Evelyns Finger glitten langsam und behutsam über das Pergamentpapier, während sie sich tiefer in den viel zu riesigen Sessel sinken ließ. Warum ich? Fuhr es ihr ein weiteres Mal durch den Kopf, den Blick nicht vom Pergament abweichen lassend. Seufzend legte sie das Pergament nun doch neben sich auf dem kleinen Holztisch ab und griff stattdessen nach ihrer Kaffeetasse. Es war noch recht früh am Morgen; die Uhr gegenüber zeigte gerade einmal kurz nach acht an. Also genehmigte Evelyn sich mit geschlossenen Augen einen Schluck des frisch aufgebrühten Kaffees, die Tasse dabei mit beiden Händen fest ummantelt. Um solch eine Uhrzeit wollten Evelyns Gedanken ihr noch nicht vollständig gehorchen, was kein Wunder war wenn man bedachte, mit wie vielen unterschiedlichen Themen und Informationen sie sich aufgrund ihres Jobs tagtäglich herumschlagen musste.
Ein paar Schlucke später hatte sie langsam das Gefühl, Herr ihrer Sinne zu werden, weswegen sie sich abermals dem Pergament zuwendete. Es handelte sich dabei um einen Auszug des Testaments ihres vor kurzem verstorbenen Onkel; Grischa Kovač. Die beiden hatten nie besonders viel miteinander zutun. Im Allgemeinen hatte Grischa mit der gesamten Kovač-Familie kaum etwas zu schaffen - viel lieber lebte er sein eigenes Leben ganz für sich, zurückgezogen in seinem heißgeliebten Schloss, in welchem ihn nie jemand besuchen wollte. Evelyn selbst war in ihrem ganzen Leben lediglich ein einziges Mal im Inneren des Anwesens gewesen; gemeinsam mit ihren Eltern zum Anlass eines Festes. Seither galt das Schloss als verflucht - angeblich hörte und sah man Dinge, die nicht im Bereich des Möglichen lagen. Aus diesem Grunde war es Evelyn zum damaligen Zeitpunkt nicht gestattet, jemals wieder einen Fuß ins Innere zu setzen. Für die mittlerweile 27-Jährige klangen die Behauptungen stets surreal und ließen sie an der Meinung festhalten, dass ihre Eltern und Verwandten ausschließlich nach einem Grund gesucht haben, den Kontakt zu Grischa schwinden zu lassen. Sie selbst konnte sich bis heute nicht daran erinnern, mit irgendwelchen auffälligen Erlebnissen konfrontiert worden zu sein.
Dieser Vergangenheit wegen machte es Evelyn stutzig, dass nun sie diejenige sein sollte, die das Anwesen erbte. Sie wusste zwar, dass Grischa keinen wirklichen Kontakt zum Rest der Familie hatte, kinderlos war und seine Frau die Scheidung einreichte - trotzdem musste es doch jemanden geben, der ihm näher stand, als Evelyn.
Seufzend überlegte die Frau, was sie überhaupt mit dem Schloss anstellen sollte. Sie lebte bereits jetzt in einem ansehnlichen, kleinen Häuschen; wobei Grischas Schloss ein nettes Upgrade gewesen wäre. Dabei stellte sich nur die Frage, ob sie allein auf solch einer riesigen Wohnfläche jemals glücklich werden konnte. Zudem war es notwendig Personal einzustellen, damit die umliegende Grünfläche nicht verkam und sie nicht drei Wochen damit beschäftigt sein musste zu putzen. Die anderen Möglichkeiten wären gewesen, das Schloss zum Verkauf anzubieten oder monatlich ein bisschen Extrageld damit zu verdienen, wenn jemand dort zur Miete einzog. Die letzteren Optionen könnten sich jedoch als schwierig gestalten je nachdem, in welchem Zustand das Anwesen sich befand. Letzendes blieb ihr also nichts anderes übrig, als sich zunächst ein persönliches Bild vom Schloss zu machen was bedeutete, eine mehrstündige Fahrt hinter sich zu bringen und für mindestens ein paar Tage dort zu nächtigen. Glücklicherweise war ihr Terminkalender für den Rest der Woche recht frei, da sie die meisten Arbeiten und Projekte für Redaktionen bereits eingereicht hatte und dementsprechend konnte sie bereits am heutigen Tage dorthin aufbrechen. Je früher sie die Besichtigung hinter sich gebracht hatte, desto beruhigter konnte sie schlussendlich sein.
Mittlerweile war es spät am Nachmittag, als sie mit dem Auto unmittelbar vor einem riesigen Tor zum Stillstand kam. Sie konnte es sich nicht recht erklären, doch es hatte sich angefühlt, als blieb ihr mit jedem Kilometer den sie näher in Richtung des Anwesens fuhr, mehr Luft zum Atmen weg. Selbst die Temperatur sank schlagartig in den unteren Bereich, obwohl der Herbst erst in ein paar Tagen anbrach. Zu Evelyns Glück hatte sie mitgedacht und sich dennoch wärmere Kleidung eingepackt, für den Fall der Fälle.
Ungeduldig kramte sie in der Handtasche auf dem Beifahrersitz umher. Dem Erbschein lag ein Schlüsselbund bei, den sie in lauter Hektik zu dem ganzen Kleinkram in die Tasche warf, in der dieser nun untergegangen war. Nach ein paar wenigen Minuten des wahllosen Umherkramens hatte sie den Schlüsselbund in den Tiefen ihrer Tasche gefunden und zog ihn hervor, während die andere Hand im selben Atemzug die Klinke der Fahrertür umgriff und diese öffnete. Selbst vom Eingang aus konnte sie nur die Silhouette des Anwesens erkennen, das zu ihrer Überraschung von Nebel bedeckt war. Ist das üblich? - fragte sie sich und merkte, dass das Schloss bisher mehr Fragen als Antworten lieferte. Nichtsdestotrotz folgte sie weiter ihrem Plan, indem sie sich nach dem Öffnen wieder ins Auto begab und tiefer ins Grundstück eindrang, nachdem sie das Tor auf der anderen Seite wieder abgeschlossen hatte.
Die Größe des Grundstücks und die Möglichkeiten, die sich ihr zur Nutzung boten, überwältigten Evelyn anfangs - doch schnell wurde ihr klar, dass das gar nicht so einfach werden würde. Als sie nämlich vor dem Eingang ihr Auto parkte, verschlug der Zustand des Schlosses ihr beinahe den ohnehin bereits geminderten Atem. Es sah aus, als hätte Grischa hier seit Jahren nichts mehr getan. Die Fassade hatte bereits zu bröckeln begonnen, vereinzelte Fenster zogen Risse mit sich, die Dachplatten waren längst nicht mehr vollzählig, der einst so wunderschöne Burggraben war vollkommen verdreckt und das Unkraut spross nur so vor sich her. Unglaubwürdig hielt die Frau sich eine Hand vor den Mund, während sie die Bilder zu verarbeiten versuchte. Wie viel Personal und Zeit musste sie mitbringen, um dieses Desaster zu beheben? Ist Grischa womöglich sogar hier in seinem Anwesen gestorben? Sie schüttelte sich bei diesem Gedanken und bemerkte, wie ihr die Zähne beim Temperaturabfall zu klappern begannen. Also verschwendete sie nicht noch mehr Zeit, sondern steckte den Schlüssel ins Schloss und betete innerlich, dass das Innere des Anwesens in einem besseren Zustand war.
Tatsächlich sah es im Inneren weitaus akzeptabler aus, als sie gedacht hatte. Über die Auswahl der Möbel und dem allgemeinen Stil des Schlosses ließ sich zwar streiten - doch im Grunde schien abgesehen von mehreren Spinnenweben und einigen Schränken, die beinahe auseinanderzufallen zu drohten soweit alles in Ordnung zu sein. Immerhin ließ es sich hier auf diese Weise deutlich besser aushalten. Das größte Manko stellte auch hier die Temperatur dar. In ihrem eigenen Zuhause gab es Heizungen; aber hier erblickte sie keine davon. Lediglich Öfen und einen riesigen Kamin konnte sie zum Aufwärmen nutzen - was sie auch sogleich in die Tat umsetzte. Zu ihrem Glück stapelten sich in dem riesigen Raum, der wohl ein Wohnzimmer darstellen sollte, neben dem Kamin die zurechtgeteilten Holzstücke, die sie freudig hineinwarf und entflammte. Mit ihrem vor Kälte ganz zittrig gewordenen Körper blieb sie vor diesem stehen und streckte die leicht blau verfärbten Hände entgegen.
Bisher hatte sie nur die riesige Eingangshalle mit den überwältigenden Treppen erblickt, das Wohnzimmer und die riesige, beinahe viel zu große, offene Küche. Alleine nur diese drei Räume kosteten sie stundenlange Putzarbeit, wenn sie sich von Spinnenweben und Staub befreien wollte. Was erwartete sie dann erst in den weiteren Räumen? Oder im oberen Stockwerk? Wenn sie sich richtig erinnerte, gab es im Untergeschoss sogar mehrere Keller, unter anderem für Wein und zwei, wenn nicht sogar drei riesige Dachböden. Überfordert mit der Gesamtsituation beschloss sie sich erst einmal einen größeren Überblick zu verschaffen und einen Raum zu finden, den sie vorübergehend für ihre Arbeit sowie ihr Schlafgemach nutzen konnte. Es kostete sie womöglich ein Vermögen - aber sie setzte sich als Ziel, noch morgen in der Früh jemanden anzustellen, der ihr das fürchterliche Putzen abnahm.
Fast vollständig aufgewärmt hatte sie die weiteren Räume des Schlosses erkundet und war mittlerweile in den Kellern angekommen. Nach und nach spürte sie, wie die Hitze des Kamins auch in die letzten Ecken wie die Keller drang. Hier unten war es bei Weitem nicht so angenehm warm - aber dafür zitterte sie nicht mehr wie Espenlaub. In den Kellerräumen ließ sich nicht wirklich viel ausfindig machen - bis auf in sämtlichen Regalen gestapelte Weinflaschen, alte verschlissene Bücher und verschiedener Werkzeuge lag hier nichts Brauchbares herum. Dachte sie. Die wirkliche Überraschung sollte der letzte Raum bereithalten. Zunächst war es eine Kunst, überhaupt in diesen hineinzukommen. Er war abgeschlossen, mit gleich drei verschiedenen Schlössern und es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Evelyn die passenden Schlüssel parat hatte. Als sie in den Raum hineinlinste und den Lichtschalter betätigte, wurde ihre ganze Sichtweise auf Grischa mit einem Mal über den Haufen geworfen. Der Boden des Raumes war geziert durch verschiedenste Symbole, die sie alle nicht zuordnen konnte. Lediglich das riesige, mit roter Farbe nachgemalte Pentagramm inmitten des Raumes sagte ihr etwas. Wenn auch nur durch Filme oder Serien. Sie presste sich das Gesicht zwischen die Hände, während ihre Blicke weiter durch den Raum streiften. An den Seiten stapelten sich verschiedene Bücher und sie alle hatten etwas gemeinsam: Die Überschriften deuteten auf Mythologie, schwarze Magie, Rituale, Satanismus und Dämonen. Was zur Hölle Grischa...? Noch nie hatte sie auch nur den Anschein gehabt, dass Grischa sich für irgendwelche dieser Themen interessierte - geschweige denn seine eigenen absurden Rituale im Keller durchführt. Sie hoffte nur inständig, nicht noch mit verwesten Tierkadavern überrascht zu werden, die er mit Sicherheit zur Erfüllung seiner Hirngespinste geopfert hat. Zumindest roch es nicht danach - aber sie hätte schwören können, den Geruch von Schwefel in der Nase zu haben. "Grischa du verrückter alter Kerl. Ich hoffe es waren nicht deine Hobbies, die dich ins Grab gebracht haben..." sprach sie laut zu sich selbst und kicherte über diesen Gedanken. Sie konnte nie verstehen, warum es Menschen gab, die an solche Dinge glaubten. Die Hölle, Dämonen... Magie. Für all die übernatürlichen Dinge, die Menschen zu sehen glaubten, gibt es logische Erklärungen und innerhalb ihres Berufs hatte Evelyn oft genug gelernt, wissenschaftlich geprüfte Erklärungen zu liefern. Tatsachen die sich auf diese Weise nicht erklären lassen, entsprechen auch nicht der Realität. Aber was sollte man von einem alten Mann erwarten, der über die Hälfte seines Lebens isoliert von der Außenwelt und völlig allein in diesem Anwesen gelebt hatte. Unter solchen Umständen war es nur eine Frage der Zeit, wann seine Vernunft das Zeitliche segnete.
Ein paar wenige Minuten später fand Evelyn sich ein weiteres Mal in diesem Ritualraum wieder - mitsamt einem Eimer, verschiedenster Reiniger und mehreren Schwämmen. Fakt war, dass sie diese Malereien vernichten musste, bevor noch irgendwer auf die Idee kam, dass sie von ihr persönlich waren. Außerdem wusste sie nicht, wie sie das hätte erklären sollen, falls die neue Putzfrau durch welchen dummen Zufall auch immer plötzlich in diesem Raum landete und dachte, Evelyn war irgendeine Sektenangehörige. Bei diesem Gedanken froren ihre Bewegungen kurzzeitig ein und sie überlegte, ob Grischa eventuell Teil einer Sekte gewesen sein konnte. Kopfschüttelnd warf sie den Gedanken wieder beiseite und tauchte den Schwamm ins Wasser, um sogleich mit dem Schrubben zu beginnen. Die Farbe oder was auch immer zum Malen benutzt wurde, war hartnäckiger als sie glaubte. Ein bisschen etwas ließ sich entfernen, zumindest einige der Symbole - der Rest verschwand selbst unter starkem Schrubben nicht und verblasste nicht einmal. Es schien, als wären einige Symbole genau so wie das Pentagramm mit dem Boden verschmolzen. "Verdammt..." wisperte sie. Dann blieb ihr wohl nichts Anderes übrig, als Teppichboden im gesamten Raum auszulegen. Doch auch das wird ein weiterer Kostenfaktor, den sie sich eigentlich schenken wollte. Sie hasste es, unnötig Geld ausgeben zu müssen. Selbst wenn sie sich nicht allzu große Sorgen um Finanzielles machen musste mochte sie den Gedanken, Geld zu besitzen.
Die Putzutensilien ließ sie vorübergehend im Raum stehen - vielleicht musste die Farbe auch bloß mit den Reinigern zusammen einwirken und ließ sich morgen doch noch entfernen. Für den heutigen Tag wollte Evelyn nur noch zur Ruhe kommen. Aus diesem Anlass griff sie sich eine Weinflasche aus dem Regal nebenan und ließ sich auf dem Fellteppich vor dem Kamin nieder. Da sowieso niemand da war, würde es mit Sicherheit keinen stören, wenn sie den Wein direkt aus der Flasche trank. Dabei zögerte sie auch nicht, während sie ihr Handy aus der Hosentasche kramte und gerade ihre offenen Nachrichten durchgehen wollte. Mit weit aufgerissenen Augen beförderte sie den riesigen Schluck wein ihre Kehle hinunter und ließ einen schreckhaften Laut hinaus. Kein Empfang. Abrupt sprang sie vom Teppich auf und fuchtelte mit dem Handy durch die Luft, stellte sich an verschiedene Fenster, schaltete den Flugmodus an und wieder aus - nichts. "Nein, nein... nein, nein!" schrie sie durch das gesamte Anwesen. Sie hatte keine Sekunde an den Gedanken verschwendet, dass sie innerhalb des Anwesens keinen Empfang haben könnte. Es war ja nicht so, dass das Schloss inmitten eines Waldes stand. Genau diese Fahrlässigkeit wurde ihr nun zum Verhängnis. Wie sollte sie eine Putzfrau organisieren? Wie sollte sie für die Arbeit recherchieren? Wie sollte sie mitbekommen, was in der Welt vor sich ging? Mit tiefen Atemzügen versuchte sie sich zu beruhigen. Keinen Empfang zu haben war schrecklich, aber es war nicht der Untergang der Welt. Sie fand eine Lösung dafür - wenn auch erst morgen. Vielleicht konnte sie sich Internet verlegen lassen oder Ähnliches. Auf diese Weise ließe sich auch der Verkaufswert steigern, wenn sie nicht selbst einziehen sollte. Sichtlich entnervt trat sie wieder zurück an den Kamin und kippte noch mehr des süßen Rotweins in sich hinein, dessen Wirkung sie langsam aber sicher merkte. Zumindest half ihr das dabei müder zu werden und hoffentlich besser zu schlafen. Wenigstens hatte sie die Lieder ihrer Playlist runtergeladen, sodass sie keinen Empfang brauchte, um mit Wein bei guter Musik die Augen zu schließen und die Ruhe zu genießen.
my review on life so far:
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