The Legend of Starfall [Winterhauch & Nico]

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    • Die Frau bei dem Roboter war durchaus nervig.
      Aus einem nicht unerheblichen Grund sah Lilly das erste Mal wirklich in die glühenden Augen der jungen Frau und entließ den Roboter mit einer entschuldigenden Geste aus ihrem Klammergriff. Wie eine gestellte Verbrecherin reckte die sie Arme träge nach oben und zuckte mit den Achseln.
      "Schon gut, schon gut", sagte sie und seufzte. "Dann eben keine lauschige Nacht mit Schraubenzieher. Aber es ist schon erstaunlich, wie dieser...Mensch? Sie waren ein Mensch, oder? Zusammengesetzt ist. Ich meine, die Rüstung. Sehen Sie sich die Rüstung an! Das ist feinstes Metall. Eine ganze Rüstung aus derlei Eisen kann nur eine Nioblegierung aufweisen und von unglaublicher Beschaffenheit sein. Der Schmied war ein wahrer Meister seines Fachs!"
      Das Schwärmen der Zauberin übertünchte beinahe den beißenden Geruch, der langsam aber sicher aus dem Raum an der Ecke des Flures entwich. Es roch nach Verbranntem und gleichsam Verwesenden. Als würde man eine Leiche oder Schlimmeres kochen. David indes zog rasch seine Hand zurück und schob sich quietschend und schnaubend hinter Florence.
      Diese Frau war wahnsinnig! eindeutig!
      Dankbar nickte er der Navigatorin zu und lauschte dem Gespräch, dem zunächst ein zweifelnder Blick der Zauberin folgte, ehe sie das knittrige Blatt wieder einsteckte und den Kopf schüttelte.
      "Gottverdammte Eselskacke", grunzte sie und fuhr sich durch die struppigen Haare, die dadurch noch weiter abstanden. "Habe echt gedacht, ich hätte mal Glück. Na gut, danke trotzdem! Sollten Sie es sich anders überlegen, ich zahle gut!"
      Ruhig wollte sie sich gerade nochmals zum Sprechen geleiten, ehe der bemitleidenswerte Schüler aus dem Raum sah.
      "Meisterin Westminster!"; rief er.
      "Herrgott...Einmal gutes Personal...", wisperte sie für sich selbst und seufzte. "Was ist, Emmerling?"
      "Mr Holderbaum verlangt nach Ihnen! Er hat eines seiner fliegenden Bücher gesendet!"
      "Was steht drin?"
      "Keine Ahnung, es beißt mich, wenn ich danach greife!"
      "Grr...Na gut, na gut! Sag ihm ich bin gleich da", keifte sie und nickte den beiden Fremden nochmals zu ehe sie wehenden Mantels den Weg in das Zimmer antrat, aus dem der Gestank quoll.
      David sah ihr noch eine Weile hinterher und schüttelte den Kopf.
      "Diese Familie ist wahnsinnig.", blecherte er. "Lass uns gehen."

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      Das Haus der Heilung ist von dem Hauptgebäude aus gesehen rechts hinunter.
      Healing.jpg
      Eine Katze mit Nickelbrille bewacht den oberen Eingang. Vor ihr steht ein Schachbrett.

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    • "Wahnsinnig trift es nicht mal ansatzweise", antwortete Florence kopfschüttelnd.
      Erleichtert atmete die Kartografin aus, als die aufdringliche Frau aufgrund dringender Angelegenheiten endlich verschwand. Das war knapp gewesen, aber scheinbar hatte Bens Schwester keinen Verdacht geschöpft. Mit einem Nicken deutete Florence in Richtung der Treppen, damit sie den letzten Treppenstufen nach unten folgten. Sie würde Ben von der eigenartigen Begegnung berichten sobald sie Gelegenheit dazu bekam. Prüfend glitt ihr Blick durch die Vorhalle der Roten Universität. Geschäftig huschten Lehrlinge und ausgebildete Zauberer, Gnome, noch mehr Halblinge und allerlei anderes Völkchen durch die Halle. Bei dem ganzen Trubel fielen Florence und David kaum auf. Naja, zumindest wenn David kein Roboter gewesen wäre. Sie vergaß manchmal, dass der gute David eine seltene Kuriosität war. Ein menschliches Bewusstsein, dass sich in einer belchernen Hülle befand. Dabei wirkte der Steuermann für einen ehemaligen Menschen erstaunlich emotionslos, zumindest für die meiste Zeit.
      Zielstrebig marschierte Florence auf den Empfangsbereich zu. Die Dame dahinter trug einen strengen, grau gesträhnten Dutt und eine Brille mit rießigen, runden Gläsern. Bevor die Navigatorin den Mund öffnen konnte, war die Empfangsdame bereits aufgesprungen. Sie wirkte nervös.
      "Miss Cartwirght, r...richtig?", stammelte sie und begann hektisch unter dem Tresen haufenweise Karton und Kisten beiseite zu schieben, während ihr Kopf unter dem Tisch hing, stotterte sie weiter. "M...man hat mir b...ereits berichtet, d...ass Sie unterw...wegs sind. Kleinen Moment, b...bitte!"
      Verwirrt zog Florence die Augen in die Höhe.
      "Ah! Da h...aben wir es scho...schon", erklang es gedämpft unter dem Tisch, gefolgt von einem "AU!" und einer Erschütterung der Tischplatte.
      Der armen Frau standen die Tränen in den Augenwinkeln, als sie ein riesiges...Paket? unter dem Tisch hervor zog. Es war mit einem Tuch verhüllt uns sah für eine Kiste oder ein Paket viel zu rundlich aus eher wie eine Art von Kuppel.
      "Darf ich?", fragte Florence skeptisch.
      "N...natürlich!"
      Mit nötiger Vorsicht zog die Navigatorin das weiße Tuch langsam herunter und stieß einen überraschten Laut aus. Das Tuch flatterte belanglos zu Boden, während Florence nach dem goldenen, gigantischen Vogelkäfig griff. Darin hockte, vollkommen zusammengekauert, Archimedes. Bis auf ein paar angesengte Schwungfedern schien die Metalleule allerdings unversehrt. Nur, bewegte sich Archimedes nicht.
      "ARCHIE!", rief Florence, während ihre Augen verräterisch brannten. "Warum reagiert er nicht!?"
      Die Frage musste so erbost geklungen haben, dass die arme Rezeptionistin zusammenzuckte.
      "E...r sagte, sie müssen ihm nur e...inen krä...ftigen Energiestoß verpassen", stotterte sie. "Er ist ausgeschaltet."
      "Archie kann nicht ausgeschaltet werden, der Energiekern...", murmelte sie und öffnete die Käfigtür und machte sich am Brustgefieder zu schaffen, ein kleines Türchen klappte auf und gab den Blick auf einen erloschenen Kern frei. "Was haben die mir dir gemacht, mein Freund?"
      Vielleicht konnte Orcas bei dem Problem helfen.
      Sie reichte David den schweren Käfig und gemeinsam verließen sie die Rote Universität.

      Die Beschilderung war, gelinde gesagt, sehr verwirrend.
      Es dauerte eine Weile bis Florence begriff, in welche Richtung sie gehen musste. Sie folgten der Straße rechts der Universität und entdeckten schon nach ein paar Gehminuten das rote Backsteingebäude der Heiler. Verwinkelte Treppen führten von der Hauptstraße hinauf zur Eingangstür. Die Dächer schmückten hübsche, blaue Dachziegel und aus den Schornsteinen drang nicht der erstickende Gestank von beißendem Rauch sondern ein angenehmer Duft nach Kräustern. Das Gebäude besaß seinen ganze eigenen Charme und fühlte sich gleich behaglich an, irgendwie einladend. Es erinnerte Florence an die historischen Stadtvillen in Wesyn.
      Mit David zusammen bestieg sie die Treppenstufen und ganz oben angekommen, entdeckte Florence eine Katze. An sich war eine Katze in einer Stadt nichts besonderes, aber dieses orange getiegerte Exemplar trug eine filigrane Messingbrille. Und sie saß auf einem plüschigen Kissen. Auf einem Stuhl. Vor einem Schachbrett.
      Florence warf dem Blechmann einen fragenden Blick zu und näherte sich schließlich der Katze.
      "Ähm...Verzeihung?", fragte sie.
      Versuchte sie gerade wirklich mit einer Katze zu sprechen?
      Allerdings wirkte dieser Stubentiger auch nicht wie ein gewöhnliches Haustier.
      "Wir sind auf der Suche nach Freunden von uns...Wo müssen wir uns melden?", fuhr sie fort und kam sich mit jeder Silbe ein wenig dümmer vor.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Den Weg hin zum Haus der Heilung verbrachte auch David lediglich damit, immer wieder auf Archie hinab zu blicken und ihn hin und wieder stuppsend zu berühren.
      Die kleine mechanische Eule bewegte sich nicht einen Zentimeter und erschien in einer Art Totenstarre, bedachte man den erloschenen Funken in seiner Brust. Während sie den Weg hinter sich brachten und einige Studiosi in merkwürdig schwarzen Roben mit roten Bändern hinter sich ließen, dachte David über die Vergänglichkeit mechanischen Lebens nach. Und musste feststellen, dass es nicht vergänglich war.
      Denn Maschinen lebten ewig. So nämlich!
      Siegessicher schnaubte er pfeifend und nickte zu sich selbst und beschloss, Florence mit ihrer Sorge allein zu lassne. Er war nicht gut darin, Menschen zu trösten. Warum auch? Eine Maschine brauchte keinen Trost. Ohne es zu empfinden, konnte man es ja auch nicht spenden oder?
      In all diesen Gedanken versunken, marschierte er neben Florence die Treppe hinauf, nur um vor einer Katze stehen zu bleiben, die bebrillt auf einem Stuhl sitzend auf ein Schachbrett sah. Was für ein verwirrender Gedanke! Neugierig legte er den Kopf schief und sah zu Florence, die mit der Katze zu sprechen begann und hinterfragte doch das erste Mal IHRE Schaltkreise.
      Die Katze selbst jedoch hob den Kopf und schob mit ihrer Pfote die Brille hinauf.
      "Die Namen Ihrer Freunde zu kennen, wäre wohl hilfreich", sagte sie mit einem hochgestochenen Akzent und blickte auf das Brett hinab.
      Es erschien eine knifflige Partie zu sein, denn für ganze dreißíg Sekunden lang hob sie immer wieder die Pfote, wenn David zum Sprechen ansetzen wollte.
      "Unsere Freunde sind Nightingale und Trigg", sagte er schließlich über die Katze hinweg, die unwirsch wütend vor sich her fuchtelte.
      "Gute Güte. Sie stören meine Konzentration. Gehen Sie hinein und suchen Sie den Dekan, lieber Teufel nochmal!"
      Wütend winkte die Katze sie durch die Tür hinter ihm.
      Dahinterliegend fand sich zunächst - wer hätte es gedacht - ein langer und hoher Flur, der sich fast unendlich zu erstrecken schien. Als David forschen Schrittes durch den Flur stapfte, schreckten einige Krankenschwestern vor ihm zurück oder warfen Tabletts um. Schreie gellten durch den kleinen Raum und Türen wurden geöffnet und im gleichen Moment geschlossen. Erst nach einer weiteren Abzweigung erreichten sie eine Art Krankensaal, der sich vor ihnen ausbreitete.
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      Gemütlich eingerichtet, standen dort diverse Betten an einer gesammelten Fensterfront. Die Betten an sich machten einen sauberen, ordentlichen Eindruck, jedoch war es die schiere Masse an Patienten, die den Raum beinahe aus allen Nähten platzen ließ. Gefühlt 100 Menschen und andere Wesenheiten standen an oder lagen in den Betten, klagten ihr Leid und sorgten dafür, das eine ohrenbetäubende Lautstärke im Raum herrschte.
      Davids Blick huschte durch den Raum und machte so manche merkwürdige Gestalt aus, die sich hier aufhielt. Da war ein Mann, der einer Art Nilpferd zu ähneln schien, bedachte man seinen gewaltigen Bauch, aber viel eher ging es ihm darum, seine Freunde zu finden.
      Und erst nach drei weiteren Schritten wurden sie von einem Ruf und einem Winken aufgeschreckt, das von der direkten Linken kam. Ben Westminster hatte sich einen falschen Schnurrbart angeklebt und einen besonders hässlichen Melonenhut aufgesetzt, während er an der Kante eines Bettes saß. Gerade drehte sich eine Krankenschwester von diesem Weg und machte den Blick auf Silas Trigg frei, der mit einem Verband um das Gesicht aufrecht im Bett saß und ihr hinterher zwinkerte.
      "Hey!"; rief Ben und winkte die beiden Verschollenen zu sich heran. "Na, wie ist es gelaufen?"
      Das Grinsen in seinem Gesicht sprach Bände und selbst Silas nickte und hielt den Daumen nach oben.
      "MNa Awwed Quwar?", fragte er durch den Verband hindurch und selbst dort war das Grinsen sichtbar.

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    • Florence beäugte die Katze mit großen Augen. Sie wusste, das sie starrte, aber sie hatte noch nie eine sprechende Katze gesehen. Die intelligenten Augen waren beinahe unheimlich und die Navigatorin lenkte den Blick auf das Schachbrett. Die Navigatorin verstand nicht genug von Schach, um die Positionen der einzelnen Figuren beurteilen zu können. Sie hatte das Spiel immer für recht langweilig gehalten. Cornelius hatte vergeblich versucht seiner Enkelin die hohe Kunst des Schachspielens beizubringen. Als der Stubentiger tatsächlich zu sprechen begann, mit klaren Worten zu sprechen begann, wurden ihre Augen noch größer. Allein die Angewohnheit, den Sitz der Brille zu korrigieren, war so ungemein menschlich, dass Florence vor Verwunderung kein Wort zustande brachte. Stumm nickend folgte sie David in das Innere des Hauses.
      Die Krankenstation war voll gestopft mit Patienten. Florence konnte keine Ordnung in erkennen. Alles erschien völlig willkürlich. In diesem Durcheinander jemanden zu finden, könnte ein Weilchen dauern. Da hob ein Mann mit komischer Melone auf dem Kopf und einem fragwürdigen Schnurbart enthusiastisch den Arm zum Gruß. Ihre Augen schmälerten sich und am liebsten hätte sich Florence mit der Hand vor die Stirn geschlagen. Die Tarnung war aus der Nähe denkbar laienhaft, eigentlich sogar ziemlich dürftig.
      "Katastrophal", antwortete Florence trocken und sah abgelenkt der Schwester hinterher.
      Schlimm konnte es um Trigg nicht mehr stehen, wenn er bereits dem erstbesten Rock wieder hinterher gaffen konnte. Sie verdrehte die Augen und ließ dennoch die Erleichterung das Gewicht von ihren Schultern heben. Das 'Na, alles klar', vermutete Florence zumindest, entlockte ihr ein Schmunzeln. Das Lächeln auf ihrem Gesicht drückte alles aus, was sie in diesem Augenblick nicht sagte. Sie war einfach unendlich froh, den Dieb bei Bewusstsein zu sehen.
      Ohne Zögern trat sie an das Krankenbett heran und legte eine Hand federleicht auf Silas' Schulter um diese sanft zu drücken.
      "Du hast uns einen ganze schönen Schrecken eingejagt", sagte sie.
      Florence ging sogar soweit und beugte sich leicht über Silas um einen Kuss auf seinen Scheitel zu platzieren, wo ein paar Haarbüschel aus dem Verband hervor lugten. Über die Schulter sah sie zu der Krankenschwester, die sich gerade über einen Patienten mit fiesen Pusteln an Hals und Armen beugte.
      "Wobei...ich glaube, dir geht's schon wieder viel zu gut", kicherte sie und versetzte ihm einen Klaps auf die Schulter, ganz behutsam natürlich.
      "Weißt du wohin Orcas gegangen ist? Ich bräuchte da mal seine Hilfe", fragte sie und deutete mit dem Daumen auf den Käfig den David immer noch mit sich herumschleppte.
      Kurzerhand wandte sie sich an Ben und seufzte schwer.
      "DU kannst froh sein, wenn Nightingale dich nicht kopfüber an den Mast bindet, bis dir der Schädel platzt", meinte sie und drückte ihm die mitgebrachten Dokumente gegen die Brust. "Wir sitzen hier erstmal fest, bis wir das Problem gelöst haben. Da aber keiner von uns Schätze wie ein König besitzt, dürfte das eine Weile dauern. Wie kann man nur so viele Schulden anhäufen!?"
      Sie stutzte und sah sich um.
      "Wo ist Liam? Ist er noch bei den Heilern?"
      Es sei gesagt, dass Florence sich wirklich bemühte, nicht all zu besorgt auszusehen. Mit wenig Erfolg.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ihr wisst es, er ist mit dem Teufel im Bunde
      Doch selbst der rettet ihn nun nicht mehr,
      Er wird heute sterben, noch in dieser Stunde
      Wir setzen uns endlich zur Wehr!


      [ASP - Der Geheimnisvolle Fremde]


      Benedict Westminster sah bedröppelt drein, als Florence ihm recht freundlich die Leviten las.
      Ein paar laue Minuten verblieben ihm noch, ehe er die Stille genoß, die sich zwischen Silas und Florence kurz ausbreitete. Der Dieb sah wirklich nicht gut aus, aber zumindest waren die Gesichtsknochen wieder an der richtigen Stelle im Gesicht. Kichernd nahm er den Kuss auf den Scheitel zur Kenntnis und nickte ihr zu.
      "Ja waub iff", grinste er und reckte erneut den Daumen in die Höhe.
      "Er muss den Verband nur noch ein paar Stunden tragen", berichtete Ben und lächelte schwach. "Ich habe den Dekan gesprochen und er hat die Operation selbst vorgenommen. Dr. Narciss Goldmund ist ein wahrlicher Meister seines Fachs. Gruselig, aber durchaus geschickt mit dem Skalpell."
      Erschrocken sahen sie alle zu Archie, der noch immer in Davids Händen ruhte. Der Roboter legte den Kopf schief und lauschte den Geräuschen um ihn herum, während er gleichsam versuchte, den Käfig still und ruhig zu halten, auf das der arme Leib des mechanischen Wesen sich ausruhen mochte. Auch wenn er keine Ruhe brauchte.
      "Ach du gute Güte", murmelte Ben und sah zu Archie. "Das ist doch der Eisenflattermann. Was ist den mit dem passiert? Und wo kommt er auf einmal her?!"
      Ein Knuff seitens des Diebs richtete die Aufmerksamkeit des Arztes wieder auf Florence und er nickte.
      "Natürlich, natürlich, entschuldigung", grummelte er und seufzte. "Orcas ist bei Dr. Goldmund und Liam. Das Bein war..."
      "Eine Faffastrophe", ergänzte Silas und schüttelte den Kopf.
      "Was er sagt. Der Doc meinte, dass das Bein nicht einfach zusammen gehext werden kann. Er hat beim Kampf wohl einiges an Splitterbrüchen hingenommen und sich zu lange auf den Beinen gehalten. Die Entzündung hat einen Brand verursacht und Liam wird langsam von innen vergiftet. Er brauchte Orcas und seine Kräfte, um zumindest das Gift in Schach zu halten. Also wird es leider noch eine Weile dauern..."
      Reumütig senkte Ben das Haupt und schüttelte den Kopf, ehe er Florence ansah.
      "Hast du nie einen Fehler begangen?", fragte er. "Damals war dieses Institut dem Schulwissen unterworfen, das die oberen Räte dem Land vorgaben. Und was soll ich sagen: mir reichte das nicht aus. Also habe ich meine eigenen Studien angestrebt, bis ich sicher war, dass es genug war. Beim letzten Experiment ging fürchte ich, etwas schief..."
      Etwas war gut.
      "Nun, ich werde irgendwie dafür aufkommen. Es muss irgendwie geli-"
      Ein Husten unterbrach den Redefluss des Schiffsarztes, als dieser sich straffte und auf eine Gestalt hinter Florence sah.
      MAsterofHealing.jpg

      Doktor Narciss Goldmund war ein mittelgroßer Mann mit staubigem Zylinder auf dem Kopf. ZU aller Furchteinflößung trug er eine Art Pestmaske, dessen Schnabel er durch einen Gasfilter ersetzt hatte, der merkwürdige Zischlaute von sich gab, wann immer er einatmete.
      Der Gehstock, den er nebst einem edlen Gewand trug, klopfte rhythmisch auf den Boden und die übrigen Patienten verneigten sich beinahe ehrfürchtig vor jenem Mann, den sie hier die "Rechte Hand der Götter" nannten. Einen Heiler wie es ihn seit einhundert Jahren nicht mehr gegeben hatte.
      "Einen wunderschönen guten Abend wünsche ich Ihnen allen, yohohoho!", donnerte eine vermummte Stimme durch den Raum. "Es ist ein guter Tag zum Sterben, nicht wahr?!"
      "Zum leben", wisperte eine Krankenschwester.
      "Zum Leben! Natürlich! Aber natürlich! Alsdann: Frisch ans Werk, frisch ans Werk! Was haben wir denn hier?"
      Er war an Silas' Bettstatt stehen geblieben und sah in viele fragende Augen, während er sich zu dem Patienten hinwandte und erschrocken zurückzuckte.
      "Ach du liebes Lieschen! Sie werden, wie wir es hier nennen, drauf gehen, mein Guter."
      "Iff lewwe!"
      "Ach du meiner Treu, es spricht?!"
      "Der Patient ist am Leben, Dekan!", grinste Ben und schüttelte den Kopf, ehe er Florence einen Vogel zeigte und anschließend zum Doktor. "Genial...", wisperte er ihr zu.

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    • Peinlich berührt sah Florence zur Seite, als Ben sie auf begangene Fehler ansprach.
      "Zu viele", antwortete sie schlicht. "Das ändert nichts daran, dass wir in großen Schwierigkeiten stecken."
      Die Navigatorin bedachte nun ihren gefiederten wenn auch mechanischen Freund mit einem sorgenvollen Blick. Sie hoffte inständig, dass Orcas dem Kern ein wenig auf die Sprünge helfen konnte. Vielleicht musste sie aber auch gar nicht so lange suchen. Prüfen sah sie David an. Der Blechmann und Archimedes waren sie quasi ein wenig ähnlich, auch wenn es sich bei Archie um eine künstlich erschaffene Persönlichkeit handelte. Eine recht Eigenwillige, zugegeben, aber Florence vermisste die schon die Belehrungen der Eule. So weit war es schon gekommen.
      Es beruhigte sie, dass Silas das Schlimmste überstanden hatte - Im Gegensatz zu Nightingale.
      Florence wurde ein wenig blass um die Nase, während Ben die schlechte Situation erläuterte. Sie hatte die Anzeichen des Fiebers bereits auf der Starfall gesehen und die Mühe, mit der sich Liam auf den Beinen gehalten hatte. Das klang überhaupt nicht gut. Den Gedanken, Orcas um Hilfe zu bitte und damit von seiner Aufgabe den Kapitän am Leben zu erhalten, verwarf sie.
      "David? Würdest du für mich ein Weile auf Archie aufpassen?", fragte sie. "Da fällt mir ein... Hast du vielleicht eine Idee, wie man ihm..."
      Die Türen zum Krankenflügel öffneten sich geräuschvoll und ein Mann im eleganten Gehrock und einem ebenso galanten Gehstock betrat den Raum. Die Ehrfrucht innerhalb der vier Wände war beinahe greifbar. Das musste Doktor Goldmund sein.
      Wenige Sekunden später, fragte sich Florence woher diese Ehrfurcht rührte, denn der Mann mit der seltsamen Maske kam ihr einfach nur verrückt vor. Wie fast jeder, dem sie seit ihrer Ankunft in Gogyja begegnet war. Normalität schien dieser Tage ein Fremdwort zu sein.
      Kopfschüttelnd sah Florence zu ihrem Schiffsarzt herüber.
      Genial war nicht das Wort, das sie benutzen würde, zumindest nicht nach dem ersten Eindruck.
      "Ähm,... Dekan?", fragte sie zurückhaltend. "Verzeihen Sie, aber meine Freunde berichtete mir gerade, dass sie unseren... gemeinsamen Freund untersucht und behandelt haben. Das klang alles sehr beunruhigend. Wäre es möglich, dass wir nach ihm sehen können. Ich... Wir sind alle sehr besorgt."
      Florence bezweifelte, dass sie eine klare Antwort von diesem Mann bekommen würde, wartete dennoch geduldig.
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    • Der Geruch von Weihrauch und anderen Stoffen zur Schmerztilgung erfüllten den Raum und begannen sich wie eine Schlange durch die Atemluft hindurch zu arbeiten. Selbst durch die Maske hindurch begann der Dekan zu husten, als Florence ihre Frage stellte.
      Eine kurze Weile erschien der Dekan überrascht, dass die Frau eine Frage an ihn richtete. Und das nicht aus dem Grunde, dass die Frage dumm oder gar einfallslos erschien.
      Viel eher war es der Schneid, die fehlende Respektsbekundung, die ihm ohnehin keiner angedeihen ließ.
      Hüstelnd sah er zu Florence und nickte.
      "Beunruhigend ist es wohl, yoho", nickte er und wies mit der Hand in den hinteren Bereich des Saales.
      Dort, wo die Betten lichter und die Lautstärke geringer wurde, lagen die schweren Patienten. Die tiefen Wunden oder gar unheilbaren Krankheiten. Während er die junge Frau in seinem Schlepptau hielt und voranschritt, sah er nach links und nach rechts. Auf dem Wege hindurch korrigierte er an einer oder anderen Stelle das Werk der Krankenschwestern, ehe er ihren Weg fortsetzte.
      Schweigsam zunächst, doch schließlich sah er zu der Frau hinüber. Das Lächeln unter der Maske war nicht zu sehen.
      "Ihr sorgt Euch", stellte er fest. "Ich meine, natürlich sorgt Ihr Euch. Sein Bein war ein verdammter Trümmerhaufen, aber ich meine eher, dass es eine andere Sorge ist, nicht wahr?!"
      Schweigsam betraten sie den Bereich der ernsten Erkrankungen. Die GEräusche wurden stiller und die Betten weniger. Ein Fall sah schlimmer aus als der Nächste. Der Erste wurde von einem schwarzen Fieber dahingerafft. Dem Nächsten fehlten Gliedmaßen. Als sei er ein eine Presse gekommen, waren die Stümpfte grob verbunden und gaben beißenden Gestank von sich.
      Erst im Dritten Bett vermochte sie das vertraute Gesicht des Kapitäns zu erblicken, der mit einem geschienten Bein im Bett saß und mit Orcas sprach.
      Erst bei näherem Herannahen blickte der Kapitän auf und hob die Hand als Zeichen, dass er sie erkannt hatte.
      "Das Bein ist stark geschwächt und sein Körper noch nicht den Strapazen eines normalen Tages fähig. Ich bitte Euch daher, Euren Besuch auf das Nötigste zu konzentrieren, yo ho", sagte der Dekan und winkte Orcas zu sich. Es sollten nicht mehr als einer an diesem Bett harren.
      LIam sah auf als Orcas verschwand und blickte Florence an.
      "Siehst nicht gut aus", murmelte er und grinste schief. "Was ist los?"

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    • Florence folgte ein wenig überrumpelt der Aufforderung.
      Sie hatte nicht damit gerechnet, dass der Dekan sie sofort widerstandlos zu einem schwer verletzen Patienten führte. Vor allem wenn sein Zustand sowieso bereits auf der Kippe stand. Andererseits war Florence vermutlich ein wenig zu schnell aufgesprungen, nachdem Goldmund ihr den Weg gewiesen hatte. Folgsam trottete die Navigatorin hinter ihm her. Er führte sie immer tiefer durch den weitläufigen Krankenflügel, der tatsächlich nur aus einem einzigen Raum bestand. Überall huschten fleißige Krankenschwestern und Heiler durch die schmalen Gänge zwischen den Betten. Jeder von ihnen nahm die Anmerkungen und Korrekturen des Dekan mit der eigenartigen Maske voller Ehrfurcht entgegen. Florence betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Die Mimik eines Menschen nicht zu sehen, stellte die Navigatorin immer auf eine harte Probe. Sie sah ihrem Gegenüber lieber in die Augen.
      Ertappt ruckte ihr Kopf in seiner Richtung.
      Verlegenheit kroch Florence heiß ins Gesicht und spiegelte sich im Glanz der rehbraunen Augen wieder. Vermutlich war sie doch einfacher zu lesen, als sie gedacht hatte. Eigentlich hätte ihr das schon bei den Kommentaren der restlichen Crew klar werden müssen. Es war schon fast peinlich wie Nightingale und sie um einander herum tänzelten. Florence fuhr sich durch das Gesicht. Es war ein banaler Moment wie dieser, im Gespräch mit einem Fremden, dessen Gesicht sie nicht sehen konnte, in dem die junge Frau begriff, dass Hurley und die anderen ganz eventuell nicht nur Blödsinn von sich gaben. Da war etwas. Die Frage war nur, ob es am Ende mehr Schmerz als Glück brachte. Sie beide waren zu unstet, zu wankelmütig und dickköpfig.
      Florence seufzte.
      Der beißende Geruch in der Luft machte das Atmen schwer- Das Leid anderer Menschen zu sehen, machte das Herz schwer.
      Aber sie war keine Heilerin und die Patienten hier waren den wohl besten Händen. Das mussten sie sein, denn auch Liam auf diese Hände angewiesen.
      "Bin ich so leicht zu durchschauen?", fragte Florence und bekam keine Antwort mehr.
      Noch eben schweifte ihr Blick suchend durch den Raum, da hob sich eine Hand in die Luft. Liam Nightingale saß, er saß, auf einem Bett und unterhielt sich mit dem Zauberer Orcas. Er sah blass aus, aber war uneingeschränkt bei Bewusstsein. Florence atmete erleichtert aus.
      Einmal interessierte es sie nicht, was andere dachte.
      Trotz Nightingales Frage und den wirklich schlechten Nachrichten, spürte sie ein Gefühl der Wärme in ihrer Brust. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit sich darüber zu wundern, warum Orcas ebenfalls das Krankenbett verließ. Der Dekan verschwand zusammen mit dem Zauberer im Irrgarten aus Krankenbetten.
      Ein breites und frohes Lächeln erschien auf ihren Lippen und reichte von einem Ohr bis zum anderen.
      "Besser als du", antwortete sie neckend.
      Jeder andere hätte sich vermutlich auf die Bettkante gesetzt, aber Florence zog einen freien Stuhl heran. Es war nicht der richtige Zeitpunkt um erneut die Grenzen auszutesten, obwohl Liam recht handzahm da saß und sogar ein Lächeln für sie übrig hatte.
      "Gogyja ist merkwürdiger, als ich erwartet habe", gestand sie und umschiffte das dringliche Thema noch ein wenig. "Hier passiert in einer Stunde mehr, als in einem Jahr in Wesyn."
      Sie beschloss den Fremden mit dem weißen Haarschopf fürs Erste fürs ich zu behalten.
      "Und ganz ehrlich...Bens Schwester ist offiziell noch merkwürdiger als ihr Bruder. Wir sind ihr in der Universität begegnet. Keine Sorge, wir haben uns nicht verraten. Aber sie hat David angebaggert. Das war verrückt."
      Dann wurde ihre Miene ernst.
      "Wir waren bei der Steuerbehörde und es ist leider noch viel schlimmer, als angenommen. Die Summe ist utopisch hoch. Ich habe mir ein paar Dokumente aushändigen lassen, aber es wird eine Weile dauern, die alle durchzusehen. Uns fällt schon was ein, wenn du wieder auf den Beinen bist."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
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    • Liam Nightingale hatte bereits bessere Tage hinter sich gehabt.
      Die noble Blässe stand ihm zwar unwiderstehlich gut, wie er selbst fand und an den schüchternen Lächeln der Krankenschwestern erblicken konnte, jedoch fühlte er sich beschissen. Die Schmerzen trieben ihn in den Wahnsinn und aus dem aufgeplatzten und grünlich-violetten Bein war ein Bein in Gips und Schiene geworden.
      Sicherlich, Heilung brauchte Zeit und selbst Magie hatte ihre Grenzen in dieser Welt, aber musste es wirklich derart ausarten? Schweigsam hatte er sich nach der ersten Heilung in sein Schicksal ergeben und sich mit famosen Betäubungsmitteln ruhig stellen lassen. Der kurze Schlaf, den die OP mit sich brachte und das heitere Aufwachen unter den Nachwirkungen der Narkotika wirkte beinahe gespenstig gut.
      Selbst Florences Gesicht, das mit Dr Goldmund am Rande seines Sichtfeldes auftauchte, wirkte nicht ganz so unangenehm wie sonst.
      "Und das ist der Grund, Million", sagte er mit bitterernster Stimme zu Orcas, der nur die Schultern zuckte und den Kopf schüttelte. "Das ist der Grund, warum du Vizekapitän werden musst, wenn Luce es nicht mehr kann, ok?"
      "Ich bin nicht Mil-"
      Orcas beließ es dabei und erhob sich. Sorgsam bedacht, den Kapitän nicht zu beunruhigend sschoss er an Florence vorbei und raunte ein "Viel Glück!", ehe er sich Goldmund anschloss und in den Gängen verschwand.
      "Heeeeeeey!", grinste Liam breit und ließ beinahe alle seine Zähne sehen, ehe er sich wieder in die Kissen kuschelte und nickte. "Ich fühle mich fantastisch! Und duuuu?"
      Spielerisch drehte er seinen Zeigefinger für ihrem Gesicht und tippte ihr anschließend zärtlich auf die Nasenspitze, ehe er sich zu einem Kichern in die Kissen drückte.
      "Gogiya ist toll, oder?! So viel Wissen, so viele gute Menschen...Oh, warst du schon in der großen Bibliothek?! Da musst du hingehen! Es ist wunderschön dort. Und die Werft! Die Werft im Osten ist der Wahnsinn! Sie bauen dort Kriegsschiffe, hihihi..."
      Als sie auf Ben zu sprechen kamen überlegte Liam eine Weile, bis ihm offensichtlich ein Gesicht zu dem Namen wieder einfiel.
      "Ah, ja. Ben! natürlich, Benedict. Hab ihn damals von der Straße aufgelesen, wusstest du das, hihihi", kicherte er und zog sich kurz die Decke über den Kopf. Anschließend sah er beinahe leer an die Decke. "Ob es wohl einen Himmel gibt? Ich meine, offensichtlich gibt es einen, wir segeln ja darin, aber...Ich meine so einen Himmel-Himmel?! Und David angebaggert?! Wirklich?!"
      Ein Lachen, jungenhaft und beinahe unendlich fröhlich hallte durch den Raum und sorgte selbst bei den Krankenschwestern für ein Aufhorchen. Ja, seltsamerweise wurden einige von ihnen rot und drehten sich von dannen, ehe der Kapitän sich beruhigte.
      "Ach Dokumente, Dokumente...Hat dir eigentlich schon mal Jemand gesagt, dass du wunderschön bist?!"; murmelte Liam und sah Florence beinahe schielend an. "Du hast so....Augen...."
      Sein Zeigefinger schwebte vor ihrem Gesicht und berührte zart die Unterlippe der Frau, ehe er sie beinahe spielerisch herabzog.
      "Und so schöne Lippen...Mann...Was hat dich nur auf mein Schiff verschlagen..."

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    • Orcas' 'Viel Glück' hatte Florence verwirrt.
      Wobei sollte sie Glück brauchen außer die schlechten Neuigkeiten zu milde wie möglich zu überbringen. Nightingale sollte sich ausruhen, aber sicherlich würde er es seiner Crew übel nehmen, sollten sie ihn ausklammern und in Watte packen. Sie war mit ihrer Ansprache eigentlich ganz zufrieden. Der Ton ihrer Stimme war ruhig gewesen und sie hatte bis auf die kleine Neckerei zu beginn, keinen Versuch unternommen ihn zu necken. Normalerweise reichte eine Kleinigkeit schon aus um Nightingale auf die Palme zu bringen. Hatte Liam zu Beginn und mit seiner gemurmelten Begrüßung von den Medikamenten eher müde gewirkt, verstand Florence haargenau was Orcas gemeint hatte, als der Piratenkapitän ein zweites Mal den Mund aufmachte.
      Nightingale, stolzer Besitzer einer grimmigsten Todesblinke, die Florence jemals gesehen hatte, war durch die Narkotika komplett von der Rolle. Die Navigatorin bekam ganz große Augen und für einen Augenblick war die resolute Frau vollkommen überrumpelt.
      Das Lachen machte Nightingale um viele Jahre jünger und die tiefen Sorgenfalten auf seiner Stirn wurden von den herrlichen Lachfältchen um Augen und Mund überstrahlt. Es stand ihm ausgezeichnet, aber Florence konnte den Anblick nicht richtig genießen, denn Liam war nicht er selbst und die Leichtigkeit nur ein Ergebnis der Medikamente. Die Krankenschwestern schien der Umstand jedenfalls nichts zu stören, wie bei Silas reckten sie die Hälse nach der wundervollen, volltönigen Stimme, die durch den gesamten Saal schallte.
      "Liam...", murmelte Florence.
      Die spielerische Berührung, dieser winzige Stupser an ihrer Nasenspitze, trieb ihr eine unerwartete Hitze in die Wangen. DAS war wirklich noch nie vorgekommen. Er vermied es eigentlich 24 Stunden am Tag überhaupt näher zu kommen als wirklich notwendig. Dennoch mischte sich unter die Mischung aus Unwohlsein und Verlegenheit, ein Lächeln. Sie wusste einfach nicht, wie sie darauf reagieren sollte.
      Verunsicherung und ehrliche Freude mischten sich in dieses einzige Wort, der Vorname, den sie selten benutzte aber für seinen Geschmack meistens doch einmal zu viel.
      Das alles war aber noch nicht der Höhepunkt dieser äußerst merkwürdigen Begegnung. Nightingale tat etwas, dass allem abschließend noch die Krone aufsetzte.
      Sein Zeigefinger sank von ihrer Nase herunter, bis er zart ihre Unterlippe berührte. Florence zuckte wie vom Blitz getroffen zurück.
      Der Kuss war eine Sache gewesen, aber diese zärtliche beinahe unschuldige Berührung, löste mehr Gefühlschaos aus als ein vorgespielter Kuss. Das er sie außerdem mehrfach als schöne bezeichnete, half nicht.
      Die Medikamente. Florence betete sich das immer wieder gedanklich vor.
      Langsam zog sie die Hand von ihrem Gesicht fort, ließ seine Hand aber nicht los. Ganz sachte fanden seine Finger den Weg zwischen ihre Hände, mit denen sie seine umschloss. Sanft drückte sie seine Finger.
      "Vorsicht, Käpt'n. Sonst gewöhne ich mich noch daran, dass du nett bist und Komplimente verteilst", murmelte sie und umfasste sanft sein Handgelenk. "Nicht so viel bewegen, ärztliche Anweisung."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Liams Lächeln wurde breiter, ehe er sich langsam wieder in die Kissen drückte.
      Die Krankenschwestern verrenkten ihre Hälse noch ein wenig, ehe sie sich wieder ihrem Tagwerk zuwandten. Der Kapitän selbst sah einen Moment zu seiner Hand, die in ihren verschwand. Mochte es an den Drogen liegen oder nicht, es fühlte sich nicht schlecht an. Zumindest hatte er diese Art der Nähe lange nicht mehr gefühlt.
      Kurz kicherte er und winkte dann ab.
      "Ja, ja, schon gut", murmelte er. "Dann eben keine Komplimente. Außerdem bin ich immer nett. Ich bin immer nett. AUch wenn du mehr rot als alles andere bist. Tihihihi."
      Nickend sah er zur Decke und spürte nur, dass ihre Hände immer weiter seinen Arm hinauf krochen. Auch wenn es nur das Handgelenk war, erschien es ihm selbst surreal, dass er es zuließ. Vielleicht sogar zulassen wollte. Nein, das konnte nicht sein! Waurm sollte er? Das war doch die nervige... schöne...nein, nervig!
      Kopfschüttelnd verschaffte er sich Klarheit und sah beinahe schielend zu Florence.
      "Also, Florence, ence ence ence", echote er sich selbst und lachte erneut los. "Dein Name klingt wie ein schlechtes Echo, wusstest du das? HEY FLORENCE-ENCE-ENCE!"
      Das wiehernde Lachen hallte nochmals durch den Raum, ehe eine Oberschwester den Finger an die Lippen legte und mahnend zu Liam herüber sah.
      "PSST!", machte sie und sah ihn böse an.
      Liam tat das, was jeder Erwachsene getan hätte. Er streckte ihr die Zunge heraus und rief ihr nach: "Selbst Pst! Unmöglich!"
      Seufzend sah er zu Florence und entwand seine Hand schlussendlich ihrer, um sich die Hände zu reiben.
      "Also...Was ist passiert? Du siehst aus wie Sieben Tage gutes Wetter. Warte...Da ist was falsch an dem Satz."

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    • Florence entging nicht, dass Nightingale die verschlungenen Hände nachdenklich beäugte. Den Verstand von Medikamten vernebelt, arbeitete sein Verstand trotzdem an der Frage, was er von der Berührung halten sollte. Die Navigatorin sah es in dem glasigen Nebelschleier, der die für gewöhnlich ausdrucksstarken Augen trübte. Ein Blick konnte bei Liam ausdrücken, was Worte nicht vermochten. Obwohl es zur Abwechslung einmal angenehm war, nicht um jeden Standpunkt feilschen zu müssen, stimmte an der Situation für Florence etwas nicht. Sie würde das Gefühl nicht los, die Sitation bis zu einem gewissen Grad auszunutzen. Ein handzahmer Nightingale fühlte sich einfach falsch an.
      Die Wahrheit war, dass Florence, trotz ihrer ständigen Beschwerden, die Zankereien augenblicklich vermisste.
      Natürlich war sie froh, dass er keine Schmerzen litt und er sich langsam auf den Weg der Besserung befand, aber gerade in diesem Augenblick hätte sie den stoischen und grimmigen Piratenkapitän gebraucht, um eine Entscheidung zu treffen. Liam konnte in seinem jetzigen Zustand gar nicht begreifen, wie ernst die Lage wirklich war und dass vor den Türen ein riesiges Problem auf sie alle wartete. Die Starfall einfach aus dem Hafen zu stehlen, hörte sich einfach nur lächerlich in ihren eigenen Gedanken an.
      Sie mussten sich etwas anderes einfallen lassen und das schloss für die nächsten Tage wohl den Kapitän nicht mit ein.
      Florence seufzte schwer und rang sich ein Lächeln ab während ihr die Tragweite der misslichen Lage bewusst wurde.
      Lächelnd schüttelte sie den Kopf und blickte entschuldigend zu den Krankenschwestern herüber, die böse zu ihnen herüber funkelten.
      "Ich bin nicht rot!", protestierte Florence, vergeblich.
      Das Glühen in ihren Wangen steigerte sich noch einmal und ihre Finger zuckten um seine Hand. Vorsichtig streiften seiner Fingerspitzen über die raue Hand. Sie erfühlte die Schwielen, die Risse in der von salziger Seeluft trockenen Haut, die feinen Erhebungen von Narben kleinerer Verletzungen. Florence ließ ihre Finger seine Hand hinaufwandern, über das Handgelenk, unter dem der kräftige ein wenig zu schnelle Puls schlug, und die Innenseite seines Unterams herauf. Weit kam sie bei der kleinen, verbotenen Erkundung allerdings nicht.
      Liam entzog sie ihr, als erinnerte er sich daran, dass er ihre Berührung unter anderen Umständen niemals zulassen würde.
      Die Frage nach dem Geschehenen verwirrte Florence kurz.
      Es war als hätte er ihre vorherige Schilderung völlig vergessen, aber seine Sprache klang etwas klarer als zuvor. Ober langsam aus dem Sumpf der Narkotika auftauchte?
      Florence ließ die Hände in den Schoß sinken.
      "Sieben Tage Regenwetter, Käpt'n", korrigierte sie ihn. Sie versuchte es einfach nochmal. "Die Steuerbehörde stellt sich quer. Wir bekommen die Starfall nur zurück, wenn wir Bens Schulden irgendwie abzahlen. Oder ich doch etwas in den Dokumenten finde, das uns hilft. Leider wird das wohl eine Weile dauern."
      Sie zögerte.
      "Da ist noch etwas", flüsterte sie nun. "Mich hat ein merkwürdiger Kerl vor der Steuerbehörde angesprochen. Er hat mir einen Umschlag überreicht und mir Archie zurück gegeben. Du hast also bald wieder das Vergnügen mit Archimedes plaudern zu dürfen. Sofern Orcas oder David seinen Kern wieder ans Laufen bekommen. Ich bin erleichtert, dass er soweit unbeschädigt ist, aber ich habe ein schlimme Vermutung was den soganannten 'Meister' angeht, den der Fremde angesprochen hat. Erinnerst du dich, dass wir Archie in Wesyn losgeschickt haben, um die anderen zu warnen?"
      Florence rieb sich seufzend über die Nasenwurzel.
      "Archie muss abgefangen worden sein", stellte sie fest. "Und das bedeutet das die Himmelsritter in Gogyja sind."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • "Dann eben Regenwetter, meinetwegen", zuckte Liam mit den Achseln und schielte an die Decke. "Du siehst auch im Regen toll aus. He, weißt du was? Du hast meinen Hintern gesehen, tehehehehehe. Entschuldige, du redest, ich rede. Du bist dran, ich bin ruhig. Ganz ruhig. Wie eine Maus."
      Ich muss nicht erwähnen, dass er immer wieder dazwischen sprach, während Florence versuchte, eine gute Erklärung abzugeben? Eindeutig nein. Liam Nightingale sah bewusst nicht zu der Frau, während sie sprach. Denn auch wenn der Kapitän regerecht von den Narkotika in das Reich des chaotischen K.O.s befördert wurde, wusste er um die Nähe der jungen Frau, die seinem Freund gehörte. Gehörte sie eigentlich irgendjemandem? Sein Verstand war zu benebelt, um die Tragweite dieser Gedanken zu begreifen, jedoch zwickte ihn der Gedanke an Silas und sie in einem gemeinsamen Bett, in welchem sie seither an Bord schliefen. Die Geräusche des Nachts nicht zu bemerken, die man durchs ganze Schiff hören konnte, wenn man nicht aufpasste. Und Liam hasste es. Jeden Tag mehr.
      "Schulden, Schmulden, sag ich immer", kicherte Liam und schüttelte den Kopf. "Die sind immer so, ja ja. Immer querulantisch. Gibt es das Wort? Egal! Wie viele Schulden haben wir denn?"
      Ben. Ben hatte die Schulden, du Esel! Aber Ben war ein Teil der Mannschaft. Also hatten sie alle die Schulden. Und Liam nickte, in dem Wissen, dass er sie bezahlen wollte. Es gab keinen anderen Weg. Erst dann aber schien er aufzuwachen und Florence anzusehen.
      "Warte, warte, warte, warte!", murmelte und hob die Hand, obschon die Frau ihn nicht unterbrochen hatte. "Was heißt das, wir kriegen die Starfall erst dann zurück?! Wo zum Donnerkeil ist mein Schiff, Florence?!"
      Auch wenn die Momente der Klarheit kurzweilig waren, so kehrte mitunter in derselben Sekunde das Schielen zurück in sein Gesicht, als er einen Gedanken weiter sprang. Unbewusst beugte er sich vor und ergriff wieder Florence Hände und begrub diese schönen, filigranen Hände beinahe unter seinen Pranken.
      "Sag mir, schöne Frau...Heilige Maria, aus der Nähe siehst du umwerf-, Moment, wo war ich? Ach ja! Sag mir bitte, dass mein Schiff in Sicherheit und vor Anker liegt. Warum heißt es eigentlich vor Anker? Müsste doch über Anker sein, oder?!"
      Einen kurzen Moment lang kreisten seine Augen regelrecht und der Kapitän fiel leicht vornüber, nur um kurz gegen Florence selbst zu sinken.
      Es brauchte vielleicht eine kurze Minute, in der er den Duft einsog, den die Frau verströmte und sich vielleicht einen Moment lang an der Stelle von Silas ertappte.
      Bei dem letzten Teil ihres Berichts hob er den Kopf und sah sie das erste Mal beinahe durchgängig klar an, als sie sprach.
      "Was...zum...", murmelte er und ließ sich zurückfallen. Nicht, dass er die Hand von ihren nahm, nein. Er hielt sie dort wie festgebunden. "Ein merkwürdiger Kerl...Du ziehst wirklich merkwürdige Kerle an...Weißt du noch etwas?!"
      Während sich FLorence über die Nase rieb, grinste Liam jedoch offen und beinahe schalkhaft. Erneut wirkte er um Jahre jünger und beinahe naiv gutherzig, als er sprach:
      "Aber hey! Archie ist wieder da! Hab den Blechflattermann vermisst! Und Himmelsritter...Ach, Himmelsritter sind überall. Wir sind die Stärksten! Wir besiegen JEDEN-EN-EN-EN."

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    • Bis auf winzige Augenblicke der Klarheit besserte sich Nightingales betäubter Zustand leider nicht.
      Nach einem kurzen, lichten Moment driftete er zurück in zusammenhanglose Sätze und wechselte so oft die Richtung, dass Florence beinahe schwindelig wurde. Hilfesuchend sah sie sich zu Orcas und dem verrückten Doktor um, die in ihre eigenes Gespräch vertieft waren. Die Navigatorin beschloss, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen Sinn machte, Nightingale weitere Details zu erzählen. Sie würde es versuchen, sobald der Mann in dem Krankenbett vor ihr wieder einigermaßen bei Verstand war. Florence wollte sich gerade erheben, als Liam ein weiteres Mal nach ihren Händen griff. Dieses Mal verschwand beide ihrer Hände zwischen seinen rauen Fingern und er machte nicht den Eindruck als wollte er sie bald wieder gehen lassen. Florence blieb sitzen und ergab sich ihrem Schicksal noch ein paar Minuten länger. Zukünftig konnte sie ihn bis zum Sankt-Nimmerlein-Tag mit diesem für ihn peinlichen Moment aufziehen.
      "Dein Schiff, ist im Hafen, wo wir es zurückgelassen haben. Aber es wird bewacht. Käpt'n...du solltest wirklich liegen bleiben. Ich glaube nicht, dass es klug ist...", stammelte Florence, gefolgt von einem "Uff!"
      Da war Nightingale wie ein Sack nasser Kartoffeln einfach vornüber gekippt.
      Eine heiße Stirn drückte sich gegen ihr entblösten Schlüsselbein, dass aus dem geöffneten Hemdkragen hevor lugte. Sie spürte den schnellen Atem über ihre Haut streicheln und wie Nightingale gar nicht erst versuchte zu verbergen, dass er an ihr schnupperte. Eine Gänsehaut zog sich im wohl unpassensten Moment ihrer Historie mit Männern über ihre Haut bis zum Hals hinauf.
      Verdammt, Nightingale, dachte sie.
      Der Klammergriff um ihre Hände blieb bestehen und Florence hatte keine Chance, den zusammengesunken Piraten irgendwie zu stabilisieren. Sie konnte nur hoffen, dass er nicht einfach zur Seite fiel. Nightingale hob den Kopf und war eindeutig zu nah.
      Dezent lehnte sich Florence ein wenig im Stuhl zurück, um etwas Sicherheitsabstand zu gewinnen, aber Liam schien einfach ihrer Bewegung zu folgen. Dann fiel er einfach zurück ins Krankbett, als hätte ihn eine unsichtbare Schnur zurück gezogen. Die Navigatorin atmete auf.
      "Das ich merkwürdige Kerle anziehe, ist jetzt wirklich nichts Neues. Der weißhaarige Kerl hat mir einen elektrischen Schlag verpasst, als ihn aufhalten wollte, um Antworten zu bekommen. Ich habe mir nicht dabei gedacht, aber David wirkte nach der Begegenung für seine Verhältnisse relativ besorgt.", antwortete sie. "Ich erinnere dich an diese Begeisterung, sobald Archie wieder seinen Plappermaul aufbekommt."
      Vorsichtig entwandt sie ihm einer ihrer Hände und winkte Orcas zu sich herüber.
      Wenn der Zauberer dafür sorgte, dass sich die Blutvergiftung nicht weiter ausbreitete, hatte sie ihn lange genug von seiner Arbeit abgehalten. Sie würde nicht verantworten, dass Nightingale am Ziel der Reise doch noch irgendwelchen Komplikationen erlag. Bens Erläuterung war erschreckend genug gewesen.
      Nightingale konnte er gerade nicht helfen. Silas auch nicht.
      Kapitän und Vizekapitätn gleichzeitig außer Gefecht gesetzt, war denkbar ungünstig. Niemand der Befehle erteilte oder die wichtigen Entscheidungen traf. Wie hatte diese Crew nur solange am Himmel überlebt. Es war Florence schleierhaft.
      Sie drückte sanft Liams Finger.
      "Ich überlasse dich jetzt wieder Orcas fähigen Händen, okay?", sagte sie.
      “We all change, when you think about it.
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    • Auch wenn der Kopf des Kapitäns nicht näherer Unklarheit ergeben erschien, so war es doch sein Unterbewusstsein, was den plötzlichen Wunsch nach Distanz bei der jungen Frau wahrnahm.
      Nach einer kurzen weiteren Zeit entließ er ihre Hände und nickte ergeben. Sachte ließ er sich zurück in die Kissen gleiten und seufzte leicht, als ihn die Erschöpfung wieder überkam. Unbeweglich sein war scheiße. Da gab es nichts zu beschönigen oder zu verschlechtern. Wie gerne wäre er aufgesprungen und hätte sich des Schicksals seines Schiffes angenommen. Wie gerne hätte er diesem Ben die Ohren auf Halbmast gezogen! Oh, wenn er diesen Teufel in die Finger bekam...
      "Wenn der weißhaarige Kerl dich nochmal anspricht, sag mir Bescheid! Es ist merkwürdig, wenn Menschen andere Menschen einfach so ansprechen und Geschenke überreichen!"
      Denn Liam glaubte nicht an Nettigkeiten. Dafür war die Welt, in der sie lebten, zu verrottet und schlecht.
      "Und die Begeisterung kannst du vergessen", murmelte er und sah zur Decke.
      Ja, geh nur, dachte er grimmig selbst unter den Schmerzmitteln. Geh wie alle anderen, denen man einmal etwas mehr als den Kapitän zeigt. Oh, ein schönes Fenster!
      "Nein, warte!", rief er Florence hinterher. "Ich brauche Hurley. Sag bitte Ben, er soll Hurley mit Clara aufspüren und zu mir bringen. Ich habe da ein Anliegen..."

      Orcas gehorchte dem holprigen Lockruf der jungen Navigatorin.
      Aufgrund des letzten Rufes blieb er jedoch stehen und sah sie an, als sie langsam näher kam.
      "Ich kann David losschicken", sagte er und lächelte unter der Maske, was er mit einem kleinen "hyo-hyo-hyo" kommentierte, damit sein Gegenüber wusste, was sie denken sollte. "Es sieht nicht gut aus mit seinen Schmerzen. Der Doc sagt, er wird noch eine Weile etwas davon haben. Sie werden ihn nachher nochmals zu heilen versuchen, aber die Trümmer seines Beines sind schlimmer verstreut als gedacht. Es ist ein Wunder, dass er so lange stehen konnte."
      Orcas stützte sich auf seinen Stock und sah sich um.
      "Hör zu...", begann er. "Ich kam nicht umhin mitzuhören, was du über diesen merkwürdigen Menschen gesagt hast. David tut Recht daran, besorgt zu sein. Es ist nicht normal, elektrische Stöße zu verteilen, zumal es nur ein bis zwei Maschinen gibt, die es überhaupt erzeugen können. Hat dieser Mensch noch etwas gesagt?"

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    • Die Veränderung in Nightingales Stimmung kam plötzlich.
      Dieses Mal driftete er nicht in ein absurdes Hoch, sondern kehrte zu der altvertrauten Grimmigkeit zurück. Der Blick verdunkelte sich zunehmend, bis er wieder ein wenig Ähnlichkeit mit dem stoischen Kapitän hatte, der seine Emotionen verschloss und von der Welt nur das Schlechteste erwartete. Florence hatte den Moment versäumt unter die verhärtete Schale zu blicken, aber es war ihr verwerflich vorgekommen, sein von Medikamentenrausch beeinträchtigtes Gemüt auf diese schamlose Art und Weise auszunutzen. Neugierig war die Navigatorin keine Frage, doch wo blieb die Aufrichtigkeit dabei. Nein, so würde sie der Anspannung, welcher Art auch immer zwischen ihnen herrschte, kein Leben einhauchen. Die unverhoffte Offenheit hatte Florence dennoch gezeigt, ohne Raum für Zweifel zu lassen, dass es dort etwas gab, dass keiner von ihnen auszusprechen wagte. Ein gebranntes Kind scheute das Feuer. Nightingale und Cartwright bildeten da keine Ausnahme.
      Allzu weit kam Florence nicht, als Liam noch einmal die Stimme erhob. Über die Schulter warf sie ihm einen verstehenden Blick zu und nickte zur Bestätigung.
      "Wir finden Hurley", antwortete sie und schenkte ihm zum Abschied ein sanftes Lächeln, das bisher ausschließlich Silas zu Gesicht bekommen hatte. Ein vorwitziges Lächeln, das ein warmes Leuchten und schelmisches Funkeln in ihre Augen zauberte. "Ruh dich aus...und keine Dummheiten. Wenn ich zurückkomme und dich nicht brav in deinem Bett vorfinde, hol ich die Seile aus Silas Kabine. Verstanden?"
      Außer Hörweite von Nightingale wandte sich Florence dem kauzigen Zauberer zu.
      Orcas hatte nicht Unrecht. Elektrizität stellte ein seltenes Gut da. Eine Energiequelle, die kaum jemand richtig zu nutzen oder gar zu erzeugen wusste. Das Phänomen war dem launischen Wetter vorbehalten. Sie wusste, dass sich eine Person unter den richtigen Bedingungen aufladen konnte. Bei einer Berührung entlud sich die statische Aufladung in einem kleinen Schlag, aber was sie bei dem Fremden gefühlt hatte, war weitaus stärker gewesen.
      "Ich sehe später noch einmal nach Nightingale und dir. Hab ein Auge darauf, dass er keinen Unfug anstellt. Der Starfall läuft ihm nicht weg und wir haben gerade größere Probleme", murmelte Florence, nicht wissend, wer ihnen möglicherweise zuhörte. "Dieser merkwürdige Kerl vor der Steuerbehörde hat nichts gesagt, was uns irgendwie weiter hilft. Archie sei ein wohlwollendes Geschenk seines Meisters. Vermutlich versucht jemand sich mein Vertrauen zu gewinnen. Ich bleibe vorsichtig."
      Von dem Brief in ihrer Rocktasche erzählte Florence auch jetzt nichts.
      Wie gesagt, es gab größere Probleme zu lösen als sich um einen ominösen Brief zu sorgen.

      [Einige Zeit später im Foyer]

      Florence hatte eine Krankenschwester darum gebeten, ihnen ein ruhiges Plätzchen zu überlassen. Außerhalb des großen Krankensaales brütete die Navigatorin über den Dokumenten der Steuerbehörde und einem ausführlich ausgefüllten Beschwerde-Formular. Die energische Handschrift zierte sogar die Rückseite. Der Frust hatte sich hier definitiv Bahn geschlagen, nachdem sie zum gefühlt hundertsten Mal auf dasselbe Ergebnis, wie er Herr Kaltwasser gekommen war. Egal wie sie die Zahlen verschob, neu anordnete, vor und zurück rechnete, unterm Strich blieb es ein Problem von gigantischen 120.000 Taler und der Frage, wer zum Teufel diese Schuld begleichen sollte.
      Frustriert raufte sich Florence die wilde Lockenmähne ehe sie das Gesicht in die Hände fallen ließ. Ihr gegenüber saß Ben, der wenigstens den Anstand hatte, etwas bedröppelt aus der Wäsche zu gucken. Sie hätte ihm am liebsten mit einem Ruck diesen hässlichen Schnurbart aus dem Gesicht gezogen. Silas schlief und erholte sich. Liam war bei Orcas fürs Erste in guten Händen. Irgendwo in der Stadt des Wissens trottete ein Roboter durch die Straßen und suchte nach dem restlichen Teil der Mannschaft. Hurley, Clara und Chimp blieben erst einmal verschwunden um die geforderten Besorgungen zu erledigen und ihrerseits Informationen einzuholen. Ein Schlupfloch gab es eigentlich immer, auch wenn es im Fall der Starfall meistens wenig elegant war.
      "Das macht doch alles keinen Sinn!", schnaubte Florence ungehalten. "Die Dokumente sind absolut wasserdicht."
      Mit der flachen Hand schlug Florence auf die Tischplatte und erntete von der vorbeihuschenden Krankenschwester einen mahnend erhobenen Zeigefinger. Durch das angelehnte Fenster, um etwas Frischluft zu bekommen, hörte sie sogar ein protestierendes Fauchen. Die Katze fühlte sich durch Florence' Ausbruch offenbar in ihrem konzentrierten Spiel gestört.
      "Dämliches Katzenvieh...", murmelte sie in ihre Hände.
      Die Katze konnte nichts dafür, aber Florence war mit ihrem Latein am Ende.
      "Sag mal, Ben, deine Schwester...wie lange hast du sie nicht mehr gesehen?", fragte sie und schlug damit einen harten Themenwechsel an. "Warum sollten wir ihr eigentlich nicht verraten, dass du hier bist? Ich meine, ich vermute, dass sie nicht gut auf dich zusprechen ist..."
      Sie hob leicht den Kopf an und stützte das Kinn in die Handfläche, während sie den Schiffsarzt aufmerksam und interessiert ansah.
      "Sie ist ein wenig...eigenwillig."
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    • - Der Junge lief lange und weit. Ohne Atem und Zeitgefühl. In den Händen trug er einen Vogel, der verschied, als er den Kopf an die Luft reckte. Der Junge sah auf Trümmer hinab, die eine ganze Welt bedeuteten. Er hörte die Schreie, lang verstummt in den Wirren des Desasters. Und alles, was war, war nun nicht mehr. Der Junge weinte.-
      [Erinnerungen des Narren, Band 1, Kapitel 5: "Es Lebe Der Hass"]


      Das Foyer

      Ben Winchester war nicht besonders bewandert in Aktenkunde und dem Studium seiner eigenen Schulden.
      Gut, wenn er in dieser Hinsicht bewandert gewesen wäre, wären die Schulden wohl auch nicht in dieser eklatanten Höhe entstanden. Also bestand Bens Zutun in dieser Sache darin, die kleine mechanische Eule zu tragen und inmitten einem Gewirr von kleinen Einzelteilen, die er sorgsam auseinander geschraubt hatte, den Kern des kleinen Kerls freizulegen. Winchester hatte eine kleine Spule gebaut, die zumindest kurzfristig einen kleinen elektrischen Stoß abgeben konnte. Vielleicht nicht stark genug, um ein Gebäude zu versetzen, aber durchaus stark genug, um einen kleinen Geist wieder zu beleben.
      Schweigsam hatten sie gearbeitet, bis Florence zu schnauben und auf den Tisch zu hauen begann. Ben quittierte es mit einem genervten Grunzen und legte eine Brustplatte von Archie auf den Tisch. Der Kern darunter war säuberlich und fein, von geradezu grailer Machart. Bewundernswert, wenn man bedachte, welch Geschick es dafür brauchte. Sorgsam betrachtete Winchester der kleine Eule von innen, während Clarissa neugierig um den Tisch herum stiefelte.
      "Beleidige niemals die Katze!", sagte Ben und grinste. Im Gesicht trug er wie Schmauchspuren und Öl von Archie. Sachte lehnte er sich in den Stuhl zurück und seufzte. "Die Katze ist heilig. Soweit ich weiß, ist ihr Name Hieronymus. Und sie spielt seit fast zwanzig Jahren Schach. Und sie gewinnt im Grunde regelmä0ig gegen Holderbaum."
      Seufzend wollte er sich wieder der Eule zuwenden, ehe er aufsah und Florence merkwürdig ansah.
      "Was meinst du? Also, ja sie ist merkwürdig, wenn du das sagen willst. Sie ist noch neugieriger als ich und vermutlich auch klüger. Wobei das zu beweisen wäre. Sie ist die erste Zauberin unserer Familie seit Generationen und meine vier Brüder sind allesamt begeistert von ihr. Ich habe sie seit meinem Abgang von der Universität nicht gesehen und eigentlich verstehen wir uns sehr gut. Sie wurde nur leider zur Arbeit als Dozenten zwangsverpflichtet wegen meiner Schulden. Ich vermute also, dass sie mir etwas nachtragen könnte..."
      Kichernd schüttetle er den Kopf und sah Florence wieder an.
      "Darf ich dich auch was fragen? Was ist das eigentlich mit dir und Silas?", fragte er und begann wieder an dem Kern herum zu schrauben. Die Spule verband sich schließlich nicht von allein. "Ich meine, ich verurteile das nicht. Nicht, dass eine kleine Liebelei einem das Leben nicht angenehmer macht, aber ich sehe, dass da zwischen euch nicht mehr ist als...naja. Das Bett. Und dann sehe ich, wie du den Capt'n an siehst und wie weit er sich von euch fern hält. Er ist ziemlich sauer auf euch beide, weißt du das eigentlich?"

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    • "Hieronymus?", wiederholte Florence. "Wir sollten sie unbedingt mit Archie zusammenbringen. Achrimedes und Hieronymus...wenn das mal kein Zungenbrecher ist."
      Bei der Erwähnung von Archimedes sank der Blick der Navigatorin zu der Blecheule. Das mechanische Konstrukt wirkte zu ihrem Leidwesen noch immer leblos wie eine Statue. Sie würde sich nie verzeihen, sollte dem letzten Geschenk, dass ihr Großvater ihr machte, etwas geschehen. Außerdem war Archie trotz seines nervigen Geplappers und der blasierten Art ein treuer Freund, den sie nicht missen wollte. Für Florence war die Eule mehr als nur ein technisches Spielzeug angetrieben von Dampf und filigranen Zahnrädern, dessen Herzstück, ein momenten dunkler und erkalteter Kern, gerade leblos in der kleinen Brust lag. Für Florence war Archimedes ein lebendiges Wesen mit eigener Persönlichkeit und liebenswerten Marotten. Zeitweise kam ihr Archimedes menschlicher vor als die meisten Menschen, die Florence tagein tagaus traf.
      Seufzend stützt die Kartografin das Kinn in die geöffnete Handfläche und legte nachdenklich den Kopf schief.
      "Was ich meine, ist, dass deine Schwester tatsächlich David angebaggert hat", grinste Florence, die Trübseligkeit ein wenig vergessen bei dem Gedanken an einen Roboter, der sich unter dreisten Fingern hin und her gewandt hatte wie ein zappelnder Fisch. "Naja, zumindest wollte sie ihn mir für eine Nacht abkaufen. Ich hoffe das sprach der Forschergeist aus ihr..."
      Wobei, bei der Familie Westminster wusste man das nie so genau.
      Sie erinnerte sich daran, wie Ben fasziniert, nein, geradezu gebannt auf ihr Blut gestarrt hatte, während das Rot aus ihren Wunden geronnen war, nachdem Silas sie in Million Towers an Bord gebracht hatte. Florence hatte sich im Stillen schon ein paar Mal gefragt, ob der Mann vor ihr eine ungesunde Obsession mit Blut und Tod besaß. Zumindest schreckte er vor Krankheit, Tod und Verletzungen nicht zurück.
      "Das heißt, auf ihre Hilfe können wir nicht hoffen...?", murmelte sie und schloss kurz die Augen.
      Florence riss sie förmlich wieder auf und starrte Ben mit großen Augen an, als dieser auf Nightingale und Trigg zu sprechen kam. Ihr erster Reflex war ganz klar das Thema augenblicklich abzulehnen. Außer ihnen Dreien wusste niemand, was in Wesyn vorgefallen war und was das Fass zum überlaufen gebracht hatte. Mit einem frustrierten Stöhnen vergrub Florence das Gesicht wieder in den Händen.
      "Nicht du auch noch, Ben...", jammerte sie.
      Aber es machte Sinn. Die Starfall besaß nicht die gewaltige Größe eines ganzen Kontinents.
      Es war unmöglich sich aus dem Weg zu gehen oder zu verhindern, dass andere etwas mitbekamen.
      "Silas und ich haben...Spaß. Es ist unkompliziert. Zumindest war es das, bis Nightingale sich aufgeführt wie ein verschmäter Liebhaber", murmelte sie. "Wobei...ich bin daran vielleicht nicht ganz unschuldig. In Wesyn hat er deutlich gemacht, was er von mir hält, also hab ich ihm quasi unter die Nase gerieben, was er verpasst. Mit Silas. Nicht meine beste Idee, mir dafür seinen besten Freund auszusuchen."
      Florence hob den Kopf und presste die Lippen verbissen zusammen.
      "Eigentlich wollte ich in Wesyn bleiben.", fuhr sie fort. "Es war nicht geplant, dass ich am Ende einer Katastrophe wieder auf der Starfall lande bis Silas mich in das Beiboot gezogen hat. Plötzlich musste ich mit den Konsequenzen leben, aber da war der Schaden mit Nightingale bereits angerichtet."
      Ihr Blick glitt nach draußen, dort, wor das Leben in den Straßen pulsierte.
      "In Wesyn...Chimp wollte, dass wir Liam zurücklassen. Ich konnte das nicht. Da bin ich barfuß und unbewaffnet in einen Kampf mit einem Himmelritter hineingestolpert. Ziemlich dumm, oder? Dabei erträgt Liam den Großteil des Tages weder meine Anwesenheit noch meine Berührung. Dann gibt dieser dickköpfige Holzkopf mir seine Jacke oder sieht mich an, als wollte er jemanden umbringen, nachdem ich ihm von dem Vorfall im Roten Ochsen erzählt habe. Eigentlich, weiß ich bis heute nicht, was Liam von mir will. Er wechselt seine Richtung so oft, das mir schwindelig davon wird. Ich weiß, dass ich sehr...reizend sein kann. Ehrlich gesagt, hatte ich bisher größe Freude daran Liam auf die Palme zu bringen. Ich hielt ihn für arrogant und verantwortungslos, aber ich mag ihn...irgendwie und ich verstehe mittlerweile ein wenig, was ihn antreibt. Ich weiß um Lucy, wir haben uns unterhalten."
      Florence schloss die Augen.
      Sie hatte bereits mehr gesagt, als sie wollte.
      "Ich habe einen Fehler gemacht, Ben.", murmelte sie. "Nicht die Liebelei mit Silas, sondern mein voreiliges Urteil über Liam."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ben sah Florence neugierig an, als diese die Situation mit seiner Schwester erläuterte. David? Angebaggert? Der Arzt zog eine Augenbraue hinauf und löste kurz den Schraubendreher von Archies kleinem Körper. Das mechanische HErz war beinahe freigelegt. Es fehlte lediglich das Feuer, das ihn antrieb. Aber auch dafür würde sich eine Lösung finden, dachte der Schiffsarzt und seufzte.
      "Naja, was soll ich sagen", murmelte er. "Es war eine andere Zeit damals. Ich denke nicht, dass sie uns derartig helfen wird. Auf der anderen Seite wird sie uns keine Steine in den Weg legen. Lilly ist nachtragend, aber keine Verräterin, wenn du mich fragst. Außerdem mag sie ihre Brüder irgendwie auf ihre schräge Weise. So wie eben David."
      Grinsend schnappte er sich das Werkzeug wieder und versuchte, weiter zu schrauben.
      "Sie ist neugierig", lachte er. "Mach dir da keine Sorgen. Sie verbringt ihre Tage damit, Magie zu erforschen und vermutlich hat sie gedacht, dass David eine Art Golem ist, den du erschaffen hast. Womit sie der Wahrheit erstaunlich nahe kommt, mal ganz am Rande gesprochen. Ach verdammt!"
      Eine Feder sprang vorwitzig aus Archies Brust und hüpfte über den Tisch.
      Während Ben diese Feder zu suchen begann, lauschte er Florences Geschichte und musste unter dem Tisch grinsen. Spaß, natürlich. Es ging immer nur um Spaß. Ben mochte kein Könner in der Kunst der Liebe sein oder kein Kundiger was menschliches Zusammensein anging, aber er roch etwas an diesem Fall, was nicht nur nach Öl stank.
      "AHA!"; rief er triumphierend und stieß sich beim Heraufkommen den Kopf.
      Schmerzhaft rieb er sich die Kopfhaut und und stöhnte leise, als er sich wieder setzte.
      "Also mal zusammengefasst...", murmelte er und sah Florence lächelnd an. "Du magst Liam. Und du hasst ihn auf die ein oder andere Weise. Ihr treibt euch gegenseitig in den Wahnsinn, aber er beschützt dich wie ein Wolfsjunges, wenn du auch nur ansatzweise in Gefahr gerätst. Er reagiert pikiert, weil du Silas beinahe jede Nacht, etwa einen Meter Luftlinie unter ihm vögelst. Und das alles nur, weil er unkompliziert ist? Ich behaupte, ihr seid beide Dickköpfe, die ihresgleichen noch suchen..."
      Seufzend schüttelte er den Kopf.
      "Weißt du...Lucy hin, Lucy her. Ja, sie war großartig. Und ihr Verlust tut allen von uns weh. Angefangen bei Liam. Aber wenn du glaubst, dass du hier verglichen wirst oder dergleichen, muss ich dich enttäuschen. Ich sag dir, was bei meinen Eltern immer half, wenn sie sich nur gestritten haben."
      Verschwörerisch beugte er sich hinüber und grinste anzüglich.
      "Ihr solltet einfach miteinander schlafen. Aber richtig, wenn du verstehst! Mit allem Drum und Dran. Du wirst sehen, SPannungen lösen sich! Dank mir später!"
      Grinsend wandte er sich seinem Werk zu, das er blind fortgesetzt hatte und hielt kurz inne.
      "Frage. Hatte Archie schon immer drei Flügel?", murmelte er und blickte auf die Eule, deren Platten schief und krumm zusammen gesetzt waren, sodass sie drei Flügeln ähnelten.

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Florence beäugte Ben neugierig als dieser unter dem Tisch hervor kam.
      Mitfühlend verzog die Navigatorin das Gesicht während er seinen angeschlagenen Kopf abtastete. Ein Blick in Richtung der kleinen Blecheule zeigte Florence, dass Ben zum Großteil ein gutes Verständnis für die filigrane Technik hatte. Archie mochte nicht aus lebendigem Fleisch und Blut bestehen, doch die kühle Metallhülle schien den Schiffsarzt in gleichem Maße zu interessieren. Die Ähnlichkeit zu seiner Zwillingsschwester war angesichts der wissensdurstigen Augen nicht zu übersehen. Ben sprach weiter und zog damit Florence' Aufmerksamkeit zurück zum eigentlichen Thema. Mittlerweile wünschte sich die ehemalige Kartografin in einem Loch im Boden zu verschwinden. Dieses Gespräch ausgerechnet mit Ben zu führen, fühlte sich merkwürdig an. Es bereitete ihr Unbehagen. Für Florence' Geschmack beschäftigten sich zu viele Crewmitglieder mit ihrem Liebesleben. Was auf dem beengten Raum eines Luftschiffes sicherlich kaum vermeidbar war.
      Skeptisch schossen ihre Augenbrauen in die Höhe und als Ben seinen Vorschlag beendete, waren diese beinahe im gelockten Haaransatz verschwunden. Florence öffnete den Mund und klappte ihn sofort wieder zu. Die Frage zu Archimedes war eines willkommene Ablenkung und ersparte ihr für ein paar weitere Augenblicke eine Antwort geben zu müssen.
      Florence erhob sich von ihrem Sitzplatz und umrundete den Tisch. Den Stuhl zog sie dabei geräuschvoll hinter sich her.
      Vollkommen unzeremoniell ließ sich die junge Frau neben Ben wieder auf den Stuhl fallen und zog Archie beherzt zu sich herüber. Gleichzeitig brachte sie auch das Werkzeug in ihren Besitz. Unglücklich schnalzte sie mit der Zunge, aber beließ es dabei. Der Arzt wollte nur helfen. Florence summte nachdenklich während sie die verunglückte Konstruktion ihres Sitznachbarn in Ordnung brachte. Ein wenig Fingerschick für Archie besaß sie wohl doch, immerhin hatte sie die letzten Jahre alleine kleine Reparaturen vornehmen müssen.
      Sie schnaubte.
      "Ich habe keine Angst davor, dass Nightingale mich mit seiner - entschuldige - toten Exfreundin vergleicht", erklärte sie. "Er hat seine eigene Geschichte, genau wie ich. Liam würde mir sicherlich wieder widersprechen, aber ich glaube unsere Geschichten sind sich zu ähnlich. Wir fürchten uns davor einen Fehler zu wiederholen und grenzen uns emotional ab. Die Gefahr denselben Schmerz noch einmal zu durchleben, macht uns Angst. Meine Theorie, Ben."
      Vorsichtig breitete Florence die Einzelteile vor sich aus und begann damit diese in der richtigen Reihenfolge neu zu montieren.
      "Liam trägt Ballast mit sich herum und ich weiß nicht, ob ich das zusätzliche Gewicht zu meinem Ballast auch noch tragen kann."
      Sie verschraubte die silbrig schimmernden Metallplatten neu, überprüfte die Beweglichkeit der Hauptzahnräder und steckte filigrane Brustfedern zurück in die passenden Verschlüsse. Mit einem geschickten Handgriff löste sie die kleinen Häkchen der Brustplatten erneut und schwang diese zu beiden Seiten weg, um Ben wieder freien Zugang zum Kern der Blecheule zu gewähren, nachdem alle Teile wieder in der richtigen Position waren.
      Erwartungsvoll sah sie ihn an, gespannt, was er mit der kleine Spule vorhatte.
      "Versteh mich nicht falsch, Ben. Ich mag Silas wirklich, aber mehr ist dort nicht. Du brauchst nichts sagen, ich weiß, wie das aussieht", murmelte sie. "Es sieht aus als würde ich Silas benutzen, aber wir haben darüber gesprochen."
      Seufzend lehnte sich Florence zurück ehe sie kicherte. Die Stimmung um die Navigatorin herum hellte sich ein wenig auf.
      "Mit ihm schlafen? Nightingale würde lieber die Starfall anzünden ehe er zugibt, dass er Interesse an mir hegt. Und wir alle wissen, wie sehr er dieses Schiff liebt", kicherte sie.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”