The Legend of Starfall [Winterhauch & Nico]

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    • Der Arzt hatte nicht mehr auf ihre Anmerkungen geantwortet, sondern sie reden lassen. Lediglich zum Ende ihrer Tirade hin, hatte er sich - nach seiner eigenen Anmerkung - erhoben und den Raum verlassen. Die Lemure kletterte agil um seine Schulter herum, während er sich kichernd umdrehte und Florence angrinste.
      "Wir sind alle verrückt, Florence", sagte er. "Der Eine mehr, der Andere weniger. Und wenn du wirklich sehen willst, was wir sehen, dann lerne hinzusehen. Und nicht nur nach etwas zu suchen, was du vermeintlich kennst."


      Der Regen fiel wie ein silberner Vorhang auf die schillernde Luftblase.
      Inmitten des schwarzen Meeres, das von Mahlströmen und anderen Gefahren umzäunt war, gab es diesen Ort wie aus einem Märchen, einer Mär von einem ruhigen Ort. Während sie sanft auf dem Wasser dahin glitten, hatte Arnaud die Fahrt verringert und die Geräusche gedämpft, sodass nur der Regen und sein langsames Rauschen den Raum erfüllten. Die gesamte Crew, bis auf Silas und Arnaud, standen an Deck und sahen zu den Seiten der Reling hinaus oder in den Himmel, der über ihnen offenbar wurde. Einige Meter über der Blasenkuppel krümmten sich wieder die stürmischen Wellen der Splittersee und hinterließen von der tosenden Lautstärke nur ein Wispern. Doch das hier...Das war anders. Ein paar Meter unter dem Tosen hörte das Meer auf. Wie von einer unsichtbaren Mauer getragen gab es keine Wellen und kein Wasser hier, als die Starfall auf den Sand aufsetzte und sich mit leisen Getuckere wieder in Bewegung setzte. Schwebend, versteht sich.
      Der Regen war schon surreal, aber dass es unter dem Meer auch einen Raum gab, indem es nicht einmal Wasser gab und man Luft atmen konnte...Es war erstaunlich. Ein Eiland im Meer. Der Sandboden war gekrönt von Algenpflanzen, welche wie im Wasser vor sich hin schlängelten und ihre grünliche Finger nach der Finsternis ausstreckten. Und inmitten all dieser Pflanzenpracht befanden sich die Bernsteinengel. Statuen, wie es schien, über und über mit Moos und Algen bewachsen und von der güldenen Schicht kaum mehr ein Hauch zu sehen, blickten wie stumme Götzen in die Richtung, in welche die Starfall trieb.
      Ein gewaltiges Gebirge schien sich in weiter Ferne aufzutürmen. Dunkel und dräuend ragten die steilen Felsen aus dem Boden hervor. Die Crew der Starfall stand an Deck, ein jeder mit einer der Gaslaternen bewaffnet, die der Frachtraum hergab. Sanft glommen die bläulichen Lichter der Crew unter dem finsteren Himmel hervor und brachten ein wenig des Lichts auf die Dielen des Lebens.
      "Hach...Ich wusste nicht, dass es sie wirklich gibt", murmelte Hurley, in der Nähe der Kapitänstür und sah zu den Statuen hinaus.
      Die anklagenden, singenden, schreienden Gesichter der versteinerten ließen ihnen allen ein mulmiges und doch wunderbares Staunen zurück. Selbst Clara war still, deren Mundwerk sonst sicherlich einen bissigen Kommentar verbreitet hätte. Und auch Chimp blätterte nicht in seinem Buch, sondern starrte hinaus auf die Phönomene.
      Liam Nightingale stand an der Reling, ein gutes Stück fern von Florence, und sah mit leuchtenden Augen in die beiernde Finsternis hinaus, die nur durch die Lichtblitze der Statuen durchbrochen wurde.
      "Es ist eine Luftkammer im Meer", sagte er ruhig und besonnen, ohne seinen Blick von der Schönheit des Meeres zu nehmen. "Eine Umkehrung der Schwerkraft. Das Wasser wird nach oben geschleudert und kehrt als Regen auf den Boden des Meeres zurück, wo es wieder nach oben befördert wird. Legenden sagen, dass dies durch einen Meereskönig zustande kommt. Eine Art Leviathan, ein Ungeheuer titanischen Ausmaßes, das unter dem Boden ruhen soll. Alleine durch seinen Atem schießt das Wasser in die Höhe und kehrt zurück als Regen."
      "Und was sollen die Engel?", fragte Ben und lehnte sich neben Florence über die Reling.
      LIam sah kurz zu ihnen herüber. Kurz nur zu Florence, um sich zu vergewissern, dass sie in Ordnung war und lebte. Beides schien der Fall. Auch wenn man ihr ansah, dass sie nicht begeistert war.
      "Engel werden sie nur in den Splitterreichen genannt", sagte Liam und seufzte. "In Gogiya sind es "Überlebende'. Vor vielen Jahren gab es eine Schlacht, die einen Teil von Gogiya im Meer versenkte. Die überlebenden Zauberer wirkten einen Versteinerungszauber, um die Ihren zu schützen, ehe die tosenden Wellen über sie hereinbrachen. Und bis heute warten sie auf die Rückkehr des Zauberers, der den Bann bricht..."

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Das geheimnisvolle Refugium der Bernsteinengel weckte gleichzeitig eine tiefsitzende, melancholische Trauer und den Wunsch, das Geheimnis ihres Schicksals zu ergründen. Wenige Orte in den Splitterreichen lösten eine solche Vielfalt an Emotionen mit einem Blick aus. Trauer, Neugierde und Bewunderung für eine Schönheit, die Florence noch nie in ihrem Leben gesehen hatte. Das Leben auf der Starfall und mit Nightingale als Kapitän mochte unzählige Gefahren mit sich bringen, aber es führte Florence an verschollene, längst vergessene und wunderschöne Orte. Es musste der Navigatorin die Sprache verschlagen haben, denn sie lauschte den besonnen Worten des Piraten mit voller Aufmerksamkeit. Die Erzählung über einen legendären Meereskönig sog sie auf wie ein Schwamm und erinnerte sich an das schlangenartige Ungetüm, dass stilisiert auf der Karte ihres Großvaters prangte. In diesen seltenen Augenblicken verstand Florence, was ihr Großvater in Liam gesehen hatte.
      Nightingale lebte, sicherlich als Kind ebenso wie als erwachsener Mann, ein hartes und entbehrungsreiches Leben, aber er hatte nie den Blick für die Wunder verloren. Florence erwischte sich dabei, wie völlig von selbst ein Lächeln an ihren Mundwinkeln zupfte und wandte den Blick zurück zu den versteinerten Bernsteinengel in der Dunkelheit.
      Sie war trotzdem immernoch sauer auf Nightingale.
      Im dämmrigen Licht konnte Florence dennoch dunkle Flecken erkennen, die sich großflächig über das Hosenbein des Piraten ausgebreitet hatten. Er mochte nicht das komplette Deck vollbluten, wie Ben es so schön ausgedrückt hatte, aber die Blutung war dennoch besorgniserregend. Sie erinnerte sich an die Anzeichen des Fiebers. Die Infketion musste sich bereits in seinem Bein ausgebreitet haben und die Schmerzen mochte die Navigatorin sich nicht ausmalen. Willenstärke, auch wenn sie beeindruckend groß war, würde auch einen Mann wie Nightingale nur für eine begrenzte Zeit auf den Beinen halten.
      Letztendlich sprach Ben die Frage aus, die sich Florence im Stillen bereits gestellt hatte. Florence war nur zu stur um ihrem Wissensdurst nachzugeben und damit das Wort an Nightingale persönlich richten zu müssen. Sie machte den Fehler in seine Richtung zu sehen und ihre Blicke kreuzten sich flüchtig im bläulichen Lichtschein. Für den Bruchteil einer Sekunde nur, dann lag sein Blick bereits wieder auf den Engeln. Nein, den Überlebenden, wie er erklärte. Was Liam sagte, ließ Florence aufhorchen.
      "Eine tragische Geschichte", kommentierte sie und sah in die wehmütigen Gesichter der Statuen. "Es ist doch eine Geschichte, oder? Eine Legende?"
      Mit langsam Schritte, noch nicht wieder ganz sicher auf den eigenen Füßen, löste sich Florence von der Reling und ging zu Nightingale herüber. Nicht zu nah, natürlich. Florence Mimik zeigte ehrliche Schockierung gefolgt von Bedauern.
      "Sag mir nicht, dass diese Statuen echte Menschen sind?", wisperte sie.
      Die Bernsteinengel betrachtend stützte Florence die Ellbogen auf der Reling ab und schwieg beinahe andächtig. Bis die Schritte sich entfernen und sie lediglich Nightingales Blick spüren konnte, der sich in ihren Rücken bohrte.
      "Der Anblick ist traurig und gleichzeitig so wunderschön", murmelte sie ergriffen, ehe sie ihn prüfend aus dem Augenwinkel ansah. "Ich bin trotzdem noch sauer auf Dich."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Liams Bein fühlte sich nicht gut an.
      Er schleifte es beim Gehen ein wenig hinterher und die Holzschiene an der Seite wirkte auch mehr notdürftig als gekonnt. Dunkle Flecken auf der groben Lederhose und das ständige Reiben an seinem offenen Fleisch zerrten an seiner Selbstbeherrschung. Im Osten sagte man, dass Schmerzen aggressiv machten und Menschen verändern. Liam hatte das nie glauben wollen, doch kam jetzt mehr und mehr in das Verständnis, während er sich mühsam auf die Reling lehnte und zu den Statuen blickte.
      Tragisch, dachte er. Ja, das traf es wohl. Nichts war tragischer als die trügerische Hoffnung auf Rettung, wenn man selbst nicht einmal mehr den Ansatz einer Möglichkeit hatte, selbst tätig zu werden. Er fragte sich, ob die anderen außer Orcas und er jemals die Scheußlichkeiten eines magischen Krieges gesehen hatten? Doch das hier...War dagegen noch harmlos.
      Auf ihre letzte Anmerkung zuckte der Pirat nur mit den Schultern und besah Ben eines bösen Blickes, nachdem dieser sich kichernd fortdrehte und sich zurück in die Kajüte aufmachte.
      "Ist mir gleich, ob du sauer bist oder nicht. Wenn dir meine Führung nicht passt, dann fordere mich heraus", sagte er knapp und beinahe kalt, ehe er sich wieder nach vorn lehnte.
      Die Steinengel wirkten seltsam der Zeit entrückt und doch so grausam lebendig, dass es selbst einem gestandenen Seemann kalt über den Rücken lief.
      Eine Weile lang sah er schweigend über die Meere von steinernen Köpfen hinweg und atmete mehrfach ruhig durch, ehe er Florence antwortete.
      "Traurig und schön, wie so manches", murmelte er nachdenklich. "So manche Geschichte oder Legende hat etwas Wahres an sich. Doch diese hier sind real. Es sind echte, noch lebende Menschen, die seit Jahrhunderten hier unten verweilen. Im Krieg um die Vorherrschaft errichtete Erzmagier Rudolphus, der Zerfetzte vor 200 Jahren ein Terrorregime in Gogiya. Es war die Zeit, bevor die Freiheit der Rede und Meinung dort existierte. Und die Gelehrten an die Macht gerieten. Dem entgegen stand ein Revolutionär, den man Einrad von Ulvar nannte. Beide Fraktionen bekriegten sich zu tausenden von Opfern unter den Zivilisten. Es krönte in der Eroberung der Stadt Gogiya. In seiner Wut brannte der Erzmagier alles nieder, nachdem die Mauern gefangen waren und trennte einen Stadtteil ab, in der Hoffnung, auf diesem auf das Meer fliegen zu können. Eine Fehleinschätzung..."
      Orcas, der schweigend an Florences Seite getreten war, blickte ebenfalls sorgsam ruhig auf die Menschen hinaus und seufzte durch seine Maske.
      "Eine gravierende", bestätigte er. "Der Inselteil zerfiel und ein Lehrling seiner selbst errichtete einen mächtigen Bannzauber, um die Menschen am Leben zu halten, die um ihr Leben schwammen. Dies hatte die Versteinerung zur Folge. Er schwor, dass er nach dem Kriege den Bannzauber aufheben würde, aber der Lehrling starb in den Wirren. Seither hat Niemand den Zauber entschlüsseln können."

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    • Florence zuckte beiläufig mit der linken Schulter.
      Die geknurrte Antwort war genau die Reaktion, mit der die Navigatorin gerechnet hatte. Sie glaubte ihm sogar, dass es ihn kein Bisschen interessierte, was sie über ihn dachte. Vielleicht hielt Nightingale bewusst Menschen auf Abstand, aber dass er auf die Meinung anderer pfiff, war sicherlich kein ausschließlicher Schutzmachanismus. Es war die simple Wahrheit.
      "Würde ich niemals wagen, Käpt'n", antwortete Florence und schenkte Nightingale ein halbseitiges Grinsen. "Aber es wäre einfacher gewesen, mich meinen Teils des Deals mit Villems einhalten zu lassen."
      Silas würde nicht bewusstlos und mit zerschmettertem Schädel unter Deck liegen und Liam würde nicht das Risiko tragen am Ende noch sein Bein zu verlieren. Überall auf den Holzbohlen erkannte Florence eine Spur aus Blut. Sie biss sich auf die Zunge bevor die Vorwürfe über ihre Lippen schnellten. Es brachte nichts. Die Navigatorin musste leider einsehen, dass ihre Bedenken auf taube Ohren stießen. Es war vollkommen gleich, an wen sie sich damit wandte. Mit welchen Crewmitglied sie auch sprach, alle standen fest hinter Nightingale, egal welche Entscheidungen er traf oder wie die Konsequenzen aussahen. Ein Tatsache, um die mancher Offzier oder Kapitän den Piraten beneiden würde. Loyalität war ein unverzichtbares und wertvolles Gut.
      Florence lauschte der Erzählung und beobachtete Nightingale aus wachen, neugierigen Augen. Mit steifen und ungelenken Bewegungen hielt sich der verwundete Pirat aufrecht und es verlangte Florence einigen Respekt ab, dass er überhaupt noch stand. Die Schmerzen in seinem Bein mussten unerträglich sein. Die kontrollierte Atmung schien ein weiteres Indiz dafür zu sein. Nightingale klammerte sich an jedes kleines Fünkchen seiner Selbstbeherrschung. Ihn in diesem Zustand zu reizen war eine vergleichbar dumme Idee wie mit einem Stock in einem Wespennest herum zu stochern.
      Nachdenklich lehnte sich Florence ebenfalls leicht über die Reling, um eine bessere Sicht auf die Bernsteinengel zu haben.
      "Warum weiß ich nichts davon? Ein Ereignis wie dieses hier sollte an Schulen und den Akademien gelehrt werden", murmelte sie. "Ein ganzer Stadtteil, der im Meer versank... Darüber muss es doch Aufzeichnungen geben!"
      Florence' Blick wanderte über die wehklagenden Antlitze der Engel zurück zu Nightingale. Zögerlich presste sie die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und bemerkte, wie er sein Körpergewicht stetig mehr auf das gesunde Bein stützte. Die Worte aus ihrem Mund waren ein leises Flüstern und für die Crew in der Nähe nicht zu verstehen. Sie sah Nightingale nicht mehr direkt an sondern in die Funkelheit der Tiefsee hinaus.
      "Du solltest dich setzen", wisperte Florence sanft. "Wenn du es nicht vor deiner Mannschaft willst, geh in deine Kajüte und sieh nach deinem Freund. Ben ist bestimmt erleichtert, wenn du dir eine kurze Pause gönnst."
      Und ich auch.
      Als Orcas sich zu ihnen gesellte, wandte sie ihm das Gesicht zu und runzelte wieder verwirrt die Stirn.
      "Dann stimmt es. Die Engel sind lebende und atmende Menschen, die durch einen Zauber gebannt sind", sagte sie und wurde ein wenig blass um die Nase. "Also haben anderen versucht die Menschen zu befreien? Sie bekommen doch nicht mit, dass sie versteinert meilenweit unter dem Meeresspiegel sind? Ich meine, all die Jahre völlig unbeweglich ohne die Hoffnung auf Rettung..."
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    • Nightingale war wütend.
      So, so wütend. Und Florence wusste nichts davon. Wie auch. Aber wie hätte er das auch zugeben können, nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte? Und woher maßte sie sich an,l auch nur ansatzweise etwas zu seinen Schmerzen und seinen klugen Entscheidungen zu wissen? Diese Frau wusste gar nichts über ihn!
      Beinahe schnaubend lehnte er sich zu ihr hinab und murmelte.
      "Tu mir einen Gefallen und kümmere dich um deinen Scheiß", sagte er beinahe knurrend. "Was klug ist oder nicht, obliegt mir zu entscheiden. Ich weiß, dass deine Intelligenz meine vermutlich um ein Vielfaches überragt, aber lass es mich dir so sagen: Eher würde ich mir selbst die Eier abbeißen, als dich meine Kämpfe führen zu lassen. Klug oder nicht. Es sind meine!"
      Und die meiner Crew, dachte er. Einer Crew, die seit Jahren besteht und nicht eine Entscheidung anzweifelte. Und dann kam sie daher und zog gefühlt jede zweite davon in Frage. Innerlich hätte er schreien mögen, doch entfernte sich nur etwas von Florence, um die glitzernde Wut in seinen Augen nicht Oberhand gewinnen zu lassen.
      SIe mussten Vorsicht walten lassen. Die Felder waren gefährlich, zumal die Meereskönige immer zugegen waren. Es glich einem unverschämten Glück, dass sie noch keinem begegnet waren.
      "Sind sie"; bestätigte Orcas endlich ihre Frage, ehe das Schweigen unangenehm wurde. "Oh, es gab Versuche der Rettung. Sieh dort!"
      Er wies mit seiner behandschuhten Hand auf die Fläche vor ihnen und zeigte auf Statuen, die abgebrochen oder gar kopflos erschienen. Jene, die durch das Wasser korridierten, obwohl es nur den Regen gab.
      "Man versuchte es, aber leider war es nicht erfolgreich. Zumeist wurden die Statuen zerstört und die Menschen mit ihnen. Das Blut, das austrat, ließ den Stein korrodieren und hinterleiß das hier..."
      Seufzend sah Orcas hinaus und fragte sich wie hunderte Male zuvor, welch Zauber dies hier angerichtet hatte. ANgeblich gehört er zu den sieben Verbotenen Zaubern, aber...Das konnte doch nicht sein. Nichts war unauflöslich...
      "Wenn ihr fertig seid die Statuen anzustarren, begebt euch auf eure Posten und haltet die Gefechtsposition! Wir erreichen Gogiya in wenigen Stunden!", donnerte Liam und hievte sich schwerfällig die Brücke hinauf.
      Orcas sah zu seinem Kapitän hinauf und schüttelte seufzend den Kopf.
      "Junge junge...", murmelte er. "Der hat aber schlechte Laune. Muss ich Vorwürfe machen..."

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    • Florence hatte nicht nur im Wespennest herum gestochert sondern gleich dem wutschnaubenden Stier mit der roten Fahne gewinkt, der ihr nun ungehalten den heißen Atem und seinen Unmut ins Gesicht blies. Allerdings hatte Florence dieses Mal wirklich keine Ahnung, womit sie ihn verstimmt hatte. Schön, der unnötige Kommentar zu seinem kühnen Plan mit der gefälschten Karte war bereits ein Drahtseilakt gewesen, den sie offenbar trotz eines gutgemeinten Grinsens nicht gemeistert hatte. Zum Glück hatte war sie klug genug gewesen, Silas' Namen nicht in den Mund zu nehmen. Selbst das Schlupfloch, das ihm geboten hatte, um seine zweifellos schmerzhafte Verletzung zu schonen, blieb ungehört und ungesehen. Sie hatte bewusst auf einen ruhigen und sanften Ton ihrer Stimme geachtet. Was sollte sie noch tun, damit er nicht jedes Wort aus ihrem Mund als einen Angriff oder eine maßlose Respektlosigkeit empfand? Nightingale musste doch irgendwann begreifen, dass sie sich Sorgen machte! Ja, sie sorgte sich. Der Gedanke kam selbst Florence befremdlich und verrückt vor, aber ließ sich nicht leugnen.
      Florence Cartwright sorgte sich um Kapitän Liam Nightingale.
      Die Navigatorin konnte förmlich beobachten, wie sich die finsteren Gewitterwolken über seinem Kopf zusammenzogen. Die Wut glitzerte in seinen Augen. Sie hatte es bemerkt, obwohl er so bemüht war seinen Blick vor ihr zu verbergen. Nightingale zog sich zurück und blieb dennoch nah genug an ihrer Seite, dass der eisenhalige Geruch von Blut sie wie ein unsichtbarer Nebel umgab und sie die unglaubliche Hitze spüren konnte, die sein Körper abstrahlte. Florence seufzte.
      "Das ist schrecklich", antwortete sie Oracas stattdessen.
      Die harschen Worte von Nightingale ließen die Navigatorin kurz zusammenzucken.
      Mit einem undefiniertbaren Blick, der zwischen Verärgerung und Besorgnis schwankte, sah sie ihm nach. Florence legte den Kopf schief und sah Orcas mit einem matten Lächeln an.
      "Wundert mich nicht, dass er schlechte Laune hat. Ich habe versucht mit ihm zu reden. Offensichtlich habe ich auf ihn diese magische Wirkung", scherzte Florence halbherzig. "Für gewöhnlich bedeutet 'Das Blut in Wallung bringen' für meine Verhältnisse etwas anderes."
      Ihre Miene wurde wieder ernst, aber etwas anderes verbarg sich zusätzlich in den rehbraunen Augen.
      Etwas Schwermütiges. Etwas Trauriges. Ratlosigkeit.
      "Sollte er auch", sagte Florence, jedoch ohne den Anflug von Böswilligkeit. Es war ein Fakt. Den folgenden Blick des Zauberers kannte. Ben, Hurley, Silas, selbst David wenn er etwas wie Mimik besitzen würde, hatten sie auf die gleiche Art angesehen. Sie hatte die Ratschläge, Floskeln und gut gemeinten Worte alle bereits in verschiedenen Wortlauten gehört.
      "Silas könnte tot sein, Orcas", fuhr sie fort und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Reling. "Sein Freund hätte sterben können und so besorgt wie Ben ausgesehen hat, besteht das Risiko immernoch. Ich weiß, was du sagen willst. Dasselbe wie alle anderen. Dass ich nicht richtig hinsehe. Dass Silas das Risiko kannte...aber ich verstehe es nicht. Nightingale mag da anderer Meinung sein, aber ich weiß, wo mein Platz auf diesem Schiff ist. Ich befolgte seine Befehle, aber das bedeutet nicht, dass ich alle seine Entscheidungen gutheißen muss. Wenn er nicht damit leben kann, dass ein, ich zitiere, 'verwöhntes Prinzesschen' ihm ab und an die Stirn bietet, verlasse ich in Gogjya besser die Starfall."
      Zurück nach Wesyn konnte sie nicht.
      Sie lächelte wieder, ein wenig trauriger dieses Mal.
      "Vielleicht war es keine gute Idee von Silas mich auf dieses Schiff zu holen."
      Freundschaftlich klopfte sie Orcas auf die Schulter und richtete den Blick zur Brücke.
      Florence stieß sich von der Reling ab, um den Befehl von Nightingale zu folgen. Auch ihr Weg führte ebenfalls die Brücke hinauf, wo sich die Navigatorin von dem belchernen Steuermann David auf den neusten Stand bringen ließ und ihren Posten bezog. Unter dem Meeresspiegel zu reisen, war neu für sie, also war sie dankbar für die Expertise des Blechmannes. Es gab nicht viel zu tun außer die Instrumente im Blick zu behalten, also begann Florence etwas in das kleine Notizbuch zu kritzeln, das sie ständig bei sich trug. Feine Bleistiftlinien verwandelten sich mit der Zeit in Skizzen der Bernsteinengel. Eine grobe Zeichnung der wunderlichen Luftblase, die den Ort umgab, kam hinzu. Es war schwer die Ausmaße der Kuppel zu erfassen, aber die Brechnungen beruhigten ihr aufgewühltes Gemüt und erinnerten sie an die Arbeit als Kartografin. In dem kleinen Buch befanden sich nicht nur Skizzen und Berechnungen ihrer Routen. Zwischen den Seiten verbargen sich skizzierte Portraits der Mannschaft, der Starfall und den Orten, die sie bereist hatten. Million Towers in all seiner Schönheit und Hässlichkeit. Wolkenwale am weitem Himmel. Die Silhouette eines Mannes am Bug seines Schiffes, eine Hand um das Tauwerk geschlungen und sich weit über die Reling lehnend, das Gesicht im Wind.
      Florence schrieb ein paar Zahlen in das Buch, offenbar den geschätzten Durchmesser des lufgefüllten Raumes. Dabei funkelten ihre Augen mit der unverhohlenen Neugierde eines Entdeckers. Es waren die Augen ihres Großvaters.
      "David? Wie lange noch bis zum Austritt aus der Kuppel?", fragte sie nachdenklich.
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      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Orcas sah der jungen Frau noch einige Sekunden nach und fragte sich innerlich, ob sie eine derartige Behandlung verdient hatte. Ja, Liam hatte Schlimmes durchlebt. Er hatte Welten sterben sehen und Länder sich erheben. Er hatte seine eigene und andere Welten untergehen und aufgehen sehen und doch war dies hier nicht fair.
      Der Zauberer nickte schwach und seufzte.
      "Silas hätte tot sein können, ja", murmelte er und sah Florence durch die Maske hindurch an. "Aber er ist es nicht. Und ich denke, er macht sich Vorwürfe dafür, aber was soll man machen? Das Piratenleben ist kein ruhiges oder schönes. Es ist voller Gefahren und Entbehrungen und bedarf Mut. Und mutig ist SIlas zur Genüge, das glaube mir."
      Ruhig sah er ihr nach und schüttetle den Kopf. Die beiden würden niemals einen Hang zueinander finden, wenn sie sich nicht verstanden. Jedoch war dort etwas zwischen ihnen was nicht weichen wollte oder sollte. Etwas, das ihre Mauern noch gegenseitig weiter aufbauschte und weiter baute.
      "Wenn du ihn nur hören könntest", flüsterte er leise und sah wieder hinaus zu den Statuen, als sich Florence entfernte.
      Nur er, nur der stimmlose Zauberer an Bord hörte die stummen Schreie einer fröhlichen Melodie. Hinter den Augen eines Mannes, der sich in Wut verkroch, hörte Orcas das Weinen und Wehklagen eines Jungen, der zu früh zu viel verloren hatte. Und dies konnte ihm keiner nachempfinden, der nicht gleiches durchlebte.

      David hieß die Kartografin willkommen, sagte aber kaum ein Wort. Warum auch. Er war ein Roboter und selten in der Lage, menschliche Emotionen zu verstehen. Wie hätte er also verstehen können, dass Florence sich genauso grämte und sich ... Zeichnete sie?
      Neugierig blickte der Blechkasten herüber und fuhr seinen Teleskophals aus, um besser zu sehen.
      "Du kannst gut malen", blecherte er und sah sich um, um ihre Frage zu beantworten. "Das Wasser wird dunkler. Ich schätze etwa sieben Sekunden bis wir durch die Luftblase stechen und wieder Wasser sehen. Danach ist es dann nicht mehr we-"
      Ein rummsender Ruck ging durch das ganze Schiff.
      Mit der Bugspitze hatten sie die Wassermauer durchstochen, die sich vor ihnen aufgetürmt und ihre Schwärze auf dem ganzen Grund verteilt hatte. Ruhig und gemächlich glitt sie Starfall wieder in das kalte, schwarze Unterseegewässer und hieß sogleich abertausende Fische willkommen, die sie umrundeten.
      Nach den Anweisungen der Kartografin steuerte David in aller Ruhe den Kahn hinauf, während sich Liam Zeit ließ und verschwunden blieb. Erst nach geraumer Zeit unter See und als David den Aufstieg begonnen hatte, humpelte er die Treppe der Brücke hinauf. Gräuliche Farbe stach aus seinem scharfen Gesicht und die Augen lagen im Schatten als er kurz zu Florence sah und schließlich zu David.
      "Langsamer Aufstieg", zischte er und der Blechmann nickte unter seinem Hut. "Haltet euch bereit!"
      Kurz stellte er sich an die Reling und seufzte leicht, als der Schmerz ihn beinahe vollständig einnahm.
      "Eine kurze Information!", rief er über das Deck und lehnte sich versteckt auf die Reling, um sein Bein zu entlassen. "Wir kommen gleich nach Gogiya. Versucht, Euch bedeckt zu halten und nicht aufzufallen. Haltet eure Hände bei euch und seid artig. Ich habe keine Lust, einen von euch aus dem Gefängnis der Stadt zu holen, klar?!"
      Einträchtiges Nicken floss wie Seewasser durch die Crew, die sich andächtig an Deck versammelt hatte. Alle außer Zweien, wie Liam schmerzhaft feststellte und sich seufzend aufrichtete.
      Langsam, beinahe unerträglich langsam kroch die Seeoberfläche näher und erhellte ihren Schein und die rauen Dielen auf denen sie standen. Der Topmast stach als erstes durch das Wasser und brummend setzte sich der Motor in Bewegung, als David den Hebel umlegte. Rumpelnd und polternd legte die Starfall an Fahrt zu und hob sich beinahe andächtig aus dem Wasser heraus, die sie bisher umgeben hatte.
      Ein stummes Signal an seine Crew und Clara legte einen kleinen Hebel am Hauptmast um. Zwei kräftige Nadelwerfer fuhren aus und brachten die Blase mit einem lauten "PLOPP" zum Platzen, kaum waren sie aus dem Wasser heraus. Sachte wurden die Segel gehisst und vor ihnen breitete sich die Stadt aus, die sie als Gogiya kannten.
      Inmitten eines Kesselberges gelegen, füllte sie den gesamten Krater aus.

      Meterhoch stachen auch hier die Türme aus schwarzen Stein und Metall in die Luft, doch erschienen sie feiner und sorgsamer verarbeitet als Million Towers. Lichter brannten in den Türmen, hatte man doch verschlafen, dass es bereits beginnender Abend war. Ein Zahnrad drehte sich in weiter Ferne um sich selbst und eine gigantische Uhr in der Mitte der Stadt rief seinen stählernen Klang aus, als die Starfall langsam den Hafen ansteuerte. Liam selbst lehnte sich an die Reling und hielt sich charakteristisch an einem der Taue fest, um nach unten zu sehen.
      DIe Häuser, die Türme und all das Getümmel unter ihnen wirkte so unglaublich schön und klein, wenn man genau hinsah. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie ebenmäßig die Gebäude darstanden. Man konnte von hier aus beinahe die Straßen sehen und die Menschen, die auf ihnen gingen. Dort hetzten Adelige, wie Gelehrte über die Straßen und eilten sich. Selbst die charakteristischen Kutschenwagen aus Gogiya waren zu sehen. Zweirädige Kutschen, gezogen von mechanischen Vögeln, die mit Dampf gesteuert wurden. Wahrlich ein Land der Wunder, dachte Liam, ehe sie mit einem Rucken auf den Landekurs ansetzten.
      Erst geschlagene fünf Minuten später, kamen sie an einem Hafenport zum Stehen und fanden sich in einem schmalen, aber schönen Hafen wieder.

      Die Wege waren gepflastert und die Häuser hier edel verputzt. Langsam hielten sie neben einem großen Zeppelinfluggerät und kamen mit einem leichten Rumsen zum Stehen.
      "Alsdann", trompetete Liam. "Arnaud, Chimp und Clara: Ich brauche Vorräte. David, du und Ben tragt Silas zur Roten Universität, wir brauchen einen Heiler! Wir soll-"
      "IM NAMEN DES GESETZES VON GOGIYA SEID IHR VERHAFTET!", donnerte eine dünne Stimme.
      Zunächst sah man gar nichts, außer eine Crew die wild herumwirbelte und sich nicht zu finden wagte. Erst danach kletterte, mit einem Ächzen, ein kleiner MAnn an Bord, kaum einen Meter groß. Seine Füße waren unproportional groß und seine Augen blitzten vor Erstaunen, als er sich einer Piratencrew entgegen sah.

      "Was zum...", murmelte Liam und sah sich den Halbling an, der gerade seinen Kahn betreten hatte.
      "Was zum...", wiederholte auch der Halbling. "Ha-ha-Halt nochmal! Ich bin ja hier das Ge-ge-Gesetz! Mein Name ist Zweipfennig von der hi-hi-hiesigen Steuerbehörde! U-u-und ihr seid festgenommen wegen Steuerbe-be-betrugs, jawohlnichtwahr?!"

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    • Gogjya wirkte majestätisch mit all den edlen Türmchen und Verzierungen, die Gebäude und deren Fassaden schmückten.
      Die Stadt hätte einem Gemälde entspringen können und trat als die sorgfältig herausgeputzte Zwillingsschwester von Million Towers auf. Florence entdeckte keinerlei Rost oder Verfall. Stattdessen glänzten die Türme um die Wette. Der polierte, schwarze Stein reflektierte das warme Abendrot wie geschliffener Obsidian. Die Stadt der Alchimisten und Gelehrten übte tatsächlich eine unglaubliche Faszination auf die Navigatorin aus, die sich weit über die Reling der Brücke lehnte und dabei beinahe das Skizzenbuch verlor. Sie war viel umher gereist, aber die Stadt der Alchimisten und Gelehrten sah sie zum ersten Mal. Florence war die restliche Fahrt über an der Seite des belchernen Steuermannes geblieben und hatte mit einem freudigen Lächeln seine Neugierde zu ihren Zeichnungen quittiert. Ein Talent, das ihre Profession den Anwärtern abverlangte. Als Kartografin sollte sie mit Bleistift und Feder umgehen können. Das Lob hörte sie trotzdem gerne. David um sich zu haben, war angenehm leicht. Der Robotor interpretierte ihre Mimik nicht oder suchte die Spitzen in ihrer Stimme. Tatsächlich entspannte sich ihre verkrampfte Haltung ein wenig, während sie ruhig durch die Finsternis der Tiefsee glitten.
      Der Hafen in Gogjya, in dem sie andockten, erinnerte Florence ein wenig an die Heimat in Wesyn mit seinen verputzten Fassaden und dem holprigen Kopfsteinpflaster. Letzteres war überall in der Welt ein Graus für jede Kutsche.
      Sorgfältig verstaute Florence das abgegriffene Büchlein in einer der wirklich praktischen Taschen ihres Rockes und entschied sich dafür, kurz unter Deck zu verschwinden um das neue und doch recht auffällige Schwert in ihrer Kajüte zu lassen. Mit einem Klicken und Zischen löste sie stattdessen die kleinere der beiden Klingen und steckte sie in den hohen Stiefelschaft. Die modifizierte Pistole löste sie ebenfalls von der Hauptklinge und schob die Waffe in ein dafür eigenes angefertigtes, verstärktes Holster, das sie keck um ihren Oberschenkel befestigt hatte. Nightingale hatte angewiesen, sich bedeckt zu halten bevor die Starfall die Wasseroberfläche durchstochen hatte. Mit einem Schwert durch die Straßen zu schlendern, erschien ihr daher als zu auffällig. Vor allem in einer Stadt, in deren Schatten ein lautloser Krieg geführt wurde. Zwischen die Fronten zu geraten war sicherlich kein Teil ihres Aufenthalts.
      Sie trat gerade rechtzeitig wieder auf das Hauptdeck, als sich Unruhe breit machte.
      Ein Halbling, der offensichtlich nicht mit einer bewaffneten Piratenmanschaft gerechnet hatte, wirkte recht eingeschüchtert.
      Strinrunzelnd lauschte sie dem Gespräch und räusperte sich leise. Sie war die Einzige an Deck die im Augenblick nicht aussah, als wäre sie bis an die Zähne bewaffnet. Sicherlich wirkte sie für den stammelnden Halbling nahbarer und weniger bedrohlich.
      Außerdem hatte Nightingale nicht einmal ihren Namen in den Mund genommen. Sie musste ihn wirklich richtig verärgert haben. Vielleicht war es auch eine Summe aus allen der letzten Gespräche.
      "Verzeihung", erhob sie mit angemessener Zurückhaltung die Sitmme und wartete, ob Nightingale noch einmal das Wort ergreifen würde. Sie sollte nicht für ihn sprechen. Gut. Aber sie wusste, wie Behörden funktionierten und wie man mit ihnen umging.
      "Herr Zweipfennung, wenn ich mich kurz dazu äußern dürfte", lächelte Florence höflich. "Wären sie so freundlich ihre Unterlagen noch einmal zu prüfen? Wir haben gerade erst angelegt und sind ein wenig überrascht über diesen Überfall. Darüber hinaus haben wir eine wirklich, wirklich dringende Verabredung in der Roten Universität und es wäre äußerst ärgerlich, wenn wir diese verpassen."
      Bei der Lüge zuckte sich nicht einmal mit der Wimper.
      Florence neigte sich ein wenig zu dem Halbling herunter und achtete darauf ihr charmantestes Lächeln aufzusetzen. Sie strich sich eine widerspenstige, schwarze Locke hinters Ohr. Die beiläufige Geste lenkte die Aufmerksamkeit auf die schlanke, entblöste Kurve ihres Halses. Die Verlockung den Blick tiefer über den dunklen, warmen Teint ihrer Haut wandern zu lassen, servierte Florence auf einem Silbertablett. Es fehlte nur noch, dass sie verspielt mit den Wimpern klimperte.
      "Wir haben Verletzte an Bord, die dringend die kundige Hilfe der dort ansässigen Heiler benötigen. Ich befürchte die Zeit drängt, Herr Zweipfennig. Irrtümer passieren doch den Besten unter uns, nicht wahr? Ich bin mir sicher, die Überprüfung ist ein Leichtes für einen gewissenhaften Beamten wie Sie."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Buch II: Es regnet im Meer

      Akt II: Maskenhaft

      "Noch wartest du auf die Wende, du fühlst dich so schwer.
      Geschüttelt von Krämpfen hängst du zwischen Himmel und Meer.
      Bekommt dich der Sturm in die Hände, der dich schon umwirbt.
      Kannst du ihn bekämpfen, damit die Geschichte nicht stirbt?" (ASP - Die Klippe (Der Hang) )

      Gogiya besaß zwei große Geheimnisse.
      Das eine war der schwarze Turm in der Mitte der Stadt, der sich grazil und schlangenartig in den Himmel reckte. Die schwarzen Fassaden erschienen einer Ranke gleich ineinander verwoben und mündeten in einer ausladenden Spitze, die sich in den Himmel zu bohren schien. Das zweite jedoch war die Steuerbehörde von Gogiya. Wo Gelehrte tanzten und Zauberer wirkten, waren die Behörden der hiesigen Örtlichkeit nicht allzu weit. Und man hatte sich über die Jahre durchaus ein respektables Repertoire an Reaktionsmöglichkeiten zurecht gelegt, auf Betrüger und nicht wertschätzende Kreaturen zu reagieren. Zumeist waren es dann doch Gewalttaten, die sie antrieben, aber manches Mal lösten sich Konflikte auch auf friedliche Art und Weise. Zweipfennig jedoch erschien erst wie ein kleiner Halbling, als er an Deck der Starfall verharrte und den Worten der jungen Frau lauschte, die ihm so betörend schöne Augen mochte.
      Und wie schön sie war. Gut, sie war nichts im Vergleich zu Madam Sternenklang, die mit ihrem üppigen Busen - Halt Stop! Er war im Dienst! Und auch wenn diese Frau durchaus nicht übel darin war, ihm Honig um seinen bärtigen Mund zu schmieren, so musste er doch eingestehen, dass sie kaum sein Typ war. Zu flach und zu wenig stämmig gebaut. Eine Frau musste etwas auf den Hüften haben! Sonst machte es doch keinen-
      Dienst!
      Zweipfennig schluckte und blickte durch die vergrößerten Augen der Brille zu Florence hinauf, ehe er schamlos auf ihre Hüften sah, die sich unter leider viel zu dichten Kleidungsstücken versteckten. Ruhig atmete er durch und sah wieder hinauf, ehe er langsam den Kopf schüttelte und unter seinen Umhang langte.
      Wie auf Kommando riss Clara ihre Waffe hoch und Chimp ließ ein Knurren vernehmen.
      "Na ho-ho-holla!", rief der Halbling aus und sah erschrocken zu den Beiden. "Beruhigen Sie sich bi-bi-bitte. So etwas ist ungebü-hü-hürlich."
      Sachte zog er einen groben Fetzen Pergament aus einer Innentasche und begann, die Rolle zu entrollen. Eine Tätigkeit, die Zweipfennig in seiner vollen Natur vollzog. Auf Liams Signal hin ließ Clara die Waffe sinken und der Kapitän humpelte dem Halbling entgegen, den Zorn auf den Wangen und hochrot die Stirn.
      "Nein, absolut nicht. Niemalsnicht.", sagte der Zollbeamte und sah zu Florence. "Es ist ke-ke-kein Irrtum, Miss. Hier steht eindeu-eu-eutig: Steuerbetrug in Höhe von 60.000 Ta-ha-halern. Begangen von Benedict Westminster. Der Steuervollzug wurde auf Wu-hu-hunsch ausgesetzt und wird nun beigetrie-ie-ieben, ja ja. Und da über zehn Jahre nicht ge-ge-gezahlt wurde, wird nun gepfändet."
      Noch ehe Liam Luft holen und schreien konnte, förderte der kleine Halbling Rote Siegel aus seiner Tasche und begann, diese auf das Schiff zu kleben.
      "Hey! Hör auf Sachen auf mein Schiff zu kleben!", schrie Liam und stürzte zur Reling.
      Geschickt und nicht ohne Grausamkeit im Blick tappste der Halbling gezielt auf den verletzten Fuß des Piraten, der diesen verdächtig hinter sich her zog.
      Ein jammerndes Wimmern war die Folge, als Liam in der Bewegung erstarrte und sich auf die Unterlippe biss, um einen Schrei zu ersticken.
      "Finger weg vom Captn!", rief Clara und wollte wieder anlegen, ehe Hurley die Hand vor sie breitete.
      Der blauhäutige Schmied sah den Zollbeamten an und legte den Kopf schief.
      "Wie...Ich meine, können wir die Schuld von Ben noch zahlen?!", fragte er, während sich Liam auf die Reling stützte und vor Schmerzen zitterte.
      "Auszulösen ist der Betrag in der Ro-ro-roten Universität, Abteilung Recht, Unterabteilung Zo-ho-holl."



      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • "If you would just relax..."
      - "I don't want to relax!"
      "Why? What are you so afraid will happen? Afraid that you might start to like me?
      That's it, isn't it? You don't want to like me. You're scared that if you laugh about my jokes
      or answer my questions, you might start to think I'm human. Would that be so terrible?"

      _______________________________________________________________________________________

      Florence verdrehte die Augen dermaßen, dass das milchige Weiß ihrer Augäpfel zu sehen war.
      Mit Mühe unterdrückte die Navigatorin ein genervtes Seufzen, als Clara ohne Umschweife direkt zur Waffe griff. Erst schießen, dann fragen. Es sah der temperamentvollen Scharfschützen ähnlich und ehrlich gesagt, hatte Florence keine andere Reaktion erwartet. In bestimmten Situationen waren Menschen unheimlich leicht zu lesen und wenn es um Liam Nightingale ging, hatte Clara einen äußerst lockeren Finger am Abzug. Es war Chimp und Hurley geschuldet, dass die ersten Sekunden nach ihrer Ankunft nicht in einem unnötigen Blutbad endete. Sie wären allesamt in einer dunklen Zelle gelandet.
      Zu einem Zeitpunkt verstand sie die schäumende Wut der ungeliebten Reisegefährtin sehr gut. Der dreiste Zweipfennig, unterschätzt durch sein Gestammel aber offensichtlich mit einem scharfen Auge gesegnet, trat mit voller Absicht auf den Fuß der verletzten Beines. Das Wimmern ging Florence durch Mark und Bein. Sie erwischte sich dabei, wie sie reflexartig einen Schritt nach vorn machte, ehe sie sich auf die Vernunft besann. Die Navigatorin schlug mit einem ungewöhnlich bedrohlichen Funkeln in den Augen die Kiefer aufeinander, so fest, dass die Knochen der Kiefergelenke zuckend hervorstachen.
      "Einen Augenblick, bitte, Herr Zweipfennig. Wir wollen doch nichts überstürzen", sagte Florence.
      Das Lächeln auf ihren Lippen wirkte künstlich und gezwungen. Vorbei war es mit dem charmanten Fräulein.
      Mit möglichst besonnenen Schritten näherte sich Florence dem vor Wut und Schmerz zitternden Liam. Für einen Sekundenbruchteil schwebte ihre Hand über seiner bebenden Schulter, aber auch hier besann sich die junge Frau eines Besseren. Sie krümmte die Finger zu einer losen Faust und ließ die Hand sinken. Liam bei Tageslicht und offen für alle neugierigen Augen in diesem Zustand zu sehen, löste ein befremdliches Gefühl in ihr aus.
      Florence' Stimme war ein leises Flüstern im beginnenden Abendrot über Gogyja.
      "Käpt'n...?", fragte sie, vorsichtig und zurückhaltend. Es war riskant ihn jetzt anzusprechen, aber sie bekam das beklemmende Gefühl, dass die Situation aus dem Ruder zu laufen drohte. "Die Starfall ist von den Behörden sichergestellt, aber wir können Zeit gewinnen, wenn wir unsere Karten richtig ausspielen. Es führt kein Weg daran vorbei die Heiler aufzusuchen. Um Silas' Willen. Um deinetwillen, Liam. Bitte. Ich weiß, du würdest lieber auf meine Hilfe verzichten, aber lass mich dieses Mal helfen. Wir haben unsere Differenzen, aber ich kenne mich mit Behörden und Dokumenten aus. Lass mich in Erfahrung bringen, was dieser Vertrag beinhaltet, vielleicht können wir ein Schlupfloch finden."
      Florence stand neben ihm an der Reling und blickte in das schmerzverzerrte Gesicht, das er mühevoll versuchte unter Kontrolle zu bringen. Vorsichtig und auf jeder seiner Reaktionen bedacht, legte sie ihre Hand neben seine auf die Reling. Die Fingerspitzen berührten sich nicht. Es war das Phantom einer tröstenden Geste, ein symbolischer Beistand ohne die Wärme einer echten Berührung. Das war kein Trick. Sie triezte ihn nicht, zog ihn nicht auf. Florence wusste, was das Schiff ihm bedeutete.
      "Ich habe dich nie zuvor darum gebeten mir zu vertrauen, aber ich möchte helfen.", flüsterte sie. "Vertrau mir dieses eine Mal, bitte."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Für eine ganze Weile war es ruhig an Bord, während Zweipfennig seine Unterlagen verlas.
      Es erschien beinahe zu ruhig, betrachtete man die Tatsache, dass gerade ein Kapitän einer Piratenmannschaft von einem Zollbeamten verletzt wurde, der ihm bis zur Hüfte reichte. Zitternd und schnaufend umfasste Liam die Reling und selbst unter Schmerzen, die von seinem verschwitzten Gesicht tropften wie der Schweiß auf das Holz, knibbelte er noch immer an dem Aufkleber auf dem Holz, den es zu lösen galt.
      Nichts nahm ihm etwas weg, das ihm gehörte. Nie wieder.
      Als Florence ihn ansprach, riss er den Kopf hoch und sah sie an. Der Blick, den er ihr entgegen warf, hätte gleichsam der eines Tieres sein können, das seine Jungen schützt. Die Augen waren fokussiert und leer. Beängstigend leer, betrachtete man die Schmerzen, die er haben musste. Nicht einmal das Schnaufen war das Schlimme. Sondern die absolute Bereitschaft, Jemanden zu töten, wenn es notwendig war.
      Es brauchte eine Weile, bis sich sein Gesicht entspannte und er Florence richtig erkannte. Da war sie wieder. Immer wieder. Wie einen Virus, den man nicht los wurde. Nie war der Drang, zu schreien und sie über Bord zu werfen höher und doch...Ihr Argument war gut. Und recht.
      Behörden und Dokumente. Natürlich kannte sie das. Sie kannte alles was mit Geld zu tun hat. Gott, wenn diese Wut nur nicht wäre. Diese unsäglich bohrende, immer fressende Wut, die er in sich hortete und züchtete, als Ursache allen Übels. Langsam richtete er sich auf und nickte.
      "Gut", wisperte er und drehte sich zu Zweipfennig um.
      "Lasst ihm das Schiff!", rief er seiner Crew zu. "Wir fahren fort wie besprochen. Ben und David: Bringt Silas hier herüber. Wir gehen mit Florence zur Roten Universität und klären die Probleme. Der Rest verfährt wie gehabt."
      Einträchtiges Nicken durchfuhr die Mannschaft, während Zweipfennig sich herum drehte und die Hände zufrieden in die Hüften stemmte.
      "Nun, das war doch ein gu-hu-hutes Gespräch, nicht wahr?"
      "Nur damit das klar ist, Zwerg:", zischte Nightingale und beugte sich zu dem Zollbeamten herab. Die leeren Augen taxierten den Halbling, der beinahe zusammenzuckte als Nightingale ihn ansprach. "Kriegt mein Schiff einen Kratzer oder einen Aufkleber, finde ich dich. Und du wirst dir wünschen, dass du geflohen wärest, als du es konntest."
      Und keiner in der Mannschaft hegte Zweifel an diesen Worten.


      Die Rote Universität
      Oloria - Zentrum
      eine Stunde später

      Der Weg zur Roten Universität inmitten dieser Konglomerats an Schwarz und Weiß war kaum beschwerlicher als der Aufstieg eines Vulkans.
      Mal abgesehen von der Tatsache, dass die Straßen der Stadt an Überfüllung zu schwimmen schienen, war zudem auch noch Markttag. An solchen Tagen brachen die Tore der Häuser regelrecht auf und entließen einen Schwall Menschen in die Welt, die sich kaum bändigen ließen. Eilig hatten sie Silas leblosen Körper durch die engen Straßén und Gassen getragen und waren den Massen ausgewichen, die sich regelrecht um die bunten Stände im Stadtkern balgten.
      Stimmengewirr, Marktgeschrei und Musik drangen an ihre Ohren während Ben sie zielsicher durch die Straßen Olorias führte. Erst nach einer weiteren Biegung, hinter einer gewaltigen Fabrikanlage und diversen alt anmutenden Wohnhäusern, türmte sich ihr Ziel vor ihnen auf.


      Die Rote Universität wurde ihrem Namen mehr als nur gerecht, wenn man sie von außen betrachtete. Die Steine, welche die Mauern des Geländes umrundeten, waren in Ochsenblut getränkt worden und erhielten eine charakteristische, rote Färbung hierdurch. Edel und anmutig wurden sie zu Turmhäusern oder anderem geschichtet, sodass es beinahe nicht auffiel, wie alt das Gebäude eigentlich war. Die Mauer zog sich um gut ein fünftel der Stadtfläche hin und leuchtete blutrot in den Abend. Auf dem Gelände selbst befand sich das Haupthaus der Universität mit seiner stählernen Kuppel und diverse andere Fakultäten, die im gleichen Stein der Mauer gebaut waren. Als sie das Tor erreichten, sahen sie bereits das Haupthaus nebst der philosophischen Fakultät, die sich direkt daneben befand. Folgten sie den beschilderten Straßen links hinter der Mauer, so wies das Schild auf die Fakultät für Archäologie, Sprachwissenschaften und Mathematik hin. Eine weitere Straße führte zu den Häusern der Heilung. Diese waren nicht zu sehen, glichen aber demselben Stile der Bauten. Hoch gebaut, flacher Natur mit einem turmähnlichen Dach.
      Seufzend kamen sie an und Liam stützte sich schwer auf sein Schwert.
      Ben trat an seine Seite und seufzte schwerer als alle anderen.
      "Ab hier wird es schwer", murmelte er und sah zu Liam und den anderen.
      Der Kapitän nickte atmete schwer als er sich hoch stemmte und auf die Wache zuging, die das Gelände beaufsichtigte. Sie trug quietschbunte Kleidung in feierlich rot und orange mit einer silbernen Platte auf der Brust. Zunächst betrachtete er die Neuankömmlinge mit ungewohntem Argwohn, ehe sein Blick auf Ben fiel, der ihn mit zerzausten Haaren ansah.
      Der Schrei, den der Mann von sich gab, ist nicht wiederzugeben. Gesagt sei nur, dass sein Gesicht beinahe doppelt so lang wurde als er ausholte und zum Schreien ansetzte. Mit einem Klirren und Klappern schmiss er seine Waffe (eine Gleve) in die Luft und rannte in Richtung Haupthaus davon. Erst in der Ferne waren die Worte "Nicht schon wieder!" und "Der Irre ist wieder da!" zu vernehmen. Liams und Davids Blicke erschienen nicht wirklich zielführend als sioe zu Ben sahen.
      "Was denn?", sagte er schulterzuckend. "Ich habe gesagt, ich bin nicht beliebt."
      "Seis drum. Wohin?"
      Ben grinste breit und wies mit dem Kinn nach links.
      "Die Häuser der Heilung sind links herunter. Dort kenne ich den Dekan. Und Florence, du müsstest mit David in das Haupthaus. In der obersten Etage befindet sich die Steuerbehörde. Tut nichts, was ich nicht auch tun würde. Und wenn ihr meine Schwester seht: Sagt ihr nicht, dass ich da bin!"


      Spoiler anzeigen

      die oberste Etage:
      public.png
      Florence findet ein Schild:
      Staatliche Steuerbehörde, Leitung: Ambrosius Kaltwasser, Stv. Leitung: Hermanus Trugblatt.
      Der Raum ist voll und rauchgeschwängert, an den Tischen sitzen Menschen, Gnome, Halblinge und sogar ein Troll, der stempelt. Sein Name ist Gurg (Namensschild). Im Hitnergrund wird ein Steuersünder vernommen, ein Halbling rüstet sich für eine Pfändung, indem er eine Knarre umgürtet und einen Dolch einsteckt.
      Eine Rezeptionsdame, die eher Ähnlichkeit mit einem Troll hat, fragt sie: "Was wollen?!"


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      The more you drag me to hell
    • Höflichkeit war so eine Sache.
      "Was wollen?", blaffte es ihnen entgegen.
      Florence beäugte die Rezeptionsdame, die eine erschreckende Ähnlichkeit mit einem Trollweib hatte, mit ungehörig großen Augen. Ihr erstaunter Blick war ebenso unhöflich, wie die knappe Frage der Dame. Etwas bewegte sich in dem Gestrüpp auf ihrem Kopf, dass wohl eine strohige Hochsteckfrisur darstellte. Bei den wenigen Haaren benötigte es aber einiges an Fantasie um eine Frisur darin zu erkennen. Was sich auch in ihren Haaren tummelte, besaß eindeutig zu viele Beinpaare. Florence schluckte und bemühte sich um ein höfliches, freundliches Lächeln. Sie bezweifelte, dass die Rezeptionistin sich auf Diskussionen jeglicher Art einließ. Überhaupt so viele verschiedene Völkchen an einem Fleck zu sehen, war etwas Wundersames. Florence hatte in ihrem Leben weder einen Halbling oder Gnome noch einen Troll schonmal gesehen. Gurg, wie es auf dem Namensschild des Trolls stand, stempelte enthusiastisch und mit etwas zu viel Wucht vorgefertigte Papiere ab. Sein Tisch hüpfte jedes Mal ein kleines Stückchen in die Höhe.
      Am liebsten wäre die Navigatorin zunächst mit der versammelten Crew zu den Heilkundigen aufgebrochen um sich zu vergewissern, dass Liam und Silas in guten Händen waren. Die Befehle waren allerdings eindeutig gewesen und da ihr Angebot von Nightingale mehr oder minder wohlwollend aufgenommen worden war, war es klüger einem möglichen Streitgespräch aus dem Weg zu gehen und ihr Glück nicht über zu strapazieren. Nightingale musste wahnsinnige Schmerzen haben, wenn er ihrem Vorschlag ohne Einwände zustimmte. Der Weg zur Roten Universität war beschwerlich genug gewesen. Das Letzte, das der angeschlagene Piratenkapitän brauchte, war eine starrsinnige Navigatorin mit einem Problem simple Befehle auszuführen. Vor allem, wenn sie selbst den Stein ins Rollen gebracht hatte.
      Die Steuerbehörde im obersten Stockwerk war ein seltsamer Ort.
      Der Rauch innerhalb der Räumlichkeiten war so schwer und dicht, dass sie kaum bis ans andere Ende sehen konnte. An einem Tisch gestikulierte ein Mann, seiner Kleidung nach ein wohlhabender Kaufmann, wild mit den Händen. Der Sachbearbeiter vor ihm wirkte allerdings wenig beeindruckt und auch das sichtlich schwere Beutelchen, in dem sich zweifellos eine großzügige Menge an Münzen befanden, brachte sein Urteil nicht ins Wanken. Das hier würde doch schwieriger werden als gedacht. Mit den Angestellten der Steuerbehörde in Gogyja war offensichtlich nicht zu spaßen. Überwiegend tummelte sich unscheinbare Halblinge vor und hinter den Tischen. Fast alle waren bis an die Zähne bewaffnet. Der Außendienst schien sich hier wirklich für alle Eventualitäten zu wappnen, wenn nötig auch mit schwerem Geschütz.
      Florence war froh das David ihr Gesellschaft leistete. Seine analytischen Fähigkeiten und sachliche Ansicht war unter diesen Umständen sicherlich von Vorteil wenn ihnen Einblick in die Verträge gewährt wurde. Soweit waren die Navigatorin und der Steuermann noch lange nicht. Sie hatte sich die Namen auf den Schildchen bereits gut eingeprägt, man wusste ja nie. Ambrosius Kaltwasser und sein Stellvertreter Hermanus Trugblatt mussten eventuell in letzter Instanz noch überzeugt werden. Da war es nur höflich sich die Namen schon einmal zu merken, die einen eiskalt abweisen würden sofern sie ebenso reizend und umgänglich waren wie Herr Zweipfenning. Dazu kam der schlechte Ruf, der Ben voraus eilte und den die Gardisten am Tor mit der wirklich beeindruckenden Flucht deutlich unterstrichen hatten.
      Sie seufzte.
      Ihr Blick wanderte zurück zu der Rezeptionsdame die abwartend eine wulstige Augenbraue anhob und langsam die Geduld verlor. Florence öffnete den Mund und verschluckte sich fast an der ersten Silbe, als die Dame mit zwei dicklichen Fingern ein Krabbeltierchen von ihrer Schulter schnipste, das verdächtig nach einer Kakerlake ausgesehen hatte. Der blecherne Steuermann schien davon völlig unbeeindruckt, dessen Gliedmaßen ausnahmsweise völlig normale Ausmaße hatten.
      "Wi-der-lich...", murmelte sie und schüttelte sich angeekelt.
      Mit einem Räuspern startete Florence einen neuen Versuch und atmete zu Beginn tief ein, nur um sich an dem stickigen Rauch der Steuerbüros zu verschlucken. Ein heftiges Husten drang durch das Gemurmel der Räumlichkeiten und peinlich berührt stellte Florence fest, dass sich die Angestellten genervt zu ihr umsahen. Was zum Teufel rauchten die Leute hier?
      "Oh, Verzeihung...", murmelte sie und trat endlich näher an den Tresen heran. "Wir sind hier, um im Auftrag von Benedict Westminster einen Einblick in die Fallakte seiner Steuerschulden zu erbitten. Er ist bedauerlicherweise verhindert um sich persönlich mit den Unterlagen vertraut zu machen."
      “We all change, when you think about it.
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      Dieser Beitrag wurde bereits 3 mal editiert, zuletzt von Winterhauch ()

    • Der Name der Trolldame war Euphemia.
      Und Euphemia aus dem Clan der Dreiarme war nicht zimperlich, wenn es um die Körperpflege ging. Es war eine Kunst, die struppigen Haare zu einer adretten und wundersam haltenden Figur zusammen zu pferchen. Und sie ließ nicht reinreden, nein nein. Es war ein ganz normaler Dienstag in einem wunderschönen Land. Einem freien Land. Und so eloquent ihre Gedanken auch waren, so rau und gleichsam unwirsch war die Stimme aus dem schlecht sitzenden Kostüm.
      "West...minster...", murmelte sie und sah zu den merkwürdigen Gestalten auf.
      Eine Frau, die besser aussah als die Kleidung, die sie trug und gleichsam ein merkwürdiger Roboter, der mit einem Zylinder und Gehstock den Raum betrat. Die korkenartige Nase des Trollweibs rümpfte sich merklich und seufzend begann sie auf einem Apparat herum zu hacken, der einer Art Rechenmaschine gleich kam. Zischend und pfeifend waberte Dampf aus dem Gerät und erst jetzt wurde auch David gewahr, dass der Rauch im Raum nicht der Rauch von Kraut oder anderem Gesäusel war, sondern vielmehr der Dampf, welcher aus diesen Maschinen stach.
      "Chefsache", knurrte Euphemia und wies mit dem wulstigen Daumen über ihre Schulter. "Chef gerufen."
      David nickte und beugte sich leicht vor, was einen netten quietschenden Unterton vollbrachte, den er getrost ignorierte. Neugierig brachte er sein Blechgesicht nahe an das der Trollfrau heran und mit dem rhythmischen Stampfen des Stempels im Hintergrund räusperte er sich.
      "Sagt...Ich würde gerne wissen, wie sich Trolle fortpflanzen."
      Neugierig hatte David eine Art Schreibblock aus seiner Tasche des Gehrocks befördert, wohingehend sein Zeigefinger zu einer Art Schreibfeder wurde. Nur dass diese mit Öl schrieb.
      Eine Sekunde lang wirkte Euphemia aus dem Clan der Dreiarme nicht amüsiert. Ihr faltiges, grobschlächtiges Gesicht rümpfte sich zu einer Fratze zusammen, ehe sie lang und ausgiebig ausatmete.
      "Mit Leidenschaft...Zuhören, Blechdose.", knurrte sie und David notierte eifrig.

      Nach zehn Minuten hätte selbst einem Priester der Rock zu eng gesessen.
      Die Fortpflanzungspraktiken der Trolle obliegen an dieser Stelle kundigen Kulturforschern, jedoch sei versichert, dass sie grausam und widerlich waren. So widerlich, dass selbst David in all seiner Neugierde ab der Hälfte seinen Finger einklappte und hilfesuchend zu Florence sah. DOch auch diese konnte den brüchigen Redeschwall dieses Ungetüms von Troll nicht stoppen.
      Erst mit der Ankunft von Ambrosius Kaltwasser schwieg die Trollin mit einem Male.
      Kaltwasser war ein kleiner gestauchter Mann mit leichtem Schmierbauch und zu eng sitzendem Wams. DIeses wurde von einer Krawatte gesäumt, die zwar aus edlem Stoff gefertigt war, jedoch nicht über die allgemeine Verwahrlosung des MAnnes hinweg täuschen konnte. Die Haare standen ihm nach allen Seiten vom Kopfe und der weiß graue Bart wirkte struppig und unschön. Nur die Augen des Leiters der Steuerbehörde leuchteten regelrecht in einem herrlichen Himmelblau, das er gerne zur Schau stellte. Zwei weitere Angestellte in ähnlicher Kleidung schoben Wagen hinter ihm her, auf welchem Aktenordner und Papiere gestapelt waren.
      "Einen wunderschönen guten Morgen", sagte er mit piepsiger Stimme. "Wie ich höre, möchtet Ihr die Akte Westminster, Benedict einsehen. Ich habe hier die Bände 1 bis 63 mitgebracht, jedoch fürchte ich, dass die Bände 64 bis 378 noch in unseren Archiven warten. Wenn Ihr mir vielleicht kurz erläutern wollt, was Ihr genau sucht, könnte ich Euch soweit helfen..."
      Eilig räusperte er sich und verbog sich dabei beinahe völlig.
      "Entschuldigt", keuchte er und richtete seine Nicht-Frisur zu einer noch schlimmeren. "Aber der Rauch. Der Dampf. Ein Graus für die Lunge. DIe Hauptschuld des Herren Westminster beläuft sich auf 60.000 Taler. Hier müssen noch Nebenschulden betrachtet werden, die aus den Jahren seines Studiums stammen. Hier beläuft es sich auf 120.000 Taler. Ihr versteht, dass ein Turmaufbau nicht billig ist..."
      "Turmaufbau?", fragte David blechern und legte den Kopf quietschend schief.
      "Aber freilich!", lächelte Kaltwasser und nickte. "Mr Westminster hat in seinem letzten Studienjahr den Nordturm des Haupthauses gesprengt und das Haupttor eingerissen, weil er versehentlich eine Wildsau mutierte. Ich kann Euch sagen, dieses Monstrum zur Strecke zu bringen, brauchte einen der drei Heiligen Ritter."


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    • Florence rümpfte ebenfalls die Nase. Allerdings aus völlig anderen Gründen, als die gute Euphemia. Das winzige Namensschild ging in den Falten des schlechtsitzenden Kostüms beinahe verloren. Gerade verfluchte die Navigatorin das analytische Denken des blechernen Steuermannes, der sich mit einer guten Portion an Wissensdurst zu Euphemia beugte. Obwohl der Gesichtsausdruck des Blechmannes völlig ausdruckslos erschien, bildete sich Florence ein den stummen Hilferuf darin zu erkennen. Ihr eigenes Gesicht hatte mittlerweile eine ungesunde Farbe angenommen, obwohl sie versuchte die Details des Gesprächs zu ignorieren. Leider war die Rezeptionistens weder zurückhaltend noch wirklich leise. Vermulich wohnten gerade sämtliche Parteien in dem verqualmten Büro ungewollt der Biologiestunde bei.
      Florence sah David an und zuckte hilfos mit den Achseln, doch ihr Blick war eindeutig: Die Suppe löffelst du schön alleine aus!
      Beinahe erleichtert seufzte die Navigatorin auf und strich sich die rebellischen hinter die glühenden Ohren, als das Quietschen kleiner Rollwagenrädchen die Geplapper des Büros durchbrach. Der Leiter der Steuerbehörde, Herr Kaltwasser, steuerte gefolgt von zwei Angestellten ihre Richtung an. Bereits beim Anblick der gestaplten Ansammlung von gebundenen Akten fielen Florence fast die Augen aus dem Kopf und sie traute ihren Ohren kaum, als Kaltwasser selbstverständlich die noch fehlenden Bände in den Archiven erwähnte. Ben hatte sich wirklich selbst damit übertroffen. Selbst Florence, die bisher recht neutral bei dem gewaltigen Problem geblieben war, um einen kühlen Kopf zu behalten, fühlte eine langsam ansteigende Wut aufloden.
      Warum hatte Ben sie allesamt ins offene Messer laufen lassen?
      Wäre das Problem von Anfang an bekannt gewesen, hätte man vielleicht bessere eine heimlichere Anreise in Erwägung ziehen können. Jetzt schäumte Nightingale vor Wut, die Starfall war offiziell ins Eigentum der Steuerbehörde gewandert und die ganze Crew saß auf dem Trockenen fest. Ungläubig schüttelte die Frau den Kopf und fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht
      "Entschuldigen Sie, Herr Kaltwasser", mischte sich Florence ein. "Wir würden gerne für den Anfang die Dokumente der Hauptschuld einsehen aufgrund derer vor wenigen Augenblicken eine Pfändung von ihrem Angestellten, Herr Zweipfennig, durchgeführt wurde."
      Die Navigatorin legte den Kopf schief.
      "Und da wir schon dabei sind, könnten sie mir bitte ein Beschwerdeformular aushändigen?", fragte Florence mit einem zuckersüßen Lächeln. "Herr Zweipfennig, so gewissenhaft er sicherlich ist, hat das Luftschiff,auf dem Benedict Westminster einreiste, und das gesamte Inventar, auch das persönliche Eigentum der Besatzung, gepfändet ohne die Besitzansprüche zu klären. Damit ist die Pfändung in meinen Augen nicht gültig. Außerdem hat er den Kapitän angriffen."
      Gut, der Angriff war etwas weit hergeholt, aber das musste Herr Kaltwasser erstmal nicht wissen.
      Florence bezweifelte auch, dass Nightingale irgendwelche Besitzurkunden besaß. Und sollte er welche besitzen, waren die Dokumente zweifellos gefälscht. Vermutlich war die Starfall auch einfach nur gestohlen. Aber die Anschuldigungen würden ihnen weitere Zeit erkaufen, bevor man das Schiff im schlimmsten Fall in seiner Einzelteile zerlegte und es ausschlachtete. Für gewöhnlich zog sich ein Beschwerdeverfahren und unverschämte Längen.
      Gedanklich spulte Florence bereits jede mögliche Idee durch, um an die geforderte Summe zu gelangen. Sie hatte noch ein oder zwei wertvolle Schmuckstücke in ihrer Kajüte versteckt, die keiner Katastrophe zum Opfer gefallen waren. Sie konnte Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen, aber dann wusste ganz Wesyn wo sich die dreisten Diebe aufhielten, die fast den Füstenpalast in Schutt und Asche gelegt hatten. Fraglich war auch, ob ihre Eltern überhaupt geneigt war dem schwarzen Schaf der Familie zu helfen. Sie hatte die bittere Entäuschung in ihren Gesichtern gesehen, als Silas sie in das Beiboot gezogen hatte.
      Aber egal, wie sie die Lage drehte und wendete, nichts davon brachte annähernd genug Taler ein.
      "Wären sie so freundlich? Herzlichsten Dank", flötete die Navigatorin.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Ambrosius Kaltwasser war ein gewissenhafter Beamter des Staates.
      Das zumindest oder ähnliches glaubte er von sich selbst, als er grinsend und leicht gebeugt vor Florence und David stand und im Kopf die Tatsache wälzte, woher ihm das Gesicht des Roboters bekannt vorkam.
      "Die Hauptschuld, die Hauptschuld!", murmelte er nickend und schnippste mit den Fingern.
      Sogleich begannen die Angestellten eifrig und beinahe voller Wissensdurst den Wust an Unterlagen und Zetteln zu durchwühlen. Die Suche gestaltete sich als schwierig und je mehr Zeit im Raum verging, umso breiter wurde das Grinsen des Leiters der Zollbehörde. Erst nach guten zehn Minuten, in denen mehrere Mitglieder der Zollbehörde an ihnen vorbei schlenderten und neugierige Blicke über den Rand ihrer Tassen warfen, schrie einer der Angestellten auf.
      In der Hand hielt er ein schmieriges, zerknittertes und leicht angekokeltes Dokument, auf welchem die Schuld des Schiffsarztes vermerkt war.
      "Ah hier steht es ja", bemerkte Kaltwasser und grinste noch breiter. "Es wird hernach bestätigt, dass Mr Benedict Godshallow Westminster, derzeit Studiosus der Roten Universität, Abteilung Alchemie, folgende Schuld zur Last gelegt wird:
      60.000 Taler für die Zerstörung des Nordturms der Universität in Folge seiner Forschung und 60.000 Taler für die Verrichtung unlauterer Experimentalstudien an Menschen. Hiervon betroffen sind die Familien Zweiblum und Callender, mit jeweils einem Todesopfer im Zuge dessen.
      Unterzeichnet vom Dekan der Roten Universität,
      Rayk P. Holderbaum"
      Sorgsam bedacht reichte er ihr das Dokument und lächelte noch breiter. So langsam nahm sein Gesicht eine Fratze an, die selbst für David besorgniserregend genug war, sodass dieser seinen Gehstock fest umklammerte. Die Stimmung im Raum hatte sich verändert und dort im Hintergrund vermochte der Steuermann den ungebührlichen Zweipfennig ausmachen.
      Die Menschen hielten mehr und mehr inne und blickte von dem dampfenden Getränk auf, das schwarz in den Tassen schimmerte.
      "Ach, ich Unhöfling. Wollen Sie vielleicht eine Tasse unseres vorzüglichen Importgetränks?!"; fragte Kaltwasser und deutete auf eine merkwürdige Maschine, die Pulver in Getränke zu wandeln schien. Freilich unter dem Gezeter und Getöse einiger Pumpen und Dampf.
      "GEtränk?", fragte David.
      "Ja, selbstredend, aber ja", nickte Kaltwasser. "Wir nennen es Kaf'fä. Sehr lecker und hält wundersam wach. Seht doch Frau Gertrude dort. Sie hat seit vier Tagen nicht geschlafen."
      "Vier Tage?"
      "Aber ja, selbstredend", bestätigte der Leiter und langte nach Florences Frage über den Tisch.
      Ein Formular von zehn Seiten, bedruckt mit Buchstaben, die keiner mehr mächtig war, flog über den Tisch und Kaltwasser sah sie freundlich an.
      "Das Beschwerdeformular. Sie werden dies in dreifacher Ausfertigung und Durchschlag benötigen. Ich habe mir erlaubt, eine Zahlungserklärung dahinter zu heften, damit Sie Aussagen treffen können, wie Mr Westminster seine Schuld zurück zahlen möchte."

      The more that I reach out for heaven
      The more you drag me to hell
    • Völlig fassungslos starrte Florence auf die Dokumente in ihren Händen.
      Der Schuldenberg türmte sich absolut schlüssig zu einem beachtlichen Haufen auf. Die Details wollte die Navigatorin sich gar nicht ausmalen. Eine solche gigantische Schuldensumme konnte niemand tilgen, nicht ein einem Leben und vermutlich auch nicht in Zehn. Das würde Nightingale nicht gefallen und sie überlegte angestrengt, ob sie David darum bitten sollte, ihren aufbrausenden Kapitän vorsorglich am Krankenbett festzubinden bevor sie ihm die schlechten Nachrichten überbrachten. Ansonsten könnte Ambrosius Kaltwasser für die längste Zeit der Leiter der Steuerbehörde gewesen sein. Grübelnd zog Florence die Augenbrauen zusammen.
      "Holderbaum...", murmelte sie. Als David mit schiefgelegtem Kopf zu ihr herüber sah, winkte sie ab. "Ach, nichts."
      Sie hatte den Namen schon einmal irgendwo gelesen, konnte sich allerdings nicht entsinnen wo genau.
      Stattdessen sah Florence zu der armen Frau, die angeblich seit vier Tagen kein Auge mehr zugetan hatte. Beunruhigt beäugte Florence das nervöse Zittern der Finger und den ruhelosen Blick, der hektisch hin und her zuckte. Sie verzog das Gesicht und beschloss auf das freundliche Angebot einer Kostprobe zu verzichten. Im Gegensatz zu den Angestellten des Steuerbüros wusste die Navigatorin einen guten Schlaf, vorzugsweise mit charmanter Gesellschaft, in einem bequemen und kuscheligen Bett zu schätzen.
      Sie schüttelte verneinend den Kopf.
      "Haben Sie vielen Dank, Herr Kaltwasser", mühte sich Florence ab freundlich und höflich zu bleiben.
      Sie hätte Liam gerne bessere Neuigkeiten übermittelt. Was sie zusätzlich grämte, war die Tatsache, dass Kaltwasser ihre Vorwürfe eiskalt ignorierte und mittlerweile die gesamte Aufmerksamkeit des Raumes auf ihnen lag. Keiner hier hatte vor ihnen zu helfen. Florence beschlich das Gefühl, dass kein Vorwand und kein Schlupfloch ihr Problem lösen würde. Ben hatte einen Ruf in Gogyja, den denkbar Schlechtesten, den es geben konnte. Der hässlichen Fratze des Leiters der Steuerbehörde nach zu urteilen, bereitete es ihm sichtlich Vergnügen, schlechte Nachrichten zu überbringen.
      "Gehen wir, David", nickte sie dem Steuermann zu. "Finger weg von dem merkwürdigen Gebräu. Ich hab' keine Lust nachher jedes deiner Zahräder einzeln aufzusammeln..."
      Auffordernd zupfte Florence an dem Ärmel seines Gehrocks und schleifte David durch das verqualmte Büro. Flink huschte sie an Euphemia vorbei, die aussah, als wollte sie ihren lehrreichen Vortrag noch ergänzen. Oh nein, das würde sie keine weitere Minute aushalten!
      Auf dem Korridor fiel das Atmen endlich wieder leichter.
      "Wir haben ein Problem, David", murmelte sie. "Und ich rede nicht von dem Schuldenberg."
      Ja, die Idee Nightingale an ein Bett zu fesseln, wurde mit jeder Sekunde verlockender obwohl die Beweggründe dafür eindeutig die Falschen waren. Florence legte den Kopf in den Nacken und seufzte frustriert.
      "Miss Florence Cartwirght?"
      Angesprochene wirbelte herum und sah überrascht die fremde Person in ihrem Rücken an.
      Vor Florence und David stand ein schlaksiger, junger Mann mit ungewöhnlich silbergrauem beinahe weißem Haarschopf. Mit wachen, klaren Augen sah er über den Rand einer filigranen, rundlichen Metallbrille hinweg. Er war nicht sonderlich groß, vielleicht ein paar Zentimeter mehr als Florence und das Gesicht war ebenmäßig und viel zu junghaft um bereits als männlich zu gelten. Der Fremde mochte gerade an die 20 Jahre alt sein, schätzte die Kartografin. Obwohl seine Stimme beinahe sanft und höflich klang, hatte der Junge etwas Kaltes an sich, als wäre die Höflichkeit nur geschickt vorgespielt. Seine ganze Körperhaltung verriet, dass er lieber woanders wäre. Als er nicht sofort eine Antwort bekam, zog der Fremde missbilligend die Augenbrauen zusammen und räusperte sich.
      "Ja, das bin ich", antwortete Florence schnell. "Sind wir uns schonmal begegnet?"
      "Nicht direkt, Miss Cartwirght", antwortete er. "Und ich habe wirklich keine Zeit um ihr Gedächtnis aufzufrischen."
      Florence's Augenwinkel zuckte kaum merklich.
      Blasse, schlanke Finger griffen in die innenliegende Brusttasche seines dunkelblauen Mantels und zogen einen Briefumschlag hervor.
      "Der ist für Sie, Miss", fuhr er ungerührt fort und übergab ihr den Umschlag, nachdem Florence die Steuerunterlagen David in die Hände gedrückt hatte. "Mein Meister bittet um ein Treffen mit Ihnen. Die Details finden Sie in dem Umschlag. Als Zeichen seines guten Willens hat er ihnen ein Präsent am Empfang der Roten Universität hinterlegt. Sie sollten es abholen bevor sie Kapitän Nightingale die schlechten Nachrichten überbringen."
      Das Zucken wurde deutlicher.
      Das Wachsiegel auf dem Umschlag war glatt und ebenmäßig. Nichts deutete auf den Absender. Woher wusste dieser Junge, wonach sie suchten?
      "Wer ist dein Meister?", verlangte Florence zu wissen.
      Der Fremde schmunzelte sichtlich amüsiert über ihre Ahnungslosigkeit. Er wandte sich ab und wollte gehen. Florence setzte ihm nach und griff nach seinem Ellbogen.
      "Hey! Antworte mir. Wer ist...Autsch!", die Navigatorin sprang geradezu ein Stück zurück. Die Berühung hatte ihr einen elektrischen Schlag versetzt. Sie schüttelte verwirrt die Finger aus um das kribbelnde Gefühl in den Muskeln los zuwerden.
      "Vorsicht, Miss. Die Luft scheint etwas aufgeladen zu sein. Überlegen Sie nicht zu lange. Es ist ein einmaliges Angebot und Sie werden es hören wollen. Auf Wiedersehen, Miss Cartwright", sagte der Silberhaarige über die Schulter hinweg, dann bog er um die Ecke und war verschwunden.
      "Was...zum Teufel war das?", murmelte Florence und krümmte die Finger. Sie stopfte den Brief in ihre Rocktasche und sah David schulterzuckend an.
      "Komm, wir sollten langsam zu den anderen zurück."
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
      And that’s OK, that’s good, you gotta keep moving,
      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Nun, das war ein denkbar schlechtes Auskommen, wie David befand. Selbst der Roboter blickte auf den Haufen von Papier und regelrechten verkohlten Resten von Aktenordnern mit einem Erstaunen, wie es nur der tote Gesichtsausdruck eines Roboters vermochte. Quietschend sirrte ein Zahnrad an seinem Kiefer, als er den Kopf schief legte und Luft durch ein Hydrauliksystem abließ.
      Aufgescheucht durch den Dampf sah Euphemia auf und legte den Kopf anschließend beinahe murrend und knurrend wieder auf die aufgestellte Hand.
      Auf das Kommando der Navigatorin gab David ein mürrisches Quietschen von sich, folgte der jungen Frau aber anstandslos, nachdem er nochmals öligen Dampf auf dem Fußboden verteilt hatte. Das Lächeln des Herrn Kaltwassers wirkte beinahe so versteinert wie der Blick von Euphemia, der Rezeptionsdame (-troll). Und auch wenn sich die Türen hinter ihnen schlossen, schien Kaltwasser sich nicht vom Fleck zu rühren. Vielmehr glich sein Lächeln einer Fratze, die sich mehr und mehr versteifte, als Zweipfennig näher an ihn herantrat.
      "Sire..."
      "Die Starfall. Wo liegt sie?"
      "Im Osthafen, Herr Kaltwasser", sagte Zweipfennig ergeben und zückte eine Schreibfeder und ein Papier. Er wusste was kam. Er wusste es immer.
      Kaltwassers Lächeln war nunmehr gänzlich verschwunden und einer grimmigen Maske gewichen, die er auf die geschlossene Tür richtete.
      "Bereite bitte Formular 38 B vor. Und lege es bis heute Abend auf meinen Schreibtisch."
      "Ja, Herr Kaltwasser, sehr wohl, Herr Kaltwasser."
      Niemand legte sich mit der Zollinquisition an. Niemand!


      "Was für ein Problem?", blecherte David und wollte gerade seinen Schritt in die Richtung beschleunigen, in die ihn Florence gewiesen hatte, als er erneut inne hielt. Sie hatten sicherlich mehr als ein Problem. Und der Schuldenberg war nur ein Teil davon.
      Auf die Stimme jedoch wirbelte David nicht herum.
      Der Eisenmann stand starr neben Florence und mit einem Sirren, Quietschen und Buckeln drehte sich der Kopf des Mannes um 180 Grad um die eigene Achse, um den Mann anzusehen, der ihnen so lautlos und nicht bemerkbar genähert hatte. Beinahe hätte der Steuermann beleidigt sein können. Normalerweise warnten ihn seine Schaltkreise vor Eindringlingen. Doch dass es ein derartig kleiner Mensch mit diesen merkwürdigen Haaren geschafft hatte, kratzte an seiner Ehre.
      Sorgsam lauschte er der Unterhaltung sagte nicht ein Wort. Nicht, dass es etwas für ihn beizutragen gegeben hätte. Der Fremde hatte offensichtlich nur Interesse an Florence Cartwright. Ein Umstand, den er dem Kapitän mitzuteilen gedachte, sobald sie einander wieder habhaft wurden.
      Als Florence zurückschreckte, kam das erste Mal Bewegung in den Eisenleib. Mit eisigem Quietschen drehte sich der restliche Körper um die Achse und ein metallischer Arm griff nach Florence um sie ein wenig von diesem Mann fort zu ziehen. David sagte kein Wort, aber selbst ein biologischer Schaltkreis wie seiner vermochte eine Lüge zu erkennen, wenn sie gesprochen wurde. Die Luft war keineswegs aufgeladen. Dafür war es nicht feucht genug. Also musste dieses Dingsda von diesem jungen Mann ausgehen, dessen Name David nicht verstanden hatte.
      Unerkannt grimmig sah er zu dem jungen Mann, der sich sodann wi9eder entfernte und zuckte die Achseln unter dem Gehrock, ehe er seinen Zylinder gerade rückte.
      "Keine Ahnung", blecherte er und schüttelte den Kopf.
      Unerhörtes Benehmen.
      Noch ehe er sich umwenden und Florence folgen konnte, wurde eine Tür im unteren Flur aufgeschlagen und eine dröhnende, beinahe überheblich laute Stimme drang an ihre Ohren:
      "ICH KANN ES WIRKLICH NICHT GLAUBEN! BEI DEN VERFAULTEN KLÖTEN DES ERZMAGIERS, WAS ZUM DONNERBALKEN NOCH EINS IST DAS HIER?!"
      Ein kurzer Seitenblick zu Florence und der Steuermann stürzte zwei Schritte vor, um den Hohlraum der Wendeltreppe hinab zu sehen. Entlang der gewundenen Treppenstiegen ergötzte sich ein gähnender Abgrund in die Tiefe. Schwach beleuchtet von den Fackeln oder Gaslampen am Rande des Flures, schien es beinahe unersichtlich, was sich dort abspielte. Und doch. Von oben war eine Frau zu sehen, die die Hände offenbar in die Hüften gestemmt hatte und wütend auf einen anderen Mann herab sah, der kauernd auf dem Boden lag. Das Haar der Frau glich einer wilden, roten Mähne, die von selbst im Wind wehte. Die Brille vergrößerte die Augen der Frau um ein Vielfaches, was jedoch kaum ersichtlich war, außer wenn sie die Hände fluchend nach oben warf. Beinahe burschikos fluchend marschierte sie auf und ab des Flures und keifte außer sich.
      "ES IST DOCH NICHT SO SCHWER DIESEN ZAUBER ZU SPRECHEN, EMMERLING!"
      "Sire..."
      "NICHTS SIRE! STECK DIR DEINEN SIRE SONST WOHIN! DIESER ZAUBER IST ANFÄNGERKLASSE EMMERLING! ANFÄNGERKLASSE!"
      "Ja, Meisterin Westminster, ich..."
      "Ich, ich, ich. Eine Ausrede nach der anderen, also wirklich", seufzte sie und legte den Kopf frustriert in den Nacken.
      Zumindest so lange bis sie in die Augen von David sah.
      "Was zum...", begann sie und ein funkeln durchfuhr die blauen Augen.
      "Was zum...", blecherte David und verspürte das erste Mal Angst in seinem Leben.
      "IHR DA! KOMMT HER! DALLI DALLI! ICH MUSS DAS ANSEHEN!"

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      The more you drag me to hell
    • Wenn etwas passierte, dann zumeinst alles auf einmal und zu einem ungünstigen Zeitpunkt.
      Obwohl Florence eigentlich nur das unangenehme Gespräch mit Nightingale hinter sich bringen und das mysteriöse Zeichen des guten Willens unter die Lupe nehmen wollte, hatte das Schicksal mal wieder vollkommen andere Pläne. Sie hatte kaum Zeit sich über den erwachten Beschützerinstinkt von David zu wundern, als zu ihren Füßen bereits zum nächsten unerwarteten Ereignis kam. Und zu einer Begegnung vor der Ben sie noch vor wenigen Minuten gewarnt hatte. Der Name Westminster schallte durch das gesamte Trepenhaus. Es war einfach die Punkte zuverbingen und auf die Idee zukommen, dass gerade Bens Schwester einem unglücklichen Schüler die Hölle heiß machte. Jedenfalls war die Ähnlichkeit zu ihrem Bruder wirklich verblüffend. Jedenfalls dachte Florence das, als sie über das Treppengeländer spähte und es damit dem Roboter gleich tat.
      "Ähm...", stotterte Florence sehr eloquent. "Ähm, gändige Frau...ähm, Meisterin Westminster? Wir sind quasi auf dem Sprung zu einer wichtigen Verabredung, also...Ähm."
      Der vernichtende Blick, den sie erhielt, duldete keinen Widerspruch.
      Warum wunderte es die Navigatorin nicht, dass die Geschwister zumindest eins gemeinsam hatte. Sie kommandierten gerne herum. So wie Benn sie durch die Kapitänskajüte bugsiert hatte, reichte allerdings bei der weiblichen Westminster ein strenger Blick aus. Ja, auch den Blick kannte die Kartografin.
      "Fein", knurrte sie.
      Sie lehnte sich zurück und sah den blechernen Steuermann fragend an. Sie war sich etwas unsicher, ob er wie ein normaler Mensch die Treppe nahm oder mit seinen gruseligen, ausfahrbaren Armen und Beinen wie eine Spinne einfach hinabklettern würde. Worlos zuckte Florence mit den Schultern.
      "Bringen wir das schnell hinter uns, sonst verfolgt sie uns am Ende noch. Die Frau ist genauso unheimlich wie ihr Bruder, nur, irgendwie anders. Und kein Wort über Ben, okay?", flüsterte sie. Immerhin lautete so die Anweisung des Schiffsarztes.
      Sie wartete nicht darauf, für welchen Weg sich David entschied und hüpfte leichtfüig die Treppe herunter bis sie mit gebührendem Abstand vor Meisterin Westminster stoppte. Die Frau sah aus wie eine Furie, da blieb sie lieber auf Abstand.
      Florence sagte kein Wort. Sie hatt der Frau vor sich nichts zu sagen und konnte sich so auch nicht in Widerrsprüche verstricken.
      “We all change, when you think about it.
      We’re all different people all through our lives.
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      so long as you remember all the people that you used to be.”
    • Spoiler anzeigen
      Westminster.jpg

      Name: Lilliac "Lilly" Westminster
      Wahlspruch: "Na hör mal!"


      Wenn es etwas gab, das die Familie Westminster ausmachte, so war es die Neugierde und die Sucht nach neuem Wissen.
      Der kauernde Zauberer vor ihren Füßen wirkte beinahe durchsichtig, als sie furiengleich um ihn herum stolzierte. Von Nahem betrachtet, wirkte Lilly Westminster nicht mehr ganz so gruselig, wie sie offenbar von Fernem wirken mochte. Die roten Haare waren zwar immer noch mehr ein struppiges Nest als eine wirkliche Frisur und noch immer wirkte die übergroße Brille fehl auf der kleinen Zauberin, die selbst Florence nur bis zur Schulter ging.
      Doch das Funkeln ihrer Augen wirkte nicht mehr vernichtend oder gar missbilligend. Vielmehr erschien es beinahe fasziniert von der Maschine, die wie ein normaler Mensch die Treppe hinab ging und sich elegant am Geländer des gewundenen Stieges festhielt.
      "Na hör mal", wisperte sie fasziniert und ging direkt auf David zu, der wie versteinert neben Florence stehen blieb. "Da laus mich ein Dachs im Schritt nochmal...Ein echter Roboter!"
      Wie fasziniert wanderte sie um den Roboter herum und betrachtete jedes Fünkchen von Metall, das sie unter dem dunklen Gehrock aufblitzen sah. Hier und dort berührte sie das Metall, sodass der Roboter schnaufend zusammen zuckte und vor ihrer Hand fort wich, als sei der Deibel hinter ihm her.
      "Ich muss doch bitten", blecherte er und zog gerade seinen Hintern vor den listigen Fingern der Frau weg.
      Mit zusammengekniffenen Augen rieb sie ihren Zeigefinger und Daumen aufeinander und schnüffelte daran.
      "Das ist Öl. Motoröl, oder nicht?"
      "Indiskret."
      "Ach Papperlapapp! Wieviel?"
      "Was?!"
      "Wie viel für eine Nacht?", fragte sie und stemmte die Arme in die Hüften. So aufgebaut wirkte sie fast so bedrohlich wie ein harpunierter Zwerg. Eine vorwitzige Strähne stahl sich in ihr Sichtfeld und ärgerlich schniefend zog sie diese beiseite.
      "Oder bist du diejenige, die das Geld für ihn verwaltet?!", fragte sie an Florence gerichtet.
      "Ich muss erneut bitten...", sagte David und richtete seinen Hut. "Ich bin ein ehrbarer Mann, der...äh...Nun einiges an Ehre besitzt!"
      Quietschend sprang ein Zahnrad aus der Verankerung und knallte an Lillys Kopf. Dessen unbeeindruckt folgte der Blick der Zauberin dem Zahnrad und ignorierte den schwarzen Fleck auf ihrer Stirn.
      Eilig schob David eine Falte des Gehrocks zurecht, sodass man die Gravur auf seiner Schulter nicht sah. Sie beinhaltete das Logo der Piratenmannschaft und würde zumindest einen Teil des Ganzen verraten.
      "Wir müssen fort und ich denke..."
      Noch ehe David weitersprechen konnte, hatte sie ihre diebischen Griffel bereits in seine metallschienen geschoben und die Hand an sich gezogen. Fasziniert betrachtete sie die feine Verarbeitung der Rüstung des Mannes und wühlte mit der Rechten in der Tasche ihrer Robe.
      Zerknittert und befleckt war das Papier, das sie aus dieser beförderte und hielt es Florence vor die Nase.
      Das Bild des Mannes war deutlich verjüngt und auch auf dem Kopf des Ben Westminster befanden sich wesentlich mehr Haare als zu jetzigen Zeiten. Doch der Blick und das schiefe Grinsen war eindeutig dasselbe. Der Zeichner hatte sich wirklich übertroffen.
      "Habt ihr diesen Kerl gesehen?", fragte sie ohne die Augen von David zu lösen. "Hab gehört, er sei am Nachmittag im Hafen angekommen. Hab da Spitzel, für gute Waren und so. Kennt ihr den?"

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    • Perplex beäugte Florence die Szenerie, die zugegeben recht amüsant war.
      Ein Roboter, der sich empört den neugierigen Fingern einer Frau entzog, sah man auch nicht alle Tage. Wenn die gesamte Lage nicht dermaßen brenzlig gewesen wäre und nicht unbedingt eine Westminster vor ihn gestanden wäre, hätte sie sich zu einem belustigten Lachen hinreißen lassen. Mit der Dringlichkeit im Hinterkopf schob sich allerdings dieses Mal Florence verteidigend vor David. Bisher hatte Westminster sie völlig ignoriert und ihre komplette, fragwürdige Aufmerksamkeit auf den blechernen Steuermann gelegt. Dass sich die Navigatorin ihr in den Weg stellte, schien aber kein Hindernis für die wissensdurstige Frau zu sein. Erst Euphemia und jetzt auch noch Bens Schwester, aber die Offenherzigkeit in Gogyja war recht schockierend. Für die Metropole der klügsten Köpfe, von Wissenschaftlern, Dichtern und Denkern, wirkten alle bisher erlebten Personen entweder wenig vertrauenswürdig oder erschreckend frivol. An manche Dinge würde Florence sich nie gewöhnen, vor allem nicht an Westminsters farbenfrohe Wortwahl.
      Die Navigatorin klappte den Mund auf um zu protestieren, als ungefragt nach der Armschiene des völlig überforderten Steuermannes gegriffen wurde. Der Roboter hatte zu keinem Zeitpunkt menschlicher gewirkt als in seiner Empörung.
      Bevor sie ein Wort äußern konnte, wurde ihr quasi ein geknitterter Zettel ungefragt ins Gesicht gedrückt. Der Mann auf dem Bild war eindeutig Ben, eine jüngere Version zwar, aber immer noch der Schiffsarzt. Florence hätte die Falle in der Frage eine Meile gegen den Wind gerochen. Die Frau vor ihr mochte zwar glauben, dass sie nicht mitbekommen hatte, wie der bedauernswerte Schüler ihren Namen gestottert hatte, aber Florence wusste genau wen sie vor sich hatte.
      Außerdem war die Familienähnlichkeit einfach nicht zu leugnen.
      Nachdrücklich fanden ihre Hände den frechen Klammergriff der Frau und sie bedachte den Rotschopf mit einer unmissverständlichen Aufforderung: Los lassen. Sofort.
      "Mein Freund hier ist nicht zu verkaufen. Nicht für eine Minute. Nicht für eine Stunde. Nicht für eine Nacht", sagte Florence bestimmt. "Wenn Sie ihn also bitte loslassen würden, damit wir unserer Wege ziehen können. Und, nein. Ich habe den Mann auf dem Bild noch nie in meinem Leben gesehen und mit Schmuggeleien haben wir nichts am Hut."
      Das sie einmal David vor einer übergriffigen Dame verteidigen musste, daran hätte sie im Traum nie gedacht.
      “We all change, when you think about it.
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      so long as you remember all the people that you used to be.”