Salvation's Sacrifice [Asuna & Codren]

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    • Dionysus stieß ein abschätziges Lachen aus, kurz und knapp. Sein Vergnügen an dieser Unterhaltung war unübersehbar.
      "Warum man unbedingt zurück ins Himmelsreich möchte! Wie humorvoll - das hast du dir sicher von den Menschen abgeschaut. Fabelhaft! Ganz unter uns, schwarzer Vogel", er musste sie drehen lassen und wartete, bis er sie mit seinem Grinsen wieder blenden konnte, "deswegen werden sie deine Verbannung wohl auch nicht im nächsten Jahrtausend aufheben. Oder in dem darauf. Ins Himmelsreich gehören Götter und keine Menschen, auch keine Götter, an denen man die Menschheit sozusagen riechen kann. Ich frage mich ja", er vollzog einen eleganten Seitenschritt und kam wieder zurück getanzt, "ob du den Weg auch wieder zurück fändest, wenn man dich ließe. Du hast ja gerade erst dein Fliegen zurück erlernt, aber bis zum Himmel ist es ein weiter, weiter Weg. Kaum machbar für einen Menschengott."
      Er kicherte, hörte sich Kassandras Entgegnung an, nickte, als hätte er nie etwas anderes behauptet.
      "Richtig, du labst dich hier unten an der Quelle deiner Existenz. Wobei, so viel Quellen gibt es gar nicht. Ich erinnere mich an eine Zeit, da sangen die Menschen in Nuliubda das Lied der Phönixin und rannten in den nächstbesten Sonnentempel, um ihre heilige Phönixin anzubeten. Wo werden diese Lieder heute noch gesungen? Ich muss auch die vielen Tempel übersehen haben, die man eigens für dich erbaut hat. Wer betet dich heute noch an, wer preist Kassandra die Phönixin, die wirklich einzigartige, unbestritten einzige Einheit auf Erden? Vielleicht dein Schwurpartner - einer in 400 Millionen. Und wenn er tot ist, wie willst du dann im Gedächtnis deiner Schöpfer bleiben? Mehr schwarze Feuer? Ist es das, wofür du geschaffen wurdest?"
      Dionysus' unbeschwerte Miene ließ darauf schließen, dass er nicht wirklich an einer derart ernsten Unterhaltung interessiert war. Er spielte mit seiner Tanzpartnerin, vergnügte sich mit der Gelegenheit, verbale Abschläge auszutauschen, ganz der Gott der Freude, des Wahnsinns und der Ekstase. Fast schon zärtlich leitete er sie an seinem Arm entlang und fing sie bei sich ein, so wie längst vergessene Liebhaber sich eines Tages wiederfanden. Aber zwischen diesen Göttern hätte keine Liebschaft entstehen können, nicht durch alle Macht der Welt. Ihre Auren blieben strikt voneinander getrennt, wie Wasser und Öl, das sich niemals mischen würde.
      "Frei nennst du das?"
      Seine Stimme blieb so unbeschwert und fröhlich, wie sie die ganze Zeit schon war.
      "Jede Hoffnung ist bei dir wohl schon verloren. Kennst du das Sprichwort der Restarer, schieb den Karren nicht rückwärts? Denn wenn ihre Ochsen von der Heuschreckenplage befallen werden, sind sie so wirr im Kopf, dass sie nicht vorwärts, sondern rückwärts laufen. Und was folgt darauf? Natürlich der Schlachter."
      Seine Worte waren keine Drohung, nur ein weiteres Spiel, ein weiterer Schlag, den er seiner Tanzpartnerin aussetzen wollte. Der Vieg brachte sie nebeneinander, Schulter an Schulter, und Dionysus drehte den Kopf zu Kassandra.
      "Aber eine Sache haben wir wohl gleich."
      Seine Zähne blitzten auf.
      "Solange Loki seine Machenschaften auslebt, haben wir beide die besten Sitzplätze gewählt."
      Und in seinen Augen funkelte es, eine Kenntnis, eine unausgesprochene Wahrheit, die einen zweiten Sinn hinter diese Worte steckte. Doch was auch immer er vor der Phönixin unausgesprochen ließ, es blieb verborgen in den unkennbaren Weiten seines Verstandes. So gerne Dionysus auch spielen mochte, es musste trotzdem Dinge geben, die auch er nicht hinein ziehen wollte. Mit seinen Geheimnissen ging der Gott nicht leichtfertig um.

      Der Vieg erntete bei Vollendung, bei der die Tänzer in ihre Ausgangspositionen zurückkehrten, eine kurze Runde an Applaus von all jenen, die doch den Tanz der beiden Götter fixiert hatten. Bei ihrer Rückkehr saß Zoras bereits wieder auf seinem Platz, hatte seinen Weinkelch in der Hand, den er mittlerweile gar nicht mehr wegdenken konnte, und nahm Kassandra mit einem Leuchten in den Augen in Empfang. Er hatte sich bis zuletzt von der Händlerin gar nicht mehr trennen wollen, denn obwohl ihr Wissen über Theriss von äußerst begrenzter Natur war, hatten sie doch angeregte Gespräche darüber geführt. Jetzt wollte er eigentlich wieder dorthin zurück, wusste aber, dass er sich nicht allzu auffällig an sie heranhängen durfte. Er konnte zwar noch nicht abschätzen, was die Kuluarer von einem solchen Verhalten rausziehen würden - dass er seine Position nicht ernst nahm, dass er eine Affäre anstrebte, dass er sich zu leicht ablenken ließ - aber es würde sicherlich nicht schmeichelhaft sein.
      Bei Kassandras Rückkehr konnte er seine Euphorie aber nicht verstecken.
      "Saia hat ganz erstaunliche Theorien dazu, was den therissischen Vertrag so stabil macht. Dabei kam er mir nie stabil genug vor, um ein solches Aufsehen zu erregen. Aber das ist interessant, nicht? Zu wissen, dass der Ruf den Verträgen vorauseilt."
      Sein Blick schweifte über Dionysus, der sich zurück in seinen Stuhl fläzte, ihn anlächelte und stumm zuprostete.
    • Man konnte es nicht anders beschreiben als zu sagen, dass Kassandra Dionysus' literarische Ergüsse einfach über sich ergehen ließ. Irgendwann erwiderte sie sogar nichts mehr und sorgte sich auch nicht darum, eine Farce aufzubauen, indem sie so tat, als erginge sie der Musik und dem Tanz.
      War sie einmal genauso ignorant gewesen wie er? Sicherlich, eitel war sie immer noch und auch eine gewisse Arroganz ließ sich nicht absprechen. Wenn sie genauer überlegte gab es sogar die Momente, in denen sie selbst abfällig über die Menschen gedacht hat. Nicht, dass es ihr nicht nachvollziehbar erschien, aber es fußte nicht auf die Gräueltaten, die man ihr angetan hatte. Es ging einzig und allein um den Fakt, dass in ihren Augen Menschen weniger Wert besaßen als Götter wie sie. Diese Erkenntnis erschreckte Kassandra in ungemeinem Maße, doch sie ließ nicht zu, dass auch nur ein Funken dessen Platz fand in dem Geiste des Weingottes.
      Sie beendeten den Tanz, indem sie Schulter an Schulter zum Stehen kamen und Dionysus seine nächsten doppelzüngigen Worte zu ihr sprach. Kassandra fing seinen Blick auf, bannte ihn und als er geendet hatte, drehte sie sich zu ihm ein, hob die Hand und legte sie in seinen Nacken. Normalerweise hätte sie diese Nähe niemals zu irgendeinem anderen Lebewesen gesucht und erst recht nicht zu einem anderen Gott, doch Dionysus war eine Ausnahme in mehrfacher Hinsicht. Immer näher kam sie seinem Gesicht und musste sich sogar ein bisschen strecken, um auf Augenhöhe zu kommen. Sorgsam achtete sie darauf, dass ihr Gesicht nahezu alles war, was in seinem Blickfeld lag.
      Erst dann ließ sie ihre Maske für wenige Sekunden fallen.
      "Was erwartest du von einer Kreatur, die dir noch nie die Wege gekreuzt hat? Woher willst du wissen, was einem gefallenen und korrumpierten Gott so durch den Verstand geht?", sprach sie leise zu ihm, ein für sie unübliches und leicht wahnwitziges Lächeln im Gesicht. Selbst das Funkeln, das nun in ihren Augen lungerte, wirkte alles andere als erhaben und gediegen. "Du hast den besten Platz erwischt, um ein einmaliges Erlebnis in der Weltgeschichte zu begutachten."
      Dann verschwand der Ausdruck aus ihrem Gesicht. Auf dem Weg zurück waren ihre Züge wieder normal, erhaben und selbstzufrieden wie schon zuvor. Niemand hätte ihr nachsagen können, wie sie Dionysus noch vor Minuten angesehen hatte. Ein Geheimnis, nur zwischen ihnen beiden.

      Dankbar dafür, dass sie nicht mehr länger als nötig in Dionysus' Wirkungsbereich sein musste, streifte ihre Blick kurz Zoras' ehe sie sich zu seiner Seite wieder setzte. Er wirkte außerordentlich zufrieden, beinahe sogar glücklich, und er lieferte ihr direkt die Erklärung dafür. Der Wein, den sie gerade an ihre Lippen geführt hatte, schmeckte urplötzlich saurer als zurvor.
      "Saia?", wiederholte Kassandra den Namen und ihr missfiel die Art, wie er ihr von der Zunge kam. "Klingt mir einer anderen Bekannten sehr ähnlich. Das war die Händlerin, die sich vorgestellt hatte, richtig? Das ist ja ein günstiger Zufall, dass ausgerechnet hier Verträge mit Theriss etabliert sein sollen. Versteh mich nicht falsch, ich bin dessen nicht feindlich gestimmt."
      Bedacht senkte sie ein wenig den Kopf und neigte ihn dabei leicht zur Seite während sie Zoras einen musternden Blick unterzog. "Das bedeutet allerdings, dass man schneller Kunde nach Theriss tragen wird, dass du hier an die Macht gekommen bist. Es ist damit nur eine Frage der Zeit bis ein gewisser Kindskönig und eine gewisse Familie erfahren wird, dass du noch lebst. Und mit mir reist. Oh, und ganz zufällig König eines anderen Landes geworden bist."
    • Erst Kassandras Bemerkung ließ auch Zoras aufmerksam werden, der bis zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte, wie ein Name klingen mochte. Aber jetzt, wo sie es sagte...
      "Vermutlich nur ein Zufall. Du denkst doch nicht, dass jemand seine beiden Töchter Faia und Saia nennen würde, oder? Bei Zwillingen hätte ich es vielleicht verstehen können."
      Kassandras steife Art aber, die nach außen hin keinem menschlichen Auge auffallen mochte, für Zoras aber in dem flackernden Feuer hinter ihren Augen ersichtlich war, machte ihn trotz des Weines aufmerksam. Er neigte den Kopf ihrem entgegen, obwohl es kaum nötig gewesen wäre. Sie hätten noch so laut auf therissisch reden können, keiner hier hätte sie verstanden. Außer die anderen Champions.
      Doch was sie da zu bedenken gab, brachte einen wesentlich anderen Geschmack mit sich, als die süße Begeisterung über das angenehme Gespräch mit der Händlerin. So genau hatte er sich die Sache noch gar nicht durch den Kopf gehen lassen; mitgerissen von der unerwarteten Bekanntschaft und dem göttlichen Wein, hatte Zoras verpasst, einen Schritt weiterzudenken. Nun lag es an der Phönixin, ihn zurück auf den Boden der Tatsachen zu holen.
      "Kuluar besitzt selbst keine therissischen Verträge, die beiden Länder liegen zu weit voneinander entfernt, die Zölle sind zu groß, alsdass beide Seiten daraus Gewinn schlagen könnten. Aber die Handelsgilde steht in Kontakt mit Ländern, die mit therissischen Verträgen handeln. Irgendwann werden sie es wohl herausfinden."
      Und dann - was? Sollte er darauf warten, dass Feris eine Offensive plant, um sich für seinen Ausbruch zu rächen? Sollte er auf eine Nachricht von Ryoran warten, die im schlimmsten Fall lautete, dass er und seine Familie auf dem Weg nach Kuluar waren? Zoras wollte seinen Bruder nicht hier wissen, in der Höhle der Löwen, wo man ihn vor die Kutsche werfen könnte, nur um Zoras eins auszuwischen.
      Sollte er dann selbst hingehen? Eine Audienz beantragen, damit er den ersten Schritt tat?
      Vielleicht lag es an dem Wein und dem fortgeschrittenen Abend, dass ihm beide Varianten nicht gefielen. Eigentlich, so wurde ihm jetzt erst bewusst, wäre es besser gewesen, wenn er gar nicht erst auf das Thema Theriss gekommen wäre. Es hatte bisher funktioniert, aber jetzt, wenn er genau darüber nachdachte, verspürte er doch so etwas wie Heimweh, aber auf eine ganz verkehrte Weise. Ein Sehnen nach etwas, das gar nicht existierte.
      Zwei Plätze weiter lehnte Feyra sich wieder über den Tisch, so schnell, dass der Wein aus ihrem Kelch schwappte und in ihrem halb aufgegessenen Teller landete.
      "Hier am Tisch wird nur kuluarisch geredet!", verlangte sie lallend, laut genug, dass auch andere aufmerksam wurden. Zoras hob beschwichtigend die Hand, als Kalea bereits kühl fragte:
      "Gibt es etwas, das Ihr uns mitteilen mögt?"
      Zoras setzte ein Lächeln auf, von dem er hoffte, dass es mindestens genauso kalt war.
      "Nichts, was euch interessieren dürfte."
      Kalea kniff die Augen darauf zusammen und Wilben beugte sich zur Seite, um Oronia etwas zu zu raunen. Dionysus grinste nur, wie die ganze Zeit schon, und wippte mit dem Fuß im Takt der Musik.
      Zoras blickte wieder zurück in Kassandras Augen und musterte dann den Inhalt seines Kelches. Er hatte keine sonderliche Lust mehr zu tanzen und auch nicht zu trinken; eigentlich wollte er sich gern zurückziehen und sich weiter mit Kassandra darüber unterhalten. Aber das würde er nicht auf kuluarisch tun und auch nicht, wenn er wusste, dass die anderen Champions die Informationen aufsaugen und später sicherlich ihren Trägern mitteilen würden. Also konnte er nichts weiter tun als zu warten und den Rest des Abends über sich ergehen zu lassen, bis er mit Kassandra bald allein sein würde.

      Das Fest zog sich so noch Stunden in die Länge, selbst dann noch, als die ersten Gäste sich höflich verabschiedet hatten und gegangen waren. Von den Ratsmitgliedern war Wilben der erste, der sich entschuldigte und mit Oronia das Weite suchte, doch als Zoras hoffte, dass dies das Ende einleiten würde, hatte er sich mächtig getäuscht. Als Eviad musste er darauf achten, kein Desinteresse an der Versammlung und dem Volk von Kuluar zu zeigen, weshalb er sich nicht erlauben durfte, einfach alles zu beenden und ins Bett zu gehen, ganz gleich, wie müde er irgendwann war. Der Rest des Rates schien davon keineswegs betroffen: Esho fand ständig eine neue Frau, die ihn auf die Tanzfläche zu locken versuchte, die beiden riesenhaften Champions waren schon seit Anfang an wie Statuen, Dionysus und Feyra ergötzten sich über alle Maße an dem Wein und Ristaer verstrickte Kalea und Mirdole in angeregte Gespräche unter sechs Augen. Zoras war hier derjenige, der eine Woche lang das Volk auf seine Seite gebracht hatte und sich nichts sehnlicher wünschte, als die Qualität eines hoheitlichen Bettes in Kuluar zu testen. Der Wein machte ihn träge und müde und irgendwann verschwamm alles vor seinen Augen. Es war Kassandra, das eigentliche Rückgrat hinter seiner neuen Position, die nicht nur dafür sorgte, dass er sich nicht blamierte, sondern die auch noch irgendwann, wie auch immer sie das schaffte, die Feier als beendet erklärte und den neuen Herrscher aus dem Saal begleitete. Draußen wartete der königliche Verwalter, ungetrübt und in bester Verfassung, um sie im Palast unterzubringen. Vier Soldaten begleiteten sie, rein als Symbol, während sie die Gänge des Palastes hinab gingen und der Mann ihnen flüchtig einen Grobumriss des gesamten Gebäudes vermittelte. Zoras hörte gar nicht zu, er war zu beschäftigt damit, seine trüben Gedanken am Laufen zu halten und dabei nicht zu stolpern, denn er sah den Boden doppelt vor sich. Irgendwann waren sie aber an einem Zimmer angekommen, die Wachen platzierten sich vor der Tür und die beiden zogen ein.
      Der Raum war groß, geräumig, mit den besten Möbeln aus ganz Kuluar ausgestattet und besaß ein Bett, das größer war als die geräumigste Kutsche im ganzen Land. Eine Wandseite war mit vereinzelten Fenstern bestickt, die bis an die Decke reichten und bei Tag das Licht in den Raum brachten. Zu beiden Seiten führte eine Tür weg, eine ins anliegende Waschzimmer, eine ins Ankleidezimmer. Alle drei Zimmer waren mit Kordeln ausgestattet, um die Dienerschaft zu rufen.
      Der Verwalter informierte sie - und damit hauptsächlich Kassandra - dass sie am nächsten Tag den Butler kennenlernen würden und damit ein Konsortium an Dienern zur Verfügung gestellt bekämen. Zusätzlich wäre ein Treffen mit der Hauptwache des Palastes anzusetzen, um eine Eskorte abzusetzen. Viele Palastwachen gäbe es sowieso nicht, daher dürfe man wohl mit zwei Soldaten rechnen, die gleichzeitig auch Tätigkeiten von Bediensteten übernahmen. Eine richtige Wache brauchte man hier nicht, schließlich hatte auch Eviad seine eigene Göttin mitgebracht, die ihm Schutz gewährleistete.
      Der Mann erklärte das alles mit neutraler Miene und ohne, dass er vor Kassandra eine Regung gezeigt hätte. Schließlich wünschte er eine gute Nacht, verabschiedete sich und überließ die beiden sich selbst. Die Türen schlossen sich hinter ihm und Zoras schlurfte gleich auf das Bett zu.
      "Das's 'n guder Wein, weißd du das?"
      Er stieß mit dem Knie gegen den Bettrand, nachdem er sich verschätzt hatte, weil alles doppelt vor ihm schwebte, und ließ sich schwer in die Laken fallen. Der Untergrund war so himmlisch weich, dass ihm ein Stöhnen entfuhr und er sich gar nicht mehr rührte. Der Schlaf überrollte ihn schneller, als er denken konnte, ungeachtet seiner Festtagskleidung, die ihn jetzt gar nicht kümmerte. Nichts kümmerte ihn mehr, nicht, wenn er so weich lag, wie schon sein ganzes Leben noch nicht.
    • I wake up to the sounds of the silence that allows
      For my mind to run around, with my ear up to the ground
      I’m searching to behold the stories that are told
      When my back is to the world, that was smiling when I turned
      Tell you you’re the greatest
      But once you turn they hate us


      Der restliche Verlauf der Feier rieselte wie ein konstanter Wasserfluss an Kassandra vorbei. Die Gesichter, die Namen, die Gespräche – nichts davon behielt sie sonderlich viel länger in ihrem Gedächtnis als unbedingt nötig. In diesem Moment war sie glücklich darüber, dass Zeit etwas war, mit dem sie kaum Berührungspunkte hatte, und so kam das Ende der Feierlichkeiten schneller als sie angenommen hätte. Es ereigneten sich keine Zwischenfälle oder Situationen, in denen sich Kassandra einmischen müsste. Je länger die Nacht wurde und je näher der Morgen kam, umso deutlicher wurde es, dass Zoras dem Wein ebenfalls ergeben war. Er achtete nicht mehr so sehr auf seine Wortwahl, ebenso wenig wie die anderen Sterblichen in diesen Hallen. Lediglich die Unsterblichen hier amüsierten sich darüber, wie weit die Menschen fallen konnte. Und Dionysus hatte deutlich gemacht, dass man die Phönixin in ihren Kreisen zu der gleichen Art wohl zählen wollte.
      Am Ende war es auch Kassandra, die sich von ihrer Sänfte erhob und die restlichen wenigen Gäste sich versammeln ließ, um sie angesichts des nahenden Morgens zu verabschieden. Dass sie es primär tat, weil sie darum fürchtete, dass der neue Eviad in seinem desolaten Zustand etwaige Missgeschicke auslösen könnte, musste schließlich niemand wissen. So bedurfte es nur einen sehr bestimmten Wink und die Gesellschaft begann sich endlich nach etlichen Stunden aufzulösen.
      Theoretisch hätte sie Zoras einfach über ihre Schulter geworfen und ihn in sein neues Gemach getragen, doch die Wachen, die sie begleiteten, sollten nicht den falschen Eindruck bekommen. Also hatte Kassandra ihm ihre Hand auf den Arm gelegt, so als würde sie sich bei ihm einhaken, und stützte ihn somit ungesehen, damit er einigermaßen gerade gehen würde. Ihr war schon klar, dass seine Kapazitäten für den Abend gestrichen voll waren und so ließ sich die Phönixin mit dem Grundriss vertraut machen, für den sie nur eine einzige Erzählung brauchte. Man geleitete sie zu dem Gemach, vor dem die Wachen Stellung bezogen und Kassandra und Zoras das erste Mal seit Beginn der Krönung ihre Zweisamkeit bekamen. Jedenfalls nachdem sich ein Verwalter endlich auch verabschiedet hatte und die schwere Tür dieses Mal für Gut ins Schloss fiel.
      Ein gedehnter Atemzug entwich Kassandra, während Zoras zum Bett schlurfte, gegen das Gestell mit dem Knie prallte und unrühmlich auf die weiche Matratze fiel. Bedächtig warf die Phönixin einen Blick über ihre Schulter zu dem Mann, der sich nicht einmal mehr bewegte.
      „Das ist der beste Wein auf Erden“, korrigierte sie ihn sanft, doch die Zärtlichkeit ihrer Stimme erreichte ihre Augen nicht. Sie nahm keine weiteren Worte auf, da sie spürte, wie sein Geist in den Schlaf überglitt und sein Puls sich bereits verlangsamte. Er würde auf keine weiteren Worte mehr reagieren können. Vermutlich hörte er sie nicht einmal mehr.
      Folglich nahm die zierliche Frau eine ihr altbekannte Stellung ein. Sie postierte sich vor den großen Fenstern des Raumes, die bis an die Decke reichten und mit schweren Vorhängen die bald anstehende Morgendämmerung abhalten würden. Eine Stoffbahn schob sie beiseite, um sich an den Pfeiler zu lehnen und durch das Glas auf eine Stadt zu blicken, die nun auf unbestimmte Zeit ihr Hauptquartier sein würde.
      Moment, nein. Nicht ihr Hauptquartier. Seines. Er war der Herrscher dieses Landes, er war derjenige, dessen Namen man nannte. Seine Taten würden niedergeschrieben werden und irgendwann würde man auch darauf pochen, dass er sein Blut im Lande festigen würde. Er war nicht mehr der Jüngste und hatte mittlerweile ein Alter erreicht, in dem er längst dafür gesorgt haben sollte, dass jemand seine Anliegen übernahm. Wild begannen ihre Gedanken über die verschiedensten Themen zu kreisen bis sie schließlich wieder bei den Champions und Dionysus‘ Worten ankam. Der Ausdruck, dem sie ihm kurzerhand in einem unbedachten Augenblick geschenkt hatte, war unüblich ehrlich für sie gewesen. Auch wenn heute nichts geschehen war, ahnte Kassandra, dass Zeit ihr größter Feind von nun an sein würde. Wenn man das Unausweichliche nicht aufhalten konnte, dann würde man mit Hartnäckigkeit daran arbeiten, es aus dem Weg zu räumen. Die Champions und der Rat würden nach ihren Achillesfersen suchen, sie ins Visier nehmen und sie dort angreifen. Dessen war sich Kassandra sicher.
      Ihre Augen verschmälerten sich, als sie mit flammenden Iren im Dunkel des Zimmers durch das kalte Glas nach draußen sah. Sollten sie versuchen, sie zu Fall zu bringen. Darin hatte die Menschheit bislang schließlich immer versagt.

      Your words up on the wall, as you’re praying for my fall
      And the laughter in the halls, and the names that I’ve been called
      I stack it in my mind, and I’m waiting for the time
      When I show you what it’s like, to be words spit in a mic
      Tell you you’re the greatest
      But once you turn they hate us


      Die Sonne stand schon höher am Himmel, als sich Zoras in seinem Bett wieder zu bewegen gedachte. Einer Statue gleich stand Kassandra noch immer an den Fenstern, ihr schwarzes Haar schien nahtlos in den dunklen Stoff des Vorhanges überzugehen. Sie hatte ihn weder aus seinen Kleidern befreit noch hatte sie sich einen Moment lang zu ihm gelegt. Nur ein einziges Mal hatte sei kurz an seinem Bett gestanden und mit ihren Fingerspitzen eine sanfte Spur über seine Wange und Stirn gezogen. Dann war sie wieder zurück an ihren Posten gekehrt.
      Freundlicherweise hatte sich besagter Butler noch nicht bemerkbar gemacht. Womöglich lag das allerdings eher daran, dass Kassandra ihre Aura an der Tür verdichtet hatte, sodass kein Mensch es sich traute, die Klinke auch nur zu berühren.
      „Hättest du noch eine weitere Stunde geschlafen, wäre ich beinahe genötigt gewesen, dich zu wecken. Es wartet Personal darauf, sich dir vorzustellen, doch ich schätze“, begann Kassandra und legte eine Pause ein um sich zu vergewissern, dass Zoras sie auch wirklich vernahm, „du solltest dafür als erstes deine Kleider wechseln und dich womöglich etwas frischmachen. Dionysus‘ Wein neigt nicht unbedingt dazu, beste Träume zu bescheren.“
    • Zoras hatte noch nie in seinem Leben einen Rausch vom Wein erlebt. Wein war dazu da, genossen zu werden und ein Gesellschaftssymbol darzustellen, nicht etwa in Mengen von Met getrunken zu werden. Aber genau das hatte er gestern getan - sogar weitaus mehr als das. Die ganze Nacht über hatte er nichts anderes getrunken.
      Sein Schlaf war damit geprägt von einem merkwürdigen Gefühl der Schwerelosigkeit, aber nicht etwa die Art, die Sorgen und Lasten befreite, sondern bei der man fürchtete, jeden Moment in eine unbekannte Tiefe zu stürzen. Mehrmals trieb er von einem tiefen, fast bewusstlosen Schlaf hinauf in einen Halbschlaf, in dem er sich vage seiner Umgebung bewusst war, aber seinen Körper nicht bewegen konnte. Er träumte von wirren Gestalten, von Formen und Lichtern und besonders Eindrücken, von Szenen, die viel zu schnell vorbeizogen und ihn gleichermaßen Jahrhunderte lang in sich behielten. Er sah Amartius auf dem Kopf des Frostwyrms stehen, das gleichnamige Schwert in beiden Händen, bereit dazu, die Bestie und sich selbst gleichermaßen zu töten. Er sah Kassandra und Santras gemeinsam auf dem kerellinischen Schlachtfeld stehen, anstelle eines Himmels die schwarzen Feuer von Mynos über ihnen aufragend. Er sah sich selbst, 20 Jahre jünger, der albtraumhaftige Kavallerist, unbezwingbar zu Pferde, an dessen Lanzenspitze Feris' schmächtiger Körper baumelte. Er sah eine Hochzeit, Ryoran und Elive vor einem prächtig geschmückten Altar, ein einziges Erdbeben um sie herum, das Himmel und Erde spaltete. Er sah ein Gesicht, vielleicht das des Kerkermeisters, vielleicht Lokis, vielleicht Telandirs, dessen Lippen sich verzogen, vielleicht zu einem Lachen, vielleicht zu einem Weinen, vielleicht zu einem Schrei, der auf ewig stumm blieb. Er sah Dionysus auf einem Thron gefläzt, Kassandra zu seinen Füßen, der Raum in einen Wirbel aus Weinrot und Blutrot getaucht, der Boden in einem Sprenkel aus allen kuluarischen Farben. Er sah ein Pferd, ertrinkend in einem reißenden Fluss, in dem er langes Haar und weiche Gesichtszüge zu erkennen glaubte.
      Er sah ein brennendes, therissisches Dorf, in dessen Mitte eine Statue von Zeus in die Höhe ragte.
      Er sah einen Tisch für zehn inmitten einer verlassenen Weide mit einem einzigen Stuhl.
      Er sah eine Krone, therissisch aber kuluarisch, direkt in seiner Reichweite. Sie stach ihn, als er die Hand danach ausstreckte, und der Blutstropfen, der aus seiner Fingerkuppe hervorquoll, war so schwer, dass er den Boden unter seinen Füßen einbrechen ließ und er fiel, fiel, immer weiter fiel. Was war der Sinn eines Bodens, wenn man nicht drauf stehen durfte? Wo war nur Loki, wenn man ihn mal brauchte?
      Kassandra stand am Fenster, einem sonnenlosen Tageslicht zugewandt, als Zoras seine Augenlider schließlich aufzwang. Das Zimmer war zu hell für seinen Geschmack; sein Kopf pochte dumpf und sein ganzer Körper fühlte sich tonnenschwer an, auch wenn er jetzt endlich wieder die Kontrolle über ihn zurückerlangt hatte. Arme und Beine ließen sich bewegen, aber da hörten seine Kraftreserven auch schon auf. Er stöhnte und erschreckte sich dabei selbst, wie alt er dabei klang. Es war doch nur ein bisschen Wein - göttlicher Wein, ja, aber alles in allem immernoch Wein.
      Kassandra sprach zu ihm und er musste aufhören sich zu bewegen, damit er sich auf ihre Worte konzentrieren konnte.
      "Personal?", krächzte er verständnislos und dann hatte er endlich soweit seinen Verstand zurück, dass er mit Vernunft arbeiten konnte. Vernünftig war jetzt, sein Behaben der letzten Tage wieder aufzugreifen und einen präsentablen Eviad abzugeben; unvernünftig war es, mit zerknitterten Klamotten im Bett zu versauen. So sollte er sich nicht zeigen, nicht einmal dem Personal, dafür war er noch zu frisch hier. Ja, das war ein Anfang.
      Er robbte aus dem Bett heraus, was bei dem riesigen Gestell einer schieren Weltreise gleichkam, und wurde dann gleich wach genug, damit ihm auffiel, dass das gesamte Bett noch kalt war. Hatte Kassandra überhaupt geschlafen? Sie musste es ja nicht - aber hatte sie sich zu ihm gelegt? Warum war das überhaupt wichtig? Sie hatte sicher Wache gehalten, während er von einem fieberhaften Traum in den nächsten gerutscht war. Selbst hier war sie immernoch die aufmerksame Begleiterin, die sie das ganze Jahr über schon gewesen war. Das war doch das einzige, was gerade zählte?
      Er stieg auf ihrer Seite aus dem Bett heraus, streckte sich, bis seine steifen und schmerzenden Glieder allesamt knackten, und ging dann zu ihr. Flüchtig schob er den Arm um ihre Taille und küsste ihren Hinterkopf, alles, ohne dass die Phönixin sich vom Fenster abgewandt hätte. Von diesem Zimmer aus hatte man eine ganz fantastische Aussicht auf die Brücke, wie ihm auffiel.
      "Siehst du dir unser neues Zuhause an?"
      Er sagte es ohne jegliche Träumerei und ohne Sehnen, eine reine Tatsachen-Feststellung, was das Zuhause betraf. Sie sollten jetzt in Kuluar wohnen, ja, aber das brachte keinerlei emotionale Verknüpfung mit dem Ort einher.
      "Davon wirst du wohl noch oft genug etwas zu sehen bekommen."
      Damit löste er sich von ihr und schlurfte ins Badezimmer hinüber, ein Raum, der noch größer war als Havas' Wohnzimmer. Er hätte sicher gleich Bedienstete rufen können, die ihm beim Waschen und Rasieren zur Hand gingen, und für einen Moment war er auch dazu geneigt, als er die riesigen Spiegel erblickte, denen er sich stellen würde, aber dann schalt er sich innerlich selbst. Was, fürchtete er sich jetzt etwa vor seinem eigenen Spiegelbild? Eine Schlacht konnte er führen, einen Phönix konnte er bedrohen, einem Träger konnte er sich stellen, aber nicht einem Spiegel? Mit groben Bewegungen zog er sich die zerknitterte Festtagskleidung vom Körper und machte sich daran, sich präsentabel zu gestalten. Aber er hasste jede einzelne Sekunde davon.

      Der Butler stellte sich ihnen vor, indem er seine Dienerschaft im langen Gang zum Thronsaal, in dem Zoras vorstellig geworden war, versammelte und sie sich allesamt tief vor dem Paar verneigten. Jeder einzelne von ihnen trug entweder ein türkises Band um die Hüfte oder im Haar, keine Selbstverständlichkeit, wie der Mann ihnen wenige Minuten darauf mitteilte. Es war in einer respektvollen Geste gemeint, aber die Dienerschaft des Palastes trug, entgegen der Palastwachen, keine Farben, denn sie diente dem Herrschersitz und dazu zählten sowohl die Herrscher, als auch alle niederen Positionen. Zoras wäre das eigentlich egal gewesen, wenn er nicht bemerkt hätte, wie unglaublich wichtig den Kuluarern die Farben waren. Er nahm sich vor, später mit Kassandra darüber zu reden.
      Der Butler gab ihnen eine Führung durch den Palast, bei dem er ihnen augenscheinlich jeden Winkel zeigen wollte. Das Gebäude drängte eher in die Breite als in die Höhe, so wie es in Theriss der Fall war, und die Gänge waren kurz gehalten, nicht lang und hoch wie in Theriss, lediglich zu dem Zweck, Räume miteinander zu verbinden, anstatt Eindruck zu schinden. Von Räumen gab es hier sicherlich genug: Mehrere dutzend Schlafzimmer, Arbeitszimmer, Gästezimmer, Waschräume, 10 verschiedene Salons, drei Säle, eine Bibliothek, private Museen mit Sammelstücken der kuluarischen Geschichte, einen Innenhof, einen botanischen Garten. Die Bedienstetenräume befanden sich unter der Erde, das Dach ließ sich nicht besteigen, wenngleich man bei der runden Form wohl auf die Idee kommen könnte. Einen Trainingsplatz gab es nicht. Auf Zoras' höfliche Nachfrage hin vergewisserte der Mann, dass er jederzeit die Trainingsplätze der Arena nutzen könne, alternativ auch die der Kasernen, die aber ein Stück weiter weg lagen. Sollte er das Bedürfnis nach einem Trainingsraum haben, könne er den gewissenhaften Rat um Unterstützung bitten. Auf jener letzten Aussage verweilte er felsenfest, auch nachdem Zoras ihn unterschwellig daran erinnern wollte, welchen Stand er jetzt einnahm. Aber so schien das wohl zu sein: Eviad regierte zwar das Land, aber nicht zwingend auch alles, was sich in ihm befand. Zoras mochte den Gedanken nicht, dass er trotzdem auf den Rat angewiesen sein würde, genauso wenig wie er das Gefühl mochte, dass der Butler nicht so unparteiisch war, wie er es vorgab zu sein. Er hatte schon beim Verwalter die Tendenz beobachtet, eher zu Dionysus zu gravitieren und nachdem er beobachtet hatte, wie stolz die Kuluarer ihre neuen türkisen Schmuckstücke trugen, befürchtete er, dass in diesem Land kein Mensch unparteiisch war. Sie mochten es nicht zeigen wollen, aber das spielte überhaupt keine Rolle. In ihren Köpfen schwebte ihnen eine ganz eindeutige Farbe vor, die nicht zwingend zu ihrer offiziellen Farbe passte.
      Zumindest machte der Mann aber keinen Eindruck auf Zoras, als ob er gegen die neue Position des Eviads war. Auch darüber würde er aber mit Kassandra reden, schließlich konnte die Göttin in den Auren der Menschen etwas anderes lesen als Zoras in ihrem Behaben.

      Sie lernten weitere Angestellte kennen, alle zur Feier des Tages mit türkisen Accessoires ausgestattet, bevor sie zum Schluss wieder vom Palastverwalter empfangen wurden. Der Mann trug - nur für die scharfen Augen der Phönixin erkennbar - feines Puder im Gesicht, das seine dunklen Augenringe versteckte, die zweifellos von zu wenig Schlaf rührten. Während die Herrscher von Kuluar ihren Rausch hatten ausschlafen können, waren alle Bedienstete bereits wieder früh auf den Beinen gewesen, ungeachtet ihrer Schlafenszeit. Der Ablauf des Palastes funktionierte, wie man es von einem Herrschersitz erwarten durfte, wie ein Uhrwerk; man konnte sich einfach davon auffangen und mittreiben lassen. Ob es in Theriss auch so war wusste Zoras nicht, nur, dass er sich nicht einmal darum würde kümmern müssen. Alles war darauf ausgelegt, Kuluars Regierung von allen überflüssigen Aufgaben zu befreien.
      Er ließ sich vom Verwalter einige Gepflogenheiten im Palast erklären, bis er lange genug auf den Beinen war, um ernsthaft hungrig zu werden. Sie aßen in einem der Speiseräume, ohne dass sich eines der im Palast herumtreibenden Ratsmitglieder zu ihnen gesellt hätte, und beendeten den Tag frühzeitig. Zoras wollte zurück in ihr gemeinsames Schlafzimmer, weil es ihm nach einer Nacht Schlaf darin irrationalerweise als der sicherste Raum vorkam. Hier gab es neben dem lächerlich großen Bett auch eine Sitzecke mit einem Sofa, in dessen Armlehen Edelsteine eingelassen waren. Er setzte sich in die Mitte, lehnte sich zurück, spreizte die Beine und krempelte sich die Ärmel ein Stück nach oben.
      "Was hältst du von den "unparteiischen" Angestellten? Vielleicht werde ich ja paranoid, aber so unparteiisch kann hier keiner sein. Es sieht den Kuluarern ähnlicher, sich eine Seite auszusuchen und dann daran festzuhalten. Hast du beim Butler etwas in der Art bemerkt?"
      Vielleicht war es auch paranoid von ihm, dass ihm Kassandra distanzierter als sonst vorkam. Sie sprach mit ihm, aber sie setzte sich nicht zu ihm; sie sah ihn an, aber sie machte keinen Unterschied mehr zwischen ihrer erhabenen Miene und dem weicheren Ausdruck, den sie ihm zuteil kommen ließ. Sie war bei ihm, aber sie war nicht mit ihm. Aber vielleicht war auch das etwas, das er sich in der neuen Umgebung hätte einbilden können. Wann war es in dem letzten Jahr schließlich zu echter Nähe zwischen ihnen gekommen? Sie waren sich nie wieder so nahe gewesen wie bei Kassandras Befreiung.
      Seine Züge fielen ein bisschen ein und er setzte sich ein Stück auf, eine gar unbewusste Reaktion, die ihn vom augenscheinlichen Söldner ein Stück weit zurück in Richtung Herzog brachte. König war er noch lange nicht, aber Herzog sollte wohl für das Amt des Eviads vorerst auch genügen.
      "Komm doch her zu mir."
      Einladend streckte er die Hand zu ihr aus.
    • „Ja, Personal. Hausmädchen, ein Butler, deine persönlichen zwei Leibgardisten“, erinnerte Kassandra den neuen Eviad möglicherweise eine Spur zu scharf, als eben jener sich aus seinem halbtoten Zustand quälte und sich orientierte, wo oben und unten war. „Wenn du glaubst, dass du nach einer Krönung mitsamt Feier bereits von etlichen Pflichten befreit bist, muss ich dich leider enttäuschen.“
      Anstelle sich zu bewegen, verharrte Kassandra weiterhin an ihrem Ort und ließ den Menschen auf sie zukommen statt umgekehrt. Während er seinen Rausch ausgeschlafen hatte und mit seinen Träumen gekämpft hatte, war sie hellwach und wachsam an den Fenstern verblieben, um Gefahren frühzeitig zu erkennen. Sie hatte keine Zeit für….
      Kassandras Brustkorb gefror in seiner Nachahmung menschlicher Atmung. Ihre Augen wurden für einen winzigen Bruchteil etwas größer, als sich Überraschung in milden Schrecken wandelte. Sie hatte keine Zeit für was gehabt? Zoras von seinen Wahnträumen zu befreien? Früher hatte sie ihn doch immer durch die schlechten Nächte gebracht und jetzt hatte sie sich nicht einmal zu ihm gelegt. Selbst aus dem Bett hätte sie wachen können, der Ort war hierfür absolut belanglos gewesen. War es also wirklich das gewesen? Dass ausgerechnet das Gut, von dem die Phönixin schier unendlich zur Verfügung hatte, der Grund gewesen sein mochte?
      Nein, das war es nicht gewesen.
      Kassandra wusste es besser, und die Gewissheit war es, die sie unvorbereitet wie ein Schlag traf. Es war nicht die Zeit gewesen, die sie davon abgehalten hatte – es war schlicht und ergreifend das Fehlen von Empathie gewesen. Wo sie früher Mitleid für Zoras empfunden hatte, hatte gähnende Leere geherrscht. Ihr war einfach nicht in den Sinn gekommen, warum sie ihm seine Träume nehmen sollte, die ihm rein gar keinen Schaden zufügen konnten. Warum war ihr das noch nicht früher aufgefallen?
      „Ich nehme es an“, antwortete sie leichtfertig auf seine Frage hin, als sich sein Arm ungewohnt schwer um ihre Taille legte und er ihren Hinterkopf küsste. Nichts davon unterbrach das Starren nach draußen durch das Glas hindurch. „Vermutlich kann ich mich auf diesen Ausblick einstellen, richtig.“
      Damit entließ Zoras Kassandra aus seinen Fängen und tat endlich das, was ihm dringend angeraten wurde: sich vorzeigbar für alle anderen Menschen und Götter hier zu machen. Die Phönixin verblieb noch immer wie die Nachbildung einer Götterstatue an ihrem Fensterplatz und verschränkte lediglich die Arme vor der Brust, während sie versuchte, auch nur ein klitzekleines Gefühl an die Stelle zu zaubern, wo vorhin noch Zoras‘ Lippen gelegen hatten.

      Die Vorstellung der Gebäude sowie der gesamten Angestellten im Palast war genau das, was Kassandra erwartet hatte. Sie schritt an Zoras‘ Seite wie das von Gott gegebene Recht und ließ sich mit ihm über Lokalitäten und Abläufe unterrichten. Dass die ganzen Farben, die bunt gestreut wie ein Kaleidoskop in ihren Augen brannten, merkte sie selbstverständlich nicht an. Auch nicht die Tatsache, dass all jene, die das Türkis mit scheinbarem Stolz trugen, meistens dazu genötigt wurden oder ihre wahre Anbetung damit schlichtweg kaschierten. Überall, wo sie ihre dunkelroten Augen hinsehen ließ, entdeckte sie neben den Oberflächlichkeiten tiefergehende Überzeugungen, spätestens verraten durch die Auren, die in dem Moment, als man das hochheilige Paar entdeckte, in völlig andere Wellen ausschlugen und sie verrieten. Sei es in die eine oder eben andere Richtung. Niemand von den Sterblichen ahnte, dass Kassandra in der Lage war, die Auren zu lesen. Niemand von ihnen wusste, dass Götter dazu imstande waren und erst recht nicht, dass sie sich dazu hinablassen würden. Denn das bedeutete, dass sich der jeweilige Gott für eben jenen Sterblichen interessieren müsse. Welche kläglich falsche Annahme, schoss es Kassandra mehrfach durch den Kopf, doch sie hüllte sich in den Nebel der Verschwiegenheit und brachte dem Ablauf der Führung keinen Abbruch.
      Der Palastverwalter war das Aushängeschild für den Zustand der Bediensteten im Lande. Mit nur einem Blick enttarnte Kassandra den wahren Zustand des armen Mannes, der mitnichten die Nacht geschlafen hatte. Er musste eine fein gemahlene Mischung aus Kalkstein verwenden, um die blasslila Ringe unter den Augen zu verdecken. Im Gegensatz zu den höhergestellten Gästen mussten die Bediensteten weiterhin ihrer Tätigkeit nachkommen, ungeachtet des Zeitplanes oder ihrer Bedürfnisse. Entweder war der Druck für die jeweiligen Personen so hoch oder etwas anderes lag im Argen, denn kaum ein Mensch würde bis zum Exzess arbeiten wie jene hier. Die Aura des Verwalters stach aufgrund einer anderen Tatsache heraus; er wirkte von Kassandra ungewöhnlich unbeeindruckt. Sie las Respekt ganz deutlich aus seiner Aura, doch von Abneigung sowie Hingabe fehlte jede Spur. Ein gewisser Argwohn zuckte immer wieder durch die sonst ermattet wirkende Aura, aber das reichte aus, um ihn klar von den anderen Bediensteten zu unterscheiden. Es wirkte, als sei er sich seiner gewählten Seite noch gar nicht schlüssig.
      Nachdem Zoras irgendwann dem Hunger zum Opfer gefallen und er sich im Speisesaal hatte stärken können, entließ er den Verwalter und direktes Personal mit der Äußerung, sich vorerst zurückzuziehen. Dass die Erschöpfung noch immer in seinen Knochen steckte, spürte Kassandra auch auf drei Meilen Entfernung, weshalb sie nichts einwandte, sondern mit ihm in sein Gemach zurückkehrte und die Tür mittels ihrer Aura so abschreckend gestaltete wie am Abend zuvor.
      Während Zoras direkt das opulente Sofa ansteuerte, wählte Kassandra das Bett als ihren Zielort aus, wo sie beinahe gedankenverloren die Tagesdecke hier und da etwas verzog. „Du meinst all die Menschen, die fälschlicherweise annehmen, dass ich deren Absichten nicht lesen kann? Es ist ja nicht verwerflich, dass sich Menschen für eine Seite entscheiden und daran festhalten, aber ich muss dir zustimmen, hier ist man doch sehr parteiisch.“
      Ihr Blick ging hoch zum Kopfende des Bettes. Man hatte dort eine kleine Blume zwischen den Kopfkissen drapiert. Das Türkis in den Blumenblättern verblasste zu den Rändern hin und enthüllte die weiße Natur der Blume. Welche genau es war konnte Kassandra nicht bestimmen. Aber der Fakt, dass jemand innerhalb eines Tages es geschafft hatte, eine Blume so schnell einzufärben, war beachtlich. Wer machte sich solche Mühe?
      „Die Meisten vertreten eine gewisse Meinung zu dir. Ich nehme an, dass sie sich einem der Champions oder eher dem dazugehörigen Ratsmitglied verschworen haben und davon auch erst einmal nicht absehen werden. Der Verwalter zeigt keine Feindseligkeiten, genau wie der Butler, aber so recht ins andere Extrema schlagen sie beide nicht. Keiner von ihnen würde seine Hand für uns ins Feuer legen, allerdings lässt sich damit meiner Ansicht nach besser arbeiten als mit purer Angst, Hass oder Anbetung.“
      Hinter Kassandra raschelte und knarzte es, als sich Gewicht auf Polsterung verlagerte. Sie warf einen Blick über ihre Schulter zu Zoras, der plötzlich nicht mehr lungerte, sondern Haltung gewonnen hatte. Zum zweiten Mal an diesem Tag verriet nur eine kleine Regung an den äußersten Augenwinkeln ihrer Augen, dass ihr etwas Überraschendes aufgefallen war. Er sah sie erstaunlich wach an, musterte sie, kurz bevor er eine Hand zu ihr ausstreckte. Darauf reagierte die Phönixin nicht sofort, ließ aber stumm ihren eigenen Blick über seine Gestalt wandern. Schon lange hatte sie Zoras nicht mehr so thronend erlebt wie in diesem Moment. Die ausgestellten Beine signalisierten Sicherheit und Raumforderung, der gerade Rücken Entschlossenheit und der Blick in seinen Augen entsprach nicht mehr dem allzeit misstrauischen Mann, den sie scheinbar in der Nacht verloren hatte.
      „Und wenn ich zu dir gekommen bin?“, erwiderte sie nach einer Pause langsam und zähfließend wie Honig. Süß und klebrig, als könnten ihre Worte kein Wässerchen trügen. Sie würden lügen, wenn sie behauptete, dass ihr dieser Zoras nicht gefallen würde. Schließlich wich dieser Mann von demjenigen ab, der sich ausgesucht hatte, Eviad eines fremden Landes zu sein. Dieser hier schien eher der Mann zu sein, der ihrer würdig war und nicht der gebrochene Söldner von zuvor. Dass sie damit indirekt für sich feststellte, dass sie den Söldner Zoras weniger mochte als die anderen Varianten, überging sie jedoch.
      „Heißt das etwa, du findest jetzt Beachtung für deinen absoluten Schild? Deine unbrechbare Verteidigung, die dich gegen jedweden Gott und Angriff schützen wird?“, fügte sie noch hinzu, drehte sich aber dennoch langsam zu ihm um und näherte sich ihm an. „Du findest jetzt die Zeit, dich mir zu widmen? Nachdem du dieses Zimmer als sicher erachtest und dich nicht mehr in Speis und Trank vergehst?“
      Vor Zoras hielt Kassandra inne, den Blick von oben herab auf den König des Landes Kuluar gerichtet. Sie senkte nicht einmal ihr Kinn als sie nach seiner Hand griff, anstatt ihre in die seine zu legen. Mit festem Griff umschlossen ihre Finger sein Handgelenk, ihre Miene ließ das erste Mal eine aufrichtige Emotion durch die perfektionierte erhabene Maske blitzen; Verärgerung.
      „Ich habe keinerlei Problem damit, deine Sicherheit zu garantieren. Es stört mich ebenfalls nicht zu sehen, wie du deinen Pflichten als Eviad hier nachkommst und demnach einem gewissen straffen Zeitplan nachgehst. Aber was mich mit Gewissheit verärgert ist die Tatsache, dass ich einem Schatten gleich ständig um dich wandeln musste. Sicher, du bist die primäre Schachfigur in diesem Land, aber ich bin das unsterbliche Wesen, das über unvorstellbare Fähigkeiten verfügt. Es missfällt mir, wenn sie alle nur deinen Namen rufen anstelle des meinen.“
      Die schlanken Finger entließen das kräftige Handgelenk ruckartig. Bedächtig neigte Kassandra den Kopf und musterte den Mann, der sie noch immer unverhohlenen Blickes betrachtete. Noch immer hatte er die Faszination für sie nicht verloren, noch immer würde er für sie die Pforten zur Hölle aufstoßen, wenn es das sein musste, um zu ihr zu gelangen. Doch in dem vergangenen Jahr hatte sich etwas verändert.
      „Das letzte Jahr war beschwerlich und von Vorbereitungen geprägt für diese Aktion. Es wurden Prioritäten gesetzt, dessen sind wir uns beide bewusst. Aber gedenkst du, dass es sich ein weiteres Mal verschieben wird, nachdem du hier deine Regentschaft angetreten bist?“ Sie hob regelrecht anklagend beide Augenbrauen, ohne die Augen zu weiten. „Ich bin zu einer Selbstverständlichkeit an deiner Seite geworden, Zoras. Dein Schatten, deine Luft, dein Leben. Ich sage nicht, dass du aufhören sollst, mir zu vertrauen, aber wie oft magst du ohne mich wohl in der Zwischenzeit schon gestorben sein? Meine Anwesenheit macht dich argloser als gut für dich ist und auch, wenn du alle Räder der Zeit für mich in Bewegung bringen wirst, ist dir etwas im Laufe des letzten Jahres abhanden gekommen.“
      Und mir, aber das sprach Kassandra nicht laut aus. Sie sah bereits in seinen Augen, dass ihm etwas ähnliches aufgegangen sein musste. Also stieß sie einen nicht notwendigen Atemzug aus in der Annahme, dass es die Spannung vertreiben würde.
    • Zoras gab ein nachdenkliches Brummen von sich, mit dem er gleichzeitig Kassandra Zustimmung leisten und ihr mitteilen wollte, dass er über ihre Worte nachdachte. Es war nichts verwerfliches daran, dass die Angestellten persönliche Interessen zu vertreten versuchten, wenn sie sich einem Ratsmitglied zugehörig fühlten, obwohl sie eigentlich unabhängig sein sollten. Kritisch wurde es dann, wenn diese Loyalität zum Einsatz gebracht werden sollte. Der Verwalter würde Zoras nicht verachten, aber würde er dem Rat Bericht über ihn erstatten, wenn er dazu aufgefordert wurde? Das war ziemlich wahrscheinlich. Der Butler mochte ihm zu Diensten sein, aber würde er das auch noch, wenn er vor die Wahl gestellt würde: Eviad oder Rat? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Dieses "vielleicht" war es aber, das ihm ein zu hohes Risiko war. Es war ein Punkt, der das menschliche Schutzschild betraf, mit dem sie sich in der Stadt noch geschützt hatten. Auch jetzt zweifelte Zoras nicht daran, dass er sich wieder mit einer Masse umgeben könnte, wenn er den Palast verließ, aber hier drinnen konnte er das nicht. Hier drinnen war er hinter dicken Wänden versteckt, die für kaum einen Außenstehenden einsehbar waren. Wenn er seinen neuen Thron sichern wollte, brauchte er auch hier drinnen seinen Menschenschutz, denn Kassandra konnte kaum ununterbrochen an seiner Seite wachen, auch, wenn es ihm eine gewisse Sicherheit versprach.
      Kassandra war es auch jetzt, diese eigentliche Sicherheit, die sich nicht sofort zu ihm bewegte. Sie stand beim Bett, gute drei Meter entfernt, und musterte ihn für einen Augenblick nur, die tiefroten Augen gefasst und gleichgültig. Es dauerte nicht lange an, vielleicht zwei Sekunden, die sie ihn so betrachtete, aber es löste ein Gefühl in ihm aus, als hätte er etwas falsches gesagt. Nein, es war sogar noch schlimmer als das, als wäre die Phönixin drauf und dran, sich von ihm zu distanzieren. Das war doch nicht typisch für sie, oder? Hätte sie in Theriss jemals gezögert, sich zu ihm zu setzen, ganz besonders, wenn er sie schon so offen dazu einlud? Aber dann, auf der anderen Seite: Hatte sie sich jemals auf ihn zubewegt? War es nicht stets Zoras gewesen, der stets zu ihr aufgeholt hatte?
      „Und wenn ich zu dir gekommen bin?“
      War das eine Trickfrage? Sollte das ein Spiel werden? War Zoras noch so sehr von der Feier erschöpft, dass er nicht verstand, worauf die Phönixin hinaus wollte? Wenn es dort überhaupt etwas gab, was sie ansprechen wollte?
      "... Dann bleibst du hier bei mir sitzen. Oder du gehst wieder, ganz, wie es dir beliebt."
      Woher kam dieses befremdliche Gefühl, als hätte er eine Pointe überhört? Wo war der Einklang geblieben, den er sonst mit Kassandra stets aufrecht erhielt, auch wenn es dabei nur um ihr öffentliches Leben gegangen war? Wo war die Leichtigkeit, nach der er sich in diesem Moment sehnte?
      Langsam drehte Kassandra sich um und kam dann auch endlich näher, aber ihre Worte trieften nur so von versteckten Vorwürfen, dass es Zoras für einen Augenblick kalt den Rücken runterlief. So kannte er sie nicht, mit diesem kühlen Tonfall, mit den flammenden Augen, die gleichzeitig so hart wie Stein wirkten. Unter ihrem Blick fühlte er seine eigene Sterblichkeit, aber was ihn am meisten bestürzte, war ihre plötzliche Göttlichkeit. Er hatte Kassandra nie als etwas anderes sehen wollen, als was sie mit ihrer vereinten Essenz wirklich war, aber das hier, diese Frau vor ihm, hatte so wenig von der einstigen Kassandra, wie ein Phönix mit einem einfachen Vogel. Sie war eine Göttin, aber zum ersten Mal überhaupt kam ihm dabei nicht die flammende Gestalt in Shukrans Tempel in den Sinn, die Göttin im gleißenden Sonnenlicht, die Herrin des Lichts und des Feuers, sondern eine unantastbare Statue, ein Götzenbild in einer Schneelandschaft, deren Präsenz stark genug war, um alles um sie herum in die Knie zu zwingen. Die Flammen in ihren Augen, an denen er sich sonst gewärmt hatte, die ihm Rückhalt und Sicherheit geboten hatten, rückten in diesem Moment in die gleiche unerreichbare Ferne wie der Olymp selbst. Kassandra wirkte wie eine Göttin und sie war nicht hier, um sich mit menschlichen Kleinigkeiten herumzuschlagen. Das war nicht dieselbe Göttin, die ihn vor über einem Jahr in den Armen gehalten hatte.
      "Wovon redest du? Worauf willst du hinaus?"
      Er wusste es wirklich nicht, nur, dass er seine Hand jetzt gerne wieder zurückgezogen hätte. Nur war sie da schon bei ihm angekommen und ergriff die ihr zugestreckte Hand, ohne eine Spur der hauchzarten Berührung, die sie ihm am Fest noch zuteil gelassen hatte. Ihre Hand war warm, so wie immer, aber diesmal schmiegte sie sich nicht wie selbstverständlich in seine Handfläche. In ihren Augen loderte das Feuer auf, aber Zoras stellte erschrocken fest, dass es mit einem Mal die Macht besaß, selbst ihn zu verbrennen.
      Sie sprach weiter und Zoras' Schock wandelte sich in Unglauben und dann schließlich in eine eigene Form von Ärger. Hatte er sie eben richtig gehört? Hatte er sie richtig verstanden?
      "Es missfällt dir, wenn sie nur meinen Namen rufen?"
      Noch nie zuvor hatte er von seiner Phönixin eine derartige Aussage zu hören bekommen, ja geschweige denn auch nur eine Andeutung darüber, dass ihr die Anbetung eines gewöhnlichen Gottes abhanden kam. Es war niemals ein Gesprächsthema gewesen, denn nun wirklich: Kassandra hatte die letzten Jahrtausende in Gefangenschaft verbracht. Ein versklavter Gott hatte nichts anbetungswürdiges an sich. Natürlich wollte er es ihr nicht verdenken, aber nun war sie befreit und schon ein Jahr später schien es sie zu plagen, dass man ihren Namen nicht so verehrte, wie man Dionysus' tat. Als ob das wichtig wäre! Als ob es nichts wichtigeres gäbe, als dass die Menge "Zoras" - oder eher "Zeus" - und "Kassandra" rief!
      "Hast du vergessen, wo wir hier sind? Das gemeine Volk verabscheut Champions, zu denen es dich auch zählt. In Paspatera wollte man dich noch nicht einmal eintreten lassen, aus genau diesem Grund! Wenn du möchtest, dass sie deinen Namen rufen, wirst du mehr tun müssen, als bloß anwesend zu sein - aber wärst du nicht an meiner Seite, würden dich die Menschen gar nicht erst akzeptieren und wäre ich kein aufstrebender Eviad, hätte der Rat sich uns sicherlich schon früh entledigt. Das ist die einzige Weise, die uns beide weiterbringt."
      Jetzt stand er auch auf, nicht etwa, um nicht weiter zu der Phönixin aufsehen zu müssen, sondern weil er solch ein Gespräch nicht im Sitzen führen wollte. Er fühlte sein Herz unangenehm pochen, der Ärger fraß sich wie zerstörerische Flammenzungen hinein. War das der Grund hinter der seltsamen Distanzierung in letzter Zeit?
      "Du bist keine Selbstverständlichkeit."
      Er versuchte sich an einem festen Tonfall, der seinen Ärger ein Stück begraben und sie beide stattdessen festigen sollte.
      "Ich nehme deinen Schutz nicht einfach als gegeben hin. Aber wir wussten, dass es nicht leicht werden würde, selbst dann, wenn ich gekrönt werden sollte. Der Rat will uns nicht hier haben und sich von uns untergraben lassen, auch das wussten wir, damit haben wir gerechnet. Wir wussten auch, dass die größte Gefahr nicht einmal nur von einem, sondern gar fünf Champions kommt, die es allesamt gemeinsam auf uns abgesehen haben. Natürlich verdanke ich dir mein Leben öfter, als es mir lieb ist, und ich habe mich auch ein Stück weit daran gewöhnt, aber anders geht es nicht, anders kommen wir im Moment nicht aus. Wir brauchen einen eigenen Regierungsstab und genügend Vertrauen an ihn, dass er uns Immunität verschafft. Aber bis dahin, ja, verlasse ich mich ganz auf dich - anders geht es nicht."
      Vielleicht hätte er sich durch die versichernden Worte selbst wieder soweit beruhigt, dass er versönlicher an die Sache herangehen konnte; Kassandra wollte verehrt werden? Das konnte sie haben. Sie wollte nicht als Schatten an seiner Seite fungieren? Auch das war irgendwie anders machbar. Aber als sie mit einer scheinbar nebensächlichen Bemerkung endete, war der Ärger beinahe so schnell wieder hochgekocht, dass er ihre Hand von sich aus fallen ließ. Seine Haut prickelte, wo sie ihn berührt hatte, aber nicht auf die gute Art. In ihren Augen versuchte er die Antwort auf eine Frage abzulesen, die er noch gar nicht ausgesprochen hatte.
      "... Was? Was soll mir abhanden gekommen sein?"
      Was bei allen Göttern sollte ihm abhanden gekommen sein, wenn er im letzten Jahr doch dazu gewonnen hatte? Wenn er mit der Vereinigung mit Kassandra wieder einen Sinn in seinem Leben gefunden hatte, wenn er sich stetig, vorsichtig, durch ihre Hilfe immer weiter nach oben gearbeitet hatte, bis er, ein ehemaliger Sklave und Söldner, der gebrochenes kuluarisch sprach, sich bis auf den Thron erhoben hatte? Da hatte er etwas verloren? Was gab es da noch zu verlieren, was er zuvor nicht schon längst zurückgelassen hätte?
      Oder war auch das etwas, was Kassandra ihm nicht geradeheraus mitteilte? Verpackte sie ihre eigentlichen Worte nur wieder in zweideutige Sätze, die er erst entschlüsseln musste?
      In seinem Kopf pochte es. Der Ärger mochte ihm zu Kopf steigen. Er stand jetzt aufrechter als zuvor, weil Zoras trotz allem noch immer ein Mann war, der bei drohender Gefahr den Kampf anstrebte. Seine Aura legte sich um ihn wie eine stachelbeschwerte Rüstung.
      "Was ist es? Was auch immer du mir sagen willst, sag es gerade heraus. Lass diese Andeutungen sein."
    • Für Kassandra existierte keine Reue, kein schlechtes Gefühl oder Gewissen, als die Worte über ihre Lippen kamen und sie genau wusste, dass es keinen Menschen auf Erden gab, der bei ihnen ruhig Blut bewahren konnte. Folglich hatte die Phönixin ihre unbrechbaren roten Augen unausweichlich auf Zoras gerichtet, eher gesagt auf seine Aura, die ihn flackernd und nur für sie sichtbar umgab. Ganz genau bemerkte sie den Wechsel, als der Schimmer erzitterte und sich andere Muster und Farben niederschlugen. Ärgernis machte sich in ihr breit, ein sichtbarer Spiegel von dem, was Kassandra selbst gerade in Anflügen verspürte. Auf seine Nachfrage hin, ob es ihr missfiel, wenn die Massen nur seinen Namen priesen, verschmälerten sich ihre Augen kaum wahrnehmbar, aber es war eine Bestätigung nichtsdestotrotz.
      „Wie schön, dass du davon ausgehst, dass ich nur ehrfürchtige Stimmen akzeptieren würde“, erwiderte sie ungewöhnlich scharf und trat nicht einmal einen Schritt zurück, als Zoras es nicht mehr auf dem Sofa auszuhalten schien. Er richtete sich auf und überragte damit Kassandra, die den Kopf nicht in den Nacken legte, sondern von unten herauf einen niederschmetternden Blick erbrachte. Es lag nicht einmal eine Armlänge zwischen ihnen, doch der Abstand wurde mit unsichtbaren heißen Flammenzungen gespickt. Er merkte es nicht, aber er unterlag einer unermesslichen Fehleinschätzung, die er mit seinem begrenzten Wissen nicht besser treffen konnte. Selbst mit dem Wissen weigerte sich Kassandra, Verständnis zu zeigen. Dafür war der Frust, und darüber hinaus etwas wesentlich Pikanteres, schon zu weit gereift.
      „Dachte mir schon, dass du es selbst nicht realisierst.“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie seine Aura an seinem Handgelenk sich verdichtet hatte. Dort, wo sie ihn berührt hatte. Sie war dichter, härter geworden, obwohl das gar nicht machbar schien. Eine Abwehrreaktion ihr gegenüber, was ihr ein beinahe bitteres Schmunzeln entlockte, das mehr an grausame Selbstverteufelung erinnerte als allem anderen. Sein letzter Satz triefte vor dem, was sie ihm unlängst unterstellt hatte, und Gewissheit mischte sich in ihre Mimik, die sie nicht mehr ausdruckslos halten wollte.
      „Lass das vergangene Jahr Revue passieren. Diese Monate sind für mein Begreifen nur ein Wimpernschlag, aber für euch ist es ein empfindlicher Zeitraum eures Lebens. In diesem Jahr haben wir uns dazu entschlossen, ein Ziel zu verfolgen, das nicht stemmbar sein sollte für einen Sterblichen und seine Göttin. Natürlich verschieben sich Prioritäten, die Kraft wird anders investiert, aber nun erkläre mir, wie es dazu kommt, dass wir in der gesamten Zeit eher koexistiert als alles andere haben. Ich war dein Schatten, du die Säule im Licht. Ich bin ständig hinter dir gewandelt, denn ein Schatten kann niemals an der Seite der Säule im Licht stehen.“
      Erst als Kassandra ihre rechte Hand erhob, ließ sie auch ihren Kopf leicht in den Nacken fallen, damit Zoras sich ihrem unverhüllten Blick stellen musste. Sie bohrte die Spitze ihres Zeigefingers in seiner Brust und spürte, wie sie dabei seine Aura durchbrach, die sich in schützender Manier um ihn gelegt hatte. Ihre flammende Aura, unsichtbar für die meisten Wesen, brannte sich förmlich durch die seine und hielt sie davon ab, ihren Körper zu berühren. Mehr als diese Berührung bekam er vorerst nicht von ihr.
      „Wer hat gesagt, dass es für mich eine Rolle spielt, in welcher Verfassung der Besitzer der Stimme ist, die meinen Namen ruft? Es muss nicht immer Huldigung sein, die unsere Natur speist und nährt. Weshalb ist der Tod so mächtig? Weil er von den Menschen gefürchtet und ständig in ihrem Bewusstsein haust. Seit ich den Fuß in dieses Land gesetzt habe, bin ich keine einzige Sekunde in der Annahme gewesen, dass mich die Menschen hier jemals anbeten werden. Dafür sitzt die Abneigung zu tief, da hast du vollkommen recht.“ Sie machte eine Pause und ließ das ohnehin schwache Lächeln völlig verblassen. „Ich gehe davon aus, dass sie meinen Namen in Terror aussprechen werden. Wie die Naturgewalt, die ich bin. Aber, weißt du was? Das ist mir egal.“
      Jetzt ließ sie eine Spur des Wahns, den sie auch Dionysus gezeigt hatte, in ihren Zügen erscheinen. Nur eine Priese, ein Vorgeschmack auf das, was sich wahrlich noch in ihr verbergen mochte.
      „Hast du dich jemals gefragt, wie wir Götter überhaupt entstehen? Woher wir die Kraft beziehen, die wir nutzen, um Menschen zu terrorisieren oder zu verzaubern? Das seid ihr selbst gewesen, Zoras. Ihr Menschen mit eurem Glauben seid die Basis für unsere Macht. Aus genug Glauben, sei es Angst oder Anbetung, entstehen wir und solange das so bleibt, bleiben auch wir bestehen. Durch die Abgabe unserer Existenz binden wir uns an die Erde, an den Träger, und verlieren diese Verbindung. Aber ich habe meine Essenz wieder, ich bin nicht mehr länger frei davon, zu verschwinden. Deswegen brenne ich bei Bedarf meinen Namen eben auch in eure Geschichtsbücher ein, wenn es so sein soll“, schloss Kassandra schlussendlich. Kein Zittern lag in ihrer Stimme, ihrem Ausdruck oder ihrem Finger.
    • Kassandras Worte schnitten durch die Luft, als wären sie eigens dazu gedacht, Zoras zu treffen. Er zuckte vor ihnen zurück und vor der Härte, mit der sie kamen. So hatte er Kassandra bisher nicht erlebt, in dieser Weise hatte er sie bisher nicht reden gehört - aber er glaubte, dass er miterlebt hatte, von welcher Macht sie kamen. Nein, das hier war wahrlich nicht die Phönixin im Sonnentempel, das hier glich viel mehr dem haushohen Phönix, der einem anderen den Schnabel in den Hals rammte, nur dass hier keine göttlichen Mächte im Einsatz waren. Hier war es lediglich Zoras und ein paar Worte, die scharf genug waren, ihn auf einer anderen Ebene zu verletzen.
      "Du weißt genau, wie es dazu gekommen ist. Wir waren mit einem...", er überlegte, zuckte fahrig mit dem Arm, "einem Auftrag unterwegs und das nicht mehr in Theriss, nicht mehr an einem Ort, wo wir uns nur nach Luor zurückziehen müssten und ein paar Offiziere beauftragen könnten. Wir hatten keine Männer, wir hatten kein Zuhause, wir hatten die Hälfte der Zeit noch nicht einmal eine Unterkunft - natürlich haben wir nicht..."
      Aber noch während er es selbst in Worte fasste, begriff er zur gleichen Zeit, was Kassandra eigentlich meinte, wenn sie sagte, dass sie nur zusammen koexistiert hatten. Denn in Theriss, Zuhause, damals hatten sie nichts anderes getan, sie hatten einen Auftrag erfüllt, bei dem sie sich auch nicht einfach zurückziehen konnten, aber sie waren ein Team gewesen. Sie waren Partner gewesen. Das hier, das letzte Jahr... genauso gut hätten sie in der Sache Fußsoldat und General sein können. Sie waren mit Zweckmäßigkeit marschiert und nicht mit dem Band, das sie damals in Theriss geknüpft hatten.
      Warum nicht? Lag es wirklich an Kuluar?
      War es das, was ihm abhanden gekommen war?
      Er beendete den Satz nicht, presste stattdessen die Lippen zusammen und horchte darauf, wie der Ärger in ihm einem lähmenden Gefühl der Bedrückung wich, das sich tief in seinem Magen ablagerte. Er hatte fest damit gerechnet, dass Kassandra etwas davon sagen würde, dass er nicht mehr "der Mann von früher sei", dass er sich "verändert" hätte oder etwas ähnliches, das ihn vollkommen aus der Bahn geworfen hätte, aber das tat sie nicht. Sie blieb vollkommen sachlich, während er realisierte, dass er selbst nur seine eigene Angst auf sie hatte abwälzen wollen.
      Ihr Finger bohrte sich anklagend in seine Brust und Telandirs Narbe lachte ihn mit vollem Hohn aus.
      Unbewegt starrte er diesem tiefen, zerstörerischem Blick entgegen, in dem er alles sehen mochte, nur nicht die sanfte Kassandra vor etlichen Leben, die sich in einem Zelt an ihn geschmiegt hatte. Ein weiterer Kälteschauer jagte über seinen Rücken, ähnlich dem, der ihn bereits ergriffen hatte, als ihm Kassandras Göttlichkeit so sehr ins Gesicht gesprungen war. Wie oft hatte Kassandra ihn schon davor gewarnt, dass ihr Wesen nichts war, womit sich leichtfertig umgehen ließ? Dass sie nicht die friedliebende Phönixin war, für die er sie halten mochte? Dass der Grund, dass sie aus dem Himmel verstoßen war, berechtigt sein mochte?
      Er konnte es jetzt auch sehen, konnte es hören und an diesem tiefen, aufblitzenden Endlos erkennen, das in ihren Augen auftauchte. Der Anblick weckte Instinkte in ihm, die ihm bis dahin gar nicht bewusst gewesen waren, ähnlich der übermenschlichen Kraft, die ihn in ihrer Präsenz in die Knie gezwungen hatte. Kassandra war nicht nur irgendeine Göttin. Kassandra war, so wie Dionysus, so wie Zeus, so wie alle göttlichen Wesen, aus einem ganz bestimmten Grund erschaffen wurden.
      "Woran glaubt man bei dir?"
      Sein Mund war trocken, er schluckte. Während er seine Frage neu formte, erhob sich vor seinem inneren Auge bereits der tiefschwarze Phönix, das Blut seines eigenen Artgenossen auf dem Gefieder, die mächtigen Schwingen ausgebreitet, ein Symbol der Wiedergeburt, aber hier ein Symbol von... was genau?
      "Wodurch bist du entstanden? Woran beten die Menschen, wenn sie deinen Namen aussprechen?"
    • „Woran glaubt man bei dir?“
      Da war diese Trockenheit in der Stimme, als Zoras die Frage stellte und damit unweigerlich eine uralte Erinnerung wachrüttelte, die tief in Kassandras Bewusstsein vergraben war. Nur ein einziger Mensch vor ihm hatte ihr dieselbe Frage gestellt mit einem vergleichbaren Tonfall. Doch wo bei dem Menschen damals eher Ehrfurcht mitschwang, war Zoras nicht davon getrieben. Seiner Frage lag etwas anderes zugrunde. Vor seinem geistigen Auge sah er Bilder, das konnte Kassandra durch reine Beobachtung feststellen.
      „Wodurch bist du entstanden? Woran beten die Menschen, wenn sie deinen Namen aussprechen?“
      „Willst du das wirklich wissen?“, stellte die Phönixin die Gegenfrage, schnaubte kurz darauf jedoch und ließ den bohrenden Finger am Ende sinken. „Natürlich willst du das, sonst würdest du nicht fragen.“
      Der Ausdruck des Wahns war schlagartig von ihrem Gesicht gewichen, ebenso wie die Verärgerung, die vorhin noch jedes ihrer Worte gefärbt hatte. Nun machte sie auf dem Absatz kehrt und ging zu dem Bett herüber, wo sie sich würdevoll auf die Decke setzte. Ein Bein überschlug sie, die Hände legte sie in ihrem Schoß übereinander.
      „Vor einer langen Zeit, jener Zeit, die noch weit vor eurer Geschichtserfassung liegt, gab es ein Wüstenvolk, das sich niemals einen Namen als einer der Hochkulturen machen sollte, die sie einst gewesen war. Sie waren weder Barbaren noch unkultiviertes Volk, sondern hegten einen gewissen Standard. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt beteten sie keine Einheit an, bis auf die roten Vögel, die nach den Jahreszeiten das Land zum Nisten aufsuchten und wieder wegzogen. Das leuchtende Rot in der sonst so monotonen Wüste läutete die Zeit der Fruchtbarkeit ein, sodass sich die Geschichten von selbst schrieben. Sie begannen, den roten Vögeln übermenschliche Kräfte zuzuschreiben und veranstalteten Feste, wann immer die Saison anbrach. Am Ende kristallisierte sich der Glauben an besonders mächtige Vertreter dieser Art heraus, begleitet von dem Element des Feuers wie ihr Gefieder. Man verbrannte die Toten in der Annahme, dass die Menschen hoffentlich in den Eiern der Vögel wiedergeboren werden und dadurch festigte sich das Bild von mächtigen Vertretern der Vögel. Dadurch entstanden die ersten Phönixe.“
      Ihre Augen verloren ein wenig den Fokus als sie in weitere Erinnerungen eintauchte, die immer dunkler anstelle heller wurden. Die Augenblicke, in denen sie ihre Augen im Himmel aufgeschlagen, ihre Zeit dort verbracht hatte und schließlich auf die Erde verbannt wurde.
      „Die Kultur war nicht so einfältig, als dass sie ständig an das Gute und das Beste glaubten. Unter ihnen waren Individuen, die fest davon überzeugt waren, dass es unter den heiligen Vögeln auch einen geben musste, der genau das Gegenteil war. Der die Züge der anderen heiligen Vögel besaß, aber schwarz wie die Nacht war. Das Dunkel, der Schatten, der heiligen Vögel und sich an dem Leid und dem Schmerz der Menschen ergötzte. Doch er brauchte das Leben, um auch das Leid spüren zu können, wodurch ihr Glaube eine Existenz schuf, die sich in ihren Grundfesten widersprach. Die Erzählungen und Vorstellungen wurden weitererzählt, wandelten sich zu Schauergeschichten, denen man abends den Kindern erzählte, damit sie auch ja hörig blieben. Man begann, den Aschevogel für seine Unbeständigkeit und Grausamkeit zu fürchten, denn dort wo er wütete fanden die Seelen keine Erlösung.“
      Ein einziges Mal hatte Kassandra diese Geschichte erzählt. Nur einem einzigen, anderen Wesen, der die Wahrheit eigentlich mit in sein Grab genommen hatte. Niemand würde die Geschichte korrigieren oder die Ereignisse, die auf ihre Taten beruhten, mit ihrem Namen versehen. Denn einst hatte Kassandra gar keinen Namen besessen.
      „Damals besaß ich keinen einzigartigen Namen. Diesen habe ich mir ausgesucht, als ich auf die Erde geschickt worden war, weil ich die einzige meiner Art war. Ich besaß nicht die roten Haare und das rote Gefieder wie die Anderen. Ich wollte nicht um jeden Preis das Leben schützen. Ich wollte andere Dinge, ich wollte den Schmerz und die Pein sehen, weshalb mich meine eigene Art abspaltete und als Anomalie auf die Erde schickte zu all dem unreinen Gesindel, das sich gegenseitig ausmerzen würde. Denn dort sollte ich hingehören und nicht in den Himmel. Woraus ich entstanden bin? Aus Horrorgeschichten, aus Furcht und aus Schrecken. Woran beten die Menschen? Früher baten sie um Gnade und Verschonung, heute an gar nichts mehr, weil sie meinen Namen gar nicht kennen.“
      Kassandra blinzelte, dann richteten sich ihre roten Augen auf Zoras. Diese Augen hatte sie mit allen anderen Phönixen gemein, die Form hatte sie mit allen anderen gemein. Ihre Fähigkeiten waren beinahe dieselben, nur dass sie über die Macht verfügte, mit ihrem schwarzen Feuer göttliche Einheiten zu befallen und zu zerfressen. Deswegen mieden selbst die anderen Götter sie und verhöhnten sie. Das alles waren die Dinge gewesen, die sie Zoras niemals während ihrer Zeit als Träger und Champion erzählt hätte. Damals waren die Karten noch anders gespielt worden, doch nun befand sich Kassandra wieder dort, wo sie vor etlichen tausend Jahren gestartet hatte.
      Ob Dionysus sich dessen überhaupt bewusst war? Immerhin leugneten die namenhaften Götter ihre wahre Schöpfung.
      „Ich bin nicht für den Frieden geschaffen. Ich gebe mich nur ehrwürdig und freundlich, weil es deinem…“, sie stoppte kurz, schüttelte den Kopf und setzte neu an. „Weil es das sein soll, weshalb ich existiere. Mir wäre es lieber, wenn die Menschen mich mit Güte verknüpfen würden, aber mein Gefühl und meine Natur sagen etwas anderes. Ich kann einen ganzen Kontinent von ihrem Tyrannen befreien, aber das würde mich im Inneren nicht so sehr befriedigen wie beispielsweise die unzähligen Toten in Mynos, die durch mein Feuer ihr Leben ließen. Die Schreie, die Geräusche, das rapide Erlöschen von Auren war wie Balsam für meine geschundene Seele. Mein Verstand wehrt sich dagegen, doch meine Natur befürwortet dieses Handeln. Deswegen zog ich in den direkten Konflikt, wann immer mich ein Träger dazu angewiesen hat. Weil ich mich nur in diesen Moment wie das gefühlt habe, was ich bin.“

      Ich bin kein Monster und werde niemals eines sein. Ich bin entstanden, weil es Menschen so gewollt haben, denn nur ein angemessen starkes Verlangen schenkt eine Existenz. Ich hinterfrage nicht, wieso ich existiere oder warum. Wie ich geschaffen wurde, lässt sich nicht ändern und das will ich auch gar nicht.
      Ich bin der Aschevogel und das ist meine Existenz.
    • Zoras sprach nicht, er gab kein einziges Geräusch von sich, während er Kassandras Entstehungsgeschichte lauschte. Sie war so einfach und primitiv, wie es nur die Menschen zustande brachten: Ein Wüstenvolk, das von ihren roten Vögeln die ersten Phönixe entstehen ließ, aber in allem Guten auch etwas Schlechtes sahen. Der Aschevogel, der irgendwo dort draußen lauern mochte, um sich von allem schlechten zu ernähren, die Schauergeschichten, die sich davon entwickelten, um die Kinder abends ins Bett zu schicken und sie nicht in der Nacht zu verlieren. Das alles hätte genauso gut an einem anderen beliebigen Ort entstehen können, denn so waren sicherlich die meisten Götter entstanden, aus einer Reihe von Geschichten und Aberglaube. Aber es war in einem Land der Sonne geschehen und das auch noch zu einer Zeit, in der es kaum genügend Länder gegeben hatte, um eine ganze Reihe an Göttern hervorzurufen. Tatsächlich mussten die Phönixe einige der ersten Götter gewesen sein, wenn nicht gar die ersten überhaupt. Deswegen entsprangen sie auch nicht dem Olymp, denn dieser Ort musste erst geschaffen worden sein, als sich die Frage stellte, wo sich so viele Götter wohl verstecken mochten, wenn sie nicht unter den Menschen wandelten. Das alles ergab einen Sinn, auch wenn Zoras noch nie eine Wüste gesehen hatte und von dem Volk wahrlich noch nie etwas hätte erfahren können. Menschen waren nunmal immer dieselben, ob nun vor mehreren hunderttausend Jahren oder danach. Ihre Gesellschaften mochten sich entwickeln, aber Menschen, in ihren Grundzügen, würden immer dieselben bleiben.
      Und noch etwas gab für ihn mit einem Schlag Sinn: Nuliubda und Shukran. Kassandra musste nach ihrer Verbannung nicht nur vom Himmel herabgestiegen sein, weil sie bei den Wüstenvölkern die meisten Anbeter hatte, sondern weil der Ort eine Art Zuhause für sie darstellen musste, der Ort, von dem sie erst hervorgegangen war. Sie war Teil der Wüsten, so wie es Sonne, Sand und Feuer war, sie hatte dort dieselbe Daseinsberechtigung. Was hätte sie an einem anderen Ort der Welt anfangen sollen? Was sollte sie hier anfangen? Schmerz und Pein, die Grundlage ihrer Existenz, konnte sie in allen Ecken der Welt finden, aber nur der Schmerz und das Leid eines Wüstenvolkes hatte sie erschaffen - in Verbindung mit der Anwesenheit ihrer anderen Artgenossen, die für Fruchtbarkeit sorgten und ein neues Leben einläuteten. Es ging nicht um das allgemeine Leid, das etwa durch Krieg hervorgerufen wurde, es ging um etwas, das niemand in Kuluar - wenn überhaupt auf der ganzen Welt - wirklich in Worte fassen könnte, denn das Wüstenvolk von damals war heute sicherlich nicht mehr dasselbe, wenn es überhaupt noch existierte. Kassandra existierte durch eine ganz anderen Art von Schmerz. Daher auch die Feuer von Mynos, die die ganze Welt für einen reinen Gewaltakt gehalten hatten: Kassandra suchte lediglich nach ihrer Bestimmung, und die Feuer waren dem am nächsten. Alle anderen Phönixe konnten auf der ganzen Welt für ihre Fruchtbarkeit angepriesen werden, aber Kassandra fand nur unter speziellen Umständen die Anbetung, die sie jetzt, wieder mit ihrer Essenz vereint, benötigte. Aber wo würde sie sie finden? Kein Mensch würde in der heutigen Zeit verrückt genug sein, einen böswilligen Gott mit derselben Ehrfurcht anzupreisen wie einen gutwilligen.
      Nein, die Menschen der heutigen Zeit würden den Namen Kassandra allenfalls mit Angst und Grauen in den Mund nehmen. So war die Welt nunmal, sie war kein Ort mehr, an dem man sich erlauben konnte, an die Balance von Gut und Schlecht zu glauben. Das Schlechte hatte die Überhand und so blieb einem nichts anderes übrig, als das Gute herbeizusehnen und das Schlechte zu verdammen.

      Zoras verstand sie. Zoras begriff, was Kassandra ihm durch direkte Worte wohl nie hätte erklären können.
      Sein Blick lag noch immer unbewegt auf ihr, als ihre roten Augen die seinen trafen. Einen Moment lang fasste er sich ans Kinn, ließ die Hand dann aber wieder fallen. Er war ihr nicht zum Bett gefolgt, stand noch immer bei dem Sofa, während sie schon weitersprach.
      "Du meinst, du verhältst dich so, weil man dich dafür zumindest nicht abstoßen würde. Weil man dich zumindest in einem falschen Glauben anbeten würde."
      Auch das verstand er. Er hatte zwar keine Ahnung, wie es sein mochte, als Gott von seinen Anhängern abhängig zu sein, aber im Grunde war es nichts anderes, als eine überhohe Herrschaftsposition. Man regierte nunmal nicht, wie einem das recht war, sondern nur nach den Vorstellungen seines Volkes, damit man auch weiterhin regieren konnte. Nun konnte man sich, wie Kassandra, dem Willen des Volkes fügen, oder man fand ein Land, das seinen eigenen Willen vertrat - wie Nuliubda. Aber für Kassandra, die man nicht mehr für ihre eigentliche Schöpfung verehrte, gab es nur die erste Möglichkeit. Fügen, oder einfach gar nicht herrschen.
      Langsam nickte er, griff sich doch wieder ans Kinn, vermisste seinen Bartflaum, ließ die Hand wieder fallen. Ein paar Schritte kam er hinter dem Sofa hervor, schloss aber nicht ganz zu Kassandra auf. Sein Ärger, sein Misstrauen - seine Angst - waren verflogen, stattdessen ertappte er sich dabei, wie er die Phönixin musterte wie einen Schlachtplan. Das brachte ein neues Gefühl mit sich, eine Skepsis gegenüber sich selbst. In diesem Licht, in dem er die Göttin jetzt sah, hatte er sie noch nie betrachtet.
      "Du bist eine spezielle Göttin, einzigartig wie Zeus, aber auch in deiner Bestimmung einzigartig. Die Masse verehrt dich nicht, weil sie nicht unter denselben Umständen aufgewachsen sind wie dein Wüstenvolk. Sie vertreten noch nicht einmal einen ähnlichen Glauben, jeder glaubt heutzutage an den Olymp und daran, was er angeblich hervorgebracht hat. Da gibt es keinen Platz für eine Phönixin, die ihre Artgenossen verkörpert, aber etwas anderes ist."
      Einige Sekunden lang verfiel er in Schweigen, dann kam er ganz auf Kassandra zu, streckte fordernd seine Hand aus, erhielt die ihre - selbst jetzt hätte er niemals versäumt, der Göttin wenigstens einen Hauch des ihr gebürtigen Respekts zukommen zu lassen - und drückte sie leicht. Vielleicht wäre er auf die Knie gegangen, ganz nach dem alten Zoras, aber der Wein saß ihm noch zu tief in den Knochen und seine Glieder waren zu schwer dafür. Er sah ihr nur in die Augen, sehr eindringlich.
      "Lass mich dir helfen. Es braucht kein Wüstenvolk, um deine Anbetung zu erfahren, aber sie jetzt schon zu suchen, hier am Hof von Kuluar, wird uns nicht weiterbringen. Es braucht mehr als die Feuer von Mynos, um die Menschheit zu bekehren, aber unmöglich ist es nicht. In Zeiten der vielen Götter des Olymps ist es alles andere als unmöglich."
      Das Feuer in ihren Augen war jetzt auch wieder zu einem erträglichen Maß abgeklungen, auch wenn es ihn noch nicht so sanftmütig aufnahm, wie er es von früher noch kannte. Dabei ging es ihm ähnlich mit dieser vermeintlichen Empfindung; was hätte er nur getan, um die Zeit fünf Jahre zurückzudrehen an einen Sommertag, als sie zum Fluss geritten waren? Aber das konnte er nicht und so sah die Realität nunmal nicht mehr aus; er sollte jetzt ein Land beherrschen und Kassandra sollte zu ihrer alten - wahrhaftig alten - Macht zurückkehren. Sie waren beide nicht mehr dieselben und sie würden sich deshalb auch nicht mehr auf dieselbe Art näherkommen. Sie würden es wieder lernen müssen, neu lernen müssen; das war es, was das letzte Jahr ihm versucht hatte beizubringen. Er war ein anderer, ja, aber wenn Kassandra auch eine andere war, dann war noch nichts verloren. Sie könnten immernoch ein Team sein.
      "Du musst mir nur vertrauen. Kannst du das? Meine wunderschöne, einzigartige Haria?"
    • Das leichte Senken von Kassandras Lidern verriet, wie es in ihr aussah, als sie Zoras antwortete. „Ja, deswegen habe ich mich so verhalten. Es ist im Nachhinein schwieriger, Glaube durch Ehrerbringung zu generieren, aber wie die anderen meiner Art wollte ich im Licht stehen und nicht im Schatten. Ständig spürte ich den Drang, Gewalt zu vermeiden und das Leben zu erhalten zu wollen, aber sobald ich nicht mehr daran glaubte, kehrte die Gewissheit ein. Wie Luft, die ihr atmet, war mir klar, dass reine Überzeugung meine Natur nicht ändern würde. Ich lebe einen Widerspruch in sich selbst.“
      Unter ihrem wachsamen Blick fasste sich Zoras in einer altbekannten Geste ans Kinn, fand nichts und ließ seine Hand wieder sinken. Diese Geste war ihr dermaßen vertraut, dass sich das Zucken ihrer Mundwinkel anbahnte, noch bevor sie etwas dagegen hätte unternehmen können. Das unstete Wirren seiner Aura, die neben Ärger auch noch Angst angezeigt hatte, war verschwunden, als er sich einige Schritte nach vorn traute. Wie schnell sie das hatte schaffen können, war der Phönixin ein Rätsel, doch scheinbar hatte es ausgereicht ein wenig mehr darüber zu erzählen, woher sie eigentlich kam. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sie ihm offen zeigte, wie sie manche Gesetze außer Kraft setzen konnte.
      „Vielleicht bin ich ja zu einer unheilbaren Krankheit verkommen?“, warf sie stattdessen einfach in den Raum und legte den Kopf leicht schräg, um Zoras dabei zu beobachten, wie er zur ihr aufschloss und ihr seine Hand entgegenstreckte. Dieses Mal schlug sie sie nicht aus, sondern kam seiner Forderung beinahe umgehend nach. Dass es daran lag, mit welcher Bestimmtheit er diese Geste und damit ihre Hand einforderte, sagte sie ihm ebenfalls nicht. Es war genug Zeit mit ihm ins Land gezogen, sodass er sie nicht mehr wie auf Händen tragen sollte. Schließlich konnte sie sie beide mit ihren Schwingen in die Lüfte heben.
      „Mit Zeit kommt Rat, das ist schon klar. Und von Zeit sollte ich ja mehr als genug haben, nicht wahr?“ Er wusste es nicht. Er konnte es nicht wissen, wenn sie es ihm weder sagte noch zeigte. Keiner der Götter würde sich jemals die Blöße geben und einem Menschen offenbaren, wie sie aus ihrer Existenz ganz leicht schwinden konnten. Dasselbe würde Kassandra tun und Zoras solange im Dunkel lassen, bis er seine Augen für immer schlossen. „Ich weiß, dass Mynos nicht ausreichen würde. Ich muss das nächste Mal einfach ein ganzes Land in Flammen aufgehen lassen, damit man meinen Namen verewigt.“ Davon war sie das eine Mal gar nicht weit entfernt gewesen.
      Ihre Augen musterte Zoras‘ Gesicht mit einer ungeahnten Eindringlichkeit. Als versuche sie, nur mithilfe ihres Blickes seine gesamte Gefühlswelt zu ergründen. Was sie sah, war nicht mehr das Suchen nach Bestätigung und sanfter Zuneigung. Er hatte seinen Blick gegen etwas getauscht, das weiter reichte als Kassandra nur als seine Liebe zu betrachten. Auch ohne hinzusehen fühlte sie, dass nur Aufrichtigkeit aus Zoras sprach – wie hätte es auch anders sein können? Er würde sie niemals anlügen, dessen war sie sich, im Gegensatz zu vielen anderen Dingen, zu einhundert Prozent sicher. Ein Fakt, der unumstößlich für sie war.
      Als hätte Zoras es geahnt, nutzte er seinen ganz eigenen Spitznamen für Kassandra, der ihr schließlich doch sämtlichen Schwermut aus dem Gesicht wischte. Ihre angespannte Miene brach sichtlich auf, als sich Muskelpartien glätteten und sie die Stirn nicht mehr so in Falten legte. Das Lächeln erschien wieder auf ihren vollen Lippen, begleitet von erleichterter Weichheit in ihren Augen.
      „So, so, du willst also eine Göttin um Vertrauen bitten, die aus Leid und dem Ende und der Angst ihre Kraft bezieht?“, fragte sie mit einem leicht spöttischen Unterton in der Stimme, als sie ihre Hand in seiner drehte und fest zupackte. Einhändig zog sich Kassandra auf die Füße und stand so nah an Zoras, dass sich ihr Körper bereits an seinen schmiegte. Wie zuvor musste sie zu ihm aufsehen, doch die Verärgerung war nirgends zu sehen. Stattdessen ließ sie ihre freie Hand über seine Flanke, seine Brust und seinen Hals bis hinauf zu seiner Wange gleiten und ignorierte dabei wissentlich, dass er höchstwahrscheinlich wieder zurückzucken würde. Dass er die Berührungen nicht ertragen konnte. Aber da hatte Kassandra sich verständlich und fürsorglich gezeigt. Doch in Wahrheit war sie ein grausames Wesen durch und durch.
      So hielt sie ihn mittels eisernen Griffes an Ort und Stelle fest, selbst als er hatte weichen wollen. Ihre Hand an seiner Wange erhielt einen Nachdruck, mit dem sie sein Gesicht zu ihrem nötigte und sich einen Kuss einforderte, der so anders und so intensiv war wie kaum ein anderer zuvor.
    • Unentschlossen sah Zoras in die tiefroten Augen seiner Phönixin hinab. Er suchte nach einem Hauch von... was eigentlich? Lüge? Von Kassandras trockenem Humor, den sie bei Zeiten an den Tag legte? Aber sie begegnete seinem Blick mit aller Ernsthaftigkeit ihres Wesens und da begriff er erst, dass sie es ernst meinte. Wenn sie das nächste Mal die Gelegenheit bekäme, würde sie ein ganzes Land in ihren Flammen aufgehen lassen, damit auch die ganze Welt erfuhr, wer dahinter steckte. Wenn die schwarzen Feuer von Mynos schon ein so großes Aufsehen erregt hatten, was würde dann ein ganzes, schwarz verrauchtes Land hinterlassen?
      Ein Gefühl der Beklommenheit machte sich in ihm breit und daneben... der Drang zu lächeln. Es war ganz intuitiv, eine reine Reaktion seines Gesichts, an dem seine Mundwinkel bereits zuckten. Natürlich könnte er niemals gutheißen, dass die Phönixin ein ganzes Land in Schutt und Asche versenkte - nicht einmal in Asvoß hätte er es gutheißen können - aber darum ging es im Moment auch gar nicht, oder? Er fing nicht an zu lächeln, weil die Vorstellung eines von schwarzen Feuer verdammten Landes ihm so zusagte, er lächelte, weil Kassandra in all der Zeit ihrer Bekanntschaft vermutlich zum ersten Mal etwas gesagt hatte, das ihrem wahren Charakter entsprechen mochte. Keine ehrwürdige und friedlich gesittete Phönixin mehr, das hier war es, was sich unter den freundlichen Phönixin verbarg. Sie offenbarte ihm ihrer selbst in aller Aufrichtigkeit und Zoras - Zoras entschied sich dazu, dass er es annehmen würde. Er war kein Freund von gewaltverherrlichenden Akten, aber sie würden eine Lösung dafür finden. Gemeinsam. Dafür lächelte er.
      Sein Lächeln war es, vielleicht aber auch der von ihm gegebene Spitzname, der Kassandras Gesichtszüge endlich aufweichen ließ. Dieser Blick war kein anderer als der, den sie ihm schon in früheren Zeiten geschenkt hatte und jetzt, nachdem er von ihrer wahren Natur erfahren hatte, nachdem er sie nach einer Ewigkeit wieder seine Haria nannte, konnte er sich einbilden, dass der Ausdruck in ihren Augen Liebe versprach. Er hatte es sie nur ein einziges Mal aussprechen gehört, aber in diesem Moment war er sich sicher, so wie die Liebe der Götter eine andere sein mochte, war diese hier nur für ihn bestimmt. Es war keine menschliche Liebe, aber es kam dem schon zum Verwechseln nahe.
      "Das will ich, so wahr ich hier stehe. Und ich würde keine Sekunde daran zweifeln."
      Diesmal stand Kassandra energischer auf und schmiegte sich ganz von selbst an ihn. Die Nähe war ungewohnt, aber auf eine Weise vertraut, wie sie nur Kassandra zustande gebracht hätte. Die Weichheit in ihrem Blick war noch immer zu sehen, untersetzt von etwas anderem, unlesbaren, als sie die freie Hand über das türkis akzentuierte Gewand streichen ließ, fest genug, damit er den Druck ihrer Berührung spüren konnte. Die Kleidung war noch immer eine Barriere, die seinen Geist davor schützte, in dunkle Abgründe abzutauchen, aber selbst sie hatte ihre Grenzen, so wie Kassandras Druck fast schon zu stark war. Er spürte seine Narben, spürte das Aufflammen von Telandirs Narbe wie ein Leuchtfeuer, als sie mit der Hand darüber fuhr. Ein Stich zuckte durch seinen Körper, ein Gefühl von primitiver Bedrohung, der er sich nur ergeben konnte, indem er einen Schritt zurückwich, damit die Intensität der Berührung abnahm - aber Kassandra ließ ihn nicht weichen. Mit der unumstrittenen Kraft einer Göttin hielt sie ihn an Ort und Stelle, was nun wirklich nicht mehr vor irgendwelchen Barrieren Halt machte. Das Gefühl, gefangen zu sein, machte sich in ihm breit und die primitive Bedrohung schlug in Angst über. Doch zur gleichen Zeit, als sich seine Nackenhaare sträubten und ein Schauer durch seinen Körper zog, der nichts von Wärme und Wohlwollen in sich hatte, zwang Kassandra sein versteinertes Gesicht zu sich herab und die Welt ging in einem sehnsüchtigen Kassandra auf. Er schloss die Augen und Kassandras Duft hüllte ihn ein, drang in seine Nase und strich gleichzeitig seine freigelegte Haut entlang, wie eine ferne Berührung, ganz zart und vorsichtig - ganz im Kontrast zu Kassandras Hand, die ihn auch jetzt nicht weichen ließ. Aber der steigende Drang, Abstand zu suchen, wurde wieder gedämpft, verlor sich in der schmerzlich vermissten Süße ihrer Lippen, die sich gegen seine bewegten, und ihres künstlichen Atems, der über seine Wange strich. Vorsichtig, ja wirklich vorsichtig, schob er den Arm um ihre Taille und probierte, auch sie festzuhalten, als wolle er spüren, wie sie seine Narben mit ihrem Körper zum Leben erweckte. Telandirs Narbe flackerte bereits und protestierte und wenn sie den Kuss nun brechen würden, dann würde es sicher zu viel werden, dann wäre der ganze Moment vorüber. Also taten sie es nicht; also schob Zoras sich einen Schritt nach vorne, direkt in Kassandra hinein, die ihm den winzigen Spielraum gewährte, sie aufs Bett zu schieben. Er kroch über sie, den Kuss keine Sekunde lang brechend, und die Bewegung half seinem Körper, drängte das unangenehme Gefühl in den Hintergrund, während er sich noch immer in dem berauschenden Geschmack ihrer Lippen verlor. Es ging ihm schon fast wieder gut genug, dass er es als normal bezeichnet hätte, da packte er ohne Umschweife Kassandras Handgelenke, drückte ihre fordernden Hände auf die Matratze zurück und richtete sich im gleichen Augenblick auf. Natürlich gewährte sie ihm auch das, aber Zoras bildete sich ein, nur für einen Moment die Überhand zu gewinnen. Nur ganz kurz.
      Ein Lächeln spielte sich auf seine Lippen, ein ernst gemeintes dieses mal. Es hatte etwas anzügliches an sich.
      "Ich kenne diesen Blick. Aber wenn du spielen möchtest, dann nach meinen Regeln. Ich bin doch Herrscher, oder nicht?"
      Er beugte sich wieder zu ihr hinab, umging ihren Mund und erzwang sich stattdessen Zugang zu ihrem Hals, ohne sie dabei loszulassen.
      "Erste Regel: Deine Hände bleiben bei dir."
    • Spielend leicht konnte man jeden einzelnen Schritt der Anspannung in Zoras‘ Körperhaltung ablesen. Kassandras Berührung, die zart begonnen hatte, wurde von ihm regelrecht freudig entgegengenommen, doch kaum legte sie mehr Kraft in ihre Hand, stellte sicher, dass die Kleidung nichts mehr kaschieren würde, änderte sich seine Körperhaltung. Ganz genau beobachtete sie nicht nur das Gesicht des Mannes, sondern das Gesamtbild. Somit entging ihr nicht, wie sich die Muskeln versteiften, der Körper zur Säule wurde und er schließlich sogar von ihr weichen wollte. Doch das gestattete sie ihm nicht, hielt ihn an sich und atmete die Anspannung ein, noch bevor ihre Lippen auf seine treffen konnten.
      Es begann in ihr zu prickeln, eine delikate Mischung aus der Berührung ihrer feurigen Lippen und der Angst, die in Wellen zu ihr herüber schwappte. Peinlich genau untersuchte sie die Nuancen der Angst auf ihren Ursprung und stellte ernüchtert fest, dass nicht sie direkt der Auslöser war, sondern das Trauma selbst. Es passte nicht ganz, schmeckte sprichwörtlich zu fade, um ihr wirklich Spaß zu machen oder ihren Hunger zu befrieden.
      Zum Glück war das nicht der einzige Hunger, den sie verspürte.
      Noch immer gewährte sie Zoras nicht die Flucht, doch scheinbar wuchs er gerade über sich hinaus. Ihre Augenbrauen zuckten in die Höhe, als sie einen Arm um ihre Taille wahrnahm, ganz leicht und zögerlich als sei er gar nicht erst da. Sofort brandete eine neue Welle durch Zoras‘ Aura, nicht nur Angst, sondern waschechter Schmerz, dessen Auslöser sie erst eine Sekunde später erkannte. Zeitgleich wusste sie, dass, sollte sie nun den Kuss brechen, er umgehend den Rückzug antreten würde. Ein nicht allzu kleiner Teil wollte genau das tun. Aufhören, den Kuss brechen und damit eine Gelegenheit schaffen, in der sie ihm nachstellen konnte wie ein Jäger. Ihn in die Enge trieb, ihn an die Grenze seiner Belastbarkeit brachte und jedes Zittern und jedes Wimmern wie den teuersten Wein auskosten.
      Doch dafür war die Situation und ihre Beziehung gerade viel zu fragil. Also riss sich die Phönixin zusammen, gab ihrer inneren Stimme nicht die Zügel in die Hand und wich den entscheidenden Schritt zurück, damit sie mit dem Rücken auf dem weichen Bett landete und eine Gestalt sich über sie schieben konnte. Ihre Hände lagen an seinen Schultern ehe er sich versehen konnte und als sie nun mit ihren tiefroten Augen aufsah, flackerte da nicht nur Verschmitztheit in ihrem Blick; die rubingleichen Augen funkelten sogar sichtbar, so als wäre etwas in ihren Augen erwacht. Das optische Anzeichen dafür, wenn sie etwas von dem bekam, was ihrer Natur entsprach. Ihre Lippen teilten sich, um Raum für Worte zu schaffen, jedoch ließ er sie gar nicht so weit kommen. In einer überraschend flinken Bewegung fing er ihre Handgelenke ein, drückte sie auf das Bett und stemmte sich hoch. Das verschmitzte Lächeln wuchs nur noch weiter an.
      „Wirst du etwa übermütig nur wegen eines Titels?“, gab sie spottend zurück, hatte aber deutlich den Zug in seiner Miene gesehen, den sie so lange schon nicht mehr in seinem Gesicht gesehen hatte. Wann waren sie seit ihrer Befreiung, seitdem die vier Jahre vergangen waren, jemals wieder in solch einer Lage gewesen? Ausgezehrt war er gewesen, völlig fokussiert auf Pläne der Zukunft und blind für die Beziehung zu jener Person, die ihm seinen Sinn im Leben gab. Vielleicht hatte er es mittlerweile verstanden was sie gemeint hatte, als sie ihm unterstellte, etwas verloren zu haben.
      Als Zoras sich erneut zu ihr beugte und ihren Mund unbefriedigt zurückließ, knickte Kassandra den Kopf an der Seite ein, die er als sein neues Ziel auserkoren hatte. Entschlossen drückte er sein Gesicht zwischen ihre Schulter und Gesicht, bis sie schließlich nachließ und ihm ihren Hals präsentierte. Seine Worte, gehaucht über ihrer Haut mit einer Hitze, die sie schon vergessen hatte, lösten selbst bei der gestandenen Göttin wohlige Wellen aus, die sie ausnahmsweise einmal auskostete. Noch immer ging sie schwer davon aus, dass er es nicht durchziehen können würde. Dass sie am Ende doch das Zepter in die Hand nehmen musste, um ihn zu seinem Glück zu zwingen.
      „Wieso kommt mir diese Regel bekannt vor? Das hat damals ja auch wunderbar funktioniert.“ Das Lächeln war ihrer Stimme deutlich anzuhören. Wie zum Beweis hob sie eine ihrer Hände leicht vom Bett ab, unter zitternder Gegenwehr von Zoras. Kaum ließ sie locker, hatte er sie wieder zurück in die weiche Matratze gedrückt. „Ich finde es ganz schön mutig, jetzt schon Regeln aufzustellen. Wann hast du mich das letzte Mal so berührt? Hm? Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern, wie sich mein Körper anfühlt?“
      Nach ihren letzten Worten drückte Kassandra ihren Rücken durch, drückte sich noch enger als zuvor an Zoras und spürte seinen Herzschlag selbst durch alle Stoffschichten hindurch. Der Puls, die Wärme und die Anspannung ergaben einen wundervollen Cocktail, den sie mit Kusshand annahm.
      „Nur so aus Interesse: Wie lauten denn die anderen Regeln?“
    • "Ich werde sehr übermütig - wegen einem Titel und einer atemberaubenden Göttin an meiner Seite."
      Wenn Zoras einmal angefangen hatte, ließ es sich kaum wieder aufhalten: Kassandra, die in aller Zweckmäßigkeit das vergangene Jahr an seiner Seite verbracht hatte, strahlte in seinen Augen gleich wieder auf. Die dunkle Haarpracht stach ihm wieder ins Auge, wie es ihr ehrwürdiges, wenn auch verschmitzt funkelndes Gesicht einrahmte, der schlanke Hals, die türkis akzentuierte Robe, wie sie die weiblichen Champions in Kuluar wohl tragen mochte, der schlanke, einvernehmliche Körper, der sich darunter abzeichnete. Kassandra war eine wahre Schönheit unter den Göttern und beinahe wäre ihm diese Einsicht doch tatsächlich irgendwie abhanden gekommen. Sie war wunderschön und mit dieser Feststellung wuchs auch wieder der Drang, diese Schönheit zum Ausdruck zu bringen.
      Aber vorerst musste Zoras sich erst ein Bild davon machen, was er genau in diesem Jahr - und eigentlich schon sehr viel länger - vermisst hatte. Das war die weiche, zarte Haut ihres Halses, als sie sein Vordringen endlich gewährte und ihm willentlich ihre Kehle entblößte, die feuernde Hitze, die unter dieser zarten Haut schlummerte und auf seinen Lippen prickelte. Das war ihr Körper, an den er sich versuchsweise anschmiegte, ohne zu viel Gewicht auf ihr abzulassen, mit genug Nachdruck, dass er zumindest ihren Atem unter sich spüren konnte. Telandirs Narbe stach ihm noch immer quer über die Brust, würde vermutlich noch eine ganze Weile lang pochen, aber die Beschwerden rückten stark in den Hintergrund, wenn er Kassandra wieder erleben durfte, so wie kein anderer Mensch auf Erden. Es beflügelte ihn auf eine ganz andere Weise.
      Mit den Zähnen zog er ihren Kragen gerade ein Stück weiter herab, damit er ihre Hände nicht freigeben musste, als sie wieder sprach. Ihr Hals vibrierte sanft und er war sofort wieder zur Stelle, um ihre Haut mit der Zungenspitze zu kitzeln. Noch an ihrem Hals sprach er gegen ihre Haut.
      "Du wirst sie sicher besser befolgen als ich. Schließlich hast du den unerschütterlichen Willen einer Göttin, oder etwa nicht?"
      Er unterschätzte sie natürlich - massiv. Sein kleiner Moment der Überhand verfloss wie Wasser, als Kassandras Arm sich regte und ihre Hand sich dann mit lächerlicher Leichtigkeit gegen seine drückte. Es war, als würde sich ein Berg unter seinen Händen verschieben und er gerade mal einen kleinen Finger zur Verfügung hatte, um dagegen zu halten - nur, dass es natürlich kein Berg, sondern die schlanke Kassandra war und Zoras sich auch einhändig als ordentlich kraftvoll einschätzte. Aber selbst, als er sich ein Stück aufrichtete und mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen stemmte, hielt Kassandra stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann ließ sie wieder locker, aber sicher nicht, weil sie den Kampf aufgegeben hätte. Sie hatte nur beschlossen, dass er jetzt wieder vorbei sein sollte.
      Zoras zog die Stirn in Falten und brummte dann missbilligend. Natürlich bildete er sich nicht ein, gegen eine Göttin anzukommen, aber sie musste es ihm doch auch nicht so unter die Nase reiben.
      "Wir sind jetzt nicht mehr unterwegs oder draußen. Ich muss mir keine Sorgen machen, dass ich einen Hexenschuss von einem zu harten Waldboden bekomme und du musst dich nicht mehr darum sorgen, dass am nächsten Tor auf uns geschossen wird. Wir haben die ganze Nacht Zeit und wenn ich das möchte", dabei beugte er sich wieder hinab zu ihr, um zu seiner Ausgangsposition zurückzufinden, "werde ich die ganze Nacht damit verbringen, mir deinen Körper wieder einzuprägen. Zentimeter um Zentimeter. Jede einzelne Stelle."
      Wie zur Bestätigung seiner eigenen Worte drückte da Kassandra ihren Rücken durch, schob sich zu ihm und gegen ihn, ein Leib aus warmer Hitze, der sein Herz springen und seine Lenden entflammen ließ. Telandirs Narbe ignorierend, die zwischen ihnen pochte, presste er sein Becken gegen sie, ließ sie spüren, was sie an seiner Aura sicher schon unlängst abgelesen hatte. Das neckende Grinsen in ihrem Gesicht versprach sowohl Unheil, als auch vollkommene Erlösung.
      "Ich verfüge darüber, dass alle Regeln nach Bedarf ergänzt und abgeändert werden können. Und das nur vom prophezeiten Eviad des Landes."
      Darüber musste er selbst grinsen, unterstrich seine Worte aber mit einem Druck auf Kassandras Handgelenke.
      "Die erste Regel lautet: Du wirst deine Hände zu jeder Zeit bei dir behalten. Sie werden nicht einmal in meine Nähe kommen - nicht weiter als das hier. Die zweite Regel lautet", er beugte sich hinab in einem vermeintlichen Kuss, der niemals folgte, nachdem er knapp über Kassandras Lippen verharrte. Raunend fuhr er fort: "Du wirst deine Lippen nur dorthin setzen, wo ich sie haben möchte. Das gilt für Küsse jeglicher Art."
      Verheißungsvoll schoss sein Blick hinab zu Kassandras Mund, der weiterhin ungeküsst blieb. Es fraß ihn selbst fast auf, aber er würde nicht klein beigeben - zu seinem eigenen Wohl.
      "Die dritte Regel lautet: Du wirst es mir gestatten, deinen Körper zu berühren. Wo immer ich möchte. Die ganze Nacht lang."
      In seinen Augen funkelte es. Je länger er sich ihrer Nähe bewusst wurde, desto mehr wurde ihm klar, wie sehr er Kassandra brauchte. Wie hatte er nur das vergangene Jahr darauf verzichten können? Fast schien es ihm wie ein Fluch, der sich jetzt, als sie ungestört für sich waren, endlich zu Bruch kam. Er wollte selbst nicht länger darauf warten, über Kassandra herzufallen.
      "Nach diesen Regeln spiele ich, nach keinen anderen. Wirst du sie befolgen können?"
    • Die Missbilligung, die Kassandra in Zoras‘ Gesicht ablesen konnte aufgrund der kurzen Demonstration, wer hier denn eigentlich die Zügel in der Hand hatte, entlockte ihr ein leises Auflachen. Genau diese Miene hatte sie erwartet bei der kleinen Kraftdemonstration. Ihre Mundpartie blieb zu einem amüsierten Lächeln verzogen, als er davon sprach, keinem Hexenschuss oder Attentat mehr zum Opfer fallen zu müssen und sie angeblich genug Zeit hätten. Dabei war die Zeit hier gar nicht das ausschlaggebende Problem, sondern eher das winzig kleine Problem mit Zoras‘ Trauma. In der Tat wurde er jetzt langsam übermütig und schien scheinbar völlig außer Acht zu lassen, dass sein Körper jederzeit in die genau entgegengesetzte Richtung ausschlagen konnte. Doch ihre Augenbrauen waren es, die einmal kurz nach oben zuckten. Er sprach von der Nacht, obwohl sie gerade erst einmal Nachmittag hatten? Interessant. Genau diesen Punkt musste die Phönixin doch einmal genauer erörtern und drückte sich deshalb an seinen Leib.
      „Meine Güte, ich sollte dein Ego ein wenig drosseln“, spottete Kassandra weiterhin, dabei musste sie sich etwas neu ausrichten, damit Zoras den Zeugen seines Zustandes nicht mit aller Macht gegen sie pressen konnte. Diese Reaktion überraschte sie nun doch weniger – dass seine Libido noch funktioniert war schließlich das Mindeste.
      Über die klarer definierte erste Regel wäre Kassandra beinahe mit Worten hinweggezogen. Immerhin hatte er bereits in der Vergangenheit feststellen müssen, dass sie ihre Hände gar nicht brauchte, um ihn zum Zerbersten zu bringen. Doch da schob er bereits die zweite Regel hinterher, der sie gerne ihr Ohr und auch ihren Mund zur Erwiderung von Worten geschenkt hätte. Nur sah sie sein Gesicht näherkommen und richtete sich automatisch für einen Kuss aus, spürte bereits seine Lippen auf ihren, schmeckte ihn regelrecht. Es sollte allerdings ein Phantomgefühl bleiben, denn er verschmähte ihre wundervollen Lippen und hielt sich nur knapp über ihnen auf. Gerade so konnte sie noch seinen Mund ausmachen, für ihn galt es wohl genauso, und sein Atem kitzelte bereits die dünne Haut ihrer Lippen. Instinktiv leckte sie sich einmal über ihre Unterlippe und hätte, wenn sie es nicht sowieso schon tat, den Atem angehalten. Ganz augenscheinlich hatte er wohl doch gelernt.
      „Mhhh, da ist gar kein Zeitlimit angesetzt. Das würde ja bedeuten, dass ich dich niemals ohne deine Zustimmung mehr küssen darf. Wie fatal…“, säuselte sie und hielt dabei den brennenden Blick auf Zoras gerichtet, dessen Augen für einen Bruchteil einer Sekunde zu ihrem Mund und wieder zurücksprangen. Das Verlangen war ihm deutlich anzusehen.
      Es war jedoch seine dritte Regel, die Kassandra urplötzlich ein wölfisches Grinsen ins Gesicht zauberte. Ein Grinsen, das einen direkt die zuletzt gesprochenen Worte bereuen ließ und darauf aufmerksam machte, dass man einen Fehler begangen hatte. Als auf Erden geknechtete Gottheit war Kassandra darauf angewiesen gewesen, die Hintertüren in den Befehlen ihrer Träger ausfindig zu machen. Genau das tat sie nun auch bei Zoras, und seine Tür stand sperrangelweit offen.
      „Ob ich sie befolgen kann? Aktuell wären nur zwei von dreien in Kraft, aber das ist dem großen Eviad sicherlich bereits aufgefallen.“ Sie erwiderte sein Funkeln und ließ ein wenig ihrer makellosen Zähne aufblitzen. Dann stemmte sie sich unerwartet und blitzschnell auf, tauchte an seinem Gesicht vorbei und stoppte mit ihrem Mund an seinem Ohr. Er war dermaßen verdutzt, dass sie ihm noch leise ins Ohr flüstern konnte: „Außerdem hast du vergessen, dass ich meinen Mund auch ohne Lippen benutzen kann.“
      Dann biss sie ihn ohne einen Hauch ihrer Lippen in sein Ohrläppchen, gab es kurz darauf wieder frei und ließ sich selbstzufrieden wieder in die Matratze fallen. Ihre Augen waren eine unmögliche Nuance dunkler geworden, die Herausforderung in ihrem Blick war noch immer da. Regeln befolgen und einen Kampf beschwören mussten nicht unbedingt getrennt vonstattengehen.
      „Ich gehe auf deine Regeln ein und zeige dir gerne jeden einzelnen Fehler darin auf. Zum Beispiel, dass die Nacht noch nicht hereingebrochen ist und du vielleicht bis dahin deinen Griff um meine Handgelenke lockern solltest, hm?“, fuhr sie mit ihrer trügerisch süßen Stimme fort.
      Wenn es nach ihr ginge, hätte sie unlängst ein Bein um Zoras geschlungen und ihn umgeworfen. Sich thronend, wie es ihr zustand, auf ihn gesetzt und solange mit ihrem Becken verführerische, langsame Kreisbewegung verübt bis er schließlich den Verstand verloren hätte. Je nachdem, wie seine Antworten und Taten nun ausfallen würden. Schließlich hatte er sie so limitiert.
    • Kassandra ließ keine Gelegenheit aus, Zoras auf die Schwächen in seinen Regeln aufmerksam zu machen. In gewisser Weise spielten sie schon längst, so wie die Göttin ihn angrinste, als wäre er ihr direkt in die Falle gelaufen. Nur war ihm dieses Mal einiges daran gelegen, diese Regeln auch durchzusetzen, denn sie waren maßgeblich dafür, dass er ihren Akt durchhalten können würde. Ihr letzter Versuch in Espiahafen war schließlich alles andere als glanzvoll gewesen.
      "Nur zwei von drei? Alle drei Regeln sind in Kraft. Deine Hände sind bei dir, deine Lippen machen nichts unanständiges und ich berühre dich schon, wo ich das möchte. In gewisser Weise haben wir schon längst angefangen."
      Vielleicht war das Kassandra auch bewusst, denn mit einem Mal richtete sie sich auf, ganz ungeachtet dessen, dass Zoras ganzer Körper ihr im Weg war. Dafür wich er aber wie von selbst zurück von ihr, eine Reaktion, die sie in dieser Weise vollkommen erwartet hatte, dessen war er sich sicher. Er mochte noch so viele Regeln aufstellen wie er wollte, letzten Endes würde es doch Kassandra sein, die diese Regeln umsetzte oder nicht. Und in diesem Moment schien ihr sehr viel daran zu liegen, ihm die Schwachstellen aufzuzeigen.
      Er hatte sich noch kaum ganz von ihr entfernt, da war ihr Gesicht plötzlich neben seinem, ein Aufflackern von Wärme, die seine Wange streifte, und ihre flüsternde Stimme war direkt an seinem Ohr. Ihren Worten folgte ein Biss, der sein Ohrläppchen neckte und wie ein Blitz einen Schauer durch seinen Körper jagte. Eine Gänsehaut machte sich auf seinen Armen und seinem Nacken breit, als Kassandra sich schon wieder zurücklehnte, ein gewinnbringendes Grinsen im Gesicht. Zoras starrte sie nur für einige Sekunden an.
      Ihr Blick ließ ihn erschauern. Selbst nach all der Zeit hatte ihre Schönheit und ihre göttliche Unverfrorenheit einen Effekt auf ihn, der ihn völlig in den Bann zog. Anstatt sich darüber zu ärgern, dass sie so leichtfertig ein Hintertürchen in seinen Regeln gefunden hatte, war er nur völlig hingerissen von dem dunklen Blick, der ihn von unten herauf musterte. Kassandra war vermutlich die einzige, die eine solche Macht über seinen Körper besaß.
      Langsam, wie als müsse er um sein körperliches Wohl fürchten, beugte er sich wieder hinab zu ihr, vereinigte dieses Mal auch ihre Oberkörper miteinander. Genügend Kleidungsschichten hielten ihn davon ab, sehr viel mehr zu empfinden als das lästige Pochen seiner Brust.
      "Vielleicht habe ich es vergessen, aber ob es ein Fehler ist..."
      Aufmerksam studierte er ihr Gesicht, wie sie das Kinn unmerklich zu ihm nach vorne reckte, wie ihre Augen ihn zu verschlingen versuchten. Allem Anschein nach empfand sie schon selbst unheimliches Vergnügen bei diesem sonderlichen Vorspiel.
      "Gut, diesen einen Punkt mag ich übersehen haben. Wie wäre es mit dieser Änderung: Alle Regeln treten mit sofortiger Wirkung in Kraft, bis ich sie selbstständig wieder auflöse. Das bedeutet für die dritte Regel, dass du mich dich berühren lässt wo ich es will und wie lange ich es will. Hm?"
      Wie um ihr einen Ausblick darauf zu geben, löste er die linke Hand von ihrem Handgelenk und strich ihren Arm entlang nach unten, entlang an ihrer Achsel bis zu ihrer Hüfte, die er mit einem Ruck packte und forsch an sich drückte. Kassandra mochte eine Göttin sein, aber sie war gleichzeitig auch immernoch eine schlanke Frau, der er sich leicht bemächtigen konnte.
      Vorausgesetzt, sie hielt sich an die Regeln.
      "Und noch eine vierte Regel - wobei, eigentlich ist das keine Regel."
      Er schob sich näher, bis ihr Becken nicht mehr auf dem Bett, sondern auf seinen knienden Beinen auflag, hoch genug, dass sie ihre eigenen Beine nicht mehr bequem abstellen konnte.
      "Wenn du dich an alle Regeln hältst, verspreche ich dir, dass ich dich gut fühlen lassen werde. Wenn nicht..."
      Er neigte sich wieder runter zu ihr, bis sich ihre Nasenspitzen berührten.
      "... hören wir halt auf zu spielen."
    • Der Schauer, der ihr kleiner Biss bei Zoras ausgelöst hatte, fuhr durch seinen gesamten Körper, brachte seine Aura zum erzittern und resonierte mit Kassandra, die bei dieser Empfindung allein einen tiefen Atemzug nehmen musste. Sie hatte vergessen wie es sich anfühlte, jemanden auf diese Weise anzusprechen und erst recht, was ihre Anwesenheit bei Zoras auslöste. Jenem Mann, der vier Jahre lang nach ihr gesehnt hatte.
      Er kam ihr noch näher als zuvor, vereinigte dieses Mal auch ihre Oberkörper, doch das reichte Kassandra nicht. Mit einem Fingerschnippsen – nein, nur mit ihrer puren Vorstellungskraft – wollte sie ihrer beider Kleidung im Nichts aufgehen lassen, damit sie endlich Haut an Haut mit ihm sein konnte. Das einfordern konnte, was er ihr seit so langer Zeit nicht eingestehen konnte. Aber die Raison kehrte in die Phönixin ein, die ganz genau wusste, dass so eine Aktion ihn direkt um Meilen in seinem Fortschritt zurückwerfen würde.
      „Das ist ziemlich totalitär, so wie du die Regeln nach deinen Wünschen aufstellst und beugst“, sagte sie, griff seine neu aufgestellte Regeln dieses Mal jedoch nicht mehr an. Brav ließ sie ihre Hand und damit verbunden ihren ganzen Arm widerstandslos auf dem Bett liegen, als Zoras nur ihr Handgelenk freigab und über ihren Arm strich. Sein Pfad setzte er bis zu ihrer Hüfte fort, doch keine Sekunde lang nahm sie ihre Augen von seinem Gesicht. Abermals verlor sie sich in Gedanken, wann er sie das letzte Mal so berührt hatte…. Ja, da war Espiahafen gewesen, aber das war nicht unbedingt der Rede wert gewesen. Sehr schnell waren sie an ihre Grenzen gestoßen und seitdem hatte sie diese Grenzen nicht mehr ausgelotet. Auf diese Art liebkost zu werden war mehr, als sie in den letzten Monaten von ihrem Schwurpartner hatte erwarten können.
      Und erst recht nicht hatte er sie so angefasst, wie er jetzt ihre Hüfte packte und sie ruckartig auf seine Knie zog. Sofort brandete eine Welle in ihr auf mit solch einer Kraft, das sie beinahe von ihr überwältigt wurde. Doch sie hielt den Kopf buchstäblich über Wasser und ließ das Gefühl über sie hinweg gleiten. All das hier wollte Kassandra. Er war der Einzige, der sie so behandeln durfte, bei dem sie selbst grobe Handgriffe nicht als schändlich bezeichnen würde. Bei ihm fühlte sie es anders, denn sie war nicht machtlos und konnte doch ein Stück ihrer Macht in seine Hände legen. Hände, von denen sie sehr gut wusste, zu was sie fähig waren.
      Ihre Finger bewegten sich unablässig, krümmten und entspannten sich, so als bräuchte sie etwas in ihren Fängen, mit dem sie sich ablenken konnte. Zoras beugte sich ein weiteres Mal zu ihr hinab, sie legte ein weiteres Mal den Kopf ein wenig weiter in den Nacken und präsentierte ihm ein weiteres Mal ihre Lippen, die einen wortlosen Zauber für ihn sprachen. Ein weiteres Mal ließ er sich allerdings nicht verzaubern, sondern berührte mit seiner Nasenspitze lediglich ihre. Als Kassandra nun die Stimme hob, war das süßliche verschwunden und war einem dunklen, leiseren Tonfall gewichen.
      „Ich will mich gut fühlen.“ Ein einfacher Satz mit unglaublicher Wirkung, bedachte man den Fakt, dass Kassandra als freie Göttin auf Erden alles haben konnte, was sie begehrte. „Ich halte mich an die Regeln. Zeig mir, wie du dein Wort dafür hältst.“
    • Ein Lächeln schlich sich zurück auf Zoras' Lippen, ein amüsiertes Schmunzeln.
      "Ich muss ein Tyrann sein, durch und durch. Ich bezwinge deinen Körper und beuge dich meinem Willen."
      Aber wenn er ein Tyrann war, war Kassandra die geborene Untertanin. Ganz brav blieb sie nach seinen Wünschen liegen, den Körper eitel unter ihm lang gestreckt. In ihrem Blick loderte es auf, als er seinen Willen mit festem Griff unterstrich. Sie mochte es, das war ihr nicht abzusehen. Die Göttin Kassandra mochte es, von dem großen Eviad Zoras bezwungen zu werden.
      Er leckte sich die Lippen, als sie seinen Regeln schließlich zustimmte. Wer hätte schon gedacht, dass ein so einfacher Wunsch aus dem Mund der Phönixin sich wie süßer Honig anhören konnte? Es war ein Einzelstück, ein Schatz, den sie nur Zoras präsentierte. Und der verging an dem Geschenk.
      Ein paar Sekunden lang ließ er sich die Einzigartigkeit dieses Satzes auf der Zunge zergehen, dann richtete er sich auf. Seine wunderschöne Göttin blieb vor ihm liegen.
      "Zieh dich für mich aus. Aber lass die Kleider liegen, mir gefällt das Türkis an dir."
      Er lächelte einladend, auffordernd. Für einen Moment glaubte er, die Regel aufstellen zu müssen, dass Kassandra einfach immer das tun sollte, was er gerade von ihr verlangte, weil sie sonst nur wieder nach einem Schlupfloch suchen würde, um seine Aufforderung irgendwie zu umgehen. Aber sie tat es, sie richtete sich nach einem Augenblick auf und Zoras kroch ein Stück zurück, um ihr vermeintlich den Platz zu geben. Dabei wartete er nur darauf, dass sie sich weiter aufsetzen musste, um ihre Beinkleider abzustreifen, um sich unvermittelt nach vorne zu schieben. Kassandra verharrte in ihrer Bewegung, als er ihr Kinn ergriff und sich ein weiteres Mal über sie schob. Sie wich nicht, als er ihre Lippen aneinander brachte, so knapp, dass eine einzige Bewegung ausgereicht hätte, um die feine Distanz zwischen ihnen zu überbrücken. Aber er küsste sie nicht, er verringerte nicht den letzten Zentimeter und Kassandra - Kassandra durfte ihn nicht von sich aus küssen, nicht ohne seinen ausdrücklichen Wunsch.
      Das wusste sie und deswegen tat es nicht. Und Zoras wusste, dass sie es wusste, und grinste deswegen.
      Ungeküsst zog er sich wieder zurück, zum zweiten Mal in den wenigen Minuten. Gutmütig setzte er sich wieder hin.
      "Mach weiter."
      Diesmal genoss er es auch, wie die makellose, weiche Haut der Phönixin zum Vorschein kam und wie Stoff um Stoff von ihrem Körper fiel. Er genoss ihre göttliche Gestalt in vollen Zügen, nahm sie gänzlich in sich auf, erinnerte sich an das berauschende Gefühl, sie an sich zu spüren. Er war zuversichtlich, dass es diesmal funktionieren würde mit den sichernden Regeln. Es könnte wieder wie damals werden.
      Erst, als sie sich entblößt hatte und die Kleider um sie herum verstreut im Bett lagen, entfernte Zoras die obersten Lagen seines eigenen Kostüms. Das meiste streifte er ab, bis nur noch die Unterkleidung übrig war, die nicht geknöpft oder geschnürt wurde. Sie saß recht locker an seinem Körper, nachdem sie nur als Unterlage gedacht war.
      "Du darfst mich ausziehen", gewährte er so großzügig, wie er nur sein konnte, allerdings mit einem verschmitzten Funkeln in den Augen. "Wenn du es schaffen solltest. Du darfst aber nur deine Zähne benutzen, immerhin kannst du deinen Mund auch ohne Lippen nutzen, nicht wahr?"
    • Gedanklich lachte Kassandra. Zoras wollte ihren Körper bezwingen und ihren Willen beugen? Wenn sie eines war, dann unbrechbar. Sie spielte mit ihm, wie eine Katze mit der Maus spielte, bevor sie ihr den tödlichen Biss verpasste. Sie ließ ihn im Glauben, dass sie ihm nachgab. Seinen Worten folgte, aber das nur zu einem begrenzten Maße. Einmal entfacht spürte sie deutlich das Verlangen in ihren Untiefen ihres Körpers, die Sehnsucht nach dem Feuer der Leidenschaft, das Zoras vor Ewigkeiten in ihr entfacht hatte. Die Aussicht darauf ließ sie ein wenig ihres Willens loslassen, um dem Mann Freiraum zu gewähren.
      Die nächste Anweisung folgte schon kurz darauf. Noch immer ganz die brave Gespielin blieb Kassandra ausgestreckt liegen, wohingegen Zoras sich aufrichtete und ihr die nächste Aufgabe stellte. Sofort suchte ihr Verstand wieder nach den Hintertürchen, hing sich jedoch an der Wortwahl und der Art, wie er sie betrachtete, auf. Er hatte nicht definiert, wie sie sich ausziehen sollte, aber der Hinweis zum Verbleib der Kleidung gab Rückschlüsse darauf, dass sie sie besser nicht verbrennen sollte. Es ging ihm also nicht nur um ihren entblößten Leib, sondern noch viel mehr. Das bewegte sie schließlich dazu, sich aufzurichten, das ohnehin locker sitzende Oberteil am Saum zu packen und über ihren Kopf zu ziehen. Gemächlich zog sie ihre Arme aus den langen, transparenten Ärmeln und legte es neben sich auf das Bett. Sie hatte sich kein Untergewand angezaubert – es würde sowieso niemand sie anfassen oder sich darum scheren, ob sie eines trug oder nicht.
      Als nächstes sollte die Ballonhose folgen, doch soweit kam sie nicht. Zoras passte den Moment ab, kam zurück zu ihr und legte seine Hand an ihr Kinn. Augenblicklich hielt die Phönixin in ihrer Bewegung ein und hielt die Finger am Bund der Hose, selbst als Zoras sie ein weiteres Mal auf den Rücken drängte. Er kam ihr so nahe, dass sie die Augen schloss, obzwar kaum noch ein Blatt Papier zwischen ihre Lippen passen konnte. Ein einziges Zucken ihrerseits und sie hätte seinen Mund eingefangen. Dass er ihr dann nicht mehr entsagen konnte, fühlte sie mit jeder Faser ihres Körpers. Doch die Regel beschnitt sie und brav wie sie war hielt sie sich daran. Unvollendeter Taten zog sich der Mann wieder zurück und Kassandra fuhr mit ihrer Darbietung fort. Sie tat es lasziv, nahm sich Zeit, ließ seine Augen den Raum, jeden Zentimeter ihrer Haut in Augenschein zu nehmen und die Vollkommenheit anzuerkennen. Am Ende sah es aus, als sei sie inmitten ihrer Kleidung explodiert, so verstreut wie die Kleider um sie herum auf dem Bett lagen.
      Ohne ein Zeichen von Scham thronte Kassandra auf dem Bett, als Zoras an der Reihe war. Er schälte seine prunkvollen Kleider im Stehen vor dem Bett von seinem Leib, während Kassandra ihn nun dabei beobachten durfte. Als er bei seinem Untergewand ankam, das nur feinstes Leinen sein durfte und locker über seinen Körper fiel, hörte er auf und funkelte seine Göttin an.
      Sie durfte ihn ausziehen? Wenn sie es schaffte? Ihre Augenbrauen wanderten in seichter Empörung nach oben, ihr Verstand analysierte seine Worte und kam in Windeseile zu einem Schluss. Auch da hatte er unwissentlich eine Hintertür für sie offengelassen.
      „Wie der Herr es wünscht“, bestätigte sie kurzum und begann, breit zu grinsen. In den Mundwinkel schienen kurz Flammen auszuschlagen, noch bevor sie sich vom Bett erhoben hatte. Ihre Hände verschränkte sie hinter ihrem Rücken, ganz das Zeichen, dass sie sie nicht benutzen würde und harmlos blieben. Ganz im Gegensatz zu der Miene, die sie zur Schau stellte, als sie sich seinem Schlüsselbein näherte und dort ganz gezielt den Stoff mit ihren Zähnen packte.
      Es gab keinen Magieimpuls, keinerlei Anzeichen, dass Kassandra das Feuer in sich beschwor. Stattdessen stieg ihnen der Geruch von verbranntem Stoff in die Nase, als das Leinen schwarz an der Stelle anlief, wo sie es mit ihren Zähnen gepackt hatte. In Windeseile, so wie man Papier schwelen ließ, breitete sich der schwarze Fraß kreisförmig aus und hinterließ nur Asche, die von Zoras‘ Körper rieselte. Keine Flamme und keine Hitze trogen das Bild, als Kassandra, noch immer grinsend, sich auf ein Knie sinken ließ. Auch dort biss sie in den Saum der Hose, den daraufhin das gleiche Schicksal ereilte wie das Oberteil. Nach vollendeter Tat und sehr selbstzufrieden nahm Kassandra wieder ihren Platz auf dem Bett ein und begutachtete ihr Werk. Vermutlich schneller als ihm lieb war, stand Zoras nun nackt und in Spuren von Asche getaucht vor ihr. Ein wundervolles Bild, wie sie befand. Als wäre er aus den Überresten eines Lauffeuers auferstanden, nur um zu ihr zurückzukehren.
      „Ich wusste nicht, dass dir Asche so gut steht“, neckte sie ihn weiter.

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