Mündungen zielten auf den Kopf des Kanoniers, während dieser seinen Folgesatz herunter schluckte.
      "Hach, du dickes Ei...", wisperte er, während Trigg stampelte und plärrte. "WAS HIER LOS? TRACH MICH WEG, ALFRED! NEE WARTE, FALSCHES REGISTER!"
      "Halt deinen vollgesoffenen Rand, du Einfaltspinsel", zischte Donovan und trat einen Schritt zu Florence zurück. "Also ich finde, das wird ziemlich feindselig. Ich wollte Euch nur begrüßen, Miss...?"
      "Wie kannst du es wagen, du gemeiner Kretin??", plärrte eine der Wachen. "Das ist Ihre königliche Hoheit Susannah Havisham III., Fürstin von Million Towers, Dritte Ihres Namens, Hüterin der Kristalle von Egyla-"
      "Ja, ja", raunzte die Fürstin dazwischen, ihre Stimme mehr Reibeisen als Lieblichkeit, während sie Hurley und Trigg fixierte. "Ihr da! Sagt mir, wo verdammt noch mal Nightingale ist, sonst rupfe ich euch wie Hühner!"



      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Die wohlerzogene Adelaide hätte sie vermutlich zur zweifelhaften Wahl ihrer neuen Bekanntschaft beglückwünscht.
      Dabei hätte sie ein zuckersüßes Lächeln zur Schau getragen und dieses nervtötende, angedeutete Kopfschütteln vollführt während ihr rechter Augenwinkel verräterisch vor Missfallen zuckte. Es war ihre damenhafte Art auszudrücken, dass sie fest davon überzeugt war, dass ihre kleine Schwester Florence langsam aber sicher den Verstand verlor. Wer trieb sich schon freiwillig auf stinkenden, feuchten und maroden Schiffen herum, wenn Zuhause ein luxuriöses Leben wartete? Adelaide hatte nie begriffen, welche Beweggründe Florence in luftige Höhen oder auf die unendliche Weite des Meeres zog. Sie war glücklich in ihrem stumpfsinnigen Leben als Vorzeigeehefrau und mit einem Gedankenhorizont, der nicht weiterreichte als in die nächste Boutique um den neusten Modetrends des Kontinents zu frönen.
      Florence liebte ihre ältere Schwester abgöttisch trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen eines erfüllten Lebens.
      Von Zeit zu Zeit trieb es sie allerdings zur Weißglut.
      Adelaide hätte niemals öffentlich ihre Abneigung kundgetan, sondern diesen verkniffenen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der ihre wunderschönen und vollen Lippen in eine hässliche Linie verwandelte. Einen Mann wie Hurley auch nur einen Zentimeter mehr als nötig in ihrem Dunstkreis zu tolerieren, hätte ihr vermutlich vor Stress ein paar vorzeitige, graue Haare beschert.
      Sie war beschränkt in ihrer Welt aus edlen Blumengestecken, dem oberflächlichen Geschwätz ihrer sogenannten Freundinnen und den lächerlich winzigen Häppchen die auf ihren berühmten Dinnerpartys gereicht wurden. Aber es machte sie offenbar glücklich, als hielt Florence den Mund.
      Hurley dagegen sah Florence mit offenherziger Faszination an. Dabei war es nicht die stechende Neugierde von Schaulustigen, die ein exotisches Biest mit großen Augen anstarrten, die ihren Blick zierte. Die Kartografin registrierte die sachten Bewegungen der Kiemen unter dem dünnen Stoff um seinen Hals, den Farbwechsel der blässlichen Augen. Es war dieselbe Beobachtungsgabe, mit der sie die Crewmitglieder der Starfall während ihres unfreiwilligen Aufenthalts an Bord angesehen hatte. Florence sah zumeist mehr, als ihr zugetraut wurde. Das war schon als Kind der Fall gewesen, wenn ihre Mutter behauptete, sie stecke mit dem Kopf nur in den Wolken.
      Sie schenkte Hurley und Silas ein Lächeln zum Abschied und tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger in der Karikatur eines Saluts seitlich gegen die Stirn.
      "Bleibt von Schwierigkeiten fern bis ihr an Bord seid. Sonst muss ich mit wirklich noch Sorgen um den Blutdruck Nightingales Blutdruck machen.", kicherte Florence vergnügt. "Hurley, Silas. Es war mir ein zweifelhaftes aber erfreuliches Vergnügen."

      Bedauerlicherweise musste der letzte Schlummertrunk für diese Nacht ausfallen.
      Florence hatte sich noch nicht vollständig auf dem Barhocker zu Big Al gedreht, da fegte ein ohrenbetäubender Knall durch die Kneipe. Von der Decke rieselten ein paar Holzsplitter herunter und verteilten sich wie bräunlicher Feenstaub auf der gesamten Theke. Alistair King pfefferte mit beachtlicher Wucht seine Schürze in den nächsten Wäscheeimer hinter der Reling und stapfte um das Möbelstück herum. Er krempelte sich bereist die Ärmel nach oben, da ihm der respektlose Umgang mit seinem geliebten Eigentum gar nicht in den Kram passte, da hielt er ruckartig inne und stieß einen scharfen Pfiff aus. Gefolgt von den buntesten Flüchen die Florence je gehört hatte.
      Alistair King, Big Al höchstpersönlich, schickte sich zu einer etwas steifen Verneigung an.
      "Meine verehrte Fürstin, was führt Euch in dieses bescheide Etablissement und bereichert unserer bescheidene Existenz mit Eurem Glanz.", säuselte Alistair. Und was sich zunächst wie eine unbeholfene Schleimerei anhörte, bekam durch den stechenden Blick der geschmälerten Augen einen unerwarteten Biss.
      Florence linste um die breite Gestalt des Seemenschen herum, da sie hinter Hurleys bulliger Statur beinahe verschwand und sog scharf den Atem ein. Die Frau konnte mit keinem anderen Wort als wunderschön bezeichnete werden. Sie hatte diese edle, aber gebieterische Ausstrahlung, die von jedem Aufmerksamkeit einforderte. Ein Portrait der adligen Dame hing in der Fakultät in Wesyn und gehörte zu einer unschätzbaren Sammlung wertvoller Kunstwerke.
      Sie fragte sich, was der Kapitän der Starfall mit der Fürstin von Million Towers zu schaffen hatte.
      Es wäre dreist gelogen, wenn Florence behaupten würde, dass ihr gerade nicht die wildesten Szenarien durch den Kopf schossen.
      "Na, da laus mich doch ein Affe...", murmelte sie. "Nightingale weiß wirklich, wie man Ärger macht."
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    • Hach, du dickes Ei, dachte Hurley erneut während er sicheren Schutz suchend, einen Schritt nach dem anderen nach hinten setzte. Selbst das gesäuselte Wort des Schankwirtes vermochte den Zorn der jungen Frau nicht zu mildern, die jetzt wütend die Fäuste in die Hüften stemmte und Al mit einem Seitenblick fixierte.
      "Spar dir dein Gesäusel, King", grunzte sie in seine Richtung.
      Eines musste an dieser Stelle gesagt werden, werter Freund:
      Die Fürstin von Million Towers zeichnete sich neben verdienter Talente im Grunde durch die Eigenschaft ihres Geschlechts aus. Sie war eine von 3 Fürstinnen der Splitterreiche und stolz auf ihre Errungenschaft. In einer männerdominierten Domäne Fuß zu fassen erwies sich mitunter als schwer und unzugänglich und doch hatte sie es Jahre nach ihrer Krönung schlussendlich geschafft, sich den Respekt der hiesigen Amtspersonen zu verdienen. Auch wenn es dafür erheblicher Opfer bedurft hatte. Im Falle der Fürstin Susannah Havisham war es vielmehr die Aufgabe ihrer guten Kinderstube gewesen, damit ihre Strafen drakonisch und ihre Ansprachen bissig genug werden konnten, um die altgedienten Mitglieder ihres Stabes zur Raison zu rufen.
      Dies alles brachte ihr seinerzeit den Spitznamen "die Königin des Jähzorns" ein. Und diesen verteidigte sie leidenschaftlich.
      "Also? Wo ist der Schweinehund?", keifte sie in Richtung von Hurley, der sich verlegen zu räuspern begann.
      "Nun, also...Ich weiß wirklich nicht..."
      "Spar dir das Donovan!", donnerte sie. "Ich erkenne dich, ich erkenne Trigg, diesen verlausten Sohn eines Orang Utans und ich erkenne...Nein, die da erkenne ich nicht. Aber nichts desto weniger muss er hier sein, wenn sein Schiff und seine Crew hier ist!"
      Eine verzwickte Situation, dachte Hurley und rieb sich nachdenklich das Kinn. Die Fürstin war eine mächtige Gegnerin, mit der man es sich nicht verscherzen durfte. Es war die taktische Nutzung von Diplomatie und Leidenschaft gefragt, um das grazile Wort der jungen Frau nicht zu beschmu-
      "WAT HEIßT HIER ÄRGER; SHURORORORO", kicherte Trigg plärrend zu Florence, während seine Augen noch immer Achterbahn fuhren. "LIAM HATTE EIN KLEINES TECHTELMECHTEL MIT DER GUTEN FÜRSTIN UND HAT SIE WEGEN DEM SCHIFF VERLASSEN; SHURORORORORO!"
      Nun, das war keine gute Wendung.
      Stille trat eisern und vernichtend in den Raum und beraubte der guten Stimmung ihres Platzes.
      Die Fürstin vernahm die Worte, die wie ein schmales Echo durch den Raum hallten und errötete beinahe mit gleicher Sekunde. Die Wachen, verborgen hinter weißen Masken, zuckten zusammen und das Unbehagen im eng gewordenen Schankraum war greif- und spürbar. Selbst die meisten der Gäste schafften es, ihre Überraschung hinter einem eilig geschlürften Drink zu verstecken, während man um Trennung des Sichtkontaktes bemüht war.
      Vielleicht das bedenklichste neben dem leisen Getuschel der Gäste, die langsam wieder zum Leben erwachten (und Triggs anhaltendem Kichern, das alsbald in ein sanftes Schnarchen mündete), war sicherlich die Ader, die auf der Schläfe der jungen Herrscherin zu pulsieren begann.
      Zierliche Fäuste ballten sich und verfärbten sich weiß an den Knöcheln, während sie mühsam um Fassung bemüht war. Und dann - mit all ihrer Souveränität, die sie als Herrscherin aufbringen konnte (und einem Kopf, röter als manche Tomate) drehte sie sich zu den Wachen um.
      "SCHNAPPT EUCH DIESE DREI WIDERLINGE UND SPERRT SIE IN DEN KNAAAST!"
      Chronisten aller Orten schwören, das bei der letzten Silbe die Haare des Kommandanten im Winde ihrer Ausrufe wehten. Nichtsdestoweniger setzte sich die Truppe in Bewegung legte die Büchsen an.
      Hurley indes drehte sich eilig zu Florence um, deren sorgenfreies Leben offensichtlich mit in den Moloch von Triggs Sauferei gefallen war, und murmelte:
      "Lauf!"
      Mit der freien, linken Hand griff er in einen kleinen Lederbeutel an seinem Gürtel. Zwischen Münzen, Knoblauch und Scherben von leeren Phiolen bekam er zu greifen, was er im Gefängnis entwickelt hatte. Eine nette Brauerei von Steinoxid und anderen Substanzen, die bei Kontakt Rauch erzeugten.
      So die Theorie.
      Als der merkwürdige schwarze Klumpen den Holzboden der Taverne berührte, stellte sich heraus, dass eine Reaktion mit Holzspänen offenbar nicht berechnet wurde. Ein Klirren, lauter als mancher Pistolenschuss, gellte durch den Raum und mit einem Urknall schoss eine schwarze Wand durch den Raum.
      Geschrei und Gebrülle erhoben sich zeitgleich als die bekannte Welt in Dunkelheit getaucht wurde und merkwürdig nach Schwefel stank.
      "Hach, ich habe die Finsternis erfunden", bemerkte Hurley, dessen Gesicht vom Ruß schwarz gefärbt war. "Lauft! Der Hinterausgang!"
      Hoffentlich gab es einen.

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    • Drei? Moment. Hat sie gerade Drei gesagt?“, protestierte Florence mit einem entgeistertem Blick.
      Das war ein schlechter Scherz,ein unglückliches Missverständnis durch die überkochenden Gemüter und das lose Mundwerk eines Trunkenboldes. In dem Augenblick war sich Florence nicht sicher, ob sie nicht lieber sich selbst eine Ohrfeige dafür verpasst hätte, weil sie nicht einfach gegangen war oder Silas die Nase brechen wollte, weil er nicht einmal seine vorlaute Klappe halten konnte. Der Mann besaß nicht die geringsten Hemmungen einfach jede delikate Information hinaus zu posaunen. Florence fragte sich ernsthaft, wie es Silas geschafft hatte Nightingales rechte Hand zu werden.
      Entsetzt starrte die Kartografin an dem breitschultrigen Kanonier vorbei und blickte in die tiefschwarzen Mündungen der Büchsen, die bereits zur ersten Salve angelegt waren. Sie würde nicht hier sterben, in einer schäbigen Kneipe und in Lachen aus billigem Fusel (Verzeihung, Alistair) ihren letzten Atemzug aushauchen. Hurley riss die Frau aus der geschockten Starre und bevor Florence eine gekeifte Antwort über die Lippen kam, explodierte das Chaos im Raum.
      Über dem Geschrei ertönte die zornige Stimme eines wütenden Bären, die sie einzig und allein Alistair King zuschrieb. Der Wirt des Rusty Anchor schimpfte in den wildesten Beschimpfungen und buntesten Flüchen wie ein Rohrspatz, während er offensichtlich versuchte einen Weg durch die tiefschwarze Finsternis zu finden. Um sie herum erfüllte der Lärm abgefeuerte Schüsse die Luft und Florence würde steif und fest behaupten, dass in einem scharfen Windzug eine Kugel direkt an ihrem linken Ohr vorbei zischte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schwere Schritte polterten und stolperten über die alten Holzdielen, ehe eine gewaltige Pranke von Hand sich um Hurleys Schulter schloss. Statt einer wutschnaubenden Drohung, verließ etwas völlig anderes Big Als Mund
      „Seid ihr alle wahnsinnig!?“, knurrte er und schob Hurley samt seiner lallenden Fracht, gefolgt von Florence weiter in den vernebelten Bauch der Kneipe. Alistair könnte in seinem eigenen Laden mit verbundenen Augen arbeiten, so war es für den riesigen Mann ein leichtes die Hintertür zu finden. Beim Öffnen der Tür zog ein erster Schwall dunklen Rauches in die Nacht ab und Alistair sah die zwei Männer aus Nightingales Crew eindringlich an, ehe er Hurley am Kragen packte.
      „Der einzige Grund, warum ich euch nicht eigenhändig der Fürstin zum Fraß vorwerfe ist, dass ihr unsere bezaubernde Florence in euren Schlamassel mit hineingezogen habt. Wenn mir zu Ohren kommt, dass ihr was passiert ist, finde ich euch und ziehe euch eigenhändig die Haut ab.“, knurrte er drohend, ehe er Florence ein entschuldigendes Lächeln schenkte und das plötzliche Mienenspiel seines Gesichts sie mehr als nur ein wenig verwirrte. Der Mann schien zwei Gesichter zu haben. Sie zweifelte nicht daran, dass Big Al als ehemaliger Schiffkoch durchaus dazu in der Lage war einen Menschen zu häuten und ihn dabei möglichst lange bei Bewusstsein zu halten. Sie schluckte.
      Alistair King richtete sich ein letztes Mal zu seiner vollen Größe auf und stieß die drei Unglücksraben in die Nacht hinaus.
      „Verzieht euch endlich!“, donnerte Big Al und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu, dass die ganze Hauswand schepperte. Florence, die hustend und würgend von dem schwefelhaltigen Rauch vornüber gebeugt auf dem kleinen Hinterhof stand, sah den Kanonier mit einer Mischung aus manischem Grinsen und purer Verzweiflung an.
      „Ich bring ihn um, Hurley.“,keuchte sie. „Sobald wir die Fürstin und ihre Bluthunde abgeschüttelt haben, erwürg ich Silas mit bloßen Händen. Sag mir bitte, dass du den Weg kennst. Die Vordertür können wir wohl vergessen.“
      Ein ohrenbetäubender Knall ertönte und Florence brauchte nur wenige Sekunden um zu begreifen, dass die Verfolger wohlmöglich die Vordertür gefunden hatten. Sie warf den Kopf mit den zerzausten, schwarzen Locken zurück und reckte das Kinn in Richtung der verwinkelten Schleichwege hinter dem Rusty Anchor. Schritte näherten sich eilig und sie hörte das verräterische Geräusch, das das Nachladen einer Schusswaffe signalisierte.
      Das zuversichtliche Nicken des Kanoniers beruhigte sie nicht, aber ohne eine andere Wahl zu haben, folgte sie Hurley in den Irrgarten aus Windungen und Biegungen zwischen kaltem Stahl und abgetakelten Gerbäudefassaden. Die Schritte klangen unheivoll nah in ihren Ohren und zum ersten Mal seit der Begegnung mit der Crew der Starfall erfasste sie eine ungebremste Panik. In regelmäßigen Abständen zischten Geschosse haarscharf an ihren Köpfen vorbei und hinterließen unschöne Löcher in den Fassaden. Andere prallten als Querschlägel von den stählernen Säulen des Bezirks ab, so das Florence schützende die Arme über den Kopf hob. Als ob das etwas nützte. Mit jedem Meter brannten ihre Lungen ein wenig mehr bis sie nach unzähligen Treppenstufen und Hindernissen in ihrem Weg kaum noch Luft bekam und ihre Atemzüge einem peifenden Keuchen ähnelten. Sie war Kartografin, herrgottnochmal, keine Diebin oder Unruhestifterin deren tägliche Aufgabe es war einen Marathon auf der Flucht zu laufen.
      Völlig erschöpft blieb sie auf einem kleinen, etwas geräumigeren Platz stehen, der vor den Docks der Werft scheinbar als Lagerrplatz diente. Überall standen Kisten und größere Frachtgüter herum. Hinter einer großen Kiste mit diversen Maschinenteilen ging die Kartografin schlitternd in Deckung und riss dabei das weiche Leder an ihrem rechten Schienbein auf, mit dem sie ihren wenig eleganten Fall abbremste. Sie winkte Hurley zu sich und schnappte panisch nach Luft, als würde sie ersticken. Fußgetrappel erüllte in rasanter Geschwindigkeit den Lagerplatz und die ersten Kugeln schlugen in die spröden Holzkisten ein, die Metallteile im Inneren ihres Schutzwalls klirrten dabei blechern.
      Mit einem zittrigen Finger deutete sie nach oben.
      Die Starfall schwebte beinahe direkt über ihnen in ihrem Dock. Mittlerweile dürften sämtliche Angestellte und auch alle Schiffsmannschaften mitbekommen haben, dass unter ihren Füßen etwas vor sich ging. Die Schüsse hallten von Echos beggleitet durch das Metallgerippe von Coldhaven. Eine gewundene Treppe führte zu den Docks, aber da waren sie vollkommen schutzlos den Häschern der Fürstin ausgeliefert.
      "Da,... ich kann die Starfall schon sehen. Es ist nicht mehr weit. Wir müssen sie irgendwie ablenken, damit du den Weg bis zum Dock schaffst ohne von Kugeln durchlöchert zu werden.", presste Florence hervor und ignorierte das heiße Blut an ihrem Bein.
      Plötzlich ertönte ein verärgertes Gebrüll in ihrem Rücken begleitet von einem schrillen Kreischen; dem Kreischen eines Raubvogels.
      Wie ein lebendiges Geschoss stürzte die machanische Eule Archimedes aus der Höhe, nun da er eine freie Flugbahn hatte und die Gejagten den labyrinthartigen Gassen entkommen waren. Mit der abstrakten Version eines Kavalleriemarsches schoss Archimedes in die Gruppe der Schützen und riss einem von ihnen mit der rasiermesserscharfen Krallen, die wie Diamanten im Mondlicht schimmerten, die blasse Maske vom Gesicht. Die Krallen glitten mühelos durch das Material der Maske, wie ein heißes Messer durch die Butter, und hinterließen tiefe, blutige Striemen quer über dam Gesicht des Wachmannes. Allgemeine Verwirrung machte sich breit, während sie zu der Eule herauf starrten die ihre Kreise über ihren Köpfen zog.
      "Sorgen Sie sich nicht, Miss!", ertönte es vollmundig über ihnen. "Die Kavallerie rückt an. Obwohl, für eine Kavallerie fehlen uns die Rösser und ich kaum als stattlicher Reiter durchgehen würde, aber wenn ich so frei sein dürfte..."
      Florence riss der Geduldsfaden.
      "ARCHIE! HALT ENDLICH DEINEN SCHNABEL! UND KRATZ IHNEN DIE AUGEN AUS!", keifte Florence und sackte gegen die Holzkiste, während sich ihre Brustkorb sich schwerfällig unter den Atemzügen anhob. Ein weiteres Aufbrüllen und die Tatsache, dass die Kugeln nun wild durch die Gegend geschossen wurden, sagte Florence, dass Archimedes sich gehorsam fügte und etwas Chaos verbreitete.
      "Du hast nicht zufällig noch eine von deinen... Rauchbomben, Hurly?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
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    • Ach herrje, was für ein Chaos, werter Freund!
      Und das auch noch ausgelöst von einem Mann, dessen zweiter Vorname Chaos war! Big Als Worte erreichten den blauhäutigen Kanonier zwar, jedoch war dessen Aufmerksamkeit auf die Büchsen gerichtet, deren Kugeln wild feuerten. Dennoch nahm er den Hinweis des Schankwirtes gerne zur Kenntnis und schloss sich der Flucht der jungen Frau an. Offenbar bestand hier zumindest eine Chance, dass er es weiter brachte. Eifrig schleppte er noch immer Silas auf dem Rücken, während eine Kugel an Florence vorbei zischte. Mit einem Mal verstummte der Dieb auf seinem Rücken und wäre es nicht Trigg gewesen, hätte sich Hurley wohl zu sorgen begonnen. Doch hier war es defintiv nicht die Sorge, welche Überhand nahm.
      Es war Angst.
      Eilig machte er sich von dannen, die Windungen und Wirrungen des 8. Bezirks von Million Towers auszunutzen, die windigen Verfolger abzuschütteln. Und selbst dies war einfacher gesagt als getan! Denn auch die Straßen waren teilweise recht belebt, sodass sie sich teils durch Menschenmengen pressten und alltäglichen Dingen ausweichen mussten, noch während die Kugeln wie ein Gewitter um sie herum einschlugen. In regelmäßigen Abständen schlugen die Kugeln in die Fassaden der Häuser ein und hinterließen neben hässlichen Geräuschen auch Trümmer die umher flogen. Die Wachen schossen mit Luftdruckmunition! Gemeine kleine Kanalratten, dachte Hurley grantig. Schießpulver war zwar verheerender, aber durch die Luftdruckregulierung an den Gewehren ließ es die Wachen präzise schießen. Auch wenn sie liefen. So wunderte es nicht, dass es an einer Ecke kam, wie es kommen musste:
      Eine Kugel schlug an ein Eisenrohr und prallte ab. Mit einem leichten "KLONK" im Ohr spürte Hurley einen Schlag gegen die Schulter. Dennoch rannte der Schiffskanonier weiter, die massigen Haare wie ein Besenschweif hinter sich her ziehend. Erst nach einigen Minuten kam der Schmerz wie ein alter Freund zu ihm. Beißend und stechend fraß er sich in seinen Schultermuskel und ließ seinen linken Arm nutzlos werden.
      "Hach...", ächzte Hurley und blickte sich um.
      Sie hatten den Ladungsplatz erreicht! Einen großen, beinahe oktaedersken Platz voller Kisten udn Truhen, welche auf die Schiffe zu laden waren, die andockten. Und da derzeit eine nicht ungehörige Meute von Schiffen anlag, konnte man sich prima dahinter verstecken. Florence tat dies bereits mit einer erstaunlichen Gewandheit, die Hurley nicht an den Tag legen konnte, bedachte man seine schwere Fracht.
      So schmiss er Trigg hinter eine Kiste, welches dieser mit einem leichten "Urgh!" kommentierte. Armer Trigg, denn unweit entfernt betraten bereits die Staatswachen den Platz und brüllten Befehle. Sie wollten sich aufteilen, von mehreren Seiten wie ein Raster die Falle zuschnüren, als die ersten Schreie laut wurden.
      Hurley konnte nicht anders, als seinen massigen Kopf über die Kiste zu heben und einer kleinen, mechanischen Eule (War es eine Eule?) offenbar zusehen, wie sie die Eisenkrallen scharf und begierig in die Masken der Soldaten schlug. Freilich ein wirksames Kampfmittel, doch Hurley witterte eine weitere Chance.
      Mit einem schnellen Seitenblick zu Florence bemerkte dieser ihr blutendes Bein und auch in dieser Sekunde seinen eigenen Arm, der eine lange, verräterische Blutspur hinter sich her zog. Es blieb ihnen also nichts.
      "Nein", ächzte er. "Hach, aber wir haben was besseres!"
      Ein schwaches, böses Grinsen huschte über sein Gesicht als er die schwere Seemannsjacke öffnete, die er am Leibe trug. Gefertigt aus gegerbter Wolkenwalhaut war sie nicht nur ein immens wärmend Kleidungsstück, sondern beherbergte gleichsam viele ausgebeulte Taschen. Aus einer dieser Innentaschen förderte er eine Pistole zu Tage, welche mit Dampfdruck betrieben wurde. Sachte legte er einen schmalen Hebel um, sodass ein kleiner Motor zu rotieren begann, ehe er Florence ansah.
      "Wir haben ihn!", sagte er und warf die Kanone in Richtung der Box, wo er Trigg zurück gelassen hatte.
      Und tatsächlich!
      Wie von einem Magneten angezogen schnellte die Hand des Diebs nach oben, als sei sie ihr eigener Herr und fing die Waffe präzise auf, während Hurley gegen die Kiste sank. Zu viel Blut verloren, dachte er grinsend und reichte Florence eine weitere Granate.
      "Wenn sie zu nahe kommen!"; flüsterte er und zwinkerte.
      Und nun, werter Freund, würde Florences gedachte Frage wohl noch beantwortet.
      Denn abgesehen von seiner erhabenen Fähigkeit am Glase und mit den Worten der Liebe war Silas Trigg mitnichten ein einfacher Dieb. Um die rechte Hand eines Piraten zu werden bedurfte es nicht viel. Jedoch ein Leben wie dieses zu führen und immer noch zu leben war eine durchaus beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass über die Hälfte der Piraten im ersten Jahr starben. Und auch wenn der Dieb noch eben im sachten Schlaf des Deliriums weilte, erhob sich jetzt sein großer, schlanker Körper schwankend aus der Deckung der Kiste heraus (was ihm das Schreien und Zeigen der Wachen einbrachte) und grinste breit, während er die Pistole anlegte.
      Waren die Augen des Diebes vormals noch von deliranten Gedanken vernebelt, so zeichnete sich jetzt Kälte und vielmehr eine mörderische Lust, die Wachen eines besseren zu belehren ab.
      Zielgerichtet legte er die Waffe an und drückte hintereinander dreimal ab. Mit einem leichten Zischen entlud sich die Waffe und Schreie wurden zeitgleich laut. Mit drei Schüssen fielen drei Wachen.
      "Konzentration Eins", grinste Hurley. "Hach, er nennt es so. Die Fähigkeit, sich für 1 Minute zu einhundert Prozent auf ein Ziel zu fokussieren. Trigg ist der tödlichste Schütze von uns."
      Vier weitere Schüsse gellten durch die Nacht, ehe sich der Dieb schwankend umdrehte und in ihre Richtung starrte.
      "SHURORORORO, macht das ihr wegkommt!", lachte er vor sich hin, während er die Wege der Wachen abschätzte.
      Eine weitere Salve schoss über seinen Kopf hinweg und seltsamerweise schlugen die Kugeln beinahe alle neben ihm ein. Als würde er die Wege der Geschosse vorausahnen können.

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    • Der befremdliche Anblick des zuvor völlig betrunkenen Silas verlangte Florence stillen Respekt ab.
      Obwohl er schwankte, führte die Pistole mit scheinbar übermenschlicher Präzision und erwischte die Staatswachen ohne dabei ein einziges Mal das anvisierte Ziel zu verfehlen. Jeder Schuss ein Treffer. Die verspielte und spitzbübische Miene war durch eine kalkulierende Maske ersetzt worden, die Florence mehr Furcht einflößte als die anonymen, weißen Masken der Verfolger. Der resoluten Kartografin fehlten buchstäblich die Worte für das Schauspiel, das sich ihren geweiteten Augen bot. Ein Ruck erfasste die überanstrengten Muskeln, als Triggs beunruhigend fröhliche Stimme über den Ladungsplatz schallte. Kurz ruhte ihr Blick unmissverständlich auf dem lachenden Gesicht, dass ihr Verstand nicht wirklich einordnen konnte. Der Mann, der offenbar mit Vergnügen einen Fluchtweg ermöglichte, war gefährlich. Für einen Moment fragte sich Florence, warum er zugelassen hatte, dass sie ihn zu Boden gerissen hatte, als sie aus dem stinkenden Beutel geschlüpft war. Er hätte sie ohne Probleme abwehren können. Die Kartografin schluckte schwer und kam zur Besinnung, als ein feindlicher Schuss hinter ihr in einer Kiste einschlug und Holzsplitter um sie herum explodierten.
      Mit der Rauchgranate fest in der Hand rutschte sie zu Hurley und betrachtete die breite Statur während sie sich fragte, wie zur Hölle sie den Kanonier bewegen sollte. Kurz huschte ihr Blick in Richtung eines Fluchtkorridors, der sie möglicherweise zurück in das Herz von Coldhaven führte. Sie könnte davon laufen.
      Ein frustrierter Laut verließ stoßartig ihre Kehle, ehe sich Florence mit gebührender Eile an Hurleys unverletzte Seite rutschte.
      "Komm schon, du Riese.", versuchte sie zu scherzen. "Du wirst mir ein bisschen helfen müssen."
      Sie wechselte die Granate in die andere Hand und griff nach dem Arm des Kanoniers, um sich den schweren Arm über die zierlichen Schultern zu legen. Mühevoll und mit Hilfe von Hurley, schaffte sie es es, den Mann auf die Füße zu stellen. Das Gewicht drückte sie fast augenblicklich wieder zu Boden und ihr Bein schmerzte unter der Last. Es war nicht sonderlich schlimm aber schmerzhaft.
      Unter ständigem Beschuss schleppten sich Florence und Hurley langsam Richtung der stählernen Treppen. Ein Blick nach oben genügte und es kam ihr vor wie ein unüberwindbares Hindernis.
      "Das schaffen wir. Die paar Stufen...", versuchte die Kartografin es mit einem zweifelhaften und deplatzierten Scherz. "Kinderleicht."
      Die ersten paar Stufen waren durchaus machbar. Danach entwickelte sich der Weg über die Treppe zur einer Tortur und Stufe für Stufe quälte sich das ungleiche Paar in die Höhe. Zwischendurch prallten Geschosse gegen die Metallkonstruktion und einmal hätte Florence vor Schreck fast den Halt auf dem glatten Untergrund verloren. Schweiß perlte ihr vor Erschöpfung und Anstrengung auf der Stirn.
      Der Weg erschien ihr endlos, bis sie endlich den Hangar und die Docks erreichten.
      Aus der Entfernung erblickte Florence den auffälligen Zeppelin der Starfall und hätte vor Erleichterung beinahe laut aufgelacht, wären da nicht hektische Schritt hinter ihr auf der Treppe gewesen. Blind entsicherte sie die Rauchgranate mit den Zähnen und hörte ein verräterisches Klicken, ehe sie diese hektisch über die Schulter zurück warf. Eine erschütternde Explosion ließ die Treppenkonstruktion bedrohlich wackeln. Aus dem Schacht selbst quoll ein Schwall schwarzer Rauch und aus der Dunkelheit erklang Gefluche und Gehuste.
      "Los. Wir haben es gleich geschafft, Hurley.", versuchte sie ihren Nebenmann anzutreiben.
      Auf dem halben Weg zur Starfall gaben ihre beinahe letztendlich aber wenig überraschend nach.
      "HEY!", rief Florence so laut wie sie konnte in Richtung des Luftschiffes und winkte mit dem freien Arm, um die Aufmerksamkeit der Crew an Deck zu bekommen.
      Über ihren Köpfen zischte Archimedes wie ein flinker, silbriger Schemen durch die Luft und hätte nach einem waghalsigen Bremsmanöver beinahe eine Bruchlandung an Deck der Starfall hingelegt. Die Eule meldete sich mit einem blechernen Räuspern und schüttelte das metallische Federkleid, das ein paar der kostbaren Bauteile eingebüßt hatte.
      "Wenn ich um ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte, die Herrschaften.", setzte Archimedes an und drehte ruckartig den Kopf herum, legte ihn in gewohnter Art und Weise schief. "Mich beschleicht die Vermutung, da benötigt jemand ihre umgehende Assistenz. Es eilt. Hopp, hopp."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • An Bord der Starfall war bis zum Sonnenuntergang das Werkeln an der Aussenfassade Gang und Gäbe. Schraube um Schraube und Brett um Brett wurden an den Rumpf des ohnehin recht wackeligen Schiffs verbaut, sodass es Niemanden recht wunderte, dass die Arbeiten auch in der Nacht noch von Statten gingen. Arnaud Permentier verbrachte seine Zeit gerne zwischen den Ölleitungen des Schiffes und roch den Geruch des Holzes zu seinen Füßen. Und von der Faszination von Schrauben war gar nicht zu sprechen. Es war für Deathvalley nicht mal erstaunlich, dass der Mechaniker eine jede Schraube beinahe liebevoll und zärtlich ins Holz drehte. Clara saß im Schneidersitz auf der Reling und lehnte sich an ihre Waffe, als die Tumulte los brachen.
      Erst waren die Schüße weit entfernt im Hafenviertel zu hören doch schienen mit jeder Minute näher zu kommen. Ein Warnen des Mechanikers erschien ihr sinnlos, da dieser ohnehin mehr auf die Schrauben und seinen übergroßen Schlüssel konzentrierte. Tatsächlich hatte er einen Schraubenschlüssel aus der Grube im Schiff geholt, die beinahe die Hälfte der Größe des Mannes einnahm. Ächzend zog er gerade eine Schraube fest, als ein Rumpeln die Nacht erschütterte und die Schüsse in unmittelbarer Nähe aufkamen.
      Arnaud hob seinen dreckigen Kopf und sah in die Schwärze der Nacht, die nur durch die Gaslaternen der ankernden Schiffe erhellt wurde. Grünlich geisterhaft schienen die Lichter in dem Laternen zu schweben und einen Moment lang dachte Arnaud, ein Rufen in der Ferne zu hören. Aber wer würde nach ihnen rufen?
      "Hast du das gehört?", fragte er erstaunt in Richtung Clara, die ihr Haar gerade zu einem Zopf verknotete. Sie hielt nichts von Haargummis, weshalb ein klassischer Knoten sich als das beste Zugmittel erwies.
      "Was gehört?"
      "Dieses Geballere...Barbaren."
      "Wirklich?", fragte Clara und hielt ein Ohr in den Wind. "Jetzt wo du es sagst. Klang irgendwie wie das Sonntagsessen bei meiner Familie..."
      "Hizazazazazaza", kicherte Permentier und nagelte ein Brett an den Rumpf, das nicht in die Form passte. "Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir diese Frau freigelassen haben. Wir hatten lange keinen Kartografen mehr..."
      Clara grunzte nur und legte den Kopf gegen den Wind, um den Schüssen zu lauschen.
      "Du bist nur eifersüchtig", knurrte Arnaud und erhob sich justemang in dem Moment, als Archie auf dem Deck der Starfall aufschlug und bedenkliche Zischlaute von sich gab.
      Die erbetene Aufmerksamkeit zumindest hatte er erlangen können. Arnaud und Clara sahen zu ihm hinab, während Chimp aus dem Schatten des Decks vorbei kam und an einem undefinierbaren Getränk schlürfte.
      "Welcher Jemand denn?", fragte Arnaud die kleine Eule und legte den Kopf auf die gleiche Weise schief.
      "Da vorne!"
      Claras Stimme war nicht hab so erfreut wie sie hätte sein können. Immerhin sah sie Hurleys geschundenen Körper zuerst. Erst danach fiel ihr diese merkwürdige Frau ins Auge, die sie erst kürzlich losgeworden waren. Und jetzt winkte sie wie eine Irre. Bei näherem Hinhören wurden auch die Schüsse lauter und zahlreicher. Als liefere sich jemand ein Schussduell, der eigentlich nicht schießen sollte...
      Oh nein.
      Claras Gesicht verzog sich in dem Moment, in welchem sie begriff, dass Trigg fehlte und eine Meute von Soldaten auf dem Weg zu Hurley und Florence war.
      "Arnaud! Einsatz! Orcas, aufwachen!", donnerte ihre Stimme über das Deck.
      Und auch hier, werter Freund, sei gesagt, dass die Starfall durchaus eine Menge von Merkwürdigkeiten beherbergte. Doch nichts in der Nacht erschien so furchterregend wie ein Schiffsmechaniker in Übergröße, der mit zornigem Gesicht einen gewaltigen Schraubenschlüssel über die Schulter zwang und nickte.
      "Aye.", grunzte er und machte sich auf den Weg in Richtung Florence.
      "Jetzt geben hier schon Eulen Befehle", murmelte Chimp und seufzte, während er sein Getränk weg schüttete und sich kampfbereit machte.
      Clara legte derweil ihre Waffe an und richtete sie auf die Menge von Soldaten, die stetig mehr zu werden schienen. Irgendwo musste ein NEst sein.
      "Angriff! Holt den bekloppten Kanonier da raus!"
      In der gleichen Sekunde setzte Permentier zum Sprint an und preschte auf die Soldaten los. Büchsen wurden angelegt und das Donnern der Schüsse hallte erneut durch die Nacht. Wie durch ein Wunder schaffe es auch Arnaud, nicht getroffen zu werden und stürzte sich mit einem gebrüllten "Sacre Bleu!" auf seine Gegner. Mit einem schweren "KLONK" schlug der Schraubenschlüssel auf einen behelmten Kopf und ließ den Soldaten mit einem Hieb zu Boden gehen.
      Chimp indes wackelte kleinschrittig über die Planke und eilte sich durch die Feuersalven und herabfallenden Trümmer zu Florence und Hurley.
      "Tag auch!", grunzte der Affe und seufzte. "Was tut ihr hier? Schaffen wir das Riesenbaby nach oben!"
      Eifrig ergriff er den nutzlosen Arm des Kanonierrs und warf ihn über seine Schulter, während er Florence ansah. "Würdest du mir wohl helfen?"
      An anderer Stelle war Orcas mit einem "PLOPP" in der Menge erschienen und sogleich wieder verschwunden. Zwei Schüsse gegeneinander und vier Soldaten fielen zeitgleich um, während der Zauberer einen Kieselstein auf seine Feinde warf.
      Mit einem kurzen Schnippen seiner Finger wurde aus dem Kieselstein binnen Millisekunden eine Art rollende Todesfalle, die sich wie eine übergroße Kugel auf die Soldaten rollte.

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    • Die Vorstellung beim Anblick des mürrischen Affen auch den Hauch von Erleichterung und Freude zu verspüren, hätte Florence vor ein paar Stunden noch als absolut lächerlich empfunden. Das überwältigende Gefühl von Dankbarkeit dämpfte für einen kurzen Augenblick den Schmerz der strapazierten Muskeln, die eine Last wie Hurley nicht gewöhnt waren, und das brennende Pochen in ihrem Bein. Ehrlich gesagt, war die Kartografin es nicht gewöhnt quer durch eine fremde Stadt gejagt zu werden, während Offizielle mit angelegten Büchen auf sie feuerten. Florence rühmte sich gerne damit über die Köpfe ihrer wohlhabenen Eltern hinweg ihren eigenen Weg gewählt zu haben und wie stolz sie auf ihre kleine Rebellion in den Anfangszeiten gewesen war, als sie jünger und an Deck eines Schiffes nicht mehr gewesen war, als ein naiver Grünschnabel. Eine Schießerei mit möglicherweise tödlichem Ausgang entsprach nicht unbedingt derblauäugige Vorstellung von Abenteuer.
      Trotzdem blitzte Entschlossenheit im Blick auf als Florence die Kraftreserven sammelte und den schwankenden Kanonier mit Chimps Hilfe auf die schwerfälligen Beine stemmte. Der Weg bis zur Starfall dauerte eine Ewigkeit. Zumindest kam es der erschöpften Frau so vor, deren Lungen unter der Anstrengung protestierten und deren Gliemaßen unaufhörlich zitterten. In ihrem Rücken veranstalteten Arnaud und Orcas zweifelsohne ein heilloses Chaos dem ohrenbetäubenden Lärm nach zu urteilen. Florence hatte keine Zeit sich den Nacken zu verrenken und schleifte zusammen mit Chimp den Verletzten über die ausgelegte Planke an Bord des Luftschiffes.
      Etwas ungeschickt und ruckartiger als beabsichtigt, glitt der Arm des Kanoniers von ihrer Schulter und Florence sackte atemlos in die Knie. Besorgt presste sie eine Hand über ihren rennenden Herzschlag, als fürchte sie, das strapazierte Organ könnte möglicherweise geradewegs aus ihrer Brust hüpfen.
      Nachdem die Atmung sich ein wenig beruhigte, kam Florence umständlich auf die wackeligen Beine und fühlte nichts als den Adrenalinrausch, der Gehirn und Verstand überflutete. Die Verfolger der Fürstin waren zu zahlreich und strömten wie hungrige Wespen aus allen Nischen und Himmelsrichtungen. Mit hämmerndem Pulsschlag in den Ohren hob Florence unwirsch eine Hand um den besorgten Archimedes im Flug bei Seite zu schieben, der unaufhörlich schnatternd vor ihrem Gesicht her flog. Hektisch sprang ihr Blick von dem Kampfgeschehen über das Dock bis sie den Landungsanker entdeckte. Die Starfall war an drei anderen Punkten mit zusätzlicher Vertäuung in der Bucht befestigt.
      Die Kartografin ging eilig in die Hocke und zog verstecktes Messer einfacher Handwerkskunst aus dem Stiefelschaft, dessen Klinge im Schein der Lampen am Schiffsdock schimmerte. Mit einem beherzten Griff zog sie die wirbelnden Locken im Nacken zusammen und band die schwarze Mähne zu einem unordentlichen Zopf, damit sie ihre Sicht nicht behinderten. Ein wackeliges, unsicheres Grinsen kräuselte sich auf ihren Lippen, als sie die Nightingales Brille über die Augen zog und mit einem sachten Tippen der Fingerspitzen das getönte Glas gegen ein einfaches, klares austauschte. Dabei ertönte ein geflüstertes Klicken und Rattern der winzigen Zahnräder unter der metallischen Hülle der Brille. Niemand mochte umherfliegende Holzsplitter in den Augen, und davon gab es reichtlich während verirrte Kugeln mit ordentlich Druck in die Seitenwand des Starfall krachten.
      "Chimp...", warf sie über die Schulter. "Ich denk es wäre gut, wenn der Anker gelichtet wird. Ihr solltet verschwinden."
      Damit stolperte Florence nach vorn und über die Planke zurück auf das von Wachen überflutete Dock. Eine unauffällige Spur getröpfelten Blutes verteilte sich den ganzen Weg entlang. Flink und mit einer gewissen Eleganz huschte die zierliche Frau durch das Chaos und duckte sich dabei etwas, um den Querschlägern der fliegenden Kugeln zu entgehen. Beim ersten Anbindungspunkt angekommen durchtrennte sie mit etwas zusätzlichem Kraftaufwand das erste Tau und warf einen Blick hoch zum Zeppelin der Starfall. Die Crew sollte sich beeilen.
      Mit einem kräftezehrenden Sprint rannte Florence zur nächsten Vertäuung und wiederholte die Prozedur. Ein Ruck zog ihr das gedrehte Seil durch die Finger, als das Luftschift bereits minimal abzudriften begann, sei der Auftrieb auf noch zu gering. Jetzt war nur noch eine Befestigung am Dock übrig und der verdammte Anker.
      “We all change, when you think about it.
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    • Allseits bekannt war der Mut der Starfall.
      Na, da ist es mir wieder passiert. Ich habe statt "Dummheit" doch tatsächlich "Mut" geschrieben. So wunderte es auch nicht wirklich, dass den Schreien der Soldaten, nebst dem Widerhall der Schüsse, die sich lautstark durch die Straßen trugen, auch noch das irre Gelächter dreier Mitglieder der Crew anschloss.
      Orcas hatte derweil seinen Platz behauptet und stieß gerade zwei Soldaten von sich. Freilich nicht ohne Missbilligung fielen sie zurück und fanden sich im nächsten Moment in einer Art Lache wieder, was sie mit einem angewiderten Seufzen quittierten. Ein Hoch auf den Klebstoff der Wistorländer, dachte der Zauberer und wandte sich dem Schiff zu. Just in dem Moment als er sah, dass Florence begann, die Haltetaue zu durchtrennen.
      "Rückzug, Leute!"; blecherte er vor sich hin und machte sich seinerseits auf den Weg zum Schiff.
      Arnaud erschlug derweil einen weiteren Soldaten und hätte beinahe laut gerufen, als er von einem Luftstoß nach hinten geworfen wurde. Mit einem Ächzen und krachenden Geräuschen, als er durch die Holzbarrikade eines Lagerzauns prallte, kam er zu Boden auf und wand sich kurz unter dem Gewicht des Schraubenschlüssels. Mit einem Mal thronte eine zierliche Gestalt über ihm und ließ einen recht gewaltigen Hammer auf ihn niederfahren.
      Sein Ende erflehend, schloss der Mechaniker die Augen und kniff diese zusammen. Noch ehe Clara auch nur daran denken konnte, auf die Gestalt anzulegen, die sich als die Fürstin Susannah selbst entpuppte, knallte es erneut und der Eisenbeschlag des Hammers rutschte zur Seite um ein Stück Holz neben dem Mechaniker zu treffen.
      Trigg, der sich mittlerweile wieder gefangen hatte, sah zu Susannah und grinste anzüglich, während die Fürstin knurrend ihren Hammer über die Schulter zwang.
      "Hast dich verändert, Rotfuchs", grinste Trigg und gab Arnaud das Zeichen zum Rückzug. "Früher warst du geselliger!"
      Mit einem Aufschrei ungezähmter Wut schoss die junge Frau auf Trigg zu und schwang ihren Hammer mit einem Sirren durch die kalte Nachtluft. Im letzten möglichen Moment riss der Dieb den Kopf beiseite und ließ sie ins Leere taumeln.
      "Wenn ich euch kriege, Trigg!", keifte die Fürstin und zog ihren Hammer schmatzend aus einem Fass, dass seinen Inhalt auf das Pflaster ergoss.
      "Ja, wenn", kicherte Trigg und tat seinerseits drei Schritte in Richtung des Schiffs.
      Beachtlich, dachte er. Sie hatten Hurley hinauf gebracht. Immerhin. Wenn er jetzt nur Florence einfangen konnte...
      Ein weiterer Hieb durchschnitt die Nacht und Silas wäre beinahe diesem zum Opfer gefallen. Gerade so schaffte er es, dem Unhold von Hammer auszuweichen, der sich in eine Hauswand neben ihm grub.
      "WO IST LIAM??!!", schrie die Fürstin und beinahe war ihm so, als sah er Tränen. Konnte ein Oger weinen?
      Während Trigg mit geschickten Ausweichmanövern seinen Weg zum Schiff machte, hatte Arnaud bereits die Ankerkette in Bewegung gebracht. Es war einiges an Körperkraft notwendig, doch auch Chimp erwies sich als zuverlässig und kräftig, wenn man es so sah. Sachte und quietschend glitt die Kette Glied für Glied hinauf während Clara die Soldaten auf Abstand hielt.
      "Wir brauchen einen Startschuss!", rief sie und knallte in dem Moment einen der Soldaten regelrecht ab. "Es geht kein Wind!"
      "Aye!", knurrte Hurley und drehte sich an der Reling. Aus seinem Beutel, diesem nimmermüden Ding der Ungeheuerlichkeiten, förderte er einen kreisrunden Gegenstand zu Tage, an dessen Ende eine kleine Lunte befestigt war. Die Kugel war feuerrot und trug einen Stern auf der Schale.
      "Ist das..."
      "Aye! Das ist eine heilige Granate. Hab sie in Cygolea mitgehen lassen. Das rummst, sag ich dir!"
      "TRIGG, MÄDCHEN! AN BORD!", schrie Clara mit deutlicher Angst im Gesicht.
      Und dies ließ sich selbst der Dieb nicht zweimal sagen. Mit einer schwankenden Verbeugung neigte er leicht den Kopf und grinste breit.
      "Alsdann, Susy", begann er. "War schön, dich zu sehen. Meine Grüße an den Hofhund, wie hieß er gleich?!"
      "Das ist mein Bruder, du Scheusal!"
      "Ja, eben diesen. Avec Plaisir!"
      Eilig wandte sich Trigg um und rannte wehenden Mantels in Richtung der Planke, als er Florence am Seil hantieren sah. Und für eine Sekunde, werter Freund, spielte er mit dem Gedanken, sie dem Schicksal zu überlassen. Doch der Hauch des Schicksals weht nie mit den Tüchtigen. Er weht gegen sie.
      Mit einem beherzten Schlenker griff er um die wohlgeformte Taille der jungen Frau und achtete nicht auf den Protest, den sie mit Sicherheit aufbringen würde. Es war nicht mehr sicher und es musste ABstand gewonnen werden. Das Tau war noch nicht durchtrennt, aber durchaus mit guter Vorarbeit gesegnet. Als er die Planke hinauf rannte und die wütenden Schreie der Fürstin hörte, die ihren Hammer noch immer nicht aus der Hauswand gerissen hatte, legte er ein letztes Mal an und schoss.
      In dem Moment, in welchem das Tau kappte, flog die Granate.
      "ALLES AUF DEN BODEN UND HALTET EUCH FEST!"

      Wer dies gerufen hatte, mochte der liebe Himmel wissen.
      Fakt war nur, werter Freund: Die Nacht wurde zum Tage. Mit einem Knall, von dem die Ältesten sagen, es wäre eines der lautesten Geräusche aller Zeiten gewesen, riss es das Schiff regelrecht aus dem Hafen. Man wusste nicht, was lauter war: Das Knarren des Schiffes, das mit der Druckwelle zu fliegen begann und sämtliche Eckpfeiler anrempelte, oder das Geheul eines Mechanikers, der den Trümmerteilen nachsah.
      Die Soldaten nebst der Fürstin wurden von der Druckwelle fortgeschleudert und erst einige Zeit später sollte sich der Himmel beruhigen.

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    • Mit einem flüchtigen Blick über die Schulter sah Florence in Richtung der Fürstin, die vor Wut kochte.
      Sie zweifelte daran, dass allein eine enttäuschende Liebschaft für derlei Ärger sorgte und fragte sich, was Nightingale wohl verbrochen hatte um den gewaltigen Zorn einer verschmähten Fürstin auf sich zu ziehen. Es musste doch mehr dahinter stecken, grübelte die Kartografin und bereute das kurze Zögern ihrer Bemühungen. In einer unachtsamen Sekunde schlugen weitere Kugeln neben ihr im Anlegesteg ein und offenbarten durch die löchrigen Krater einen Blick in schwindelerregende Tiefe. Fluchend drehte sich die Frau wieder zum verknoteten Tau um, während das Geräusch der klirrenden Ankerkette förmlich in den Ohren dröhnte. Eine eisige Kälte durchströmte ihre Adern ehe sie einen weiteren Blick in Richtung der Fürstin und ihrer maskierten Männer riskierte. Sie hatte sich keine Gedanken darum gemacht, was sie tun würde, sobald die Starfall die Galleyla-Werft verlassen hatte. Die Frage, warum sie überhaupt dieses Risiko auf sich nahm um einer Meute von Kriminellen, Mördern und Halunken zu helfen, ignorierte Florence mit Beharrlichkeit. Eine Antwort darauf hatte sie nämlich nicht.
      Erleichtert stellte sie fest, dass das Seil kurz davor war endgültig unter dem Zug des Luftschiffes zu reißen, da der gewaltige Flugkörper bereits leicht abdriftete. Zwischen Dock und Luftschiff bildete sich langsam aber stetig eine Kluft, die einen rasanten Sturz in die Tiefe versprach sobald man einen unachtsamen Schritt wagte.
      Jemand packte beherzte um ihre Taille und Florence entfloh ein ersckrockener Aufschrei des Protest ehe sie sich mit Händen und Füßen gegen den Angreifer wehrte. Mit aller Kraft grub sie ihre Hände in den Unterarm, der wie ein Schraubstock um ihren Körper lag und zerrte vergebens daran. Das Messer glitt ihr aus der Hand und blieb senkrecht mit der Klinge im spröden Holz stecken. Es dauerte ein paar Augenblicke bis Florence begriff, dass sie nicht in Richtung Fürstin sondern an Bord der Starfall getragen wurde. Ruckartig flog ihr Kopf zur Seite und sie sah geradewegs in das grinsende Gesicht von Silas Trigg. Wie passend, dass aus gerechnet Trigg sie ein zweites Mal an Bord schleifte.
      Das wehrhafte Gestrampel erstarb und sie hatte gerade noch genügend Zeit sich die Handflächen gegen die Ohren zu pressen, als Silas einen letzten, ohrenbetäubenden Schuss abfeuerte. Trotzdem schrillte ein gedämpftes Fiepen in ihrem Kopf.
      Eine alarmierte Stimme dröhnte über das Deck und kaum hatte Florence festen Boden unter den Füßen, da riss es sie wieder zu Boden. Ein gewaltiger Ruck durchzog das Luftschiff und die Starfall schnellte aus der Anlegebucht hervor. Davon sah die Kartografin allerdings nicht viel, da sie bereits wieder am Boden des Decks lag und schützend die Arme über den Kopf zusammen gezogen hatte. Ein weiteres Mal regnete es Holzsplitter und Trümmerteile auf die Starfall und das unzweifelhafte Gefüghl schlich sich ein, dass das Luftschiff beim verlassen der Werft fürchterlicher aussah als vor dem Eintreffen in Coldhaven. Nightingale würde entzückt sein.
      Die Starfall bebte unter dem kräftigen Schub und Florence rollte sich eiligst auf die Seite, um sich so klein wie möglich zumachen, als neben ihr zweifellos Teile der Konstrunktion der Galleyla-Werft auf dem Deck einschlugen.
      In der Schrecksekunde klammerte sich ihre Hände an das Erstbeste, das sie erreichen konnte und das war, wie sie einen Augenblick später feststellte, das Hemd des Unruhestifters Silas Trigg.
      "Du!", entfuhr es ihr, doch bevor eine dem Stress geschuldete Schimpftirade ihren Mund verlassen konnte, schlug dicht neben ihrem Kopf unter lautem Rumpeln und Krachen ein weiteres Trümmerteil in das Deck ein. Im Nachhinein würde Florence die unfassbar, schrille Tonlage ihres Schreis abstreiten und die Tatsache, dass sie aus Reflex näher zur Silas rückte. "Du...du schuldest mir ein neues Messer!"

      Eine gefühlte Ewigkeit lang erfüllte nichts anderes die Luft, als der Lärm der Zerstörung.
      Die nebliche Wolke aus Staub und Rauch, die das Luftschiff umgaben, wurde vom seichten Wind davon getragen je höher die Starfall gen Himmel stieg. Florence löste die verkrampften Finger aus Silas Hemd und setzte sich vorsichtig auf. Ein Kratzer zierte die Wange, womöglich durch die splitternden Holzplanken verursacht, ansonsten schien die Kartografin unversehrt.
      Da saß sie nun wieder an Bord der Starfall und bald zierte auch ein Steckbrief mit ihrem Gesicht die Hafentavernen und Straßen in Million Towers. Und wenn sie Pech hatte, auch außerhalb der größten Stadt der Splitterreiche. Trotzdem...
      "Silas?", murmelte Florence und es fühlte sich ganz und gar ungewohnt an, die Silben zu formen. "Danke."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Nach dem Knall folgte die Stille.
      Alleine durch den Rückstoß der Explosion getragen schoss das Schiff aus der Werft hinaus. Halteseile, Taue und andere Stützbauten mitreißend wirkte es wie eine gigantische Abrissmaschine, die durch die Galleyla-Werft fegte. Und es glich einem überschwänglichen Wunder, dass der Ballon des Luftschiffes durch die spitzen Holztrümmer rund um sie herum keinen Schaden zu nehmen schien. Ohne Motorenkraft segelten sie über die kalte Abwurfplanke hinaus und befanden sich noch im freien Fall.
      "Segel setzen!", rief Trigg über den Lärm in seinen Ohren hinaus und bemerkte wohl die zarten Frauenhände an seiner Brust.
      Und so gerne er unter einer schönen Frau lag: Es gab wichtigeres als das schnöde fleischliche Gelüst, welches Florence sicherlich üppig zu bieten vermochte. Ein gar lustiger Zufall war es, dass er sie erneut ohne nachzudenken auf das Schiff geschleppt hatte. Der Kapitän würde ihn mit ziemlicher Sicherheit an den nächsten Mast nageln, aber immerhin konnte er reinen Herzens sterben. Die Soldaten hätten Hackfleisch aus der jungen Frau gemacht.
      Eilig glitten Arnaud und David aus ihrer Schockstarre und griffen nach den Tauen, um die Segel zu befreien. Die Starfall konnte zwar nicht mehr klassisch über Wasser segeln, doch in der Luft vermochte sie sich zumindest so lange zu halten, bis sie Coldhaven verlassen hatten. Mit zwei, drei starken Rucken entfalteten sich unter gar grausigem Geraschel die Segel über ihnen und fingen den Wind in sich ein, den die Explosion mitschickte.
      Noch einmal tat das Schiff einen Ruck nach vorn, während Trigg zu Florence hinab sah. Grinsend legte er seinen Arm um ihre schmalen Schultern und blickte sie feixend an.
      "Ah, Florence. So sehr ich deine Annäherung auch schätze - und das tue ich wirklich -, so fürchte ich jedoch, dass du mich einmal gehen lassen musst. Ich habe ein Schiff zu befehligen. Und keine Ursache."
      Noch ehe sie reagieren konnte, kam Clara neben ihnen auf die Beine und schüttelte den Kopf.
      "Komm runter, Trigg. Das Schiff ist in grausigem Zustand und wir müssen den Kapitän einsammeln."
      "Aye", nickte Trigg, während er sich unter Florence hervor kämpfte. "Setzt Kurs auf den 13. Bezirk und haltet die Augen offen. Ben: Hurley ist verwundet, bring ihm Arznei! Und sieh dir auch Ms Florence an! Chimp: Krähennest!"
      "Ich hab Höhenangst!", motzte der Affe, kletterte aber murrend und gehorsam den Mast hinauf.
      "Arnaud: Schäden reparieren. Flick, was du kannst und schmeiß die Motoren an. Wir brauchen Abstand zu dieser Pestbeule von Susannah."
      "Oui, mon capitaine."
      Während die Crew eilig und dennoch nicht ganz geradlinig auf die Beine kam und ihrer Aufgaben nachging, erhob sich die Starfall wie ein Phönix aus dem Feuer empor. Der Rauch und der Nebel von Staubpartikeln lichtete sich langsam und gaben die Sicht auf einen klaren, aber kalten Nachthimmel frei. Die Türme der Stadt ragten vor ihnen wie Pfeiler aus der Erde und mühsam machte sich David daran, den Türmen auszuweichen. Dies gestaltete sich als halb so einfach wie gedacht, da zwischenzeitlich noch andere Schiffe den Flugweg kreuzten oder sie hier und dort einem patroullierenden Schiff der Garde ausweichen mussten, welche bereits über den Himmel kreisten. Susannah hatte also überlebt und war noch immer wütend.
      Seufzend begab sich Trigg an die Reling und blickte nach unten. An der rechten Seite des Schiffes prangte ein recht großes Loch. Gerade war es geflickt worden, da hatte die Explosion das Loch weiter aufgerissen. Es würde ihnen nichts übrig bleiben, als irgendwo eine Zwischenlandung zu machen, wo sie die Teile reparieren konnten. So war an vollen Schub nicht zu denken.

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      The more you drag me to hell
    • Das spitzbübische Grinsen ließ Florence beinahe die Dankbarkeit bereuen.
      Die Kartografin verdrehte die rehbraunen Augen bis nur noch der weiliche Teil des Augapfels zusehen war und stieß dabei einen frustrierten Seufzer aus ehe sie ihre Handflächen gegen seinen Brustkorb drückte. Mit Bestimmtheit schob sie Trigg von sich weg während er bereits mehr oder weniger leichtfüßig auf die Beine kam. Fahrig wischte sie die schwarzen Locken aus der Stirn und hinterließ dabei eine verschmierte Spur aus Staub und Schweiß. Was würde sie nicht alles für das luxuriöse Bad geben, das in der prächtigen Stadtvilla der Cartwrights auf sie wartete. Dafür würde sich freudestrahlend die missbilligenden Blicke ihrer Familie ertragen.
      Allmählich kämpfte Florence sich auf die Füße, zwar mit wackeligen Beinen wie ein neugeborenes Reh, aber immerhin aus eigener Kraft. Sorgfältig versuchte sie den Staub von den Kleidungsstücken zu klopfen. Ein Unterfangen, das sie nach wenigen Augenblicken aufgab, da die aufgewirbelten Staubpartikel es eigentlich nur schlimmer machten. Das war der zweite Satz ruinierter Kleidung, den sie auf die imaginäre Schuldenliste der Starfall setzte, während sie das zerrissene und blutige Hosenbein begutachtete. In Fetzen flatterte das zuvor geschmeidige Leder um ihr zerschüftes Schienbein.
      "Herrje! Was für ein Unglück!", empörte sich Archimedes unweit der erschöpften Frau, die gerade aus dem Adrenalinhoch auftauchte und die Kälte der Nachtluft sich fröstelnd auf ihrer Haut niederschlug. Die mechanische Eule schlug klickend mit den Flügeln, aus deren filigranen Gelanken sich mit einem pfeifenden Zischen ein wenig Dampf löste. "Und die Unverfrorenheit weiterer Avancen angesichts einer erneuten dreisten Entführung. Allerdings...hat der unverschwämte Gentleman möglicherweise dieses Mal ihr Leben gerettet, Miss."
      Florence sah Archie an.
      Silas hätte sie zurücklassen können. Dieser mögliche Ausgang der Geschichte war ihr bis gerade gar nicht in den Sinn gekommen.
      "Archie?", sagte Florence. "Kreise über dem Schiff und gib Alarm sobald sich etwas verdächtiges am Himmel regt."
      "Zu Befehl, meine Verehrteste.", zwitscherte der Eulerich und verschwand in die Dunkelheit.
      Die Mannschaft der Starfall erwaachte zu neuem Leben und machte sich eilig daran, die Befehle des stellvertrenden Kapitäns auszuführen. Florence sah ein, dass sie keine Zeit verlieren durften. Je mehr Abstand das ramponierte Luftschiff zu Coldhaven und den hohen Türmen von Million Towers gewann umso besser. Mit jedem Schritt spürte sie mehr Sicherheit in der überanstrengten Muskulatur und näherte sich Ben, der seine Aufmerksamkeit bereits dem verletzten Hurley zuwandte.
      Florence sah auf die blutende Wunde in der Schulter des Kanoniers und den blassbläulichen Farbton in seinem Gesicht, der alles andere als gesund aussah. Sie hatte nie die Privilegien einer Sanitäterausbildung genossen, aber selbst für einen Laien war einfach zuerkennen, das Hurley Blut in beunruhigender Menge und Geschwindigkeit verlor.
      "Kann ich helfen?", fragte Florence ungewöhnlich kleinlaut. Der Schock, womöglich gerade um Haaresbreite mit dem Leben davon gekommen zu sein, saß tiefer als die junge Frau zugab. Entschlossen straffte sie die Schultern. An die beängstigende Vorstellung, dass Nightingale bei seiner Rückkehr seine Besatzung um ein paar Mitgleider erleichterte und vermutlich Florence gleich hinterher und über Bord warf, schob sie energisch in den hintesten Winkel ihrer Gedanken.
      Florence war kein Kind von Traurigkeit. Zumindest bemühte sie sich, sich nicht von der Schwermütigkeit der Vergangenheit ersticken zu lassen. Je lauter die Gedanken umso lauter wurde Florence um alle anderen zu übertönen.
      Mit der Möglichkeit der eigenen Ablebens konfrontiert zu werden, war allerings eine ganz andere Nummer.
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    • Schweigsam und über seine Befehle selbst erstaunt begab sich Trigg von der Reling in Richtung des Ruders. Niemals fühlten sich die wenigen Treppen zum Zwischendeck schwerer an. Es mochte auch an den erschöpften Gliedmaßen des Trunkenbolds liegen, der sich mühsam hinauf schleppte. Als er neben David auf die Empore trat und sich auf die Reling aufstützte, sah er das erste Mal doppelt. Der Roboter zu seiner Linken drehte das Steuer gerade in die angeordnete Position und zischte leise.
      Seine Stimme war blechern, aber dennoch dezent genug, um nicht von allen gehört zu werden.
      "Es war zu viel, nicht wahr?"
      Die Stimme des Steuermannes erreichte ihn kaum, während der Wind über die Dielen pfiff. Trigg musste an sich halten, sich nicht zu übergeben, während sein Kopf sich drehte und sein rechtes Auge wie Feuer brannte. Nur die Wenigsten vermochten eine Änderung seines Verhaltens zu bemerken. Und fast keiner sah den roten Faden Blut, der ihm aus dem Auge kroch.
      "Was meinst du=?", fragte er naiv grinsend.
      "Deine Konzentration. Der Kapitän sagte mir einmal, dass du sie nur eine Minute benutzen darfst."
      "Sagte er das?", murmelte Trigg und nickte leise, während er die Mannschaft beobachtete.
      "Es waren drei."
      "Was?"
      "Drei Minuten, Silas", schloss David und zurrte das Steuer mit einem Ledergurt aus seiner Tasche fest, ehe er sich zu ihm wandte und aus dem Hals zischte. "Du solltest dich von Ben untersuchen lassen. Es könnte Hirnschäden verursachen."
      "Mache ich. Wenn die anderen versorgt sind. Halt du den Kurs und lass es mich wissen, wenn es Neues gibt."


      Während Trigg seine Unterredung führte, hatte sich Ben an Deck begegeben und eine schmale Tasche neben dem an der Reling kauernden Hurley ausgebreitet. Arztwerkzeuge der buntesten Natur stachen aus dem abgegriffenen Leder der Tasche hervor und entlockten selbst an der frischen Luft den merkwürdigen Geruch nach Desinfektionsmitteln. Der Arzt hielt gerade ein scharfes Fleischerbeil in Händen und wog es sachte, während er Hurley an sah.
      Der Schultertreffer wäre nicht weiter schlimm gewesen. Doch die Blaue Haut hatte wesentlich mehr davon getragen, als es auf den ersten Blick den Anschein machte. Die Kugel war in die Schulter eingedrungen und hatte das Schlüsselbein zerschmettert. Offenbar musste einer der Knochen in eine Ader gerutscht sein, denn es blutete schlimmer als eine angestochene Sau auf einem Volksfest. Ben seufzte und begann die Wunde zunächst mit einer durchsichtigen Lösung abzuspülen, die er einer Phiole in seiner Tasche entlockte. Zischend wachte Hurley auf und zog die Augen zusammen.
      "Hach, das tut weh...", presste er hervor und legte seine andere Hand über seine Augen.
      "Ich weiß. Das muss es", sagte Ben grinsend und verschwieg ihm die bereits schlimmeren Schäden der Haut, die sichtbar wurden. Seinen Arm könnte er eine Weile vergessen. Gerade wollte er ihn wieder ansprechen und griff bereits nach seiner Tasche, als Florence ihn ansprach.
      Gott, was sah diese Frau bleich aus. Bleich wie der Tod. Himmlisch.
      "Sie sind wunderschön, Miss", flüsterte er und betrachtete sie fasziniert und leicht sabbernd. Die Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab als ein Windstoß das Schiff erfasste und sie alle durchschüttelte. "Ob es wohl eine Leichenblässe oder eher ein simples Weiß Ihrer Haut ist?"
      "Ben...", zischte Hurley delirierend und seufzte.
      "Ach, stimmt ja. Vergib mir, Donny."
      Als Reaktion seiner eigenen Vergesslichkeit drückte er eine Mullbinde aus der Verpackung hervor und knüllte diese wie ein lästiges Papierchen zusammen. Beinahe ballgroß erschien sie ihm als er schließlich die Binde in die farblose Flüssigkeit tauchte und einwirken ließ. Die FLasche mitsamt der Kugel übergab sie kurzerhand Florence, die sich heran getraut hatte und lächelte vielsagend.
      Ben drehte sich um und nahm das scharfe Beil hervor und begann, aus einem großen Stoff Fetzen zu schneiden. Sie würden später als Verband dienen.
      "Können Sie verbinden?", fragte er. "Nähen ist hier nicht zielführend, wenn Sie mich fragen. Es würde eitern und brennen. So kann ich es stilllegen und es kann von innen heilen. Aber es muss schnell gehen, ja ja."
      Ohne auf eine Antwort zu warten, sah er Florence von oben bis unten an. Freilich - und es war nicht zu übersehen - blieb er dabei viel zu lange an ihrer Oberweite hängen, ehe er sich umdrehte und die Flasche wieder an sich nahm.
      "Sie lernen es schon!", bestimmte er grinsend und drückte, ohne Hinzusehen, das getränkte Mull in die offene Wunde des Kanoniers.
      Die Reaktion, werter Freund, ist absehbar, nicht wahr? Ein Schrei, mädchenhafter als gut für ihn war und kräftiger, als man erwarten würde, gellte über das Schiffsdeck und der Kanonier fiel in der Sekunde in Ohnmacht, als der Schrei verebbte.
      "Und nun, den Verband bitte!"

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    • Unverständnis spieglte im Blick der Kartografin wieder.
      Was der eigentümliche Schiffstarzt der Starfall auch entdeckte, wenn er in Florence' Gesicht sah, war für die junge Frau nicht greifbar. Das unheimliche Gefühl, dass der sonderbare Ben tiefer unter die sorgfältige Maske blickte und mehr sah als Florence ihm angesichts seiner zerzausten Aufmachung zugestanden hatte, blieb ein unangenehmes Zwicken im Hinterkopf. Er begutachtete sie wie ein zukünftiges Forschungsobjekt, dessen Geheimnisse es zu ergründen galt. Ein neues Studienobjekt, das eine neugierige Anziehungskraft auf ihn auswirkte und Florence fühlte sich sekündlich mehr wie eines dieser hübschen und vorsichtig hinter Glas verschlossenen Präparate. Kopfschüttelnd verdrängte sie das merkwürdige Gefühl und widmete sich ganz der neuen Aufgabe.
      Den eisigen Schauer, der ihre gesamte Wirbelsäule entlang kroch, ignorierte sie ebenfalls beharrlich und nahm ihren Platze gegenüber von Ben und an Hurleys Seite ein. Mit einem bemühten Lächeln nahm sie dem Arzt die Utensilien aus der Hand und erinnerte sich endlich daran, dass er ihr eine weitere Frage gestellt hatte. Ein kurzes Räuspern vertrieb die Brüchigkeit aus der Stimme.
      "Verbinden? Ich denke, ich könnte eine ordentliche Schlinge hinbekommen um den Arm ruhig zustellen.", antwortete sie und versuchte sich unter den bohrenden und freilich zu aufdringlichen Blicken nicht klein zu machen wie ein verschrecktes Mäuschen.
      Das war nicht ihre Art. Das war nicht die Florence, die sie der Welt präsentierte.
      Anstandlos ließ sie sich die geknüllte Mullbinde und das ominöse Fläschchen mit der beißenden Flüssigkeit wieder aus der Hand nehmen. Allein bei dem Dunst, der aus dem Falschenhals aufstieg, brannten der Kartografin die Augen. Ein Ruck durchfuhr Florence' Körper, als der Schrei des Kanoniers über das Deck hallte. Refelxartig hatte sie die Hand ausgestreckt und drückte den sich aufbäumenden Torso zurück gegen die Holzwand der Reling. Sie nickte Ben zu und begann aus den Stofffetzen eine notdürftige Schlinge zu knoten.
      Florence korrgierte die sitzende Position neben Hurley bis sie neben ihm kniete und sein Gewicht mit dem eigenen Körper zu stabilisieren, da sie den Meeresbewohner zwecks Anlegung des Verbandes etwas mit dem Rücken von der Reling fort drückte. Sie spürte wie der Kopf ohnmächtig und schwer auf ihre Schulter fiel. Mit etwas Mühe wickelte Florence die frisch geschnittenen Verbände um die verletzte Schulter, den befremdlichen Geruch von Blut und Desinfektionsmittel in der Nase und darunter den salzigen Geruch des Meeres. Sorgfältig bedeckte sie die offene Schusswunde und winkelte im letzten Schritt den Arm an, um ihn mit der Schlinge zu fixieren. Das Konstrukt aus Stoff saß fest und fixierte den gesamten Arm um das zerschmetterte Schlüsselbein vor jeder unbedachten Bewegung zu schützen, ließ aber genug Spielraum um keine Blutgefäße ungeschickterweiße abzudrücken.
      Als Hurley wieder zurück an der Reling lehnte, beendete die Kartografin das Werk ihrer improvisierten Verbandskünste mit einem Knoten über seiner Schulter.
      "Nicht schlecht für eine Anfängerin.", murmelte Florence mehr zu sich selbst und ließ sich zurück auf die Knie sinken, die Hände schlussendlich flach auf ihren Oberschenkeln. Das Brennen der eigenen Schrammen hatte sie längst vergessen.
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    • Ben arbeitete schnell und zuverlässig.
      Man konnte über den Mann mit dem wirren Haar und dem gleichsam wirren Blick diverse Spekulationen aufstellen. Jedoch änderte sich sein Wesen in der Sekunde, in welcher er Kranke oder Verletzte behandelte. Mit schnellen Handgriffen hatte er aus dem Rest der Stofffetzen, die Florence nicht verarbeitete, rasch eine Art Zweckverband geschustert. Klimpernd klirrten die kleinen Flaschen an seinem Gürtel, als er mit den langfingrigen Händen nach der rechten suchte. Mit einem merkwürdigen Schwung aus dem Handgelenk begann die Flüssigkeit in der Flasche gelblich zu leuchten. Sachte schüttete er sie über den Fetzen Stoff, den er sogleich eilig, jedoch unendlich präzise auf die Wunde drückte.
      "Da!"; bekräftigte er glucksend. "Fertig, fertig, ja ja."
      Nickend betrachtete er ihr gemeinsames Werk und sah Florence grinsend an.
      "Das war wirklich nicht übel Ms Cartwright. Hätte nicht gedacht, dass Sie so geschickt sind, ja ja. Dennoch verbleibt ein Letztes, nicht wahr?"
      Mit einem verschmitzten Grinsen wies er auf ihre eigenen Knochen. Auch wenn er die Verwundungen nicht sehen konnte, schien er sie regelrecht zu riechen. Das Blut, den metallischen Geschmack im Mund, während das Öl in der Luft ihre Nasen flutete. Seufzend schloss er seine Tasche und rückte Hurleys Kopf gerade, sodass dieser zumindest einen Moment lang ruhen konnte. Anschließend sah er wieder Florence an.
      "Wenn Sie so gütig wären und mir Ihre Wunden zeigen?", fragte er und legte den Kopf neugierigen Blickes schief.
      Noch während er Luft holte, um noch etwas zu sagen, tippte ihm Clara auf die Schulter, die sich ungehört aller Schritte an ihn heran geschlichen hatte. Ihre Haare stachen zerzaust unter ihrem Hut hervor und das erste Mal wurde man sich gewahr, dass sie mindestens so lockig waren wie die von Florence. Wenngleich feuerrot.
      "Du sollst dir auch Trigg ansehen", sagte sie empathielos in seine Richtung.
      "Warum? Ist er verletzt?"
      "Er hat dieses Auge zu lang benutzt. Wir sollten verhindern, dass er noch verrückter wird."
      "Aye. Erst kommt Ms Cartwright und dann unser Dieb."
      Als Clara achselzuckend und mit einem leicht abgeneigten Blick in Florences Richtung verschwand sah Ben entschuldigend in ihre Richtung.
      "Nehmt es ihr nicht krumm. Clara ist nie sie selbst wenn der Kapitän nicht da ist, ja ja."

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    • "Anfängerglück.", antwortete Florence schlicht.
      Beiläufig streckte sie die Hände mit den aufgeschürften Knöcheln ein letztes Mal nach dem Verband aus und fuhr mit den Fingerspitzen über den Knoten, als überzeugte sie sich noch einmal von dem sicheren Halt. Im Augenwinkel bemerkte die Kartografin wie Ben förmlich die Nasenflügel aufblähte und in der Luft witterte wie ein gut abgerichteter Bluthund. Florence zögerte einen Augenblick lang und erhob sich schließlich recht galant, obwohl das Schiff unter ihnen im aufbäumenden Wind schwankte. Wenige Schritte und sie hatte den bewusstlosen Hurley umrundet um neben dem Schiffsarzt wieder auf die Holzplanken des Decks zu sinken. Dieses Mal allerdings ließ sie das verletzte Bein ausgestreckt damit Ben es gut erreichen konnte um einen Blick darauf zu werfen. Florence wusste, dass es nichts dramatisches war und lediglich unangenehm brannte, als hätten sich tausende Feuerameisen unter der Haut eingenistet. Die Haut ihres Schienbeins war hässlich über die gesamte Länge aufgeschürft. Es sah schmerzhaft aus, winzige Steinchen und Holzsplitter punktierten die Haut aber die spärlichen Blutungen waren kaum erwähnenswert.
      Bevor sie ein Wort verlieren konnte, zuckte sie mit einem dezenten Schrecklaut zusammen und legte den Kopf zurück in den Nacken um Clara zu entdecken. Die Frau war leise wie ein Schatten. Mit jeder verstreichenden Sekunde stahl sich etwas mehr Verwirrung in das Gesicht der Kartografin. Was die Schützin sagte, gab ihr sichtlich Rätsel auf und vielleicht auch einen Funken der Sorge - einen Winzigen, klitzeklein natürlich.
      Mit einer beiläufigen Handbewegung deutete sie auf ihr Bein und sah dann Ben an.
      "Sie sollten nach Trigg sehen, Herr Doktor," grinste Florence fast neckend und verbarg die unterschwellige Besorgnis hinter einem schiefen Grinsen. Vielleicht wären die Folgen für den Vizekapitätn nicht annährend so gefährlich gewesen, wenn er nicht den Umweg über die Kartografin gemacht hätte. "Das Bein wird schon nicht in den nächsten Minuten abfallen. Ich habe ein Auge auf unseren Sprengmeister."
      Auffordernd streckte Florence ihre Hand aus und deutete mit einem Kopfnicken auf das beißende Desinfektionsmittel und einen Rest des übrig gebliebenen Verbandes.
      "Schon gut. Clara hat keinen Grund mir zu trauen oder was sonst ihr Problem mit mir ist.", antwortete sie.
      Zuerst erweckte es den Anschein, als würde die Kartografin wieder in Schweigen verfallen, doch dann...
      "Was passiert, wenn Trigg dieses Auge zu lange benutzt?", fragte Florence
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    • Ben wirkte einen Moment lang ein wenig befangen in seiner Art und Weise, ehe er die Rockläufe der jungen Frau ein Stückchen weiter hinauf zog. Man hätte ihm einiges unterstellen können, aber er hielt gerade an der Grenze an, an welcher es noch angemessen war. Sorgsam breitete er den Inhalt seiner Tasche auf dem Deck aus und begann nach einer kurzen Sammelzeit damit, die einzelnen Splitter und Steinchen aus der Wunde zu sammeln.
      Zwischendurch schüttete er immer wieder eine gelblich wirkende, zähe Flüssigkeit über die Wunde und begann nach einer kurzen Zeit zu summen. Selbst als Florence ihn ansprach, zuckte er nur mit den Achseln.
      "Mr Trigg wird eine Weile auf sich aufpassen können", bemerkte er stoisch und nickte. "Er ist ein harter Knochen, was das angeht, ja ja."
      Schweigsam legte er die Pinzette zur Seite und goss erneut diese Flüssigkeit hinüber.
      "Mariannenwasser", erklärte er. "Interessante Geschichte, ja ja. Angeblich gesegnetes Wasser von einer Heiligen. Sie soll es durch ihren Schweiß hervor gebracht haben. Habe es in meiner Jugend erforscht und bin zu dem Schluss gelangt, dass es durchaus antiseptische Effekte hat, jedoch wenig mit Schweiß zu tun hat, wenn Sie mich fragen."
      Ben begann zu kichern und kramte ein paar Mullbinden hervor, die noch schlimmer aussahen als die anderen. Erstaunlicherweise waren sie auch nicht so starr und wirkten eher wie ein bequemer Strumpf, als er begann, diese in einer sanften Spirale um ihren Unterschenkel zu wickeln.
      "Es ist vielmehr kräuterbelassenes Wasser, ja ja. Der Kapitän hat mir einen ganzen Vorrat besorgt. Gutes Zeug, gutes Zeug", plauderte er unbekümmert, horchte aber bei ihrer letzten Frage auf.
      Sachte unterbrach er sich kurz beim Wickeln und sah zu ihr, im Gesicht der Ausdruck einer Art von Erkenntnis, die er nicht gern zugab. Ihre eigene Sterblichkeit. Was gab es schlimmeres für eine Mannschaft, die sich selbst für unsterblich hielt?
      "Trigg, er...Er hat diese Fähigkeit wie Sie wissen", murmelte Ben und wickelte weiter. "Wenn er sie zu lange nutzt, entstehen Schäden an seinem Hirn, ja ja. Er verliert zumeist für eine kurze Zeit sein Augenlicht. So auch jetzt."
      Er wies mit dem Kinn zu Trigg, der vorsichtig wie ein alter Mann die Treppe hinab ging. Als sähe er einen Teil der Stufen nicht oder nur halb.
      "Er ist auf einem Auge blind. Das hält meist eine Stunde an. Ein hoher Preis für eine Minute der Kampfkraft, ja ja", murmelte Ben und klopfte sacht auf ihr Bein. "So. Das wäre alles. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Ms Florence: Laufen Sie weg. Verschwinden Sie von diesem Schiff. Auch wenn ich gerne hier bin, so begeben wir uns an den Rand des Bekannten und dies sollten nur Menschen tun, die den Weg auch wählen."
      Das Lächeln, was er ihr schenkte, war warmherzig und offen.

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    • Ein wenig angeekelt verzog Florence den Mund während der Schiffsarzt die fragwürdige Arznei und die Wirkung erklärte.
      Mit skeptischer Miene beäugte die Karografin die Flüssigkeit. Allerdings atmete sie wenige Sekunden später bereits hörbar erleichtert auf, als sich der Ursprung des Mittelchens sich als völliger Humbug herausstellte. Zumindest der strenge Geruch hätte zu der ersten Variante gepasst - ganz zu schweigen von der merkwürdigen Farbe und Konsistenz. Die Flüssigkeit brannte wie erwartet auf der geschürften Haut und es zwickte spürbar als Ben damit fortfuhr die winzigen Steinchen und Splitter aus der Haut zu picken.
      "Von einem Antiseptikum dieser Art habe ich tatsächlich noch nie gehört. Ich nehme an, dass es nicht offiziell als Arznei zugelassen ist.", überlegte Florence wobei das Gesagte weniger wie eine Frage und mehr wie eine Feststellung klang.
      Das unangenehme Brennen ebbte sekündlich etwas mehr ab und hinterließ eine betäubende Kühle auf der gereizten Haut. Florence spürte kaum noch, wie Ben geschäftig aber sorgfältig die Fremdkörper entfernte. Der Blick lag auf den blassen Händen, die eine vergilbte Mullbinde um das Bein wickelten und kurzzeitig zweifelte sie daran, ob der Stoff wirklich sauber genug war um als Verband zu dienen.
      Florence nickte verstehend.
      "Ja, Hurley nannte es Konzentration Eins.", bestätigte Florence und war im Nachhinein beinahe verwundert darüber, wie bereitwillig die Crew der Starfall so manche Informationen freimütig einer Fremden preisgaben. "Ist der Ursprung dieser Fähigkeiten bekannt? Ich frage mich, was dafür nötig ist und ob es den Preis wirklich wert ist. Was passiert, wenn er dieses Auge überstrapaziert? Besteht die Gefahr, dass die Erblindung permanent bleibt?"
      Behutsam zog Florence das Bein zurück an den Körper und richtete sorgsam den Saum ihrer Röcke.
      Sie tat es weniger aus Scham sondern eher aus der Tatsache heraus, dass sie sich ein weiteres Mal an Bord eines Piratenschiffes mit zwielichtiger Besatzung befand und auch Florence nach wie vor keinen wirksamen Grund hatte auch nur einer Person an Deck zu trauen. Trigg hatte ihr das Leben gerettet und dafür war die junge Frau wirklich dankbar, aber dennoch blieb das Gefühl zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.
      Die Warnung aus dem Mund des Arztes bestätigten die flüsternden Gedanken ihres Verstandes.
      Mit einem Ächzen kämpfte sich Florence auf die Füße und griff während der Bewegung nach einem Fetzen des übrigen Verbandes und träufelte etwas von der muffigen Flüssigkeit darauf. Vorsichtig betupfte sie die Schramme auf ihrem Gesicht und rümpfte dabei die Nase.
      "Bedauerlicherweise denkt diese rothaarige Furie von Fürstin, dass ich auf die Starfall gehöre.", seufzte Florence und zuckte dabei mit den Achseln. "Sie hat mich mit Trigg und Hurley im Rusty Anchor bei Big Al gesehen. Wie hoch stehen bei ihrem Einfluss die Chancen, dass bereits ein Steckbrief mit meinem Gesicht darauf gedruckt wird? Abgesehen davon, dass ich ihre Leute mit einer von Hurleys ominösen Rauchbomben angegriffen und zwei gesuchten Piraten bei der Flucht geholfen habe."
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