The Legend of Starfall [Winterhauch & Nico]

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    • Ben sah ein wenig neugierig, aber auch ein wenig pikiert drein, als Florence ihm die Eule aus den Händen nahm.
      Er kannte dieses Gefühl von früher. Früher, als man ihm Spielzeuge wegnahm, weil sie zu gefährlich waren. Als man ihm Versuche verbot, die zu gefährlich waren oder für die er des Wissens der Anderen nach nicht geeignet war. Beinahe hätte er in kindlicher Reaktion wieder nach der Eule gegriffen und sie an sich genommen, ehe sich Ben besann, dass Archie nicht sein Eigentum war.
      Seufzend rückte er etwas zur Seite, damit Florence Platz hatte und entschloss sich, ihr beim Zerlegen und Zusammensetzen zuzusehen. Immerhin konnte er vielleicht so etwas lernen?
      "Wenn es nur eine einfache Exfreundin wäre"; murmelte Ben und schüttelte den Kopf. "Lucy war weit mehr als das. Lucy war eine Art von Ausgleich, die Liam brauchte und gesucht hat. Es ging nicht darum, das Bett zu teilen oder Liebschaften zu durchleben. Und ob eure Geschichten ähnlich sind, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß nur, dass Liam mehr Schmerz gesehen hat, als es für ein Leben reicht. Er spricht nicht oft darüber, aber ich weiß, dass sein größter Wunsch ist, diesen Schmerz verschwinden zu lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, welche grausigen Geschichten euch beide ereilt haben, aber ich denke, es gibt einen Weg. Es gibt immer einen Weg. Oh, hier ist noch eine Schraube. Tut mir Leid, ist mir eben nicht aufgefallen."
      Grinsend reichte er ihr eine Schraube, die herab gefallen war und seufzte breit.
      "Ich denke, wenn ihr eure Ballaste nur aufwiegt, wird keiner dieses Gewicht tragen können. Aber manchmal gibt es ja auch Umstände, die das Gewicht leichter werden lassen..."
      Grinsend sah er zu ihr hinüber und streckte isch lautstark seufzend. Ihre Geschicklichkeit war wirklich beachtlich, bedachte man die Tatsache, dass diese Eule wirklich fein gearbeitet war. Neugierig sah er hinab und beobachtete die Fertigstellung, ehe sie ihn neugierig ansah.
      Grinsend griff er sich den kleinen Kerl und begann erneut, den Kern auszweiten und zwei Verknüpfungen zu setzen. Die kleine Spule legte er in den Innenraum und verband mittels zweier Küpferschnüre die jeweiligen Pole mit dem Gehäuse des Kerns. Wenn er richtig berechnet hatte, würde ein kleiner Stoß dieser Spule neues Leben in den kleinen Kerl hauchen. Vielleicht reichte das ja schon...
      "Es geht nicht um Interesse", lachte Ben gleichsam. "Es geht um Spannungen. Es ist wie mit dieser Spule. Eine Entladung bringt durchaus eine Erleichterung. Und manchmal reicht es aus, um Spannungen zwischen zwei Menschen zu entladen. Ich will nicht sagen, dass es dadurch alles gelöst ist. Aber vielleicht würde es euch helfen. Und ich glaube, wenn du es drauf anlegst, würde Liam drauf anspringen. Er ist sicherlich ehrvoll, was den Verkehr angeht, aber auch er kann einem gewissen Typus Frau nicht widerstehen."
      Grinsend sah er zu Archie hinab und dann zu Florence.
      "Alsdann. Mal sehen, was es bringt. LEEEEEBEEEEEEEEE, Archie! LEEEEBEEEEE!"
      Mit einem weiteren Klicken verband er den Draht und wurde von einem schweren elektrischen Schlag getroffen. Mit einem Knall riss es Ben von dem wackeligen Holzstuhl und hintenüber auf den Boden. Das Gesicht war von Ruß geschwärzt und die Spule offenkundig entladen. Mühsam kam der Arzt wieder auf die Beine und sah über den Tisch.
      "Hat es geklappt?! Lebt die Kreatur?!"

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    • "Tut mir leid, Ben. Ich weiß, dass du helfen willst", murmelte Florence kopfschüttelnd. "Aber ich habe das Gefühl, dass sich alle ein wenig zu sehr für die Problemchen zwischen Liam, Silas und mir interessieren. Sei mir nicht böse, aber um ehrlich zu sein, geht das nun wirklich niemanden etwas an."
      Die Navigatorin machte dicht.
      Und manche Dinge ließen sich eben nicht mit einem Sprung zwischen die Laken lösen. Florence war kein Kind von Traurigkeit und hatte zweifellos ihre Reihe an Erfahrungen gesammelt, aber sie bezweifelte das Sex die Lösung war. Die Nähe zuzulassen, die über die körperliche Anziehung hinausging, war das eigentliche Problem. Die Anspannung zwischen Nightingale und der Navigatorin waren komplexer und tiefgreifender als das. Zumindest wollte Florence das glauben und diese Überzeugung machte ihr Angst. Sie wusste nicht, ob sie das konnte. Jemanden wieder in ihr Leben lassen, der ein gefährliches Leben führte und damit zu riskieren, denselben Verlust noch einmal zu erleben.
      "Ich hab zugegeben, dass ich ihn mag", brummte Florence. "Deshalb muss ich mich ihm nicht an den Hals werfen. Vor allem, da er bisher bei jeglichen Annäherungsversuchen sehr deutlich gemacht hat, dass er mich nicht einmal mit einer Kneifzange anfassen würde. Bis auf seine beeindruckend, furchtbaren Komplimente während seines Medikamentenrausches. Aber das war nicht Liam, sondern die merkwürdigen Arzneien, die sie ihm gegen die Schmerzen unterjubelt haben."
      Sich des harschen Tons bewusst, sah Florence den Schiffsarzt neben sich entschuldigend an. Bevor sie die Entschuldigung vernünftig formulieren konnte, zerriss der ohrenbetäubende Knall eines elektrischen Schlages die Luft. Vor Schreck sprang die junge Frau vom Stuhl auf und vom Tisch zurück. Der Holzstuhl fiel klappernd zu Boden und der Lärm versetzte das Personal der Heilungsstätte in helle Aufregung. Empörte Krankenschwester und Pfleger stürmten das Foyer des verwinkelten Gebäudes.
      "Ich darf ja sehr wohl bitten!", keifte eine burschikose Krankenschwester mit raspelkurzen Haare. "Das ihr ist ein Haus der Heilung keine Werkstatt für Feuerwerkskörper! Was um Himmelswillen veranstalten Sie hier für einen Unfug!?"
      Florence fächerte mit einer Hand die dichten Rauchschwaden davon.
      Der Rauch brannte in den Lungen und entlockte der Navigatorin ein gequältes Husten. Mit funkelnden Augen sah sie zu der aufgebrachten Schwester, ehe das klickende Geräusch von Metall auf einer polierten Tischplatte ihre Aufmerksamkeit erregte. Es klimperte metallisch im dichten Rauch, der sich nach und nach lichtete und durch die geöffneten Fenster abzog. Eifrige Pfleger hatten diese in Eile geöffnet.
      Endlich erkannte Florence die vertrauten Umrisse von Archimedes, der sein Gefieder ausschüttelte. Die Schwungfedern seiner schimmernden Flügel wirkten etwas angesengt und schwarz von Ruß.
      "Hoppala...", schnarrte Archie. "Das hat gekitzelt."
      Die Blecheule schüttelte sich ein weiteres Mal mit dem ganzen Körper. "Miss Florence! Wie schön Sie zu sehen! Oh, es war so furchtbar! Dieser maskierte Unhold hat mich in einen Käfig gesteckt wie ein ganz gewöhnliches Federvieh. Diese Schmach! Ich bin doch kein schnatternder Papagei oder einer von diesen einfältigen Kanarienvögeln!"
      Archie drehte das Vogelgesicht auf den Kopf und verdrehte die Augen in den Höhlen um einen Blick auf seine geöffnete Brustplatte zu werfen.
      "Schockschwerenot!", empörte sich Archimedes. "Welcher Scharlatan hat das getan? Als hätte ein zweitklassiger Metzger Hand angelegt!"
      Weiter kam die schimpfende Eule nicht, da Florence ihren alten Freund überschwänglich und erleichtert an ihre Brust drückte.
      "Ich kann nicht glauben, dass ich das sage, aber ich habe dein Geplapper vermisst, Archie", wisperte sie an das silbrig glänzende Kopfgefieder. Sie sah zu Ben herüber.
      "Das will ich aber auch hoffen!", murrte Archimedes pikiert.
      "Du hast es geschafft! Danke!", sagte sie und strahlte bis über beide Ohren.
      Es war beinahe gruselig wie Archie in ihren Armen den Kopf um 180 Grad nach hinten drehte und den Schiffsarzt aus seinen schwarzen Augen ansah.
      "Meinen aller größten Dank, Doktor Westminster!", klapperte er mit dem Schnabel.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ben zuckte unter den harschen Worten der Navigatorin regelrecht zusammen, ehe er dasselbe nochmal bei den Worten der Krankenschwester tat. Westminster konnte nicht mehr erinnern, ob er die alte Frau kannte, oder ob sie Jemand Neues war, aber eines wusste er mit Sicherheit. Tat er ein falsches Wort, war er im Arsch.
      "Miss, es tut mir Leid, ich...", begann er stammelnd und rappelte sich hinauf, um seine rußveschmierten Haare zu glätten, die nach allen Richtungen abstanden. "Ich habe mich in einer Apparatur verschätzt und hätte nicht gedacht, dass es eine derartig große Reaktion nach sich zieht."
      Sachte verbeugte er sich eilig und seufzte, als er sich wieder erhob. Das war eindeutig das schlechtere Ergebnis. Mit einem schmalen Grinsen vernahm er die schwache Stimme der Eule, die wieder ihren hochwohlgeborenen Ton angeschlagen hatte. Immerhin war er zum Leben erwacht und wusste die Hilfe...
      Hatte er da gerade Metzger gesagt?!
      Noch während die Schwester offenbar Luft holte und der Stille Herr wurde, fuhr Westminster herum und sah zu dem kleinen Blechflattermann, der gerade seine geöffnete Brustplatte betrachtete und sich darüber ereiferte.
      "Was heißt hier Metzger?!", rief Ben und wischte sich den Ruß aus dem Gesicht, der ihn zum Husten brachte. "Metzger! Dieser verfluchte Blecheimer! Haben Sie das gehört, Madame?! Nennt mich Metzger! Ich bin ein ehrenwertes...nun, ehemaliges Mitglied dieser Fakultät und ich werde nicht akzeptieren, WAAAAH!"
      Just in diesem Moment hatte Archie den Kopf überirdisch nach hinten verdreht und ihm gedankt! Gut, den Dank hatte Ben nicht mehr mitbekommen, aber die Vorstellung war gruselig, dass dieses Ding sich auf einmal um 180 Grad drehte. Ratternd und flatternd. Richtiggehend widerlich.
      Verschreckt stolperte er zwei Schritte zurück, ehe er das breite Lächeln von Florence bemerkte und nicht umhin kam, zumindest auch ein wenig zu grinsen. Erst dann winkte er ab. Gerade wollte er einen flappsigen Spruch über die vermeintliche Freundlichkeit des eitlen Archimedes bringen, da krachte erneut eine Tür in seinem Rücken.
      Mit einer schweren Brise trat der Geruch nach Preiselbeeren und schwerem Alkohol herein, der ihrer aller Nasen erreichte und zumindest Ben zum Husten brachte. Nicht nur Ruß, der in seinem Gesicht veharrte, sondern auch noch der Geruch nach Schnaps und den Früchten des Holderbaums, die...
      Holderbaum?!
      Mit einer schnellen Bewegung fuhr der Schiffsarzt herum und sprang einen halben Schritt in Florences Richtung. In der Tür, in welcher vormals noch die Krankenschwester gestanden hatte, befand sich nun ein schlaksiger, hochgewachsener Mann mit durchgedrücktem Rücken. Obschon seine Gestalt beinahe hager wirkte, blitzten tiefe blaue Augen durch den Raum und umrahmen das markante Gesicht. Eine Hakennase, die ihresgleichen noch suchte ragte in den Raum und wurde nur durch das lästige Klimpern von Bartperlen, die in einer Art Kette endeten ausgestochen. Das lange, weißlich graue Haar von Rayk Holderbaum fiel ihm beinahe bis zur Hüfte und gab einen netten Kontrast zu dem kunterbunten Gewand, das er trug.
      "Würde mir Jemand von Ihnen - in der Götter Namen - bitte erklären, was zum Donnerwetter hier vor sich geht?!", donnerte eine tiefe, unheilvolle Stimme hallend durch das Foyer.
      "Maester Holderbaum, ich..."
      "Benedict Westminster! Als ich hätte ich es nicht geahnt, als die ersten Katastrophen meine Ohren erreichten. Sag, bist du auch dafür verantwortlich für die schlechte Stimmung im Zollamt?!"
      "Ich...Also..."
      "Und Ihr!", donnerte der Dekan und sah zu Florence. "Wen haben wir hier?"


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    • Die energische Krankenschwester schien die gestammelte Entschuldigung zu besänftigen. Trotzdem wedelte sie mahnend mit dem Zeigefinger vor Bens Gesicht herum bevor sie die Arme grimmig vor der Brust kreuzte. Ihr Blick durchbohrte den Schiffsarzt regelrecht bis sie davon überzeugt war, dass sie ihm genug Furcht einflöste und die ersten peinlichberührten Schweißperlen auf seiner Stirn glitzerten. Sie nickte kurz angebunden und stieß ein Schnauben aus, dass jeden ausgewachsenen Ochsen und selbst den Schmuggler Villems vor Neid erblassen ließ.
      "Gut. Dann sind wir uns einig. Keine Explosionen. Keine Experimente. Kein Verhalten, dass sich nicht für einen Krankenflügel ziehmt. Wenn ihr doch das Verlangen verpührt etwas in die Luft zu jagen, tut das gefälligst vor der Tür. Verstanden? Schön. Ich behalte Sie im Auge."
      Damit stapfte die Dame, vermutlich eine der Oberschwestern, zurück an ihren Platz. Florence hatte den Wortwechsel mit großen Augen und einem Hauch von Belustigung verfolgt. Archies kleine Gruseleinlage sorgte für die nötige Auflockerung nach dem schroffen Appell der Krankenschwester. Florence lachte von Herzen und ließ sich von dem Glücksgefühl überschwemmen ihren ältesten Freund wieder an ihrer Seite zu haben. Die Blecheule hüpfte zurück aus ihren Armen auf die rusgeschwärzte Tischplatte. Die durchaus scharfen Klauen klickten bei jedem Hüpfer auf dem gesplitterten Holz. Der Form halber verbeugte sich Archie höflich vor Ben, da ihm ein einfacher Dank offenkundig nicht ausreichend erschien. Der spitze Schnabel berührte dabei fast die Tischplatte. Er ignorierte die abwinkende Geste komplett. Es war schlichtweg anständig sich gebührend zu bedanken.
      "Papperlapapp! Ohne ihren - zugegeben grobschlächtigen - aber erfolgreichen Versuch wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach als eingestaubtes, dekoratives Relikt in einem Antiquariat geendet und..."
      Archimedes hüpfte erschrocken ein paar Zentimeter in die Höhe und flatterte aufgeregt klimperd mit den Flügeln, als ein Krachen die Runde aufschreckte.
      "Sapperlot!", schnarrte die Eule.
      Mit klickenden Zahnrädern stellte sich Archies Gesichts auf den Kopf, während er den Neuankömmling beeäugte und augenscheinlich angestrengt versuchte, die Gestalt seinem Wissensschatz zu zuordenen. Die Blecheule machte einen zweiten Satz in die Luft, dieses Mal jedoch geradewegs zurück in die Arme seiner Besitzerin, als der Fremde - Maester Holderbaum -, wie Florence mit gespitzten Ohren vernahm, sich mit donnernder Stimme in ihre Richtung wandte. Sie hatte den Mann noch nie in ihrem Leben gesehen. Jedenfalls erinnerte sie sich nicht daran, aber beim Anblick derr prominenten Hakennase und dem auffälligen Bartschmuck klingelte etwas. Sie wusste nur nicht was.
      "Ähm...", stammelte sie eloquent. "Ähm..."
      Da er Westminster bereits erkannte, sah Florence keinen Sinn darin über ihre Identität zu lügen.
      "Florence Eliza Cartwright. Zur Ihren Diensten, Maester Holderbaum", brachte sie halbwegs anständig hervor. "Bitte verzeihen Sie die Unruhe. Mein Freund hier..." - sie nickte zu Ben herüber - "...hat nur versucht Archimedes einen helfenden Schubser zugeben. Es war keine böse Absicht dahinter."
      Geduldig wartete Florence auf das Urteil des alten Mannes und ob sie innerhalb der nächsten Sekunden in hohen Bogen aus dem Haus der Heilung flogen.

      - In den Straßen von Gogiya -

      Das Leben pulsierte in den verzweigte und gemütlichen Straßen von Gogiya. Die Auswahl an verschiedenen Geschäften, Lokalen und Marktständen war überwältigend. Händler boten überschwänglich die neusten Errungenschaften technischer Erfinderkunst, scheinbar magische Relekte für alle Wehwehchen und köstlich duftende Speisen aus aller Welt an. Selbst die Bevölkerung Gogiyas verfolgte auf den ersten Blick keine gerade Linien. Mitglieder aus allen Völkern und aus verschiedenen Kulturen tummelten sich in den einladenen, kleinen Gassen vollgestopft von oben bis unten mit winzigen Nischenläden oder auf den weitläufigen Marktplätzen. Kunden feilschten um die besten Preise mit den Ladenbesitzern.
      Zwischen neugierigen Schaulustigen und geschäftigen Kunden, die ihren täglichen Erledigungen nachgingen, tummelten sich flinke Bewohner der Straßen mit noch flinkeren Händen. Die geschickten Finger glitten mühelos in unbeaufsichtigte Taschen und sorglos geöffnete Roben. Das Getummel war ein Paradies für Diebe. Vor allem Kinder blieben unter den ganzen großen Gestalten fast vollkommen unbemerkt. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Sie waren huschende Schatten.
      fa8b00ec6eccadc3aea0942d5ef0148c.jpg"Du überbrinst diese Nachricht auf schnellstem Weg, verstanden?", ein Mann, der unangenehm nach Rauch und beißenden Kräutern roch, überreichte dem Jungen einen unscheinbaren, versiegelten Umschlag. "Ungeöffnet, hörst Du? Ich bekomme es raus, wenn du deine neugierigen Griffel nicht bei der behalten kannst. Und keine Umwege!"
      Der Junge mit den dreckigen, kurzen, braunen Haaren tippte sich grinsend gegen die viel zu große Schiebermütze auf seinem Kopf. Er war vieleicht gerade 12 oder 13 Jahre. So genau wusste er das selbst nicht einmal. Selbst im akkuraten Gogiya verloren die Behörden irgendwann den Überblick, wenn ein Kind aufgrund schlechten Benehmens von einem Waisenhaus zum nächsten weiter gereicht wurde.
      In ganz Gogiya gab es keinen schnelleren Botenjungen als ihn.
      Zumindest schrieb sich das der Junge auf die Fahnen. Er kannte die Straßen in- und auswendig. Keine Abkürzung und kein Versteck entging ihm. Er war flink, geschickt und zuverlässig. Mehr als einmal war er den Offiziellen durch die Finger geglitten und in die belebten Straßen der Stadt in die Schatten entwischt.
      Elliot war ein schmächtiger, fast hagerer, Junge, der auf den ersten Blick wenig beeindruckend aussah. Das Gesich war unscheinscheinbar und darauf lag eine scheinbar permantene Schicht aus Staub und Dreck. Die Kleidung war zu groß, abgetragen und strotzte vor Löchern und gerissenen Nähten und war genauso schmutzig wie ein Gesicht. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht und offenbarte die große Zahnlücke, dort, wo er sich bei einem Sturz einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte.
      "Verstanden, Sir!", antwortete er gehorsam.
      Er stopfte den Brief in die Innentasche seiner Jacke und hakte die Daumen hinter die fransigen Hosenträger.
      "Bei mir ist alles in besten Händen", grinste er. "Immerhin, bin ich der beste Botenjunge in ganz Gogiya!"
      "Jaja, seh zu, dass du wegkommst. Ich bezahl dich nicht nicht fürs Rumstehen, Bursche!", ranzte der Mann ihn an, ehe er wieder in seinem Arzneiladen verschwand.
      Das Grinsen fiel von Elliots Gesicht ab und verwandelte sich in eine genervte Miene, die viel zu erwachsen für einen Jungen seines Alters wirkte. Etwas blitzte blitzte in seinen Augen auf. Die blassblaue Iris schimmerte im bunten Licht der Geschäfte und beleuchteten Marktkarren, die von mechanischen und dampfbetriebenen Zugtieren bewegte wurden. Leichtfüßg wich Elliot einem der imposanten, künstlichen Zugtiere aus. Er nahm die Beine in die Hand und verschwand in der dichtgedrängten Menge.
      Er würde die Nachricht zuverlässig abliefern.
      Solange er kein besseres Angebot bekam.


      [Zum Bild: Das Schulterpolster wegdenken und stattdessen Hosenträger vorstellen. Und alles etwas abgetragener.]
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Holderbaum betrachtete von seiner hoch gewachsenen Position aus die beiden Delinquenten und dieses mechanische...Ding... mit deutlichem Zweifel.
      "Schau an, die Eule spricht ja", murmelte er anerkennend und konnte nicht umhin, einen kurzen Blick auf Archimedes zu werfen.
      Auch wenn es nur für den Bruchteil einer Sekunde war, bemerkte der Dekan durchaus die feine Arbeit der Panzerung und der einzelnen, feingliederigen Flügel. Nachdenklich fuhr sich Holderbaum mit der langfingrigen Hand durch den buschigen Bart, während er beobachtete, wie Ben sorgsam den räumlichen Rückzug antrat und mehr in Florences Richtung robbte.
      Beim Namen der jungen Frau zuckte der Dekan regelrecht zusammen und sah Florence noch einmal durchdringender an. Sorgsam und bedächtig (so bedächtig es die feinen Seidenpantoffeln hergaben, die er an den Füßen und unter dem nachtblauen Gewand trug) trat er einige Schritte an Florence heran und blieb in beinaher Armlänge vor ihr stehen.
      Neugierig beobachtete er das Gesicht der jungen Frau und ja, doch. Hinter dem Schleier der Unsicherheit und mangelnder Eloquenz, erkannte er das Funkeln wieder, was er einstmals gekannt hatte. Nur in einem ganz anderen Menschen.
      "Cartwright", murmelte er beinahe knurrend während er sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger regelrecht knetete. "Cartwright, Cartwright... Ich kenne den Namen, durchaus, ja. Aber Ihr...Ihr seid nicht passend, wenn ihr versteht...Wenn Ihr mir erlaubt, ich würde gerne - BENEDICT WESTMINSTER!"
      Ben zuckte zusammen, als er sich hinter Florence versteckend aus dem Staub machen wollte und schoss ertappt in die Höhe. Das Gesicht des Arztes war beinahe bleich wie der Tod als er zu Holderbaum sah und nickte.
      "Wenn du es wagen solltest, dich erneut meiner Befragung zu entziehen, werde ich dir diesmal nacheilen lassen, du dummer Junge!", knurrte der Dekan und seufzte, ehe er die Hände in die Hüften stemmte. "Wie es sei...Ich würde Euch gerne etwas fragen. Vor einigen Jahren, es ist bereits schon sehr lange her, kannte ich einen Mann mit demselben Funkeln im Augen und ich frage mich...Seid Ihr womöglich mit Cornelius Ainsworth verwandt? Entschuldigt die indiskrete Frage, aber...Cornelius und ich waren alte Bekannte, Freunde gar und ich frage mich doch...Ich frage mich, ob noch etwas von ihm lebt, wenn Ihr versteht..."

      Chimps war verdrießlich gestimmt.
      Nicht nur, dass er und Clara die ganze Zeit über durch die versifften Straßen des scheinbar aufpolierten Gogiya gewandert waren und nichts an Proviant hatten auftreiben können, sondern auch die Massen an Menschen. Sicherlich, die Hauptstadt des Reiches war durchaus als Menschenmagnet angesehen, jedoch wurden sie beide von der schieren Masse an Leibern überwältigt, welche die Haupthandelsstraße des Viertels bevölkerten.
      Chimp wich gerade einer Art Streitwagenkutsche aus, die von zwei mechanischen Pferden mit schwarz schimmernden Platten gezogen wurde, während sich Clara vor einem pfeifenden Herrn in Sicherheit bringen musste. Merkwürdig, wie aufdringlich manche Menschen sein konnten, wenn man ihnen genügend Raum ließ. Grunzend brachte sich der Affe mit dem großen Rucksack auf dem Rücken in Sicherheit und sah missbilligend zu den Handelsständen.
      "Gott, ich hasse Proviantbeschaffung", murrte Chimp und erntete ein Nicken von Clara.
      "Ja, es ist der verfluchte Teufelsjob!", zischte sie und sah zu den Bewohnern der Stadt herüber. Hier und dort wurden Waren feilgeboten, die zumindest dem gewünschten Ziel nahe kamen. Nur leider nicht vom Geld her. "Wir sollten auf jeden Fall schnell hier verschwinden. Etwas stimmt nicht auf diesen Straßen und es sind nicht diese verfluchten Taschendiebe, die hier überall herum laufen...Ich sage dir, wenn mich einer beklaut, schieße ich ihm die Beine ab."
      "Beruhig dich", murmelte Chimp, sah sich aber dennoch wachsamer um. "Ich glaube nicht, dass Jemand so dämlich wäre, uns anzugreifen. Immerhin sind wir nicht gerade vertrauenswürdige Gesellen."
      Das war untertrieben. Im Gegensatz zu den Menschen der Stadt wirkten die beiden Piraten beinahe abgerissen und falsch auf dieser Straße. Ihre KLeidung war dreckig und teilweise zerrissen und löchrig. Es stand im starken Kontrast zu den edlen Herren und Damen, die in Kleidern und Fracks über die Straße flanierten und sich die Geschäfte wie Marktstände ansahen. Persönliche Diener, die schwere Kartonagen oder Säcke schleppten , folgten den Paaren und Botenjungen huschten wie Schatten über die Straße, die noch feucht vom jüngst erfolgten Regen war.
      Sorgsam wichen sie erneut einer Gruppe von Menschen aus, deren missbilligenden Blicke Chimp mit einem Grunzen kommentierte.
      "Gott, ich hasse diese Stadt", zischte er. "Überall nur Hocherhobene."
      "Bis auf die Typen, die die Hochgeborenen gierig beobachten"; murmelte Clara und wies mit dem KInn auf Häuserdächer.
      Dort standen hin und wieder einige vermummte Gestalten, die neugierig auf die Straße sahen. Adlergleich bemerkten sie jede Bewegung und Regung auf der Markstraße. Man hatte durchaus von der Staatspolizei gehört (und auch von deren Brutalität), aber gesehen hatte sie noch keiner der beiden Piraten.
      "Wir sollten uns wohl nicht mit ihnen anlegen", murmelte der Affe und seufzte. "Lass uns da hinten an den Stand gehen. Vielleicht finden wir dort essbares."
      Sorgsam wies er auf einen Marktstand, vor dem wenige Menschen standen und deren Besitzern aussah wie eine zerfledderte Gewitterhexe. Manchmal schmeckt das Unansehnliche besser als man glaubte.

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    • Florence beäugte das Gespräch zwischen dem alten Greis und Ben mit einem interessierten Funkeln in den Augen.
      Eigentlich war es mehr eine Predigt, die der Schiffsarzt über sich ergehen ließ. Was die Navigatorin allerdings ohne jeden Zweifel behaupten konnte, war die Tatsache, dass Ben einen gehörigen Respekt vor dem Mann mit dem klangvollen Namen Holderbaum hatte. Sie hatte es selten erlebt, dass sich der Arzt dermaßen in seine Schranken verweisen ließ. Sichtlich amüsiert schenkte sie Ben einen Seitenblick, während dieser versuchte, sich hinter der deutlich kleineren Frau zu verstecken. Wenn es hart auf hart kam, stellte sie kaum ein ernstzunehmendes Hindernis dar. Sie glaubte aber nicht, dass Holderbaum grundsätzlich böse Absichten hegte. Allerdings wusste sie nicht so recht, was sie davon halten sollte, dass Holderbaum sie mit unverhohlenem Interesse musterte, als suchte er etwas Vertrautes in ihrem Gesicht. Florence blieb ruhig stehen und merkte, wie ihre Augen groß vor Erstaunen wurden. Der ergraute Dekan hatte ihren Großvater gekannt? Verwundert zog Florence die Nase kraus.
      Sie legte nachdenklich den Kopf schief und dachte angestrengt darüber nach, wie viel sie von sich preisgeben sollte.
      Am Ende entschied sie sich, wie zuvor bei der Nennung ihres Namens, für Ehrlichkeit.
      "Cornelius Ainsworth ist...war mein Großvater", antwortete sie wahrheitsgemäß und zögerte bevor sie weitersprach. "Sollte mein Großvater ein Freund von ihnen gewesen sein, bedauere ich es sehr, traurige Nachrichten überbringen zu müssen."
      Das Thema war ihr unangenehm. Der Schmerz über den Verlust des Menschen, der sie besser verstanden hatte als alle anderen, saß noch tief.
      "Er ist vor einiger Zeit im Beisein seiner Familie verstorben", teilte sie Holderbaum mit. "Es tut mir sehr leid."

      - Der Marktplatz von Gogiya -

      Zwischen den dichtgedrängten Menschen schlüpfte Elliot leichtfüßig hindurch.
      Keiner schenkte dem schmächtigen Jungen sonderliche Beachtung, nur, dass sie ihre Taschen mit Habseligkeiten ein wenig näher an die Körper zogen. Der Marktplatz war ein Paradies für Taschendiebe und allerlei Kleinkriminelle. Am Rande des bunten Treiben lockten Glückspiele mit hohen Einsätzen. Elliot ignorierte den erbosten Mann, der gerade das Werkzeug eines Hütchenspielers vom Tisch fegte und den stotternden Mann am Kragen packte. Er ignorierte das Mädchen mit der großen, rosa Schleife im Haar, das lautstark nach seiner Mutter verlangte, die den stehenbleibenden Passanten im selben Moment die Geldbörsen aus den Manteltaschen zog. Gogiya mochte sich mit seinem Wissen brüsten, aber am Bodensatz der Stadt, war auch die Stadt der Dichter und Denker nicht vor Langfingern sicher.
      Elliot kontrollierte, dass der Brief sich noch immer sicher in seiner Tasche befand und setzte seinen Weg fort.
      Er kannte sich gut genug aus, um zu bemerken, wenn Neuankömmlinge sich in der Stadt herumtrieben, die nicht von hier waren. Dazu gehörte auch ein seltsames Paar, dass sich augenscheinlich genervt auf dem überfüllten Platz umsah. Elliot heftete sich unauffällig an ihre Fersen. Zwischen all den aufdringlichen Gerüchen der Marktstände nahm er einen Hauch von Salzwasser und Seifenlauge war. In Kombination mit der ramponierten Kleidung und der harschen Ausdrucksweise musste es sich um Seeleute handeln. Keine Gewöhnlichen, natürlich. Sie waren nicht auf dem Luftweg in die Stadt gekommen und hatte keine offizielle Route benutzt. Das Schiff musste den Weg durch die Tiefsee genommen haben. Es war keine illegale Route, aber kein Kapitän, der nichts zu verbergen hatte, nutzte die riskante Methode, sich mit einer instabilen, gigantischen Seifenblase durch die gefährlichen Untiefen zu wagen.
      Interessant.
      Elliot beobachtete mit wachsender Neugierde, wie der Affe über die kauffreudige Menge empörte. Ja, sie waren definitiv nicht in vertrauten Gefilden unterwegs. Am Stand der alten Marischka blieben sie stehen. Bingo! Die alte Gewitterhexe vergraulte fast jede Kundschaft mit ihren seltsamen Fischspießen, von der Elliot wusste, dass nur ein Bruchteil davon wirklich mal Teile eines Fisches gewesen war. Er rümpfte die Nase.
      Vorsichtig wagte er sich näher an die Gestalten heran.
      Marischka sah kurz an den Fremden vorbei, worauf Elliot ihr grinsend zu zwinkerte, dann bot sie den beiden überschwänglich krächzend einen fragwürdigen Eintopf an über dessen Inhalt der Botenjunge gar nicht nachdenken wollte. Widerlich!
      Mit einem geschickten Schnitt eines winzigen Messers, dass er im Saum seines Ärmels versteckte, löste er die Geldbeutel von den Gürteln ab. Sie waren nicht sonderlich schwer, aber für eine leckere Mahlzeit, die nichts von Marischka stammte, würde es vollkommen ausreichen.
      Elliot nahm die Beine in die Hand und wollte sich aus dem Staub machen.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Now you′ve torn down my walls, The walls built to protect me against this
      You pushed me now I fall, The strongest man can be slain by a kiss
      You trespassed on my frontiers, I felt this time I would not be deceived
      You took away my fears
      I opened up once more to see you leave


      Holderbaum fühlte sich in der Minute schlecht, als Florence das Verb "war" verwendete.
      Innerlich fühlte der Dekan aufgrund eines schrecklichen Unfalles in seiner Jugend seit jeher nicht mehr viel. Gefühlsregungen, Fragen und dergleichen waren ihm fremd. Dies gereichte ihm in einem zum Vorteil, jedoch bei derlei Situationen zum Nachteil. Anstelle einer ausgeprägten Gefühlsregung blickte er der jungen Frau ins Gesicht, die das Glitzern ihres Großvaters in den Augen trug, das dieser als junger Mann an sich hatte und fühlte nichts.
      Einfach gar nichts.
      Als würde man seinen Magen in die Tiefe reißen und im Schlund ausgaren, sah er eine kurze Ewigkeit lang in die Augen der jungen Frau und seufzte schließlich schwer.
      "Das tut mir unendlich Leid zu hören", murmelte er. "Bedauerlich, bedauerlich. Cornelius war mir ein Freund in Zeiten, in welchen keiner mein Freund sein wollte. Er war ein guter, wahrhaftiger Mensch. Darf ich fragen...Ich meine..."
      Räuspernd sah er zu Florence hinab und lächelte schwach. Traurigkeit war dort nicht zu erkennen, viel eher eine erhöhte Teilnahmslosigkeit. Als würde sein Geist sich völlig gegen die Gefühle abschotten, die aufzubranden drohten, wenn er sie hätte empfinden können. Das Gesicht des Mannes glitt von einem Lächeln zu einem faltigen Schmerz, der sich beinahe prominent durch die Fassaden seiner Gleichgültigkeit grub.
      "Starb er mit Frieden im Herzen?", fragte er. "Ich vermeine mich zu erinnern, dass Cornelius immer nach Frieden suchte. Und Sie? Was tut eine Nachfahrin eines so edlen Mannes hier in diesem Kriegsgebiet?"

      Gogiya
      - Marktplatz -

      "Gott, was ist das denn?!", keuchte Clara und schmiss einen dieser grässlichen Spieße von dannen, die sie dieser Schabracke von Händlerin abgeluchst hatten.
      Noch standen sie vor dem Stand, während Chimp erschrocken zu der Scharfschützin sah, die sich mit grünlich verfärbtem Gesicht auf ihre Waffe stützte und Überreste eines fragwürdigen Fischspießes auf den Boden erbrach. Sogleich stürzten die weiteren Besucher des Marktplatzes zur Seite um den Überresten der jungen Frau auszuweichen.
      Chimp schlug sich vor die Stirn und schüttelte den Kopf, ehe er sich wieder dieser hässlichen Frau zuwandte, die einen Moment lang merkwürdig abwesend durch die Gegend sah. Eine Augenbraue hinaufziehend sah er zu und räusperte sich.
      "Junge Frau, ich..."
      Und nun folgte ein Angebot zu einem Eintopf, dessen Zutaten npch fragwürdiger erschien. Alleine die Farbe des Eintopfs, den die alte Frau anpries, war dermaßen ab von einer gesunden ausgewogenen Mahlzeit, dass es selbst dem Affen flau zu werden schien, als er in den Topf hinein sah.
      Clara erbrach sich erneut.
      "Gott...dieser Geruch...Ich kann nicht....uuuuäääääärgh!"
      "Himmelherrgottundscheißenochmal!", keifte der Affe und brachte gerade noch seinen Rucksack in Sicherheit ehe die Überreste der Scharfschützin den Boden benetzten. "Reiß dich endlich zusammen, Clara! Und nein, junge Frau, wir haben kein Interesse an diesem...diesem...Was auch immer das ist, ich bitte Sie doch nur..."
      "wiawu'nbesolen"
      Diese Frau machte ihn wahnsinnig. Kaum war man in der Lage, ein Verhandlungsgespräch zu führen, keifte sie dazwischen. Unqualifiziert und unbrauchbar wie sonst auch.
      "WAs ist los?!", donnerte der Affe und drehte sich zu Clara um.
      Die stützte sich noch immer auf ihre Waffe und wies auf einen kleinen Jungen, der wie von der Tarantel gestochen in Richtung der Menschenmenge hastete. Seine Schritte waren erstaunlich geschickt und überdurchschnittlich schnell, so viel konnte selbst der Affe bemerken, ehe er wieder zu Clara sah, die gerade die letzten Brocken ausspuckte. Nach einem kurzen Griff an seinen Gürtel bemerkte Chimp, dass der Geldsack fehlte, den ihm Liam überlassen hatte. Gute, heilige Scheiße!
      "Wir wurden beklaut, du Affe!"
      "Nenn mich nicht Affe!"
      "WIe denn sonst!"
      Noch ehe Chimp seinen Rucksack abgesetzt hatte, stöhnte Clara mit einer hellen, beinahe überraschenden Stimme. Die Schmerzen in ihrem Bauch waren unerträglich und der Junge schon so weit weg. Und er hatte sie beklaut! Das war wichtig! Denn auch ihr fehlte der Geldbeutel an ihrem Gürtel. Das hieß im Umkehrschluss, dieser Junge hatte sie angefasst. Und noch schlimmer! Er hatte sie...beinahe unsittlich berührt!
      "UNSITTLICH!", schrie sie und richtete in einem Schwung ihre Waffe auf den Jungen.
      Schreiend und kreischend stürzten Menschen aus der Schussbahn, als die junge Frau rücksichtslos abdrückte. Ein Rülpser, undamenhaft und unpassend, verhinderte den schnellen Tod des Jungen, da sie das Gewehr leicht verzog. Mit einem Krachen löste sich ein Schuss und schlug in den nächsten Karren, neben dem Jungen ein.
      Wie von einer Bombe getroffen zerriss es den Wagen gleich neben ihm und Clara stützte sich wieder auf den Lauf. Bleich wie der Tod geiferte sie dem Jungen hinterher und schrie:
      "BLEIB STEHEN BURSCHE! DAS NÄCHSTE MAL SCHIEßE ICH DIR DIE BEINE AB!"

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Florence spürte beinahe sofort, dass etwas mit dem Dekan nicht stimmte.
      Die Gleichgültigkeit und Leere, die seine Gesichtszüge bisher dominiert hatte, begann allmählich zu bröckeln. Seine Maske aus Autorität bekamm Sprünge und Risse bis dahinter etwas anderes hervorstach. Ein Hauch von Traurigkeit sickerte durch die Risse in der Leere und Florende glaubte, dass die Nachricht über den Tod ihres Großvaters den Mann mehr erschütterte als er sich eingestehen wollte. Für einen Augenblick fragte sie sich, welche Rolle Cornelius im Leben des Dekans gespielt hatte. Die Trauer war tiefgreifend und scherte sich nicht um die aufgebauten Fassaden in der Mimik des alten Mannes.
      "Ben?", sprach sie, ohne dabei den Blick von Holderbaum abzuwenden. "Würdest du mir einen Gefallen tun und kurz nach Liam sehen? Orcas kümmert sich seit Stunden ohne Unterlass um ihn, damit er die Entzündung und Blutvergiftung in Schach halten kann. Vielleicht braucht er etwas."
      Sie vergewisserte sich, dass Ben den Wink verstanden hatte und davon trottete.
      Der Schiffsarzt hatte nicht sonderlich begeistert gewirkt, aber Florence bekam das schleichende Gefühl, dass weniger neugierige Augenpaare gerade angebracht waren.
      "Wollen wir uns setzen?", bot Florence an und rückte Holdebaum einen der Stühle zurecht, die nicht von der Explosion in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Sie selbst nahm ebenfalls Platz und sah einen Moment lang zu, wie Archimedes über die geschwärzte Tischplatte in Richtung Holderbaum hüpfte. Die Blecheule sah kurz in Richtung von Florence, den Kopf um 180 Grad nach hinten gedreht. Erst als die Navigatorin nickte, wandte sich das meachnische Geschöpf wieder Holderbaum zu. Die Bewegungen wirkten noch etwas holprig und stockend, aber es wurde von Sekunde zu Sekunde besser.
      "Mit Verlaub, Dekan", klappte Archiemedes mit dem Schnabel, die Stimme noch etwas blechern und verzerrt von dem groben Energiestoß. "Mein Meister starb mit friedlichem Geist, obwohl sein geschwächter Zustand es ihm unmöglich machte, letzte versöhnliche Worte mit seiner Tochter zu wechseln. Sie war dort und das war ihm genug, denn sie hat es ihm zu Lebzeiten nie verziehen, dass er das Leben eines Entdecker, dem eines Vaters vorzog. Er hat seinen Frieden gemacht, Dekan."
      Florence beobachtete Archie und den alten Mann.
      Mit viel Fantasie konnte sich die junge Frau ihren Großvater und die Eule in der vollgestopften Bibliothek vorstellen.
      Sie lächelte schwach, als Holderbaum erneut das Wort an sie richtete.
      "Und Sie? Was tut eine Nachfahrin eines so edlen Mannes hier in diesem Kriegsgebiet?"
      "Daran ist vermutlich mein Großvater schuld", antwortete Florence. Das Lächeln blieb. "Die ungesunde Abenteuerlust habe ich zweifellos von ihm geerbt. Ein paar abenteuerliche Ereignisse haben mich nach Gogiya geführt. Ich weiß nicht, ob er stolz oder enttäuscht von mir wäre."
      Florence seufzte.
      "Zwei meiner Freunde liegen in diesem Krankenflügel und sind schwer verletzt", fuhr sie fort. "Sie sind auf dem Weg der Besserung, aber ohne Schiff sitzen wir in Gogiya fest."


      ______________________________________________________________________________________________________________


      Flinke wie ein Wiesel huschte Elliot durch die Marktbesucher.
      Ein ohrenbetäubender Knall direkt neben seinem Kopf brachte den dreisten Taschendieb ins Straucheln. Ein nerviges, schrilles Fiepen ertönte in seinem linken Ohr. Vorischtig wagte Elliot einen Blick nach links und erblickte die Überreste eines zersplitterten Karrens. Der Besitzer war völlig außer sich, hatte aber nicht viel Zeit sich über den zerfetzten Karren aufzuregen, denn er wirbelte auf dem Absatz herum um den flüchtigen Zugtieren hinterher zu eilen. Elliot rieb sich das klingelnde Ohr. Gehorsam blieb er an Ort und Stelle stehen ehe er sich langsam umdrehte. Dabei hob er mit einem ganz und gar unschuldigen Lächeln die Hände beschwichtigend über den Kopf.
      "Bitte, Miss. Das muss alles eine furchtbare Verwechslung sein. Ich bin ein Botenjunge, kein ehrloser Taschendieb", antwortete Elliot und setzte dabei seine überzeugensten, großen Kulleraugen ein. "Wenn Sie mir nicht glauben, ich habe eine Nachricht in meiner rechten Brusttasche. Fragen Sie den Mann der mich beauftragt hat. Der wird Ihnen bestätigen, dass..."
      "Du lügst wie gedruckt, sobald Du den Mund aufmachst, Bursche", brummte es dunkel in seinem Rücken.
      Eine gewaltige Hand, nein, eine regelrechte Pranke, deren Handrücken mit einem dunkeln Haarflaum überzogen war, packte ihn am Kragen seiner Jacke. Elliot strampelte hilflos mit den Beinen und wurde regelrecht durchgeschüttelt, bis aus seinen Hosenbeine zwei Münzbeutel purzelten. Eine zweite Hand fing die Beutel aus der Luft aus.
      "Keine beeindruckende Beute", lachte der hochgewachsene, breitschultrige Mann bellend.
      Die Menge teilte sich vor der beeindruckenden Gestalt des Mannes mit dunkler Haut, der seine schwarzes mit grauen Strähnen durchgezogenes Haar über die Schulter zurück warf. Der gepflegte Bart war ein wenig länger geworden in den letzten Wochen. Selbst ohne seine Kochschürze und dem Geruch von Whisky und Fischeintopf, die ihn in Million Towers ständig umgeben hatten, wie eine Wolke, war er leicht zuerkennen. Er starrte zu Chimp und Clara herab, die er um ein beeindruckendes Stückchen überragte.
      Alistair King grinste über das ganze Gesicht.
      "Nightingales Scharfschützen mit der kurzen Lunte und der Schiffsaffe", lachte Big Al. "Clara Deathvalley und...wie war das noch? Chimp? Ich dachte schon, ich habe mir die Starfall im Hafen eingebildet."
      Amüsiert reichte er den beiden ihre Geldbeutel zurück.
      Er hatte die zwei noch nie leibhaftig gesehen, aber er kannte die Steckbriefe und wusste, dass sie zur Crew der Starfall gehörten. Big Al war in Million Towers nur schwerlich etwas entgangen.
      Mittlerweile nahm das Markgeschehen um sie herum wieder Normalität an. Jedoch machten alle Anwesenden einen riesengroßen Bogen um King und die anderen.
      Elliot derweil hing still und resignierend im schraubstockartigen Griff des Kochs.
      "Ähm? Könntest du mich bitte runterlassen?", murrte er.
      "Psst! Wenn sich Erwachsene unterhalten, haben dreiste Langfinger, die sich dummerweise erwischen lassen, den Mund zu halten", antwortete Big Al und legte zur Verdeutlichung den Zeigefinger an die eigenen Lippen.
      "ALSO!", bellte er fast an Chimp und Clara gewandt. "Was für euch Unglücksraben nach Gogiya? Scheint mir nicht euer übliches Pflaster zu sein?"
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Holderbaum blickte eine gute Ewigkeit lang auf den Stuhl hinab, den Florence herbei befördert hatte, nachdem Westminster erneut entschwinden konnte. Wenngleich der Zorn überwog, so glich dieses Stelldichein doch etwas anderem. Schweigsam nickte er und deutete Worte an, die ihren Weg nicht mehr durch seine Kehle fanden. Eine Kehle, die sich wie eine raue Sandwüste anfühlte, wenn er es genau betrachtete.
      Sachte ließ er sich auf den Stuhl gleiten und sah Florence an, während diese zu sprechen begann. Doch anstelle der jungen Frau begann tatsächlich die mechanische Eule zu sprechen. Erstaunt und gleichsam vergewissert, dass die Inhalte der Eule auch das Ende einer langen und fruchtbaren Freundschaft bedeutete, gestatte es sich Rayk Holderbaum III., seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Das Strenge wich aus dem Gesicht des Mannes und offenbarte eine unendlich tiefe und beinahe gefährliche Trauer.
      Erst nach Ende der Eule und auch dem Ende von Florence blickte der alte Dekan wieder auf und seufzte schwer. Das Leben war nicht gerecht, nein. Dessen war er sich immer sicher.
      "Ich verstehe", murmelte er und sah Archie, dann Florence an. "Danke, dass Ihr es mit mir geteilt habt, diesen letzten Frieden. Ich kann nicht sagen, was zu jeder Zeit in Cornelius' Kopf vorging. Ich weiß nur, dass er ein wacher Geist und brillanter Seefahrer war, der seinen Frieden nur finden konnte, wenn er der Welt völlig entsagte. Ich freue mich, dass sein Abenteuergeist in Euch weiterlebt, Ms Florence. Ich denke, mit der bescheidenen Kenntnis seines Inneren gesegnet, dass er stolz auf Euch wäre. Eine Frau, noch dazu jung, und gleichsam in der Welt unterwegs. Auf der Suche nach ihrem eigenen Schicksal. Es muss eine Bürde sein und dennoch meistert ihr diesen Weg famos."
      Kopfschüttelnd sah Holderbaum eine Weile lang an die kahle Wand der Bibliothek. Kahl war sie nicht, jedoch verlor sie für seine Augen ein wenig ihrer Farbe. Die Welt war wieder ein Stück dunkler geworden.
      "Ihr Großvater war ein Freund der Geschichten", begann er schließlich. "Meistens die seiner eigenen versteht sich. Und ich erinnere mich als wäre es gestern, da wir junge Männer waren und den Geschichten seiner Fahrten lauschten. Nicht hier, müsst Ihr wissen, aber oben im Hörsaal. Ich war gerade Professor geworden und hatte mich eingefunden. Ich habe mich gefreut, wenn er mit seinen Geschichten daher kam. Und diesem lauten Lachen."
      Ach wie vermisste er es.
      "Nun, wie es sei", sagte er eilig, um das Thema zu wechseln. "Eure Freunde im Krankenflügel sind mir bekannt. Die Doktoren dort kümmern sich so weit es geht um die beiden. Jedermann weiß, dass sie Piraten sind, Liebes. Aber keiner wird ein Wort verlieren. Ich muss jedoch gestehen, dass Ihr schlechter nicht hättet kommen können. Die Rebellen sind dieser Tage umtriebig und es scheint, als würde der Bürgerkrieg alsbald brutaler als bisher schon. Was ist mit Eurem Schiff? Ist der Grund des Aufruhrs der Zollbehörde?"'


      Eine Kombination unglücklicher Umstände.
      Nach ihrem Gebrüll übergab sich Clara erneut auf den groben Boden und hustete beinahe ihre Lunge aus dem Körper. Gott, was war das nur für ein Gebräu gewesen? Und warum aß sie eigentlich alles? Chimp indes wollte dem Jungen nachsetzen, der nicht ans Stehenbleiben dachte und hatte gerade begonnen, in den Tiefen seines Seins nach seinen Kräften zu suchen, als der Junge beinahe rücklingbs von einer großen, behaarten Hand (Gott, waren das viele Haare) hinauf gerissen wurde. Die Erwiderung des Jungen hatte der Affe gar nicht gehört, sondern wies nur mit dem behaarten Finger auf den Jungen, der wie ein Geisterorkan in der Luft verharrte und rief.
      "AHA!"
      Die beiden Münzbeutel prasselten wie Regen auf die Hand ihres Retters, als Clara den Kopf wieder hob, um sogleich die Waffe erneut als schwere Krücke zu nutzen.
      "Warte...", murmelte Chimp und sah erst jetzt zu dem Mann, der den Jungen von den Beinen gehoben hatte. Von allen merkwürdigen Gestalten, denen sie hatten begegnen können, war es ausgerechnet jener aus Million Towers, dem erst neulich selbst die Bude verwüstet wurde. "Al?!"
      Chimp legte den behaarten Kopf schief und Clara begann zu lachen. VIelleicht ein wenig kehliger als gut für sie war, begann sie danach wieder trocken zu würgen, ehe sie sich keuchend erhob.
      "Ja, es war Chimp, du verdammter Vergesslicher!", knurrte der Affe und langsam kamen die beiden Piraten näher.
      Mürrisch nahmen sie ihre Geldbeutel entgegen und nickten dem Wirt zu als dieser den Jungen wie eine Puppe in der Hand hielt.
      "Was heißt übliches Pflaster", knurrte Chimp. "Wir sind hier abgestiegen und haben vor, die Starfall wieder flugtauglich zu machen. Also sind wir Proviant einkaufen gegangen, ist doch klar! Was viel interessanter ist: Was machst DU hier? Hast du eine Kaschemme in Million Towers zu führen?!"
      Ruhif sah Clara nach oben und seufzte, als sie den Jungen ansah.
      "Tja, Bursche. Hurgh!", würgte sie hervor. "Sieht schlecht aus für deinen Hintern, was?! Weshalb beklaust du uns, Junge? Glaubst du wirklich, es macht Sinn, Piraten zu beklauen?! Lass ihn runter, Al, damit ich seinem Kopf ein drittes Luftloch pusten kann."

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    • Welche Bedeutung mochte Florence' Großvater wohl für den alten Mann haben, der geradezu von dem allen Seebären schwärmte. Neugierig legte die Navigatorin den Kopf schief und betrachtete ihren Gegenüber mit wachen, aufmerksamen Augen. Andererseits, jeder hatte Cornelius' Geschichten geliebt, die er mit solcher Leidenschaft und Freude vorgetragen hatte. Alle hatten sie an seinen Lippen gehangen und die Silben förmlich aufgesogen. Florence seufzte und lehnte sich ein wenig in dem Stuhl zurück.
      "Ich danke Ihnen für die freundlichen Worte, Dekan", antwortete sie. "Es bedeutet mir sehr viel, dass es noch Menschen gibt, die die Erinnerung an meinen Großvater und seine Geschichten am Leben halten. Er war weder perfekter Vater noch Großvater, aber ich habe ihn sehr geliebt. Für eine lange Zeit, war er der einzige Mensch in meinem Leben, der mich wirklich verstand. Deswegen, und ich wiederhole mich, danke ich Ihnen von ganzen Herzen."
      Die Dankbarkeit war keine förmliche Floskel oder etwas, das die junge Frau lediglich aus Höflichkeit betonte. Jemanden zu treffen, der ihren Großvater nicht ausschließlich für verantwortungslos oder gar verrückt hielt, tat wirklich gut.
      Bei seinen letzten Worte kratzte sich Florence nervös am Hinterkopf. Ein Gutes hatte die unerwartete Ehrlichkeit. Sie musste sich keine wilden Ausreden und Geschichten ausdenken, um dem Dekan die Anwesenheit der Crew oder die fürchterlichen Verletzungen erklären.
      "Ja, ich befürchte das Durcheinander ist unsere Schuld", lachte sie verlegen. "Naja, eigentlich ist es Bens Schuld. Er hat uns nichts von den Schulden erzählt, die er offenbar in Gogiya hat. Da ich vermute, dass unser Kapitän keine gültige, behördensichere Besitzurkunde unter Deck versteckt, sind uns die Hände gebunden. Die Steuerbeamten sind hier nicht sehr...zuvorkommend. Ben war einer eurer Schüler zu seinen Zeiten an der Universität, richtig?"
      Zumindest würde das die Reaktionen des Arztes erklären. Sie faltete die Hände auf dem Tisch.
      "Die Rebellen sind unser kleinstes Problem. Ich fürchte Kapitän Nightingale mehr, sollte er sein Schiff nicht zurückbekommen, als eine Rebellion. Er LIEBT dieses Schiff", betonte sie.

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      Elliot atmete erleichtert auf, als er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
      Beinahe sofort wollte der Botenjunge sich aus dem Staub machen, doch der eiserne Griff an seinem Kragen löste sich kein Bisschen. Missbilligend schnalzte Big Al mit der Zunge und schüttelte grinsend den Kopf.
      "Du bleibst schon hier und entschuldigst dich bei diesen...ehrbaren Seeleuten", forderte Alistair.
      Entgeistert sah Elliot zu ihm auf, doch der Blick des Kochs gab ihm eindeutig zu verstehen, dass er ohne ein anständige Entschuldigung nirgendwo hinging. Frustriert stampfte der Bursche mit dem Fuß auf und haderte einen Augenblick mit sich. Er wollte sich wirklich, wirklich nicht bei zwei abgehalfterten Piraten entschuldigen. Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust.
      "'Na schön! T'schuldigung", murmelte er zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch.
      "WIE WAR DAS!?", bellte Alistair und kurz drehten sich die vorbeieilenden Passaten wieder neugierig um. Andere waren erschrocken zur Seite gesprochen. Elliot klingelten die Ohren.
      "Ich sagte: Es tut mir leid! Ich werde es ganz bestimmt nie, nie, nie wieder tun", rief er lauter. "War's das jetzt!?"
      "Du bist ganz schön frech für eine halbe Portion. Wir müssen dringend etwas gegen deine Langeweile unternehmen", witzelte der Hüne mit dem graugesträhnten Haar ehe er sich wieder an Clara und Chimp wandte.
      "Diese Kaschemme..." wiederholte Alistair und die Ader in seiner Schläfe pulsierte bedrohlich. "...ist dank eurer Freunde von dem Männern der Fürstin in ihre Einzelteile zerlegt worden. Euer explosiver Freund und der Idiot mit den schlüpfrigen Fingern haben mit ihrem Auftritt ganze Arbeit geleistet. Apropos...ist eine junge Dame namens Florence zufällig mit euch unterwegs? Nettes Mädchen, nicht auf den Kopf gefallen. Sie ist mit den beiden an diesem Abend in die Nacht durchgebrannt. Kein guter Männergeschmack, aber ich hoffe es geht ihr gut."
      Alistair strich sich über das breite Kinn.
      "Meine Schwester lebt hier in Gogiya. Deshalb bin ich hier. Vorübergehend bis sich die Lage in Million Towers beruhigt hat", erklärte er.
      Plötzlich lachte Alistair kehlig und deutete auf das Erbrochene.
      "Ihr habt das Essen von der alten Vettel angenommen?", fragte er. "Keine gute Wahl. Wenn ihr hungrig sein, kommt mit. Ich habe noch nie jemanden mit Hunger abgewiesen. Sollte es doch irgendwann vorkommen, soll mein Name nicht länger Big Al sein! Na, kommt."
      Er hob Elliot wieder an bis er auf Augenhöhe vor ihm in der Luft baumelte.
      "Und du!", sagte er ernst. Elliot wurde ganz blass. Dann grinste Alistair. "Kommst auch mit. Du bestehst ja nur aus Haut und Knochen. Mit vollem Magen hast du auch keinen Grund mehr zu stehlen."
      “We all change, when you think about it.
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    • Holderbaum sah eine Weile lang besonders ausdruckslos in Florences Augen.
      Da war es wieder. Dieses Glitzern, dieses Feuer, was er bereits damals als bewundernswert empfunden hatte. Gut, den Hang zu Chaos teilte sie vermutlich nicht mit Cornelius, aber zumindest erschien die junge Frau entschlossener als er sich eingestehen wollte. Holderbaum ahmte ihre Geste nach und faltete die langfingrigen Hände auf dem Tisch, während er nachdenklich zu seufzen begann. Eigentlich war es mehr ein tiefes, resignierendes Atmen. Das Atmen eines Lehrers, der seinem Schüler nur ungern helfen mochte. Oder es vielleicht nicht konnte.
      Die grauen Haare wehten leicht von einem Zug im Raume und erschienen für einen Moment lang beinahe lebendig, ehe er sich räusperte.
      "Kein Dank, Ms Cartwright", murmelte er. "Nicht dafür. Sie werden mit Sicherheit noch weitere Menschen kennen lernen, die die Erinnerungen an Ihren Großvater lebendig halten. Seine alte Mannschaft zumindest, wenn ich mich recht entsinne, war ihm recht zugetan. Und Perfektion...Was ist schon perfekt, Ms Cartwright? Sie befinden sich in einem Konglomerat von Imperfektion, wie mir scheint. Wir sind alle nicht perfekt in dem was wir tun."
      Schweigsam lauschte er ihren Ausführungen und der darin verschlungenen Bitte, die er nur schwerlich erfüllen konnte. Die Zollbehörde war ein eigener Kontrollbereich des Regierungsrates. Sicherlich saß er ebenso in diesem, aber es verblieb fraglich, ob die schlauen Köpfe des Landes sich der Forderung eines marodierenden Piraten beugten.
      "Ben war ein Studiosus an dieser Universität, ja", nickte Holderbaum nachdenklich. Doch schlich sich eine gewisse Wärme in seine Stimme, als er begann, von Ben zu berichten. "Genial, über alle Maßen, wenn ich es so sagen darf. Kein Talent für Magie oder die rationalen Zusammenhänge, aber ein unglaubliches Gespür für Alchemie. Jedoch wurden die Schäden, die er bei seinen Experimenten anrichtete, von Jahr zu Jahr schlimmer. Und als wir die Menschen in seinem Labor fanden...Wohl eher die Leichen... Es war grausig, Ms Cartwright. Ich hatte keine Wahl, als ihn zu exmatrikulieren und der Universität zu verweisen. Jedoch, an seinem letzten Tag, sprengte er den Turm und floh aus dem Getümmel. Habe ihn seither niemals wieder gesehen. Bis heute."
      Seufzend fuhr er sich mit der Hand durch das langte Gesicht und offenbarte beim herunterziehen der Haut gelbe, lange Zähne.
      "Ein marodierender Pirat inmitten der Unruhen wäre nicht gut. Zumal weitere Kräfte diese Stadt infiltriert haben, die ich nicht gutheiße. Lassen Sie mich machen. Ich rede mit der Zollbehörde und Sie sehen zu, dass Sie Ihre Freunde schnellstmöglich gesund kriegen. Es gibt Organe in dieser Stadt, die Piraterie nicht nur nicht gutheißen, wenn Sie verstehen..."
      Schweigsam und dennoch geräuschvoll den Stuhl nach hinten drückend erhob sich der Dekan und nickte Florence kurz zu.
      "Auf ein Wiedersehen", sagte er und grinste schwach, während er sich wehenden Umhangs vom Tisch entfernte.

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      Clara sah wirklich nicht gut aus.
      Ihr Gesicht war bleich und grünlich angelaufen. Auf den feinen Zügen der Scharfschützin schien sich ein gräulicher Schatten unter den Augen festzusetzen. Schwer stützte sie sich auf ihre Waffe und hegte nicht mal den Wunsch, diese auszurichten, auch als der Junge vor ihrer Flinte abgesetzt wurde.
      Chimp indes war weiterhin skeptisch. Der Affe unterdrückte seine Kräfte weiterhin erfolgreich, doch weniger die wütenden Hände in den Hüften, die er so stark platzierte, dass seine Mütze begann, unter der Vibration zu wippen.
      "Gut, selbst ich muss als Affe sagen, dass diese Entschuldigung beschissen war, Kleiner", grunzte der Affe und schüttelte den behaarten Kopf. So langsam wurde die Menschenmenge um sie herum ruhiger und man begann, weiter den Tagesgeschäften nachzugehen. Dennoch war die Staatspolizei sicherlich nicht fern.
      "Im Ernst, warum beklaust du Piraten?", keuchte Clara und kämpfte eine erneute Übelkeitswelle nieder. "Das ist hirnrissig. Fast wie unser Kapitän."
      "Ja, nicht wahr?", murmelte Chimp und schüttelte den Kopf. "Und deine Kaschemme ist zerstört? Eigentlich schade. Ich mochte den Laden. Die Huren waren unfreundlich, aber der Eintopf schmeckte super. "
      "Du bist nur neidisch, weil keine auf dich abfuhr, du notgeiler Haaransatz", jammerte Clara.
      "Das ist sehr unrichtig", sagte Chimp und rümpfte die breite Nase. "Florence? Ja, der geht es gut. Nach einer Verkettung unglücklicher Umstände, die natürlich rein gar nichts mit uns zu tun haben, ist sie nun Teil der Crew, wenn Nightingale einen guten Tag hat. Und das clevere Köpfchen wäre noch zu beweisen..."
      "Herrgott, können wir bitte woanders hingehen, wo ich das Essen dieser Vettel nicht mehr riechen muss? Ich hab das Gefühl ichj tunke meinen Kopf in eine abgelaufene Fischsuppe."
      "Natürlich haben wir das Essen angenommen"; sagte Chimp indes unbeeindruckt. "Was hätten wir tun sollen? Wir wollten höflich sein. Wir suchen Proviant für die Reise und vermutlich einen Krieg mit den Behörden, wenn ich es recht deute."
      "Scheiß auf Höflichkeit...", keuchte Clara. "Wir kommen mit. Aber bitte hört auf, von Essen zu reden. Noch einen Bissen und ich schwöre, ich kotze in eine Königskrone."

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    • Mit ungetrübter Aufmerksamkeit lauschte Florence den Erzählungen des Dekans. Bei der Erwähnung von Leichen, die Westminster in seiner Studienzeit in den Laboren zurückgelassen hatte, nahm der hübsche, dunkle Ton ihrer Haut eine ungesunde und gräuliche Färbung an. Sie erinnerte sich an den faszinierten Ausdruck in Bens Augen, als dieser ihre Verletzungen einst auf der Starfall studiert hatte. Ein eiskalter Schauer lief ihren Rücken hinab. Wollte sie wirklich wissen, was hinter diesen schrecklichen Funden steckten? Vermutlich nicht. Die Vorstellung des grausigen Anblicks von Toten an einem Ort des Wissens und der Lehre verbannte die Navigatorin rigoros aus ihren Gedanken. Bisher hatte der Schiffsarzt ihr keinen Grund geliefert, seinen Absichten zu misstrauen, aber sie würde die Worte von Holderbaum im Hinterkopf behalten. Sie bekam keine Chance mehr, näher auf das Thema einzugehen, da wandte sich der Dekan bereits den dringlichen Problemen der Gegenwart zu.
      Ein dankbarer Ausdruck spiegelte sich in ihren Augen, als Holderbaum ihr versicherte, sich alsbald um eine gütliche Lösung mit der Steuerbehörde zu kümmern. Dennoch blieb eine gewisse Beunruhigung an ihr haften. Die Crew der Starfall konnte es sich nicht leisten ein weiteres Mal in Schwierigkeiten zu geraten. Ein beschädigtes Luftschiff durch feindlich gesinnte Gruppierungen zusätzlich zu einer angeschlagenen und zur Zeit in alle Winde verstreute Mannschaft, käme einer Katastrophe gleich. Und schließlich war dort immer noch der Brief, der ihr ein Loch in die Kleidung brannte.
      Höflich verabschiedete sich Florence von Holderbaum und sah dem ergrauten Dekan lange nach.
      Erst als Stille einkehrte, fischte sie den ominösen Umschlag aus der Rocktasche und brach das säuberlich aufgebrachte Wachssiegel. Vorsichtig und mit angehaltenem Atem zog sie das Schriftstück hervor. Sie entfaltete das Papier mit einer äußerlichen Ruhe, die im kompletten Gegensatz zu der inneren Anspannung stand. Hastig überflog sie die Zeilen, nur um sie ein zweites Mal ganz genau unter die Lupe zu nehmen. Die dunklen Augen wurden groß vor Erstaunen, doch der Name des Unterzeichners, sagte ihr rein gar nichts. Aber etwas an der eleganten, geschwungenen Handschrift weckte ihr Interesse. Verstohlen sah sie mehrmals über ihre Schulter und stopfte die Nachricht zurück in ihre Tasche.
      Nightingale und Trigg war augenblicklich in den besten Händen und in seine Zustand kein idealer Ratgeber. Also beschloss Florence der Sache auf eigene Faust auf den Grund zu gehen. Langsam stand sie auf und verließ nur wenige Minuten nach Holderbaum die Heilstätte.
      Florence trat in die Abendstunden hinaus und scheute nicht davor zurück Passanten nach dem Weg zu fragen. Gogiya war für sie unbekanntes Terrain, doch mit Hilfe erreichte sie die kleine, gemütliche Gaststätte in der Nähe des Marktplatzes. Selbst zu dieser späten Stunde waren die Straßen gefüllt und belebt. Ein kleines Klingeln über der Tür kündigte ihre Ankunft an und von einem Tisch in einer Nische, die vom Schatten leicht verhüllt war, sah der junge Mann mit den weißen Haaren auf. Er lächelte nicht und zeigte auch sonst kaum eine Regung. Nur das Blitzen in seinen Augen verriet, dass er die Frau erkannte.
      Florence trat an den Tisch heran und legte den Umschlag mit der flachen Hand auf den Tisch.
      "Wann und wo?", war ihre einzige Frage.

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      Elliot schmollte den gesamten Weg bis zu der Taverne während Alistair von der Zerstörung seiner geliebten Kneipe berichtete.
      Anscheinend hatten die Männer der Gräfin das gesamte Inventar auseinander genommen und jeden Winkel des Gebäudes durchkämt um Alistair eine Mitschuld an dem Entkommen der Piratenbande anzulasten. Big Al kam zugute, dass der Großteil seiner Gäste den bärigen Koch überaus für seine Diskretion schätzte. Deswegen hatte sich auch niemand zu einer Aussage gegen ihn hinreißen lassen. Weder für Reichtum noch für das verlockende Angebot der Straffreiheit hatte einer der Befragten den Mund aufgemacht-
      "Die Schergen der Fürstin aber mein wunderschönes Rusty Anchor einfach bis auf den letzten Barhocker niedergebrannt. Eine Schande, das sag ich euch!", wetterte Big Al lautstark. "Das hat man nun davon, wenn man jemandem aus reiner Freundlichkeit hilft. Genaugenommen schulden mir eure Freunde eines stolzes Sümmchen. Bei eurer...finanziellen Schieflage habe ich mich aber schon vor einiger Zeit von der Entschädigung verabschiedet. Außerdem habe ich nicht damit gerechnet, einen von euch Halunken jemals wiederzusehen. Das Fräulein Florence reist also seit Million Towers mit euch? Und ihr habt natürlich nichts damit zu tun...Wenn das stimmt, soll mir ein Fischschwanz wachsen..."
      Er führte die merkwürdige Truppe aus Scharfschützin, Affe und diebischem Botenjungen durch den Irrgarten aus Straßen und Gassen, ehe er vor einer urigen Taverne hielt. Das Golden Mermaid war ein ehrbares Lokal mit gutzahlender Kundschaft. Über der Eingangstür räkelte sich eine hübsche Meerjungfrau auf einem Felsen und im Gastraum erfüllte der köstliche Geruch frisch gebratener Meeresfrüchte und exotischen Gewürzen die gesamte Luft. Er sparte sich den Hinweis, dass sich alle benehmen sollte. Es traf sowieso auf taube Ohren, deshalb schleuste er schnellstmöglich seine Gäste durch den gut besuchten Gastraum. Die Kundschaft an den Tischen hüllte sich in edlen Zwirn und an Hälsen und Ohren funkelte teurer Schmuck. Alistairs Schwester unterhielt ein eher gut betuchtes Klientel.
      "Hier lang", brummte Big Al und scheuchte alle eine schmale Stiege hinter dem Empfangstresen um Eingang empor, fort von den Gästen. Seine Schwester stand Alistair in Punkt Temperament um nichts nach und er wollte sich keine Rüge von ihr einfangen. Ehrlich gesagt, war das Weib einmal in Rage recht fruchteinflößend obwohl sie ebenso bezaubernd aussah wie die Sirene über ihrer Eingangstür.
      "Setzt euch, meine Freunde!", bellte Alistair überschwänglich. "Gegrillten Fisch für die Herren und einen sauberen Kübel für die Dame?"
      Er zwinkerte Clara zu und hielt bereits einen hässlichen Blumentopf mit aufgemalten, rosa Blüten auf himmelblauem Grund in die Luft.
      "Dann erzählt dem alten Big Al mal, was euch nach Gogiya verschlägt. Allein für Vorräte ist der Weg doch etwas aufwendig", bohrte der Koch nach und holte frische Forellen mit schillernden Schuppen aus einem mit eisgefüllte Fach im Küchenschrank.
      "Was hat Nightingale dieses Mal angestellt? Ich hoffe er hat keine wütende Ex-Geliebte in Gogiya", lachte er bellend.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Die piekfeine Gesellschaft der Stadt.
      Oloria, wie man die Hauptstadt Gogiyas nannte, bestand aus einer Vielzahl von Volksgruppen. Zumeist lebten in den unteren Schichten der Stadt, den äußeren Ringen, die Armen und Mittellosen. Je tiefer man ins Zentrum vorstieß, umso mehr Menschen der feinen Gesellschaft tummelten sich auf den Straßen und in den Tavernen.
      Als Chimp und Clara vor dem Golden Mermaid standen, fühlten sie sich einmal mehr fehl am Platze. Sicherlich, Al war auch nicht gerade der Vorzeigeadlige, aber er war immerhin nicht verdreckt oder gar stinkig. Oder hatte gerade zweimal die Straße vollgekotzt.
      "Da brat mir einer ein Ei", grunzte Chimp nach dem Bericht des Wirts. "Das klingt wirklich ziemlich beschissen, Al. Hätten wir gewusst, dass diese Wach-Fiffis deinen Laden so niederbrennen, hätten wir doch nie..."
      "Doch hätten wir. Trigg hält seine FInger nicht bei sich, auch wenn man ihm mit Rührei droht."
      "Stimmt."
      Auf Als weitere Ausführungen reagierte der Affe auf eine merkwürdige Art. Schweigsam griff er in seinen Rucksack und förderte ein altes, speckiges Buch mit Ledereinband hervor und griff sich eine Art mechanische Tintenfeder aus der Beitasche. Mit einem kurzen Blick zu Al schlug er das Buch auf und trug eine Schuldhaft ein, die er eigentlich vermeiden wollte.
      "Ist notiert"; sagte er und nickte. "Al, du bist Schuldner Nummer 397. Mit etwas Glück und stabiler Gesamtlage bekommst du dein Geld in...456,3 Jahren. Natürlich haben wir damit nichts zu tun. Diese Verr...Ich meine, Ms Florence wollte freiwillig mit."
      Das stimmte. Ließ man die Zerstörung des Wesyner Palast außen vor.
      Mit achtsamen Schritten ließen sie sich durch das Lokal dführen, das noch mehr piekfeine Menschen zutage förderte als eine Antiquitätenauktion. Mehr und mehr fühlten sich die Piraten unwohl und achteten pikiert darauf, nicht mit ihren Waffen irgendwo hängen zu bleiben, während sie Al folgten. Ein Hinweis, sich hier gesittet zu benehmen, war nicht von Nöten, aber der deutliche Zweifel gegeben.
      Erst als sie aus dem Speisesaal entkommen waren und offenbar in ein Separee geführt wurden, entspannten sich die Parteien ein wenig und ließen sich wie eingeladen nieder.
      "Gegrillter Fisch klingt essbar", murmelte Chimp und sah zu Clara, die schon wieder grün im Gesicht wurde. "Was soll uns hierher verschlagen? NIghtingale hat nicht wirklich was angestellt. Naja, eigentlichs chon, aber nicht das. Die Kurzform ist diese: Nightingale hat sich in Wesyn mit den Himmelsrittern angelegt und die Schwester von Lucy, du kennst Lucy noch, oder? - in einem Kampf besiegt. Also eher in einem gepflegten Unentschieden. Dabei sind seine Knochen zu Bruch gegangen und wir sind eigentlich wegen den Heilkundigen hier. Aber wie es der verflixte Deibel so will, hat unser Schiffsarzt offenbar Probleme und das Schiff ist derzeit beschlagnahmt durch die Zollbehörde. Noch Fragen? Die Frage ist eher: Wie kommst du an einen solchen Laden?!"

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    • Mit einer gewaltigen Pranke klopfte Big Al auf die Schulter des Affen.
      "Na, sag ich doch! Nightingale kann keinen Fuß an Land setzen ohne das Chaos damit heraufzubeschwären. Der Busche muss unter einem schlechten Stern geboren worden sein. Lucy's Schwester? Die Furie mit dem Aggressionsproblem? Schreckliches Frauenzimmer, wenn ihr mich fragt, aber nach dem Tod ihrer Schwester eine trotzdem verständliche, wenn auch etwas überzogene Reaktion. Keine Sorge, die Ärzte aus Oloria flicken ihn schon wieder zusammen."
      Bevor er den Fisch für die Pfanne vorbereitete, schob er Clara mit einer eindeutigen Absicht den Blumentopf weiter vor die Nase. Lieber die Scharfschützin übergab sich in den hässlichen Kübel, als auf das nicht minder hässliche Spitzendeckchen seiner Schwester.
      "Euer Schiffsarzt hat Schulden bei der Zollbehörde? Nun, dann habt ihr wirklich ein Problem, wenn niemand gewillt ist euch auszuhelfen. Mit den widerborstigen Halblingen ist nicht zuspaßen. Diese Erbsenzähler würden ihre eigene Mutter verhökern, wenn es sein müsste. Schwieriges Völkchen, wenn ihr mich fragt."
      Alistair hob ein rießiges Beil an, dass beinahe so lang war wie sein eigener, muskulöser Unteram und trennte die Fischköpfe mit einem Streich von den geschuppten Leibern. Die Köpfe wanderten zusammen mit den Gräten in einen anderen Top, um sie später zu seiner Suppe auszukochen. Während er summend Kräuter und Gewürze über dem frischen Fisch verteilte, blickte er über die Schulter zu seinen Gästen.
      "Das Lokal gehört nicht mir", brummte er. "Das Golden Mermaid gehört meiner bezaubernden Schwester, Alice. Eine gute Seele, meine Ally. Aber sie ist uneghobelten Piraten gegenüber nicht so wohlgesonnen wir der gute, alte Big Al. Die Frau hat Haare auf den Zähnen, aber erzählt ihr bloß nicht, dass ich das gesagt habe."
      Big Al zwinkerte den Anwesenden zu und störte sich nicht daran, dass Elliot ein halb abfälliges und halb amüsiertes Schnauben von sich gab. Dem Bengel würde er noch Manieren beibringen. Elliot war zu schlau, um auf den Straßen von Oloria herumzulungen. Er hatte Potenzial.Trotzdem war es schwer vorstellbar, dass ein imposanter und großer Mann wie Alistair King sich vor seiner kleinen Schwester fürchtete. Nun, sie kannten auch Alice King nicht.
      "Ihr benötigt also Vorräte? Ich denke dabei kann ich euch aushelfen. Unter einer Bedingung."
      Zischend landeten die Forellenfilets in der Pfanne und augenblicklich roch herrlich nach herben Kräutern in der geräumigen Küche.
      "Gogiya ist kein Ort für einen alten Seebären wie mich", lachte Alistair. "Wenn ihr das Problem mit der Zollbehörde gelöst habt und auslauft, denkt an den guten Big Al. Ich bezahle auch für die Passage in die nächste Stadt."
      Das gierige Funkeln in den Augen der Piraten befeuerte das Lachen nur noch.
      "Nicht mit Gold, natürlich. Solange ich an Bord bin, widme ich mich gerne den Küchenpflichten zu. Klingt die Aussicht auf eine warme Malzeit am Tag nicht wunderbar? Vergesst das zähe Trockenfleisch. Ich koche euch Gerichte, die selbst eine Piraten wie Clara in ein entzücktes Fräulein verwandeln."
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    • Das Spitzendeckchen war wirklich hässlich, befand sowohl Affe wie Scharfschützin beinahe zur gleichen Zeit, als der Kübel näher an sie heran rückte. Doch entgegen aller Vermutungen übergab sie sich nicht in diese Ausgeburt von dekorationstechnischer Widerlichkeit, sondern schielte kurz in die entlegene Ferne und atmete durch.
      "Naja, die Aggressionsprobleme hatte sie erst mit dem Tod", murmelte Chimp. "Verständlich mag es sein, aber der Rochus, den sie auf Liam hat ist streckenweise unbegründet. Meiner Meinung nach zumindest. Aber ja, sie scheinen gute Arbeit zu verrichten. Zumindest hört man noch nichts von Toten in der Stadt. Wohl aber von einer Rebellion. Was man hier auch Rebellion nennen mag."
      "Hab eben gehört, das sich wohl die Alchemysten und Zauberer ein wenig angelegt haben. Haben sich auf offener Straße bekriegt, in einer Kleinstadt von hier", murmelte Clara nuschelnd.
      "Stimmt. Das sagte so ein Kurier. Wie hieß die Stadt noch? Usket, glaube ich. Soll ziemlich dramatisch gewesen sein. Ganze Züge der Stadt sind wohl zerstört worden. Und hier ist einfach nichts davon zu merken..."
      Als Kommentar zu den Halblingen beantworteten beide mit eifrigem Nicken, während zumindest Chimp haargenau darauf achtete, was der alte Wirt ihnen dort kredenzte. Eine kotzende Scharfschützin war ausreichend. Es brauchte nicht mehr. Ruhig lehnte sich der Affe auf den Tisch und sah den Wirt an.
      "Mit den Halblingen hast du Recht. Widerliche, kleine Plagegeister", knurrte Chimp, selbst nicht viel größer als diese Höllengestalten. "Warte, warte...Du hast eine Schwester??!"
      Selbst Clara hob den grünen Kopf und zog die Augenbrauen so weit hinauf, dass sie beinahe ihren Haaransatz ergänzten.
      Haare auf den Zähnen mochten in der Familie liegen, wenn sie beide an die Geschichten über Als Behandlungen widriger Piraten dachten. Jedoch nahm man was man erhalten konnte. Sie konnten es sich nicht leisten, weiter aufzufallen. Es musste ruhig von statten gehen sonst würde Liam sie durch die Ebenen jagen. An den Schiffsrumpf gebunden.
      Beide Piraten sahen sich kurz an und schluckten. Eine Frau, vor der Al Angst hatte, war selten. Vielleicht auch zu selten. Gar nicht gut!
      Noch ehe sie die Überlegungen zu seinem letzten Anmerkungsschatz durchdachte hatten, sprach er von Essen und Proviant, den man verdauen konnte. Und auch wenn Clara, gebeutelt durch das schreckliche Gericht der alten Vettel, nicht wirklich essen mochte, riss sie die Augen auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.
      "Akzeptiert!", tönte sie und Chimp schlug sich die Hand vor die Stirn.
      "Clara, denkst du nicht..."
      "Was gibts da zu überlegen? Er ist Koch, er kann kochen und er tötet uns nicht mit einer Suppe! Das ist geritzt!"
      Seufzend sah Chimp in die Ferne. Leg dich nie mit einem Schneider, einem Arzt oder einem Koch an, hatte sein Meister ihm gesagt. Und auf Al und seine bekloppte Familie traf das zu. Es war nicht zu verhehlen, dass er gut in die Runde passen würde jedoch...
      "Und was machen wir mit dem Jungen?", fragte er grantig. "Wir können ihn nicht laufen lassen. Er hat unsere Gesichter gesehen und selbst wenn wir auslaufen, würden sie uns bis dahin gefunden haben."
      "Wir töten ihn", stellte Clara fest und sah diabolisch grinsend zu ihm. "Er hat mich unsittlich berührt. Ich verlange Satisfaktion."

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    • "Hmhm", brummte Alistair.
      Mit beherztem Schwung wendete er die gefüllten Forellen in der Pfanne, die zwischend wieder im heißen Öl landeten. Anschließend drehte er sich um und lehnte sich rücklings gegen die Arbeitsfläche der Küche.
      "Die Unruhen häufen sich in den äußeren Bezirken vor Oloria. Kleine Dörfer wie Esket können sich kaum gegen die Rebellen wehren. Mitten im Herzen von Gogiya verhalten sich die Parteien aber noch recht unauffällig. Es kocht unterschwellig in den Straßen. Wenn ihr mich fragt, ist es nur eine Frage der Zeit bis die Scheiße hier richtig am dampfen ist. Verzeihung, das gehört sich nicht kurz vorm Essen."
      Big Al rümpfte die Nase über seine eigenen Wortwahl während die Mahlzeit hinter ihm in der Pfanne brutzelte. Der Koch mocht mit seiner bärigen und breiten Statur, den Tätowierungungen an den muskulösen Untarmen und dem großen Goldring in seinem Ohr eher wie ein grobschlächtiger Kriminieller aus, aber der Mann besaß ein breites Repertoire an Manieren. Darauf legte er ganz besonderen Wert. Aus dem Bodensatz der Gesellschaft zu stammen, hießt nicht, dass man sich auch so benehmen musste.
      Alistairs ernste Miene hellte ein wenig auf, als er grinsend den Schock in den Gesichtern zur Kenntnis nahm.
      "Jup, meine Schwester Alice", wiederholte er. "Wunderbares Frauenzimmer solange ihre Regeln befolgt werden."
      In dem Bezug ähnelte sich das Geschweisterpaar eindeutig.
      Auch Alistair King hatte im Rusty Anchor eingefordert, dass sich seine Gäste an die Regeln hielten. Etwas, das von allen zwielichtigen Gestalten peinlichst genau befolgt wurde. Immerhin hatte ihnen Big Al dafür einen sicheren Ort für ihre Geschäfte geboten, was im Umhehrschluss weniger Zwischenfälle und Probeleme für den Einzelnen bedeutet hatte. Weniger Tote, das war Al besonders wichtig gewesen. Man konnte kriminell sein und sich zivilisiert benehmen.
      Das Grinsen des dunklen Mannes breitete sich nun über seine ganze untere Gesichtshälfte aus.
      "Deal!", lachte rumpelnd und schlug mit der flachen Hand auf die Küchenzeile, woraufhin das Holz stark knarzte und sogar der Fisch in der Pfanne einen kleinen Hüpfer machte. Wie Clara ignorierte er Chimps Protest.
      Alistair drehte sich zur Pfanne um, fuhr die Hitze herunter und stülpte einen Deckel über die Pfanne. Ein bisschen noch...Garen war eine Kunst. Er wischte sich die Finger an einem angegrauten Handtuch ab und positionierte sich hinter Elliot, der bei Claras unheilvollem Grinsen tiefer in den Stuhl sank. Wo war er da nur hinein geraten.
      "Komm schon, Deathvalley! Triggy hat seine beiden Hände auch noch und ich bin mir ziemlich sicher, dass er seine Finger nicht nur benutzt hat um deinen Geldbeutel abzsuchneiden. Den Jungen überlasst mir. Wenn ich für eine ganze Mannschaft kochen soll, brauche ich noch ein Paar zusätzliche Hände."
      Munter klopfte er dem frechen Straßendieb auf die Schultern, der unter der schieren Kraft noch tiefer in den Stuhl gedrückt wurde.
      "Aber!", protestierte Elliot.
      "Ihr müsst ihn nicht laufen lassen und risikieren, dass er die Informationen an die Offizillen verkauft und ich habe die Hilfe, die ich brauche um eure Bäuche zu füllen. Also, macht mir eine Liste, was ich besorgen soll und ich lasse alles zusammentragen", lachte Big Al.
      Elliot seufzte und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
      "Hab ich da auch ein Wörtchen mitzureden?"
      "Nein."
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    • Beinahe enttäuscht zog sich Clara ein Stück weit vom Tisch zurück und betrachtete den jungen Mann beinahe mit einer Mischung aus Raubtierverhalten und gleichsamer Resignation. Natürlich nahm man ihr wieder die Beute weg. Einen Typen, der sie unsittlich berührte. Ob jung oder nicht, der kleine Scheißer gehörte kopfüber an den Mast und mit einer breiten Flinte beschossen.
      Das Rumpeln auf dem Tisch war noch nicht verhallt, da glitt Chimps breitfingrige Hand durch sein behaartes Gesicht und ein tiefes, animalisches Seufzen entrang sich seiner Kehle, was beinahe einem Urschrei ähnelte.
      "Du weißt schon, dass uns Nightingale vermutlich umbringt, oder?", fragte Chimp seine Gefährtin. "nichts gegen dich, Al. Deine Kochkünste werden heiß begehrt benötigt, aber..."
      "Was aber?!", zischte Clara.
      "Naja, erst schleppt Trigg Florence an und überrascht Liam und jetzt kommen wir gleich mit zwei neuen Crewmitgliedern. Ich halte dieses Unterfangen durchaus für lebensgefährlich, wenn du mich fragst..."
      Warmer, schmackhafter und würziger Duft erfüllte die Küche mit neuem Leben und für eine Sekunde vergaßen beide Piraten beinahe die äußerst prekäre Situation, in die sie diese beiden Irren schmeißen würden. Lieblich schnupperte der Affe in der Luft und leckte sich über die dunklen Lippen.
      "Also wenn ich es genau bedenke...", murmelte Chimp und gierte nach dem Topf.
      "Du bist bestechlich, Affenjunge."
      "Lieber bestechlich als dumm, Königin von Ich-Fress-Alles."
      "Du kleiner..."
      "Contenance, Clara!", sagte Chimp und sah zu Al. "Wir sollten es wohl besser riskieren. Ich weiß, dass Nightingale uns die Hölle heiß macht, aber besser als gar nichts. Bist du wirklich sicher, dass es eine gute Idee ist, mit uns zu fahren, Al? Ich meine, nicht, dass du nicht mithalten könntest, aber das Piratenleben ist kein Sommerurlaub, wenn du verstehst."
      "Oh ja", murmelte Clara und sah zu dem Bengel zurück. "Viele Waffen. Schüsse und Kugeln. UNd ein melodischer Donnerschlag in finsterer Nacht, wenn die Kanonenkugeln auf Holz treffen...Es ist wunderbar..."
      Ihre Stimme war einem Seufzen gewichen, was der Affe mit einem Kopfschütteln quittierte.
      "Und du, Junge?", fragte er schließlich. "Was kannst du, außer das Geld von den Gürteln zu schneiden? Kannst du auch was richtiges oder hat dir die Welt nichts anderes beigebracht?!"
      Zu Al gewandt nickte der Affe schließlich und förderte ein grobes Stück Pergament zutage, das er ihm wortlos reichte. Darauf standen diverse Vorräte und Provianzen, die es zu besorgen galt. Hilfe war nie schlecht und vielleicht konnte sich Nightingale besänftigen lassen, wenn sie zumindest nicht mit leeren Händen kamen.
      Als der Koch die Liste ergriff, hielt Chimp sie kurz fest.
      "Ich vertraue dir, Al", sagte er und doch bohrten sich argwöhnische Knopfaugen in seine. "Missbrauche es nicht."
      Anschließend ließ er los und fragte sich, ob Florence und die anderen Erfolg gehabt hatten. Sonst würde es keine Abenteuerfahrt geben.

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    • "Unterschätze niemals die flinken Füße eines guten Botenjungen", antwortete Alistair bevor der Junge überhaupt den Mund aufmachen konnte um Chimps Frage zu beantworten. "Und außerdem nimmt er euch als Dank dafür, dass Clara darauf verzichtet, ihm eine Kugel zu verpassen, sicherlich die unbequemen Arbeiten an Bord ab. Das Deck schrubben, Küchendienst, Wäsche waschen, Segel flicken..."
      Mit jedem weiteren Punkt, den Big Al aufzählte, erbleichte Elliot ein wenig mehr. Wenn er vorschlug, ihn als billige Arbeitskraft zu verscherbeln, hatte sich der hünenhafte Koch allerdings gewaltig geschnitten. Der Taschendieb wollte gerade unter Protest vom Stuhl aufspringen, da bemerkte er den Blick der verrückten Schützin, die offensichtlich gefallen an der Vorstellung fand ihm die miesesten und dreckigsten Arbeiten aufs Auge zu drücken.
      Alistair drückte den jungen mit der gewaltigen Pranke, die er seine Hand nannte, zurück in den Stuhl.
      "Bist du nicht dankbar für diese Chance, Elliot?", fragte er mit einem beinahe zuckersüßen Lächeln nach, dass in Big Als Gesicht mehr unheimlich als nett aussah.
      "Du kannst gleich damit anfangen dich nützlich zu machen und mit mir zusammen die Vorräte zum Schiff bringen. Wollen wir doch mal sehen, was diese dünnen Ärmchen stemmen können."
      Wieder beschallte das typische, bellende Lachen den gesamten Raum. Der Koch besaß eindeutig ein beneidenswertes Lungenvolumen.
      "Und was meine Wenigkeit angeht, Chimp, du vergisst, dass ich früher selbst auf einem Schiff gedient habe, bevor ich mich in Million Towers niedergelassen habe. Die Dragonfly war damals eines der schnellsten Piratenschiffe am Horizont."
      Die Dragonfly verdankte ihren Namen den schillernden Seitensegeln, die wie die Flügel einer gigantischen Libelle auf- und abschlugen. Der Zeppelin, der die Hauptlast des Schiffes getragen hatte, war mit demselben schimmernden Material bespannt und leuchtete in den schönsten Farben des Regenbogens. Seit den großen Schlachten über der Splittersee war die Dragonfly zu einer kleinen Legende geworden. Die Überfälle erfolgten mit solche Geschicktheit, dass kaum Zeit blieb um die Kanonen laden.
      Zufrieden brummte Big Al und servierte seinen Gästen die versprochene Mahlzeit.
      Selbst Elliot, obwohl er mehr als beleidigt drein sah, konnte der Verlockung nicht widerstehen und schlang hungrig den gebratenen Fisch herunter.
      Mit einem Nicken nahm Alistair die Liste entgegen und überflog flüchtig die einzelnen Punkt.
      "Sei unbesorgt, mein pelziger Freund", brummte Al. "Ich kenne das Wort Dankbarkeit. Und ich bin dankbar, dass ihr mich aus dieser Stadt holt... und aus der Reichweite meiner liebreizenden Schwester. Alice ist eine wunderbare Frau, aber noch einen Monat mit ihr zusammen in der Küche und einer von uns wird bald ein Einzelkind sein. Es ist nur Platz für einen Chefkoch im Golden Mermaid."

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      Zum gleichen Zeitpunkt wanderte Florence alleine durch die belebten Straßen von Oloria.
      Das geschäftige Treiben ließ sich von den späten Abendstunden nicht beeindrucken, denn nun öffneten Tavernen und Spielunken ihre Pforten. Der mysteriöse und junge Mann, Hester, wie Florence mittlerweile wusste, begleitete sie nicht auf ihrem Weg. Angeblich wichtige Angelegenheiten hatten das merkwürdige Gespräch verkürzt. Kaum hatte sich die Navigatorin gesetzt, hatte Hester ihr einen weitere Umschlag über den Tisch zugeschoben, auf dem nichts weiter als eine Adresse gestanden hatte. Es hatte Florence einige Fragen an die vorbeieilende Bürger gekostet, um endlich den richtigen Weg zu finden. Das Stadtviertel, das sie nun betrat, beeindruckte durch seines hübschen Häuserfassaden, deren Putz mit bunten Farben gestrichen waren. In den unzähligen kleinen und großen Fenstern flackerte das Licht von Öllampen und Kerzen. Die Straßen hier waren weniger vollgestopft und die Menschen auf den Bürgersteigen genossen augenscheinlich einen gemütlichen Abendspaziergang. Die Kleidung zeichnete sich durch geschickte Schneiderarbeit aus und wirkte dadurch edel und kostspielig. Die wohlbetuchte Gesellschaft schien hier seinen Sitz haben. Florence erinnerte die Gegend an das Fürstenviertel ihrer Heimat. Niemand störte sich an der jungen Frau, die etwas verloren auf den Zettel in ihrer Hand starrte. Weitere Gehminuten verstrichen bis Florence vor einem Haut stoppt, zu dessen Eingangstür eine kleinen Treppe führte. Zögerlich legte sie eine Hand auf das schwarze, gusseiserne Geländer und näherte sich der Tür. Ein antiker Türklopfer in Form eines Löwenkopfes blickte ihr mit aufgerissenem Maul entgegen, in dem er einen schweren Goldring hielt. Als sie klopfte, reagierte zunächst niemand. Eine Sekunde später schwang die Tür wie von Geisterhand auf und Florence trat ein. Alles roch nach einer Falle, aber die Neugierde siegte und die Hoffnung auf dringend benötigte Hilfe. Nightingale würde Zeter und Mordio schreien, wenn er wüsste, dass Florence vor hatte, sich mit einem geheimnisvollen Fremden zu treffen, dessen Identität sie nicht kannte.
      Florence warf einen Blick über die Tür.
      Geister hatten wenig mit der selbstständigen Öffnung zu tun, denn oberhalb der Tür verlief eine ausgeklügelte Mechanik aus Drähten und Zahnrädern, die mit dem Schließmechanismus der Tür verbunden waren. Die Drähte verliefen oberhalb an der Wand des Raumes und verschwand in einem kleinen Einlass in der Wand. Seltsam.
      "Hallo?", versuchte sie es, doch es kam keine Antwort.
      Mit einem unguten Gefühl erkundete Florence das Erdgeschoss, dessen Einrichtung geschmackvoll aber leblos wirkte. Sie gewann den Eindruck, dass hier eigentlich niemand lebte. Es erinnerte die Navigatorin an die detailreiche Kulisse eines Theaterstückes. Fenster und Türen waren sorgsam verschlossen bis auf auf die gläsernen Doppelflügel, die in den Wintergarten führten und von da aus in ein hübsches Gärtchen, dass umrahmt von hohen Häusern eine kleine Oase mitten in der Stadt bildete.
      Mitten auf der gepflegten Rasenfläche wartete ein Mann auf Florence.
      Zumindest vermutete sie einen Mann hinter der hochgewachsenen Gestalt, deren Kopf leicht in den Nacken gelegt war um den Himmel über Oloria zu beobachten.
      "Ich bin erfreut, dass Sie meiner Einladung nachkommen, Miss Cartwirght."
      Diese Stimme...Florence zog die Augenbrauen nachdenklich zusammen, beim Klang der brüchigen, kratzigen Stimme. Die verzerrten Silben klangen bemüht, als fiele ihm das Sprechen schwer. Als er sich umdrehte, wusste sie, wer die Einladung geschickt hatte.
      "Sie!", brachte Florence hervor.
      Vor ihr stand der Mann vom Maskenball, der ihre Aufmerksamkeit auf das Bildnis der verstorbenen Fürstin gelenkt hatte.
      "Verzeihen Sie das kleine Versteckspiel, aber Sie verstehen sicherlich, dass meine Erscheinung nicht ganz unauffällig ist", sprach er weiter, während er Florence mit dem roten Glühen aus der dunklen Augenhöhle betrachtete. Das zweite Auge verblieb im pechschwarzen Schatten seiner Maske. Die goldene Maske, die sein Gesicht verbarg, war dieselbe, die er auch in der Nacht des Maskenballs getragen hatte.
      "Ich verstehe nicht...", setzte Florence an.
      "Bitte, setzen Sie sich.
      Er deutete auf einen kleinen Tisch mit Stühlen, die neben seiner Gestalt lächerlich klein wirkten wie Möbel für ein Puppenhaus.
      "Ich stehe lieber. Danke."
      Florence näherte sich vorsichtig und blieb in gebührendem Abstand vor dem Maskierten stehen.
      Jetzt erkannte sie auch den spiegelförmigen Anhänger um seinen Hals und trat sofort wieder einen Schritt zurück.
      "Sie sind ein Himmelsritter!", knurrte sie.
      Beschwichtigend hob er die Hände.
      Die Bewegung wirkte seltsam abgehakt, geradezu mechanisch.
      "Es gibt keinen Grund zur Besorgnis, Miss Cartwirght. Ich bin nicht hier um sie in Gewahrsam zu nehmen, noch habe ich ein Interesse daran ihrer...Crew zu schaden."
      "Was wollen Sie dann von mir?"
      "Ihre Hilfe, Miss Cartwirght."
      Florence schnaubte ungläubig.
      "Natürlich."
      Hinter der Maske erklang ein kratziges, schleifendes Geräusch und die von einem schweren Umhang bedeckten Schultern ruckten kurz nach oben. Es dauerte einen Moment bis Florence begriff, dass der Mann lachte.
      "Vielleicht erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Nemjin", sprach er ruhig. "Und ich habe um dieses Treffen gebetet um Ihnen ein Geschäft vorzuschlagen, dass uns beiden zugute kommen wird. Ich weiß, dass Nightingale eine Spur zum Stein von Ardashir verfolgt. Schauen Sie mich nicht so entgeistert an, es ist meine Aufgabe Dinge zu wissen. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass ich nicht ihr Feind bin."
      "Nein, ich glaube Ihnen ganz bestimmt nicht", knurrte Florence.
      "Mit ist bekannt, dass die Starfall beschlagnahmt wurde und Nightingale keinerlei Möglichkeiten hat, Oloria zu verlassen, bis die Schulden beglichen sind. Mit Münzen, die Ihr Kapitän nicht besitzt. Um es kurz auszudrücken, Ihr guter Kapitän ist arm wie eine Kirchenmaus. Ich bin bereits Ihnen einen Gefallen zu erweisen, Miss Cartwright, und die Schuld bei der Stadt zu tilgen."
      "Wieso?"
      "Weil Nightingale etwas hat, dass ich möchte und Sie dazu in der Lage sind, es mir zu beschaffen. Nichts von physischem Wert und sicherlich keines seines Besitztümer. Für die Tilgung der Schuld verlange ich alle Informationen zum Stein von Ardashir. Helfen Sie mir und ich helfe Ihnen."
      "Deshalb haben Sie Archimedes nicht zerstört", murmelte Florence bitter. "Um ihn zur Brieftaube zu machen."
      Wieder erklang das schleifende Geräusch, als würde Metall über Metall reiben.
      "Ich gebe zu, es war nicht ganz uneigennützig", antwortete Nemjin.
      "Nein. Niemals. Meine Antwort lautet: Nein."
      Das unmenschliche Kichern erstarb und Nemjin schien sich endlich zur vollen Größe aufzurichten, während Dampf durch die Nähte seiner Kleidungsstücke waberte. Sie fragte sich, wie viel an diesem Mann wirklich noch menschlich war und was ihn diese Lage gebracht hatte.
      "Ist das so...?", begann Nemjin. "Ich finde die Spuren auch auf einem anderen Weg. Es ist nur mühseliger. Weißt Du, das Leben mit diesen Piratenratten steht Dir nicht. Denk an deine Eltern, die gerade vor Scham im Boden versinken. Denk an deine arme Schwester, die nun niemanden mehr an, an den sie sich mit den Eskapaden ihres Mannes wenden kann."
      Florence stutzte.
      Nicht nur über den Fakt, dass er ihre Familie ansprach.
      "Meine Familie?", aus Verblüffung wurde Verärgerung. "Rühr meine Familie an und ich..."
      "Ja?"
      "Sie werden es bereuen!"
      Nemjin lachte auf. "Ich denke, dass werde ich nicht. Sag mir, Florence, was ist dir wichtiger: Deine Familie oder Deine sogenannten, neuen Freunde, die Dich nur mitgenommen haben, weil sie keine andere Wahl hatten. Glaubst du wirklich denen liegt etwas an Dir? Verbrecher, Mörder und Trunkenbolde...Denkst du Silas Trigg interessiert sich mehr für Dich oder für die Annehmlichkeit, dass Du ihm sein Bett wärmst? Oder Nightingale? Ist es das? Ich hätte etwas Besseres von Dir erwartet."
      Die letzten Worte spie der Mann aus wie Galle.
      "Wer bist Du?", flüsterte Florence.

      ____________________________________________________

      Archimedes, der am Kopfende von Nightingales Krankenbett auf der Metallstrebe des Bettgestells hockte, drehte den Kopf in Richtung eines Fensters. Er legte den Kopf schief, als würde er nachdenken. Eigentlich war es sogar sehr seltsam, dass die junge Herrin ihn einfach zurückgelassen hatte, obwohl sie Archie gerade erst wiederbekommen hatte. Die Metalleule war nicht unbedingt gekränkt, viel mehr besorgt um den Wildfang, den er bereits in Kindertagen mit wachsamen Augen begleitet hatte. Unter ihm döste Nightingale im Krankenbett.
      "Kapitän?", schnarrte er. "He, Käpt'n!"
      Ungeduldig klapperte Archimedes mit dem Schnabel.
      Obwohl es äußerst unhöflich war den Heilungsprozess zu stören oder gar einen Verletzen aus seine Schlaf zu wecken, verspürte Archimedes eine solche Unruhe, dass die Zahnräder in einem kleinen Körper nervös klackerten. Erst als ein missgelaunter, frisch erwachter Nightingale ihn entnervt ansah, plusterte sich Archie ein wenig auf als würde er sich für eine schwierige Aufgabe wappnen.
      "Verzeihen Sie, dass ich Sie wecke, Sir. Aber ich befürchte, ich muss Ihnen etwas berichten, das keinen Aufschub duldet. Es geht um Florence."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Deck schrubben...", murmelte Clara beinahe versonnen in die kalte Tumulthaftigkeit des säuselnden Raumes, während sie ihren grünlichen Kopf auf einer Hand aufstützte.
      Zu gern nur sähe sie diesen kleinen Scheißer an Deck auf Knien. Mit einem schmutzigen alten Lumpen in der Hand, während er sich mühte, die Blutreste vom Deck zu schrubben, die sie erst dorthin verfrachtet hatte. Ach, was wäre dies nur für eine Ansicht. Beinahe fühlte sie eine wohlige Hitze durch ihren Leib strahlen, ehe sie sich wieder auf die eigentliche Übelkeit zu besinnen schien.
      Chimp sah zu Al und nickte schließlich.
      "Habe von der Dragonfly gehört, ja. Waren ein paar legendäre Schlachten, die ihr damals geschlagen habt, muss ich schon sagen. Das nördliche Splittergebirge alleine zu durchfahren ist eine Sache, aber auch noch Raubzüge? Das war wirklich legendär. Aber diese Referenz sollte im Grunde auch dem Kapitän ausreichen, wenn er mich vor den Mast stellt. Er wird sicherlich nichts gegen einen Koch an Bord haben", stellte er fest und seufzte, als das Essen auf den Tisch gestellt wurde.
      Gierig und beinahe ohne Benehmen griff er eilig nach den Schüsseln und zog seine Nase beinahe suchend über den Teller, ehe er den Fisch erspähte und diesen ähnlich gierig wie der Junge selbst herunter schlang. Mehr denn je wurde Clara in dieser Situation gewahr, dass Chimp wirklich ein degenerierter Affe war. So widerlich, wie er das Futter herunter schlang, was man ihm vorsetzte (obschon es angenehm roch), war es dennoch leichtsinnig, was sie mit einem geschürzten Mund kommentierte und den Kopf schüttelte.
      "Nightingale wird uns sowas von umbringen, wenn das schief geht"; sagte sie und sah die Liste in Als Hand verschwinden.
      Hatten sie das richtige getan?
      Chimp mampfte schlabbernd sein Essen und nickte.
      "Aber wowas fonn", grunzte er zwischen zwei Bissen und nickte. "Wowas fonn Fot!"
      Clara nickte Al zu und sah zu dem Jungen.
      Damit waren sich die beiden zumindest einig. Sie waren sowas von tot.


      Dr. Narciss Goldmund richtete gerade seinen Zylinder, als er sich von einer kraftraubenden Visite erholte und sich auf einem Stuhl Luft zufächelte.
      Durch die Pestmaske in seinem Gesicht konnte er beinahe nicht atmen, aber wer wollte auch schon diese zerklüftete, stinkende Luft des Krankensaals inhalieren? Dort, wo es stetig nach Krankheit und Erbrechen roch, konnte man ja nicht gesund werden. Zu ärgerlich fürderhin, dass es sein eigener Saal war. Kopfschüttelnd klappte er ein Klemmbrett zu und klemmte es wieder in die dafür vorgesehene Lücke am Fußende von Nightingales Bett.
      Dieser war wach und von den Betäubungsmitteln einigermaßen entwöhnt, was seiner Stimmung nicht zuträglich war, wenn man es gut meinte.
      "Also, Doc?", fragte er grantig und kratzte sich den verwirrten Schopf. "Was sagt mein Huf?"
      Dr Goldmund lächelte unter der Maske und atmete durch.
      "Nun, ich würde sagen, es sieht nicht halb so schlimm aus wie es sich anfühlt, nicht wahr?", sagte er und beugte sich vor. "Euer Bein ist soweit wiederhergestellt. Es erforderte eine Wagenladung von Heilern und, wenn es erlaubt ist, möchte ich den Hinweis geben, nicht erneut mit einem Himmelsritter in den Kampf zu treten. Ich weiß nicht, was Euch derartig die Energie geraubt hat, aber etwas hat Euren Körper geschwächt, sodass er beinahe vor dem Tode stand. Und so gern ich auch Leichen seziere, mein Guter, so wäre es besser, Ihr bliebet am Leben, yo ho."
      Nightingale nickte und lehnte sich seufzend zurück.
      "Wann kann ich hier raus?"
      "Vielleicht solltet Ihr Euch noch einen Tag Ruhe gönnen, damit auch die Wunden Eures Freundes verheilt sind. Ich werde sodann die Totenscheine ausstellen."
      "Entlasspapiere", sagte eine Schwester kopfschüttelnd.
      "Auch diese, selbstredend. Alsdann, Mr Nightingale. Ruhe und Erholung, verstanden?"
      "Verstanden, Doc."
      Mit einem schmalen Grinsen wartete er bis der Doktor weg war und seufzte erst dann wieder auf, als Archie zu sprechen begann.
      "Ich verstehe wirklich nicht, warum Cartwright gerade dich hier gelassen hat, Archie", knurrte er entnervt und fuhr sich durchs Gesicht. "Der Arzt hat mir Ruhe und Frieden verschrieben und das erste, was ich höre, ist eine blecherne Stimme, die mir erneut etwas sagen möchte, was Florence oder ein beliebiger Anderer wieder verbockt hat..."
      Es half doch alles nichts.
      "Also, lass hören, Kleiner", sagte er und sah zu Archie hinauf. "Was ist passiert?"

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Voller Empörung klapperte Archimedes mit dem metallischen Schnabel. Jetzt sprach der Pirat ihn auch schon mit dem verhassten Spitznamen an. Dabei war Sir Archimedes äußerst wohlklingend und elegant. Archie hingegen erinnerte die Blecheule an einen einfältigen Kanarienvogel. Das Zischen innerhalb seiner Brustplatte hatte verdächtige Ähnlichkeit mit einem genervten Seufzen. Eine kleine Dampfwolke löste sich aus den mechanischen Verbindungen, die seine schimmernden Flügel mit dem Rumpf verbanden als Archimedes vom Kopfende des Bettes hüpfte und mit flatternden Schwingen auf der Bettdecke landete.
      "Wie Ihnen bekannt sein dürfte, Käpt'n Nightingale, wurde ich auf meiner wichtigen Mission in Wesyn, Nachricht an ihre Crew zu übermitteln, gefangen genommen. Deshalb wussten diese eitlen Gockel auch, wo sie und Miss Florence zu finden waren."
      Archimedes schüttelte sich am ganzen Körper, so dass die metallischen Feder aus Regenbogenperlmutt melodisch klimperten. Ein einzelnen Zahnrad kullerte aus seinem glänzenden Gefieder und rollte über die Decke.
      "Huch!", stieß Archie aus und folgte dem verlorenen Zahnrädchen mit ulkigen Hüpfern.
      Während er in den Falten der Decke nach dem Zahnrad suchte, erklang seine Stimme etwas gefämpft durch den Stoff.
      "Jedenfalls, haben sie mir die Botschaft abgenommen und versucht Informationen bezüglich des Steines von Ardashir herauszubekommen. Der seltsame Mann mit der goldenen Maske wirkte äußerst enttäuscht darüber, dass sie nichts finden konnten. Er war fest davon überzeugt, dass ich etwas aufgeschnappt haben musste. Sie haben meinen Energiekern angezapft, aber das hat diesen Metzgern auch nichts genützt. Aus mir haben sie nichts heraus bekommen."
      Stolz plusterte Archimedes die Brust auf. Mit dem Zahnrad im Schnabel kam die Eule zurück an das Kopfende und blieb auf Augenhöhe mit Liam stehen. Archie stopfte das Zahnrädchen zurück unter seine Federn ehe er Liam mit schimmernden, schwarzen Augen ansah.
      "Ein Name. Ich erinnere mich an einen Namen, den ich nie zuvor gehört habe. Die Crew auf dem Schiff nannte den maskierten Himmelsritter Nemjin. Der Begriff stammt aus Sidora, ein Ausdruck aus der alten Sprache, und bedeutet Der Namenlosen oder Namenloser Dämon. Die Energie, die diesen Mann umgibt ist unheimlich, Sir. Ich konnte kaum etwas Lebendiges an ihm spüren. Ist Ihnen dieser Mann schon einmal begegnet, Käpt'n? Soweit ich weiß, kommt es nur selten vor, dass neue Rekruten in die obersten Reihe des Himmelsritter aufsteigen."
      Bedröppelt ließ Archie die Flügel hängen.
      "Ich befürchte, dass Miss Florence sich in Gefahr befindet", sagte Archimedes, den Kopf leicht zu Seite geneigt. "Der Mann, dieser Nemjin, erwähnte ihren Namen."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”