Salvation's Sacrifice [Asuna & Codren]

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    • Es dauerte eine Weile und sehr viele Nerven von Zoras' Seite aus, um Amartius ein anständiges Bild davon zu verschaffen, was in Situationen wie solchen angemessen war und was nicht, aber zumindest schien der Junge es zum Schluss begriffen zu haben. Er war still geworden mit Zoras' Vortrag, eingeschüchtert und bleich, so als hätte er jetzt erst endlich die Ausmaße begriffen, die hinter diesem so vermeidlich unschuldigen Auftrag gesteckt hatten, und das war nur gut so. Wenn Zoras ihm damit Angst eingejagt hatte, war das genauso gut - viel besser als das Risiko, dass er doch eine Erfahrung am eigenen Körper machen würde. Solange Zoras noch stehen und kämpfen konnte, würde er alles erdenkliche in seiner Macht stehende tun, um genau das zu verhindern. Himmel, er hoffte wirklich, dass Kassandra niemals etwas von diesem Schlamassel erfuhr, das sie hier veranstalteten.
      Als er geendete hatte und Amartius ihm klar und deutlich versichert hatte, dass er verstanden habe und dass er damit wohl auch für die Zukunft vorbereitet wäre, fühlte Zoras sich endlich ein wenig erleichtert. Er nickte, fuhr sich noch einmal über das Gesicht und klopfte seinem Sohn schließlich auf den Rücken.
      "Du hast es nicht besser gewusst, es war schon nicht so schlimm. Geh und wasch dich, wir haben genug Aufregung für einen Tag gehabt. Morgen will ich aber deinen Aufschwung sehen, denk nur nicht, dass du so leicht damit davon kommst."
      Er schob ihn etwas, bis Amartius schließlich von selbst aufstand und zu dem Waschzuber ging, den Zoras vorhin schon genutzt hatte. Er selbst griff sich sein Schwert und zog es aus seinem Heft, um die Klinge ordentlich zu putzen.
      Sie verbrachten diese Zeit in Schweigen, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Zoras konnte noch immer nicht vollständig glauben, dass er etwas so bahnbrechendes einfach übersehen hatte, dass es wohl niemandem aufgefallen war, nicht einmal Omnar, der ja wohl irgendeinen Kontext dazu erhalten hatte, dem Jungen zu erklären, was "einen runterholen" bedeutete. Oh, wie sehr er auch einen Zorn auf diesen Mann hegte, obwohl er zugegebenermaßen in dieser Sache herzlich wenig beigetragen hatte. Die Hauptschuld trug noch immer Faia und obwohl Zoras die Söldnerin für ihre Diskretion und sonstige Professionalität schätzte, hatte sie definitiv eine Grenze überschritten. Es hätte sonst etwas mit dem Jungen passieren können!
      Aber sich jetzt noch damit auseinanderzusetzen, was alles schlimmes hätte passieren können, führte auch nicht zu mehr als noch mehr Sorgen, die sich in Zoras' Kopf einnisteten. Also versuchte er letzten Endes Vertrauen in Amartius' Intelligenz zu haben und darauf, dass er aus seiner Lektion wirklich etwas gelernt hatte.
      Als er den Jungen im Anschluss ins Bett schickte, nahm er sich noch den Moment, um sich auf die Bettkante zu setzen.
      "Du machst das gut, wirklich. Du bist ein schlauer und fleißiger Junge und du lernst ordentlich und schnell. Ich bin stolz auf dich und deine Mutter wäre es ganz bestimmt auch, wenn sie dich jetzt sehen könnte."
      Er lächelte ihn aufmunternd an, dann klopfte er ihm auf die Schulter und wünschte ihm eine gute Nacht. Während Amartius es sich im Bett noch bequem machte, stellte sich Zoras an den Zuber und begann mit der mühseligen Aufgabe, sich das ganze Ruß vom Körper zu schrubben.

      Es war später in der Nacht, als er auf dem Boden eingeschlafen war, sein Beutel als Kopfkissen, das Schwert an seiner Seite, als das Schloss der Tür leicht klickte. In dem allgemeinen Lärm der Stadt, der auch in der Nacht nicht ganz verschwand und besonders nicht in einem Viertel wie diesem, konnte das Geräusch für unaufmerksame leicht untergehen. Es vermischte sich mit fernem Stimmengewirr aus dem Schankraum unten und mit dem allgemeinen Knarzen von Holz. Eigentlich war Zoras ein leichter Schläfer, aber mit der Erschöpfung konnte der Körper sich irgendwann auch an die schlimmste Geräuschkulisse gewöhnen.
      Nach mehrmaligem feinen Klacken und Schaben ging die Tür schließlich einen Spalt auf und warf das gedämpfte Licht des Ganges auf die Wand. Für viele weitere Sekunden herrschte Stille insoweit, dass keine zusätzlichen Geräusche verursacht wurden, dann schob sich erst ein, dann noch ein zweites Paar Stiefel in den Raum hinein. In dem kleinen Einzelzimmer, das sie hier gemietet hatten, wäre für sehr viel mehr als drei Personen und einem Bett auch nicht Platz gewesen.
      Sie schoben sich mit bedächtigen, langsamen Schritten näher an das Bett heran, bevor der Vordere beinahe auf Zoras' Hand gestiegen wäre und zurückzuckte, als er den Mann am Boden wohl erst in der Dunkelheit erkannte. Zoras zuckte und regte sich, dann drehte er den Kopf auf die Seite und schlief weiter. Zeichen wurden in der Dunkelheit ausgetauscht, irgendeine ausgemachte nonverbale Kommunikation, dann setzten sich die Stiefel wieder in Bewegung. Ein Paar blieb bei Zoras stehen, das andere Paar schlich weiter zum Bett herum.
      Der Mann, dem diese Stiefel gehörten, war selbst mit dem fahlen Licht des Ganges, das etwas mehr ins Zimmer hereinleuchtete, kaum auszumachen, als er Amartius erst die Hand auf den Mund legte und dann schüttelte, bis der Junge wach wurde. Kaum gab das Kind ein Zeichen von sich, dass es wach war, verstärkte er die Hand auf seinem Mund und bedeutete ihm mit einer barschen Geste seines Fingers, ja ruhig zu sein. Sie verbrachten mehrere Sekunden in dieser Position, in der die verhüllte Gestalt den Jungen eindringlich genug packte, um ihm wortlos zu vermitteln, was ihm blühen würde, wenn er ein Geräusch von sich gab, bevor er ihn vom Bett zerrte und an sich zu pressen versuchte.
    • Es hätte keinen Klopfer auf den Rücken gebraucht damit Amartius fühlte, wie sich die Spannung bereits wieder abgebaut hatte. Trotzdem wurde er dieses fade Gefühl nicht los, das sich tief in seiner Magengegend angesiedelt hatte. Er brauchte einen Anschubs, damit er vom Bett aufstand und zu dem Zuber schlurfte, vor dem er sich auf die Knie sinken ließ und das Wasser darin anstarrte. Selbst in Asvoß hatte es warmes Wasser gegeben. Warmes, dampfendes Wasser, dessen Luxus er erst hier draußen wirklich zu schätzen lernte. Was hätte er nicht alles dafür gegeben, sich jetzt in einem der warmen Bäder niederzulassen und zu vergessen, was er bisher alles gesehen hatte.
      Einen Augenblick lang betrachtete er sich in dem unscharfen Spiegelbild im Wasser. Ihm war sein Alter nun wirklich nicht mehr anzuerkennen. Was unter diesem pausbäckigen Gesicht steckte war nicht einmal ansatzweise mit dem vergleichbar, wie weit sein Verstand war. Er würde auf ewig mit diesem Gesicht gestraft sein, zumindest bis seine Zeit ablief. Bis dahin würde er nur immer der Junge an Zoras' Seite bleiben, der sich nicht behaupten konnte. Er biss sich auf die Unterlippe, spürte den altbekannten Frust wieder in sich aufsteigen und beschloss, ihn mit dem Waschen ebenfalls von sich zu spülen.
      Entgegen seiner sonstigen Aufmüpfigkeit ließ er keine Gegenwehr verlauten als Zoras ihm das Bett zuwies. Ohne einen großartigen Ton verkroch sich Amartius unter der kratzigen Decke und versuchte sich mit dem muffigen Geruch des Kopfkissens auseinander zu setzen. Sofort schwor er sich, dass er sich nie wieder über ein zu plattes Kissen beschweren würde oder dass es nicht mehr nach Waschmittel duftete. Er rollte sich von der Wand weg als sich sein Vater an die Bettkante setzte und ihn anlächelte. Und fast hätte der Junge das Gefühl in seinem Magen vergessen. Doch es blieb schwer wie ein Stein dort liegen.
      „Mhm“, machte er nur, erwiderte das Lächeln mit einem doch sehr flüchtigen eigenen Lächeln und blickte seinem Vater kurz hinterher. Danach rollte er sich wieder auf die Seite und starrte die Wand an. Zoras hatte bei dieser kleinen Offenbarung bereits fast den Faden verloren. Wie würde es sein, wenn er ihm verriet, dass die Zeit seines Sohnes noch kürzer sein mochte als seine eigene?

      Etwas Raues presste sich auf Amartius' Gesicht. Er brauchte ein paar weitere Sekunden, ehe er völlig aus dem Schlaf gerissen wurde und jemand barsch an ihm rüttelte. Im Halbdunkel suchten seine Augen nach etwas, auf das sie sich fokussieren konnten, doch es war einfach so schwer. Nicht er war schwer, etwas auf ihm war es und sorgte dafür, dass er nicht hochschrecken konnte. Jetzt erst kamen Gefühlsregungen auf ihn zu, die ihm fremd waren. Die nicht die bekannte Note von Zoras hatte und sofort wusste er, dass die Hand, die sich auf seinen Mund presste, nicht jene seines Vaters sein konnte. Seine Augen folgten der gedanklichen Linie des Armes und trafen dort auf das Gesicht eines ihm unbekannten Mannes. Ein Mann mit tiefen Striemen im Gesicht, die ihm ein Alter nicht recht zu zuordnen ließen. Auch war da keine übermäßige Boshaftigkeit, die dem Halbphönix entgegenschlug. Vielleicht war er deswegen nicht eher erwacht und starrte nun den Fremden mit geweiteten Augen an, ein Bein hatte er bereits angezogen. Dann wurden ihm Zeichen gegeben. Zeichen, die ihm bedeuteten, zu schweigen. Sonst würde er die Konsequenzen tragen und nach Zoras' Aufklärung heute war er alles andere als erpicht darauf. Also zwang er sich, sich zu entspannen und auch die Augen nicht mehr so aufzureißen. Was sollte er tun? Er konnte doch Geräusche machen, dann aber die Konsequenzen dafür tragen. Dann wäre Zoras vermutlich wach, aber woher sollte der Junge wissen, wie schnell sein Vater schalten würde?
      Noch während seine Gedanken rasten entschied der Fremde das weitere Vorgehen. Er zerrte an Amartius, nötigte ihn aus dem Bett und an seinen Leib. Ihn durchfuhr ein eisiger Schauer als seine nackten Füße den Boden berührten und er einen Körper zu nah an seinem fühlte. Die Nähe zu Zoras und Faia war eine Sache. Der Fremde hier übertrat aber eiskalt eine Grenze. Instinktiv schoss eine seiner Hände zu dem Handgelenk, dessen Hand noch immer seinen Mund bedeckte. Er durfte keine Magie einsetzen. Das hatte Zoras ihm eindeutig klar gemacht. Er durfte auch sonst nicht den Anschein erwecken, dass er etwas Besonderes war. Bedeutete dies, dass er sich nicht wehren durfte? In dieser Zeit hatten sie bereits ein paar Schritte getan und Amartius sah, wie Zoras noch immer schlafend am Boden lag. Er war immer noch nicht wach. Was wäre, wenn der Mann den Jungen tatsächlich entführte? Wie sollte sein Vater ohne jegliche Spur seinen Sohn wiederfinden? Die Antwort war erschreckend klar.
      Und dann entdeckte er den weiteren Mann, der Spalier stand. Innerhalb drei Herzschläge hatte Amartius ihn überflogen und keine Waffen festgestellt. Was nicht bedeuten musste, dass er keine am Leibe trug. War Zoras schnell genug wach, bevor sich der Mann auf ihn stürzen konnte? Das war mehr als nur leichtsinnig. Darauf konnte er nicht setzen, die Gefahr war viel zu hoch. Andererseits... bestand die Möglichkeit, dass sie sich wieder aus den Augen verloren. Und wer wusste schon wie lange es dieses Mal sein würde oder ob sie sich überhaupt wiederfanden.
      Amartius schluckte. Sein Blick schoss wild umher während er versuchte, einen Ausweg aus dieser Misere zu finden.
      Und dann trat er völlig aus Versehen auf Zoras' ausgestreckte Hand.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Der verhüllte Mann schob Amartius weiter vor sich her und dann zuckte der Körper am Boden.
      Zoras hasste es, berührt zu werden, ganz besonders, wenn er es nicht kommen sah, aber auf eine ganz spezielle, instinktive Weise. Es war viel weniger die Tatsache der Berührung selbst, sondern ein Kurzschluss in seinem Gehirn, der dann schaltete, wenn seine Sinne nicht darauf vorbereitet gewesen waren. Es war wie ein Reflex, aber in wesentlich größerem Ausmaß.
      Sein Puls schoss in die Höhe, noch während er die Augen öffnete und in dem Halbdunkel des Zimmers und dem harten Boden der Überzeugung ausgesetzt war, zurück im Kerker zu sein. Seine Hand zuckte zurück, nur um gleich darauf wieder nach vorne zu schießen und sich um den Körperteil zu schließen, der gerade auf sie gestiegen war.
      Es war Amartius' Fuß.
      Eine zweite Erkenntnis schwappte empor, als er jetzt auch die Schemen der drei Gestalten im Zimmer erkennen konnte, die sich neben ihm absetzten. Er hatte noch immer nicht gänzlich verstanden, worum es überhaupt ging, aber drei Gestalten waren definitiv zwei zu viel und das ließ ihn empor schießen.
      Der Mann direkt neben Zoras stieß ein Zischen aus, das sich wie eine Warnung an den anderen anhörte, der Amartius mit einem kräftigen Stoß weiter nach vorne beförderte. Er musste unwillkürlich seinen Griff von dem Jungen nehmen, beeilte sich aber damit, gleich wieder zur Stelle zu sein, um Amartius jetzt an den Armen zu packen und weiter zur Tür zu drängen. Er ließ sich nicht davon aufhalten, was im Hintergrund geschah.
      Zoras bekam einen Fuß in die Brust getreten, bevor er überhaupt soweit gewesen wäre, sich vollständig aufzusetzen. Schmerz explodierte in seiner Narbe, allesergreifender, betäubender Schmerz, der mit sich eine fast genauso große Welle an Zorn mit sich brachte. In der wenigen Zeit, in der er bereits wach geworden war, hatte er jetzt schon begriffen, was vor sich ging: Genau das, wovon er Amartius am Vorabend noch gewarnt hatte. Weshalb er sämtliche Eingänge des Zimmers ordentlich verriegelt hatte.
      Der Tritt warf ihn zurück auf den Rücken und die Gestalt war geistesanwesend genug, den Fuß auf Zoras' Schwert zu stellen, als er danach greifen wollte. Stattdessen griff er nach dem Hosenbein, bekam es zu fassen, musste dann aber wieder loslassen, als ihn eine Hand am Kragen packte und die andere die Faust mitten in sein Gesicht einschlagen ließ. Ein neuer Schmerz explodierte, diesmal in seiner Nase und er musste die versuchte Offensive aufgeben, um mit den Armen sein Gesicht zu schützen. Da hörte er eine Stimme und Tumult im Hintergrund.
      "Raus!"
      Amartius. Mit einem Schlag war er vollkommen wach.
      Der nächste Hieb traf seinen Arm und kaum, als er den Schmerz spürte, brach er die Deckung seiner Arme, griff blindlings nach oben, bekam das Gewand des Mannes zu fassen und zog entweder ihn hinab, oder Zoras nach oben, um ihrer beiden Köpfe aufeinander zu schlagen. Die dritte Explosion und seine Augen brannten. Der Schmerz ließ ihn grunzen, aber er war nicht halb so stark genug, um ihn aus seiner ansammelnden Rage zu befreien.
      Der Mann ließ ihn los und taumelte für einen Moment, um sich von dem unvorhergesehenen Rückschlag zu erholen, aber es war genug Zeit für Zoras, in die Höhe zu schießen und seinen ganzen Körper auf die Gestalt zu katapultieren, so wie er es für seine vergangenen Ringkämpfe geübt hatte. Seine Schulter traf auf den Bauch und er beförderte die Gestalt nach hinten. Das Zimmer war kaum groß genug, um weit mit einem solchen Manöver zu kommen, da krachten beide bereits in die gegenüberliegende Kommode. Holz zersplitterte, Bodendielen knarrten, der Mann gab einen Schmerzenslaut von sich, der in dem sonstigen Krachen unterging. Er wurde unter Zoras begraben und wenn man genau hätte hinhören können, hätte man Knochen brechen gehört.
      Zoras rappelte sich gleich wieder auf, das Gesicht von einer gebrochenen Nase blutig, die Brust hämmernd wie an dem Tag, an dem Telandir ihm die Narbe beschert hatte. Er warf den Kopf herum und sein Blick, der die Macht gehabt hätte, ganze Orkanböen heraufzubeschwören, traf auf den Mann, der mit einigem Gerangel versuchte, den Jungen aus der Tür zu bugsieren. Amartius.
      Der Mann an der Kommode versuchte sich gerade erst mit einigem Ächzen und Stöhnen wieder aufzurichten, da war Zoras bereits bei seinem Partner. Er packte ihn am Nacken, da sah der sich erst dazu gezwungen, Amartius vollständig loszulassen.
      Zoras' erster Schlag wurde abgefangen durch eine überraschend geschmeidige Bewegung, die durch den Körper des Mannes ging. Der Konter traf Zoras in den Bauch und er stolperte stöhnend einen Schritt zurück.
      "Hättest dich nicht einmischen dürfen, Alter!"
      Der Mann hatte einen widerlichen Dialekt, einen, der Zoras die Nackenhaare aufstellen ließ. Vielleicht kam das aber auch nur von der Art und Weise, wie er Amartius zuvor zu Boden gestoßen hatte.
      Er richtete sich wieder auf, da traf ihn die Faust des Mannes erneut, an den Kopf dieses Mal, und Zoras schwindelte, als er dennoch zum Schlag ausholte und zuschlug. Seine eigene Faust traf den Mann gegen die Schulter und er zog gleich nach, ungeachtet des Blutes, das ihm in den Mund lief und des Pochens, das gleichermaßen in seinem Schädel und seiner Brust dröhnte. Er prügelte auf den Mann ein, ein unaufhaltsamer Tornado, der in dem kleinen Zimmer entbrandet war, er trat nach ihm, er spuckte ihm ins Gesicht, ein Gemisch aus Spucke und Blut, das den anderen zucken ließ. Beide Parteien blieben standhaft. Erst als der erste Mann, der von der Kommode, sich aufgerichtet hatte und nach Zoras' Armen fischte, sah es für einen Moment so aus, als würde er doch noch unterliegen, als wären die Schläge letzten Endes doch zu viel geworden.
      Aber Zoras hatte bisher keinen Kampf verloren und er würde auch nicht damit anfangen - nicht mit Amartius, nicht mit seinem Sohn, den er niemals einem Schicksal wie diesem aussetzen lassen würde. Es wäre ihm völlig egal gewesen, ob diese Männer nur geplant hätten, mit dem Jungen einen kleinen Plausch zu führen, es wäre ihm sogar egal gewesen, wenn er sie gekannt hätte. Niemand schlich sich in sein Zimmer und legte Hand an den Jungen an. Niemand erlebte dabei noch den Sonnenaufgang.
      Er rammte den Ellbogen in den Magen seines Hintermannes und nutzte den aufkommenden Schwung dafür, die Faust desselben Armes auf seinen Vordermann einzudreschen. Einer von ihnen fiel, der andere schwankte noch. Zoras ließ nicht ab, bis nicht beide auf dem Boden lagen und sich unter seinen Schlägen gar nicht mehr rührten. Da hörte er endlich auf, starrte keuchend und schweißüberströmt auf den reglosen Mann unter sich hinab und richtete sich schließlich wankend auf.
      "... Scheiße."
      Er spuckte aus, eine Mischung aus Schweiß und Blut und fuhr sich über das nasse Gesicht. Seine Nase war gebrochen, seine Wange aufgeplatzt, die untere Hälfte seines Gesichtes von Blut überströmt, die Haare klebten ihm in der Stirn. In seiner Brust hämmerte es, als würde jemand mit einem nadelbespickten Hammer darauf einschlagen, an seinen Fingerknöcheln und seiner Hose klebte Blut. Jeder Atemzug schickte eine neue Schmerzenswelle durch seine Nase.
      Er spuckte noch einmal aus, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und hob dann endlich den Kopf, um sich nach Amartius umzusehen. Der Junge war draußen im Gang, vielleicht weil er sich in Sicherheit hatte bringen wollen, vielleicht weil er so weit geschubst worden war. Letzten Endes war es eigentlich egal, hauptsache er schien nicht verletzt zu sein.
      "Amartius."
      Zoras kam mit langen, eiligen Schritten auf ihn zu und beugte sich zu ihm hinab, seine Hand nach ihm ausgestreckt. Er wollte ihm über die Haare streichen, hinterließ dabei aber eine feine Blutspur und zog die Hand daher wieder zurück.
      "Bist du verletzt? Geht es dir gut? Haben sie dir was getan?"
      Sein eigener Atem kam röchelnd durch seine Lunge, aber er verharrte dort, bis er von Amartius eine eindeutige Antwort erhalten hatte. Dann richtete er sich erst wieder auf und sah beide Richtungen den Gang entlang nach unten.
      "Wir packen die Sachen, ich möchte nicht wissen, ob es hier noch mehr von den Typen gibt. Los, Beeilung, bevor man uns noch Mord auf den Hals hetzen will."
      Er hatte keine Ahnung, ob er beide Männer totgeprügelt hatte, aber er hatte auch keine Lust, lange genug zu bleiben um es herauszufinden.
    • Fast hätte Amartius laut aufgeqietscht, als sich Finger wie Schraubströcke um seinen Knöchel legten und er einen Moment brauchte ehe er verstand, dass es Zoras' Finger waren. Mit geweiteten Augen starrte der Junge herunter, gefangen in einem seltsamen Augenblick der Stasis. Man fühlte regelrecht, wie ein jedes Augenpaar jedes andere suchte, fand und dann das nächste suchte. Im nächsten Augenblick brach diese Stasis auf und die Dinge nahmen ihren Lauf. Noch während Zoras sich aufrichtete, zischte etwas hinter Amartius und dann ging ein kräftiger, barscher Ruck durch ihn. Er traf ihn unvorbereitet und nötigte ihn weiter zur Tür, zu der er mehr hin stolperte als alles andere. Dadurch verlor sich allerdings auch der Griff an seinen Armen und er konnte kurzzeitig seine Freiheit wieder spüren. Er fuhr herum, primär weil er nach Zoras sehen wollte, und bekam nur noch zu sehen, wie der zweite Kerl ihn mit einem beherzten Tritt gegen die Brust wieder zu Boden schickte. Der Schmerz, der daraufhin in seinem Vater explodierte, traf ebenso seinen Sohn und raubte ihm jeglichen Atem. Er wusste nicht, ob es sein Schmerz war, ob er ihn wirklich erlitt oder woher genau er überhaupt stammte. Diese Überwältigung nutzte der erste Fremde, um zu dem Jungen aufzuschließen und ihn wieder zu packen. Dieses Mal schwieg Amartius jedoch nicht.
      „Loslassen!“, fuhr er den Mann an, der ihn ignorierte und ihn trotz seines Widerstandes weiter zur Tür drängte.
      „Raus!“, befahl er kurz nachdem der Junge aufgeheult hatte. Der Fremde versperrte ihm die Sicht auf seinen Vater, der allen Anschein nach gerade in den Kampf mit dem anderen Kerl gegangen war. Er hörte nur dumpfe Laute. Stöhnen. Keuchen. Laute, die ihn heimsuchen würden und dank seiner Fantasie furchtbare Ausmaße bekamen. Amartius musste zurück. Musste seinem Vater helfen. Er warf sich mit seinem Fliegengewicht gegen den Mann, der ihn spielend leicht abfing. Danach stellte sich Amartius so quer, dass er nicht einfach durch den Türrahmen heraus geschoben werden konnte. Mit einem Arm und einem Bein blockierte er den Fremden, der nun versuchte, ihm den Arm einzuknicken. Dabei kam er Amartius' Gesicht zu nah und dieser reagierte nur noch aus Instinkt. Nichts in der Welt würde diesen Arm vom Türrahmen bekommen. Und so schnappte Amartius nach dem Arm des Fremden und erschauderte, als er ihn tatsächlich erwischte. Beherzt biss er zu und forderte ein weiteres Zischen des Mannes in seinem Rücken ein. Dann krachte es plötzlich und die beiden Kontrahenten wandten ihre Blicke zurück in den Raum. Sie hatten beide gerade noch genug Zeit, einen blutüberströmten Zoras im Halbdunkel zu bewundern, dann war er binnen eines Wimpernschlages gefühlt bei ihnen.
      Der eiserne Griff um Amartius' Körper war augenblicklich verschwunden. Der Arm, in den er gebissen hatte, war ruckartig aus seinem Mund verschwunden und er brauchte eine weitere Sekunde um zu realisieren, dass sein Vater den Angreifer von ihm gerissen hatte. Wüst taumelte der Junge nun doch in den Flur vor dem Gästezimmer, die Augen so weit aufgerissen wie noch nie zuvor. Er hatte den Schlag nicht gesehen, sah aber Zoras zurück taumeln. Dafür sah er jedoch wie der zweite Schlag Zoras' Kopf traf. Die reine Wucht dahinter ließ den Kopf zurück schnellen und alles in Amartius schien sich zu winden. Er wusste, dass er sich in seinen Vater hinein versetzen können würde. Seinen Schmerz, seine Wut, seinen Zorn spüren können würde. Umso erpichter war er darauf, seine mentalen Barrieren oben zu haben. Erst die kalte Wand in seinem Rücken halfen dem Jungen dabei, dies auch in die Tat umzusetzen.
      Der nun entbrannte Faustkampf war das Schlimmste, was Amartius in seinem Jungen Leben bisher gesehen hatte.
      Die Kinderleiche in der Gasse war erschreckend gewesen. Aber sie war emotionslos gewesen, ein stummer Zeuge. Was sich nun vor seinen Augen entfaltete, war dermaßen geladen, das kein Wort seine Kehle verließ. Voller Schrecken war er der Zeuge dieser Auseinandersetzung, an der am Ende sein Vater brillierte. Amartius wusste nicht, ob er Minuten oder gar Stunden wie eine Statue an der Wand gestanden und gestarrt hatte. Die Zeit war ihm abhanden gekommen.
      Dann legte sich eine gespenstische Ruhe, die nur von ihren angestrengten Atemzügen durchbrochen wurde. Zoras aus Anstrengung und Schmerz, Amartius aus Schock und Panik. Gebannt sah er die Gestalt seines Vaters über den zwei Fremden aufragen, sah, wie er sich bewegte und irgendwas tat, nur um dann den Kopf zu heben und seinen Sohn anzusehen.
      Amartius Herzschlag setzte für volle zwei Sekunden aus.
      Amartius.“
      Er hörte die angestrengte, kratzige Stimme. Wusste, wie sie sich anhörte, wenn sie mit der Liebe sprach, die sein Vater ihm entgegenbrachte. Und doch drückte er sich noch flacher als überhaupt möglich an die Wand als eben jener Mensch nun auf ihn zukam. Er spürte keine schlechten Absichten, er wusste es doch besser, und trotzdem ließ sich das beklemmende Gefühl in seiner kleinen Brust nicht leugnen.
      Seine Augenbrauen zuckten, die Augen voller Terror, als Zoras ihm die Haare aus dem Gesicht streichen wollte und eine feuchte, feine Spur hinterließ. Er brauchte volle drei Anläufe bis er Töne von sich brachte, die man halbwegs als Stimme bezeichnen konnte. „Mir ist nichts passiert.“
      Mehr Worte fand er nicht. Sein Körper war unversehrt, das stand außer Frage. Wie es aber in ihm aussah, war eine andere Geschichte. Dieses Mal hatte er keinen schlauen Spruch auf seinen Lippen oder Widerworte. Stattdessen schwieg er, ging zittriger Knie wieder in das Zimmer und kramte hastig alles zusammen, was ihm gehörte. Dabei war er über die Männer hinweg gestiegen, die er absichtlich nicht angesehen hatte. Das musste er auch gar nicht. Das Lebenslicht brannte noch immer, wenn auch klein. Das würde wieder werden. Jedenfalls für einen von beiden.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Es dauerte einen Moment, bis Amartius sich endlich bewegte, und hätte es länger gedauert, hätte Zoras angefangen sich Sorgen zu machen. Aber schließlich schlich er doch an Zoras vorbei, hängende Schultern, der Kopf eingezogen, als würde er sich vor etwas zu schützen versuchen. Das Verhalten passte so gänzlich nicht zu dem sonst so wissbegierigen Jungen, es ließ Zoras selbst in seinem jetzigen Zustand aufhorchen.
      Aber er hatte keine Zeit, sich jetzt darum zu kümmern, was mit dem Jungen nicht in Ordnung war, wenn er noch nicht einmal wusste, wie die Lage im Gasthaus oder drum herum aussah. Und obwohl er wesentlich lebendiger aus dem Kampf herausgekommen war als die anderen beiden, hieß das noch lange nicht, dass er den Auftritt wiederholen könnte, nicht mit der Erschöpfung, die ihn jetzt heimsuchte. Also folgte er Amartius zurück ins Zimmer und sammelte seine Sachen ein.
      Sie hinterließen die Verwüstung unberührt zurück - Zoras hatte noch die Taschen der beiden durchsucht, aber nur zwei halbe Silbermünzen gefunden - und machten sich auf einen schweigsamen Weg das Treppenhaus herab. Sie bemühten sich darum leise zu sein, aber Zoras atmete noch immer recht laut und stockend, nachdem der Schmerz seiner Narbe noch immer nicht abgelassen hatte. Mittlerweile wurde er zu alt für Prügeleien, das wurde ihm wohl jetzt noch einmal vor Augen geführt.
      Am Fuße der Treppe vergewisserte er sich, dass Amartius noch immer dicht hinter ihm ging, dann wandte er sich in den Gang mit den anderen Zimmern und fing an, die Türklinken herabzudrücken. Er fand einen offenen Raum, ging hinein, wartete auf Amartius und schloss die Tür hinter ihnen, bevor er zum Fenster ging und es öffnete. Das Fenster war klein und mündete in einen tristen Hinterhof - keine sonderlich gute Art, vor einem Verbrechen zu fliehen, aber sicherlich besser, als zu riskieren, dem Wirt zu begegnen.
      "Komm her, du gehst als erster nach draußen. Komm."
      Er winkte Amartius zu sich, öffnete das Fenster und half ihm dabei, nach draußen zu klettern. Dann schob er seine Taschen nach und zwängte sich schließlich selbst hindurch - ein Akt, der wohl wesentlich einfacherer vonstatten hätte gehen können, wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, bei jedem Atemzug erdolcht zu werden. Verletzungen auf Telandirs Narbe hatte er noch nie wirklich ertragen können und jetzt wiederholte es sich um ein Neues.
      Aber er kam nach draußen und richtete sich schließlich neben Amartius auf. Der Hinterhof war dunkel, aber trotzdem geräuschvoll und das Mondlicht glitzerte in manchen Winkeln auf Zoras' von Blut fast getränktes Hemd. Er sah sich kurz um und streckte Amartius dann seine noch immer blutige Hand hin.
      "Bleib bei mir, einverstanden? Schnell jetzt."
      Er ergriff seine Hand und zog ihn in ihrer übereilten Flucht mit sich.
      Sie mussten Betrunkenen ausweichen und Obdachlosen. Sie mussten sich vor Patrouillen verstecken, von denen es dankenswerterweise nicht allzu viele gab, und sie mussten Geräusche meiden, die sich zu sehr nach gewalttätigen Auseinandersetzungen anhörten - davon gab es wiederum mehr als genug. Zoras hatte noch nicht einmal eine Ahnung, wohin sie genau gehen sollten, denn er würde sicherlich kein Geld für ein zweites Zimmer ausgeben, das sie für die letzten paar Stunden gebrauchen würden und er kannte sich auch sonst nicht in der Stadt aus. Irgendwo musste es in der Nähe einen Marktplatz geben und irgendwo war das Arbeitsviertel, in dem er sich den Tag über herumgetrieben hatte, aber mehr wusste er nicht - also suchte er sich einfach einen Weg durch die Dunkelheit, seinen Sohn im Schlepptau. Sie waren schon zwanzig Minuten unterwegs gewesen, durch ein Gewühl aus Geräuschen, dem in den wenigsten Momenten auch Menschen zugeordnet werden konnte, als Zoras sich schon zum dritten Mal in eine Sackgasse verirrt hatte. Aber dieses Mal blieb er stehen, anstatt wieder umzudrehen; hier stank es nicht ganz so sehr nach Körperflüssigkeiten und Abfällen wie in den anderen Gassen und außerdem könnte man sich mit viel Fantasie einreden, das die Geräusche aus den Nebenhäusern fröhlicher Natur waren. Zumindest hatten sie hier nicht die beschränkten Wände eines Zimmers, in das wohl jeder eintreten konnte, ohne dass Zoras es mitbekommen hätte, und außerdem kostete es nichts. Er ließ seinen Beutel zu Boden fallen, ließ Amartius los und kramte ein bisschen halbherzig durch den Müllhaufen, der dort lagerte. Schließlich räumte er ihnen einen kleinen Platz frei: Sauber genug, um sich zu setzen, sogar etwas abgetrennt von der Straße. Er sah sich nach Amartius um und ließ sich dann dort auf den Boden fallen, nachdem er den Jungen hergewinkt hatte.
      "Komm her, hier ist's gut. Besser als gar nichts. Leg deinen Kopf auf meinen Schoß, dann kannst du noch ein bisschen schlafen, bevor wir weiterziehen, hm? Ist das in Ordnung?"
      Jetzt war er tatsächlich selber erschöpft. Das Adrenalin des Kampfes war abgefallen, das Schmerzniveau war gestiegen und jetzt konnte er sowohl seinen Blutverlust, als auch seine geschundenen Muskeln spüren. Diese Nacht würde sich ganz sicher nicht positiv auf einen ganzen bevorstehenden Tag Reiten auswirken, aber es stand genauso außer Frage, es dennoch durchzuziehen. Die Aussicht auf Kassandra war womöglich das einzige, was Zoras davor bewahrte, sich jetzt stattdessen in die nächstbeste Taverne zu setzen und seine Schmerzen wegzutrinken.
    • Amartius war zu einem Schatten verkommen. Einem Schatten, angeheftet an den großen Schemen eines Mannes, der sich und seinen Sohn mit der urtümlichen Macht verteidigt hatte. Er sprach kein Wort, zu keiner Sekunde, sondern hörte nur dabei zu, wie schwer Zoras' Atem ging als er nach einem unauffälligen Weg aus der Gaststätte suchte. Auch ohne seine Fähigkeiten war nicht zu verkennen, dass sein Vater Schmerzen litt und sich nur mit seiner Entschlossenheit durchschlug. Es brauchte keine großen Lebensweisheiten, damit Amartius realisierte, dass er eine Teilschuld daran hatte. Menschen besaßen einen Selbsterhaltungstrieb – das hatte er mehrfach gehört und nun auch gesehen. Aber Zoras hatte in Amartius sein eigenes Blut an seiner Seite und Dank Kassandras Erzählungen wusste der Junge, dass das Blut bei diesem Mann einen exorbitanten Stellenwert einnahm. Das, was Amartius als Familie erst kennenlernen musste, war für Zoras eines der höchsten Güter. Vermutlich hätte er sich in dieser Konfrontation sogar Gliedmaßen abschneiden lassen, wenn es bedeutet hätte, seinen Sohn zu befreien.
      Und so ließ er sich ohne Widerworte von ihm durch das Fenster helfen, um danach die Taschen anzunehmen und mit zusammengebissenen Zähnen dabei zu zusehen, wie sich Zoras durch das offene Fenster quälte. Dem Halbphönix fiel jeder weitere Atemzug schwer, so als teile er sich seinen Atem mit seinem Vater. Er wusste nicht, wie er bennen sollte, was er gerade fühlte, kaum hatte sich Zoras schwer atmend wieder aufgerichtet und schon nach einer neuen Laufrichtung umgesehen. Er fühlte sich schrecklich nutzlos. Immerhin war er überhaupt Auslöser für diesen Zwischenfall gewesen. Es war genau das, vor dem sein Vater ihn gewarnt hatte. Man hatte ihn auf seiner Spritztour also doch ins Auge gefasst und wollte sich seiner bemächtigen. Es wäre dann herumgereicht worden, gar nicht so unähnlich wie das, vor dem seine Mutter ihn ebenfalls immer gewarnt hatte. Wäre Zoras nicht gewesen, dann wäre Gott weiß was mit dem Jungen passiert. Seine Zähne taten ihm weh weil er kontinuierlich den Kiefer so stark zusammengebissenen hatte. Notgedrungen versuchte er, seine Anspannung zu lösen, dann fiel ihm jedoch das dunkel und feucht anmutende Hemd an seinem Vater auf und er hatte das Gefühl, den Boden unter seinen Füßen zu verlieren. Das war recht viel Blut und das Gesicht seines Vaters hatte er nicht ein einziges Mal richtig zu Gesicht bekommen. Es grauste ihn, was er dort vorfinden würde.
      Eine blutige Hand wurde in Amartius Richtung ausgestreckt. Eine Hand, behaftet mit dem Blut, das auch in seinen eigenen Adern floss. Eine Hand, deren Knöchel geschwollen waren und vermutlich bei jeder Berührung schmerzen würden. Zögerlich nahm Amartius die Hand und wurde von seinem Vater mitgezogen. Der restliche Weg, den sie zurücklegten, verschwamm in seiner Wahrnehmung komplett. Er sah ständig nur auf ihre Hände, fühlte wie sich das Adrenalin langsam abbaute und sich Erschöpfung zu dem Schmerz gesellte. Er hörte nur den angestrengten Atem seines Vaters, ihre Schritte unter dem Mondlicht. Es gab hier keine anderen Menschen. Keine anderen Geräusche. Nur sie beide.
      Amartius schreckte regelrecht zusammen als Zoras plötzlich seine Hand losließ, kaum hatte er eine Sackgasse gefunden, die nicht ganz so heruntergekommen war wie die anderen zuvor. Es fühlte sich an, als habe man den Jungen wieder in die Realität geschubst, doch er sah nur steif dabei zu, wie Zoras eine Ecke freiräumte, seinen Beutel bei sich ablegte, seinen Sohn heranwinkte und sich schließlich auf dem Boden niederließ. Amartius war dem Wink gefolgt, hatte sich bis auf drei Schritt zu ihm herüber begeben, und war nun doch vor ihm zu einer Statue verkommen. Von oben herab musterte der Sohn seinen Vater und mit jeden Herzschlag schwappte mehr zu ihm herüber. Endlose Erschöpfung durch den Kampf, auf den er weder vorbereitet noch in der Verfassung dazu gewesen war. Schmerzen, oh, unglaublich vielschichtiger Schmerz, der aus allen Ecken und Enden herrührte. So viel, dass Amartius nicht mehr wusste, wie viel davon noch sein eigener gewesen war. Wie konnte man überhaupt noch atmen, wenn man so sehr das Gefühl verspürte, die Brust wäre versteinert? Er sah das Blut auf dem Hemd. Die ausgefransten Stellen, wo sich die Männer gegenseitig an den Kleidern gerissen hatten. Hier in dieser Gasse stand der Mond über ihnen und beleuchtete Zoras' Gesicht während dieser zu seinem Sohn aufsah. Und als Amartius es sah, mit seinen geschwollenen Partien, den blutunterlaufenen Augen und dergebrochenen Nase brach etwas in ihm.
      Du bist kein Mensch, mein Sohn. Du bist göttlicher Natur.
      Du verfügst über Fähigkeiten, die die eines Menschen weit überschreiten.
      Du bist ein gutes Wesen. Du bist ein Phönix.

      Du bist kein gewaltsame Macht. Du hilfst. Du besitzt unglaubliche Heilfähigkeiten, die vor nichts außer dem Tod Halt machen. Denn dazu befähigt dich das Blut, das durch deine Adern fließt.
      Das waren die Worte von Kassandra gewesen, als sie ihm die Worte dazu gegeben hatte, was er unlängst gefühlt hatte. Es war seine Kernnatur, die er auch ohne Erklärung erfasst hatte. Er wusste, wozu Phönixe imstande waren, in was sie brillierten. Vor ihm auf dem Boden saß sein verdammter Vater, blutend, erschöpft und vollkommen lädiert. Amartius wusste, dass Kassandra, nein, ein jederandere Phönix ihn binnen Sekunden wieder herstellen konnte. Dann sollte er es auch können. Aber noch während er nach etwas suchte, was ihm sagte, wie es funktionierte, fand er nur endlose Leere. Selbst mit Hilfe seiner Magie spürte er nicht, wie er sie einsetzen sollte, um andere zu heilen.
      Komm her, hier ist's gut. Besser als gar nichts. Leg deinen Kopf auf meinen Schoß, dann kannst du noch ein bisschen schlafen, bevor wir weiterziehen, hm? Ist das in Ordnung?“
      Nichts war in Ordnung als Amartius vor Zoras auf die Knie fiel und ihm seine Hände auf die Oberschenkel legte. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die nichts mehr von der Kindlichkeit hatte, wonach sein Körper aussah. Ihm war es egal, dass er seine Magie nicht nutzen sollte. Seine Augen glimmten auch ohne sein Zutun während er auf die Brust seines Vaters blickte und es so aussah, als sähe er durch ihn hindurch. Er spürte den Schmerz, die Emotionen, gar alles sich unter seinen Händen sammeln, fast so als sei es greifbar. Er müsste seine Magie nur übertragen, nur ein bisschen, damit sie Dinge tat. Amartius Lippen waren nur mehr ein dünner Strich während er sich mit aller Macht abmühte, irgendetwaszu tun. Aber nichts geschah und die Sorge, der Schock, der ihm noch immer innewohnte, mischte sich mit Frust. Mit Wut auf sich selbst.
      Was sollte Amartius sein, wenn er nicht einmal die Grundnatur eines Phönix beherrschte?
      „Nichts ist in Ordnung“, zischte Amartius mit einer noch nie dagewesenen Härte in seiner Stimme. Seine Hände zitterten auf Zoras' Beinen, so sehr stand er unter Anspannung. „Ich bin ein verdammter Halbgott. Sie hat mir gesagt, was wir alle können. Und was kann ich? Gar nichts.
      Sein Puls begann sich zu überschlagen während ein unbändiger Zorn in ihm aufstieg. So stark, wie er ihn noch nie selbst gespürt hatte und er verdrängte den Schmerz, die Schuld aus seinem Bewusstsein. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und es löste sich ein kurzer, verzweifelter Aufschrei seinerseits. Es war ihm egal.
      „Ich sollte dich heilen können. Ohne Probleme. Aber es klappt nicht, Zoras. Hör auf, mein Wohl über deines zu stellen. Ich werde jetzt nicht schlafen, sondern du. Ich werde aufpassen, dass hier kein einziger Mensch vorbeikommt. Und wenn, dann brech' ich ihnen jede Hand, die sie nach dir ausstrecken. Egal ob Mann, Frau oder Kind.“
      Amartius hörte seine eigene Stimme nur noch entfernt. Er hatte noch immer den Blick auf Zoras' Brust fixiert während er Worte sprach, die er in klaren Momenten nie gesagt hätte. Das war der Grund, warum sich Götter nicht mit Menschen befassten, denn wenn sie das empfanden, was Amartius gerade tat, dann richteten sie Unheil über den Großteil der Welt an. Aber Amartius war näher an den Menschen als es selbst Kassandra gewesen war. Er war zur Hälfte ein Mensch und das machte ihn empfänglich für all die Niederträchtigkeit dieser Wesen.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"

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    • Zoras hatte gar nicht gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Natürlich war ihm aufgefallen, wie merkwürdig Amartius sich verhalten hatte, als sie aufgebrochen waren, aber das war wohl entsprechend der Situation auch angemessen gewesen. Der Ausdruck, der aber jetzt in seinem Gesicht stand, erzählte eine ganz andere Geschichte.
      Zoras starrte etwas perplex auf die harten Gesichtszüge, die sich jetzt in Amartius' kindlichem Gesicht bildeten und die ihm etwas düsteres verliehen. Ein Kind in seinem Alter sollte keinen solchen Ausdruck im Gesicht haben, es sollte ja noch nicht einmal einer Situation ausgesetzt werden, in der ein solcher Ausdruck angemessen gewesen wäre. Aber trotzdem waren sie jetzt hier, in einer vergammelten Sackgasse, ohne Unterkunft und mit Wunden von einem Überfall, über den Zoras vor einigen Jahren noch gelacht hätte, und Amartius sah gerade so aus, als wäre er bereit dazu, die Hölle über Kuluar einbrechen zu lassen, sofern das in seiner Macht gestanden hätte. Allerdings war wohl genau das der Punkt, der dem Jungen zuzusetzen schien.
      Zoras' Augen weiteten sich minimal, als er zu verstehen glaubte, was dieser Stimmungswechsel zu bedeuten hatte. Die glimmenden Augen waren dafür wohl Beweis genug.
      Wer hatte dem Jungen eingebläut, dass er einen gewissen Soll hatte, den es zu erfüllen galt? Wer hatte ihm in den bescheidenen drei Monaten seines Lebens gesagt, dass er als Halbphönix die entsprechenden Fähigkeiten aufweisen sollte? Nach drei Monaten? Es gab sicherlich einen Unterschied in der Erziehung zwischen Menschen und Göttern, aber Kinder waren Kinder, in jeder Form, jeder Rasse und jedem Zeitalter. Wen interessierte es schon, wenn der Junge mit drei Monaten keine Feuervogelgestalt heraufbeschwören konnte, wenn ihm regenerative Fähigkeiten fernblieben, wenn sein Feuer lediglich schwacher Natur war? Hatte man in der Eisfeste tatsächlich mehr Wert darauf gelegt als darauf, den Jungen genau das sein zu lassen: Ein Junge?
      Vielleicht würde Zoras einmal mit Kassandra sprechen müssen. Er war sich sicher, kein perfekter Vater zu sein, aber so viel hätte er doch wohl besser machen können.
      Zoras streckte die Hände nach ihm aus und legte sie über die Fäuste, die er auf seinem Oberschenkel geballt hatte.
      "Amartius, du sollst gar nichts und erst recht nicht irgendjemandem weh tun. Du bist noch ein Kind, es ist noch lange nicht Zeit, dass du irgendwelchen Verantwortungen nachkommst. Das hier wäre auch ganz ohne deinen Einfluss in einer Weise passiert und es wird auch ohne deinen Einfluss wieder verheilen, hm?"
      Für einen Augenblick wollte er Amartius dazu bewegen ihn ordentlich anzusehen, aber dann erinnerte er sich daran, dass er wohl nicht das beste Aussehen präsentierte, um seine Worte gut unterstreichen zu können, also richtete er sich stattdessen ein Stück auf. Telandirs Narbe stieß seine unsichtbaren Dolche in seine Brust.
      "Es gibt keine Pflicht, die du erfüllen musst, Amartius, außer der ein Kind zu sein. Ich weiß zwar nicht, was man dir in Asvoß eingebläut hat, aber es ist in Ordnung, wenn du etwas nicht kannst. Du wirst es mit der Zeit lernen und wenn nicht, wirst du eben etwas anderes lernen. Nur, weil du nicht heilen kannst, macht dich das nicht zu einem geringeren Phönix als deine Mutter oder jemand anderen. Du hast noch immer göttliches Blut in dir und das äußert sich nicht dadurch, dass du Wunder vollbringen kannst."
      Es war nicht so, dass Zoras selbst vollständig von seinen Worten überzeugt war. Bei den Göttern, es war beunruhigend, dass Amartius eine der wenigen Sachen nicht konnte, die einen Phönix ausmachten, aber das änderte noch lange nichts daran, dass er dennoch überzeugt davon war, dem Jungen eine Kindheit zu beschaffen. Göttlichkeit hin oder her, er sollte das Leben genießen, bevor er mit seinem Ernst konfrontiert würde, nicht andersherum.
      "Ich möchte also von dir, dass du nichts weiter tust, als ein Junge zu sein. Kein Gott und kein Halbgott oder irgendetwas anderes. Ich kann dir zwar nichts bieten, um es dir auch angenehm zu gestalten, aber jetzt im Augenblick brauche ich von dir, dass du dich hinlegst und die paar Stunden schläfst, bis wir die anderen suchen gehen, weil du das mindestens genauso nötig hast wie ich. Möchtest du darüber reden, was du gerade gesehen hast? Du musst nicht, aber es ist wichtig, dass es dir damit gut geht. Mein Körper wird sich schon von selbst wieder richten."
    • Zoras' Hände auf den deutlich kleineren von Amartius wirkten schwer auf den Jungen. Noch immer hatte er seinen Blick nicht heben können, den Ausdruck verbissen und stur geradeaus gerichtet. Wäre es vor Tagen oder vielleicht ein, zwei Wochen zu diesem Vorfall gekommen hätte er den Worten seines Vaters geglaubt und sich demnach entspannt. Doch jetzt, wo er vom Geiste her schon mindestens das Teenageralter erreicht hatte, hörte er nur noch heraus, dass man ihn wie einen kleinen Jungen behandelte, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte. Unwissend war. Naiv war. Zeit ohne Ende besaß. Was eine fatale Fehlannahme war.
      „Das hier wäre nicht ohne meinen Einfluss passiert. Es wären keine Männer in dein Zimmer eingebrochen, um dein Kind zu entführen. Du wärst irgendwann mit irgendwelchen Leuten auch aneinander geraten, schon klar, aber dann hättest du dich selbst verteidigt und niemanden sonst.“ Seine Augenwinkel zuckten gereizt. „Du hättest im Zimmer einfach liegen bleiben können. Das konntest du aber nicht, weil ich dein Sohn bin. Das hättest du sonst für niemanden getan, also sag mir nicht, dass es ohne meinen Einfluss auch passiert wäre.“
      Denn das wäre gelogen. Das wussten sie beide. Kassandra hatte ihm früh erklärt was es bedeutete, göttlicher Abstammung zu sein. Dass all das, was ihnen natürlich in die Wiege gelegt worden war bei ihm nicht sofort da war. Dass es an dem unreinen Anteil in seinem Blut liegen musste, dass er nicht die gleiche Begabung zeigte wie ein vollwertiger Gott. Aber nichts auf der Welt hätte ihn davon abhalten dürfen, eine seiner Kernkomponente nutzen zu können. Jetzt saß er vor seinem Vater, fühlte den unglaublichen Druck, ihm helfen zu wollen und konnte es nicht. Er scheiterte bei dem, was ihn auszeichnen sollte.
      „Ich hab's damals nicht erkannt, aber langsam ergibt es Sinn“, murmelte er weiter und sein Blick zuckte zurück über seine Schulter, als Menschen an der Sackgasse vorbei gingen. „Ich dachte es sei normal, dass Mutter mir so viel zu unserem Wesen gelehrt hat. Was ich darf und was nicht. Was normal sein sollte und was nicht. Sie hat damit gerechnet, dass ich mich wehren müsste sobald klar wird, dass nicht Telandir mein Vater ist. Sie wusste es vor allen anderen und hat mich dahingehend vorbereitet.“
      Als sich sein Blick von der Straße wieder nach vorn richtete, war er nicht mehr auf Zoras' Brust gerichtet. Dieses Mal begegnete er dem Blick seines Vaters mit solch einer Intensität, dass er selbst das flaue Gefühl in seiner Magengegend zu unterdrücken vermochte.
      „Ich hab keine normale Kindheit. Die ist vorbei als mich Telandir von den Zinnen hatte werfen wollen. Er hat mich ausgesetzt anstelle mich zu töten. Welches Kind wird von seinen Angehörigen ausgesetzt und sich selbst überlassen? Keines, außer man hofft, dass es alleine scheitert. Ich war naiv, meinem Alter geschuldet. Aber ich bin nicht mehr derselbe. Ich kann es nicht mehr sein. Nicht, nach allem was ich gesehen habe.“
      Amartius wusste, dass seine Worte nun überhaupt nicht mehr zu seinem Äußeren passten. Dass die Wut, der Frust, der Schock nicht zu einem zehnjährigen Kind passten. Seine Augen waren es, die verrieten, dass die kindliche Jugend binnen eines Sonnenwechsels nahezu verschwunden war. Ausradiert von der Gewalt und dem Elend, dass er mitansehen musste. Bei diesen Gedanken biss er sich auf seine eigene Unterlippe bis er einen metallischen Geschmack wahrnahm.
      „Seh ich so aus, als könne ich jetzt schlafen? Nachdem ich gesehen habe, wie ihr mit Fäusten aufeinander losgegangen seid? Du warst so...zornig. So was hab ich bisher noch nie gespürt. Nicht diesen unbändigen Zorn, bei niemanden. Du hast sie mit bloßen Händen nieder geprügelt... Wusstest du, dass wir beim Verlassen des Zimmers über eine Leiche gestiegen sind?“, fragte er wobei seine Stimme nicht mehr ganz so voller Frust und Wut über sich selbst war. Noch immer glimmten seine Augen, allzeit bereit alles abzurufen, was auch immer es sein mochte, sollte auch nur jemand diese Sackgasse betreten. Er schwor sich hier und jetzt mit seinem Vater die Rollen zu tauschen, denn das war das Einzige, was er scheinbar zu vollbringen vermochte. Hätten die Fremden Zoras eine tödliche Wunde beigetragen, dann hätte Amartius nur dabei zusehen können, wie sein Vater verblutete. Vielleicht sogar in seinen Armen. Und das hier war für seinen Geschmack schon viel zu nah dran. Angst, urtümliche Grundangst, fraß sich in seiner Seele fest. Wenn er nicht über die Fähigkeiten eines Phönix verfügte, dann würde jede Aktion, egal ob von ihm verschuldet oder nicht, seine Mitmenschen in Gefahr bringen. Sich selbst konnte er regenerieren, aber bei anderen schien seine Fähigkeit begrenzt zu sein. Er war nutzlos, in vielerlei Hinsicht.

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    • Auf Amartius' Entgegnung wusste Zoras schließlich nichts zu sagen. Ja, er hätte sich tatsächlich nicht einmal halb so sehr bemüht, wenn es um jemand anderen gegangen wäre. Vielleicht hätte er sich erkundigen wollen, worum es ging, wenn es vielleicht Tysion wäre, aber bei Omnar hätte er keinen Finger gerührt, ganz zu schweigen davon, sich vollständig in den Kampf zu werfen. Und die Tatsache, dass Amartius das genauso sah, war genauso sonderbar, wie der ganze Rest dieser Situation.
      Er presste die Lippen aufeinander und versagte sich einem zweiten Versuch, die Sache zu rechtfertigen. Okay, vielleicht hatte er es nur für seinen Sohn getan, aber er würde es wieder tun, ohne mit der Wimper zu zucken. Er wäre dazu bereit, ganz andere Sachen zu tun, nur weil es sein Sohn war.
      Er schwieg und ließ Amartius weitererzählen, davon, dass Kassandra ihn nur hatte vorbereiten wollen auf das, was zweifellos folgen würde, wenn Telandir die Wahrheit herausgefunden hätte. Sie hatte vorhergesehen, dass er sich verteidigen müssen würde und dass das wichtiger wäre, als eine ordentliche Kindheit zu erleben. Darin musste Zoras ihr sogar zustimmen, es war wohl nötiger gewesen. Das änderte aber nichts daran, dass man Amartius einem wesentlichen Faktor seines Wachstums beraubt hatte.
      "Telandir ist dafür verantwortlich. Für alles", stellte er trocken fest, eine Offenbarung, die ihm nie zuvor so klar erschienen war. Sicher, er hatte Kassandra entführt, er war hauptsächlich dafür verantwortlich, dass sie beide gelandet waren wo sie jetzt waren, aber sein Einfluss ging noch viel weiter. Wegen ihm existierte Amartius überhaupt erst und er war auch der Grund, dass die Zarin überhaupt gestattet hatte, die Phönixin zu entführen. Er würde auch das Hauptproblem darstellen, wenn sie die Festung erst erreicht hatten und es würde vermutlich in seiner Macht liegen, die Zarin zu manipulieren. Telandir zog hier die Fäden und Kassandra hatte es rechtzeitig entdeckt, um Amartius auf das unweigerliche vorzubereiten.
      Auf diese Offenbarung hin folgte ein jäh scharfer Blick von besagtem Jungen, der nun wirklich so wirkte, als wäre er schon zehn Jahre gealtert. Vorbei war es mit der Unschuld von vor einer Woche, als Amartius ihm unter Tränen gebeichtet hatte, was Telandir mit ihm angestellt hatte. Vorbei war es auch mit der Naivität eines Jungen, der noch nicht das Grauen der Welt kennengelernt hatte. Der heutige Amartius mochte genauso aussehen wie schon zu ihrem ersten treffen, aber der Blick alleine sprach Bände darüber, wie weit er in den wenigen Tagen schon mental gewachsen war.
      Auch darauf wusste Zoras im ersten Moment nichts zu antworten, dümmlich starrend, so wie er sich fühlte. Amartius war kein Kind mehr. Wenn er ein ganzer Mensch gewesen wäre, wäre er jetzt um die 14 gewesen, womöglich sogar noch älter.
      Zoras seufzte tief und lehnte nach einem weiteren Moment den Kopf zurück. Er starrte erst die brüchige Hauswand an, dann fiel sein Blick wieder auf seinen Sohn hinab. Amartius hatte dieses Glimmen in den Augen, nicht das von Magie hervorgerufene, aber das lebendige eines Jungen, der eine Sache gefunden hatte, für die es sich zu kämpfen lohnte. Der Blick erinnerte Zoras an Ryoran und damit auch in gewisser Weise an ihn selbst.
      "Okay. Du bist kein Kind mehr, ist es das, was du mir sagen willst? Du hast ein Recht darauf, die Welt mitzuerleben, die guten und die schlechten Seiten. Und ich war sehr... zornig. Ich hätte nicht davor zurückgeschreckt, den beiden wesentlich schlimmeres anzutun. Zum Glück sind sie nicht beide verreckt, der eine wird sich hoffentlich für immer an diesen Fehler erinnern.
      Aber das ist etwas, was du nicht in so jungen Jahren... Monaten... so früh erleben musst, dafür gibt es genug Gelegenheiten in deinem Leben. Du sollst genießen, was du davon genießen kannst und das meiste lässt sich eben nur durch die Augen der Naivität auskosten. Naivität ist ein Segen, den du nie wieder zurückbekommen wirst, aber ich kann auch verstehen, wenn du dem Gegenteil entgegenstrebst. Nur... du wirst früh genug erwachsen, Amartius, und dann kannst du dich noch immer um deinen alten Vater kümmern, der sich auf eine Prügelei eingelassen hat. Hm?"
      Er lächelte und dieses Mal war es aufrichtig, auch wenn das Blut um und teilweise in seinem Mund das wohl wieder ein bisschen eindämpfte. Dann griff er zu seinem Schwert und zog es mitsamt des Heftes hervor.
      "Versprich mir nur, dass du mich nachholen lässt, was wir versäumt haben - Kassandra und ich. Wenn das hier vorbei ist, werden wir irgendwohin gehen, wo es keinen Telandir und kein Asvoß gibt und du wirst eine Kindheit bekommen, wie sie dir jetzt verwehrt ist, ohne Sorgen und ohne Prügeleien. In Ordnung? Dann nimm das", er hielt ihm die Waffe mit dem Heft hin, "schnall es dir um und versuch selbstbewusst und stark zu wirken, wenn sich jemand hierher verirren sollte. Keine Toten und keine Prügeleien. Dann werde ich mich nur kurz ausruhen und wir gehen weiter, sobald die Sonne aufgegangen ist. Einverstanden?"
    • Für wie viel Telandir tatsächlich verantwortlich war, entzog sich Amartius' Kenntnis. Er hatte keine Ahnung was geschehen war, bevor Kassandra in die Feste entführt worden war. Er kannte kein anderes Leben, keinen anderen Umstand. Es war nur eine kurze Momentaufnahme gewesen, die zuerst in Scherben zerbrochen und schließlich über den gesamten Kontinent verstreut worden waren. Das Wissen, was er bisher angesammelt hatte zusammen mit dem, welches Kassandra besaß würde einige Lücken schließen. Dessen war sich Amartius sicher.
      „Wesentlich schlimmeres?“, wiederholte er die Worte seines Vaters beinahe ungläubig. „Du hast einen von ihnen zu Tode geprügelt. Ich habe ihn mir nicht angesehen, aber sein Licht war erloschen. Durch deine Hand. Frühzeitig. Seine Zeit wäre erst in gut dreiundzwanzig Jahren gekommen.“
      Wie Kassandra auch sah Amartius Zoras' Licht. Das natürliche Licht, dass das vorherbestimmte Ende seines Besitzers anzeigte. Man konnte es frühzeitig auslöschen, aber tat man es nicht, war es das unumstößliche Ende. Es gab nur wenige Götter, die in der Lage waren, das Schicksal und die vorher bestimmte Kraft des Lebens zu verlängern. Phönixe zählten dazu, zumindest nahm Amartius dies an, wenn er schon die Lichter sehen konnte. Das hatte Kassandra ihm jedoch nie weiter ausgeführt.
      Letzten Endes wurde Amartius Blick wieder weicher, jünger. Das Stechende in seinen Augen verschwand allmählich und holte den Jungen zurück, der er im Herzen eigentlich noch war. Einem Herzen, das unendlich schwer wurde als er daran erinnert wurde, dass seine Zeit tickte und er nur noch keine Anzeichen gesehen hatte. „Für mich ist es eines der größten Geschenke, dass ich dich noch erleben darf. Dass ich meinem Vater in die Augen sehen kann und weiß, dass er zu der Verbindung gehört, aus der ich entstanden bin. Ich habe keine Heimat, aber ich weiß, zu wem ich gehöre. Das ist... schön.“
      Er konnte es nicht. Er konnte seinem Vater nicht sagen, was Telandir getan hatte. Dass es nicht normal war, dass er nicht wuchs. Dass er so verbissen darauf war, gegen alles gewappnet zu sein weil seine Zeit ablief. Das würde den Mann, der vor ihm am Boden saß, nur noch mehr brechen.
      Als Zoras lächelte – und Amartius wusste, dass es nicht gekünstelt oder verkniffen war – entspannte er sich ein wenig weiter. Bis sein Vater sein Schwert mit Riemen reichte und somit die Verantwortung tatsächlich an seinen Sohn abtrat. Ohne sein Zutun machte Amartius Herz einen Sprung, dann griff er nach der Waffe und tat wie geheißen.
      „Glaub mir, ich muss das nicht nur versuchen“, versicherte der Junge und kehrte Zoras den Rücken zu.
      Amartius bezog Stellung. Ein nach außen hin zehnjähriger Junge postierte sich mit leicht ausgestellten Beinen und verschränkten Armen inmitten der Sackgasse, so als sei es sein Gott gegebenes Recht. Er musste wahrlich nicht so tun, als wäre er selbstbewusst und stark. Denn das war er in diesem Augenblick, wo er zum allerersten Mal in seinem Leben einen Hauch der Aura eines Gottes versprühte, ohne dass er es selbst bemerkte. Jene Aura, die auch Kassandra projezierte wenn sie Soldaten in ihre Schranken wies. Ohne auch nur eine Miene zu verziehen oder eine Gestik zu nutzen.
      In dieser Nacht würde es niemand wagen, hierher zu kommen und gleichzeitig die Sackgasse wieder unversehrt zu verlassen.



      Der Wind war eisig und schneidend hoch oben auf den Zinnen der Eisfeste. Das Eis auf den Spitzen glitzerte in allen erdenklichen Farben während sich die Sonne am Horizont langsam erkennbar zeigte und den Anbruch eines neuen Tages einläutete. Die Minusgrade hatte die Menschen in ihre Häuser vertrieben, wo sie an den Feuern in ihren Kaminen ausharrten, um mit dem Sonnenlicht in den Tag zu starten.
      Kassandra war kein Mensch, der die Kälte fürchten musste.
      Sie saß auf einem Stück der Mauer, die sie vom Eis befreit hatte, und beobachtete die Sonne dabei, wie sie die Nacht bekriegte. Hinter ihr fiel es steil ab, vor ihr befand sich die Luke, um wieder ins Innere der Feste zu gelangen. Sie saß bereits seit einer Stunde hier oben und erwartete den Sonnenaufgang. In letzter Zeit hatte sie das öfter getan, nach hier oben folgte ihr Telandir selten und die Zarin noch seltener. Eine Ruhe, die so ganz anders war als in den Steingemäuern der Feste war hier oben ihr Partner. Der eisige Wind, der ihre mittlerweile ergrauten Strähnen verwirbelte, wirkte auf ihrer erhitzten Haut nicht einmal abkühlend. Schweigsam beobachtete sie die Sonne und hatte ihre Hände auf ihrem Bauch verschränkt. Das Feuer, das sie einst in ihren Augen getragen hatte, war fast nicht mehr zu erkennen.
      Hinter Kassandra tauchte ein großer, dunkler Vogel auf. Er strich über ihren Kopf hinweg und setzte zur Landung inmitten der Zinne an. Noch während er im Sinkflug war fielen ihm die Federn aus und er wuchs in beachtliche Größe. Seine Gestalt änderte sich und keine Krallen sondern Füße setzten auf den Steinen auf. Innerhalb eines Wimpernschlages stand ein nackter Mann auf der Zinne, im nächsten Moment war er bereits in einen schweren Mantel und Stiefel gehüllt.
      Sichtlich genervt strich er sich die braunen Haare aus dem Gesicht. Erfolglos, denn der Wind hatte sie ihm direkt darauf wieder in die Augen geblasen. „Ich konnte Wind noch nie wirklich ausstehen.“
      Die Phönixin ignorierte ihn geflissentlich und hatte weiterhin nur Augen für die Sonne.
      „Ich schätze, Telandir lässt dich nun wieder in Ruhe.“ Eine Feststellung seinerseits als er zu Kassandra herüber schlenderte und sich etwas zu ihr hinabbeugte. Er musterte ihr Gesicht und seine doch eher jungen Zügen standen im deutlichen Kontrast zu ihren deutlich älter wirkenden, mit leichten Falten versehenem Gesicht. „Ist das erste Mal, dass ich das beobachten darf. Mitnichten, du siehst wirklich nicht gut aus.“
      Da glitten Kassandras Augen langsam zu denen des Mannes herüber. Seine tiefgrünen Augen flackerten heller als alles, was man hier zu sehen bekam. „Möchtest du lieber mit mir den Platz tauschen?“
      „Wenn ich es könnte würde ich es bestimmt einmal probieren“, spottete er und richtete sich wieder auf. „Wusstest du, dass es so viel von dir nimmt?“
      „Ja.“ Ihre Stimme war leise, nicht mehr so stark wie sonst. Sie klang müde, aber kein Schlaf der Welt würde ihr dabei helfen. „Ich habe es ein paar Mal vorher gesehen. Aber hier auf der Erde ist es etwas anderes. Ich kann es nicht steuern, ich kann nur folgen und hoffen, dass es ausreicht.“
      „Hm....“ Er folgte ihrem Beispiel und sah zur Sonne herüber. „Was würdest du davon halten, wenn Amartius Zoras gefunden hat?“
      „Das wäre eine schöne Vorstellung, aber unmöglich.“
      „Und wenn du dir einmal gestattest, dir etwas Schönes vorzustellen?“
      Kassandras Mundwinkel zuckte, unsicher darüber, welche Mimik sie zeigen sollte. „Hoffnung und schöne Gedanken werden mir hier auch nicht weiterhelfen. Ich kann nur hoffen, dass sie mir einfach so viel Energie nimmt, dass ich nicht reinkarniere. Es ist der Punkt erreicht wo ich sage, dass es genug ist.“
      Beide schwiegen einige Zeit lang während sie der Sonne entgegen sehnten. Beide aus jeweils anderen Motiven und Absichten, aber sie sahen das Gleiche.
      Ohne die Phönixin anzusehen erhob er erneut seine melodiöse Stimme. „Was würdest du eigentlich tun, wenn du deine Essenz jemals zurückbekommst?“
      Dieses Mal entstand keine Stille. Kassandras mittlerweile recht monoton klingende Stimme bekam das erste Mal seit Ewigkeiten wieder einen Funken Emotion.
      „Ich würde ihnen die Welt zur Hölle machen. Egal ob Mensch oder Gott.“

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    • Zoras schlief länger als bis zum Sonnenaufgang. Erst hatte er einfach nur dagelegen und die Silhouette von Amartius beobachtet, wie er am Eingang der Gasse gestanden hatte, einer kleinen Garde gleich, die nicht einmal vor dem kräftigsten Bullen zurückgewichen wäre. Es war ein komischer Anblick, denn er erinnerte ihn nicht wenig an Kassandra. Irgendwann hatte ihn aber dann die Erschöpfung übermannt und er war eingeschlafen, bevor er eins ums andere davon träumte, auf demselben Fleck aufzuwachen, den Kopf zu heben und Kassandra am Eingang der Gasse zu sehen, eine hochaufragende, elegante Gestalt, die ihm den Kopf zugewandt hatte und ermutigend lächelte. In keinem der Träume schaffte er es allerdings, sie weder zu sich zu rufen, noch aufzustehen um zu ihr aufzuholen. Sie blieb immer nur am Ende der Gasse und kam nicht näher.
      Als er richtig aufwachte, fühlte er sich schmutzig und widerlich. Seine Nase hatte sich zu einem dumpfen Pochen zurückentwickelt, ebenso wie seine Brust und dafür hatte die Wunde in seiner Wange angefangen zu stechen. Das war wohl ein schlechtes Zeichen; er würde sich bei Faia Desinfektionsmittel erschleichen.
      Amartius stand noch immer an derselben Stelle, unverändert wie vor seinem Schlaf, aber er wandte sich ihm zu, als sich Zoras aufsetzte. Er zog sich das Hemd über den Kopf, das er sowieso nicht mehr ernsthaft hätte tragen können, und wischte sich damit verkrustetes Blut vom Gesicht und von den Händen. Er würde sich waschen müssen und er würde sich rasieren müssen, aber vielleicht eher, wenn sie die Stadt verlassen hätten.
      Er packte seine Sachen zusammen und kam zu Amartius, der ihm gehorsam sein Schwert wieder übergab.
      "Danke, Junge. Lass uns hier verschwinden, hm?"
      Er klopfte ihm auf die Schulter und dann verließen sie die Gasse.

      Sie trafen die anderen eine Stunde später und obwohl Zoras sicherlich aussah, als hätte er die Hölle durchschritten, blieb es gänzlich unkommentiert. Nur Faia zog eine Augenbraue nach oben, aber sie konnte sowieso nicht rechtzeitig etwas sagen, da kam er schon auf sie zu und zog sie ein Stück von den anderen weg.
      "Ist dir bewusst, dass man sich an Amartius vergreifen wollte?"
      Faia machte große Augen, vielleicht weil die Frage überraschend kam, oder vielleicht weil sie nur selten Zoras' vor Zorn dunkle Stimme gehört hatte. Vielleicht war es auch die Kombination mit seinem derzeitigen Aussehen.
      "Bitte was?"
      "Der Bauer, vor ein paar Tagen? Bei dem er gemolken hat?"
      "Ja?"
      "Er hat auch etwas anderes gemolken."
      Faias Augen konnten überraschenderweise noch größer werden.
      "Bitte was?"
      "Ich dachte, du passt auf ihn auf", knurrte Zoras.
      "Habe ich!"
      "Anscheinend nicht gut genug."
      "Ich habe ihn bei den Kühen abgegeben und ihn auch dort wieder mitgenommen! Hätte ich etwa die ganze Zeit in seiner Nähe bleiben sollen?"
      "Ja."
      "Nein!"
      Faia war noch immer entsetzt, aber jetzt wurde sie selbst aufmüpfig.
      "Wieso ist es dir überhaupt so wichtig? Sowas passiert schonmal, er hat sich ja anscheinend nicht verletzt!"
      "Muss man sich für sowas verletzen, damit es falsch ist?"
      "Falsch! Wenn er in Gefahr gewesen wäre, hätte er geschrien!"
      Zoras öffnete bereits den Mund, um zu widersprechen, da fuhr sie schon fort.
      "Was interessiert dich der Junge überhaupt so sehr?! Du hast dich anfangs nicht so sehr um ihn geschert, aber jetzt ist es 'Amartius hier' und 'Amartius da'! In all den Monaten habe ich dich noch nicht so erlebt!"
      "Er ist ein Kind und er ist alleine, ich kümmere mich um ihn."
      "Ach, du von allen Leuten? Tysion hätte ich es zugetraut, vielleicht sogar Omnar, aber du -"
      "Es geht auch nicht darum, wem du es zutraust, sondern dass es passiert ist und ich es nicht noch einmal passieren lassen werde. Verstanden?"
      "Soll das eine Drohung sein?!"
      Zoras wollte widersprechen, dann klappte er doch den Mund zu und richtete sich auf.
      "Ja."
      "Du bist wahnsinnig!"
      Ja, vielleicht war er das sogar. Zoras ließ es unkommentiert und wandte sich ab, um zurück zu den anderen zu gehen.
      "Er ist nur ein Junge, Ischyll!"
      Und damit lag Faia mal ausnahmsweise falsch.

      Entsprechend ihrer Auseinandersetzung fragte er sie nicht mehr nach Desinfektionsmittel, sondern bemühte Tysion darum. Sie teilten ihre Beute untereinander auf - Zoras' Beitrag waren zwei lapprige Silbermünzen - und zogen dann von dannen. Wachmänner warfen Zoras merkwürdige Blicke zu, nachdem ihm noch immer Blut im Gesicht klebte, konfrontierten ihn aber nicht, vermutlich weil er ein Pferd besaß. Sie verließen die Stadt und machten sich auf den weiteren Weg in den Norden.
      Die Stimmung legte sich zum Abend wieder und am nächsten Tag war schon alles wieder vergessen. Faia war unbeschwert wie immer, Omnar nervig und Tysion hielt sich aus allem raus. Nachdem Zoras jetzt wusste, dass die anderen sowieso schon bemerkt hatten, dass er sich so um Amartius kümmerte, hielt er es auch nicht mehr sehr geheim und setzte ihn vor sich auf den Sattel, damit er auch mal die Zügel halten konnte. Am Abend nötigte er Amartius dann dazu, mit ihm die Schwerter zu kreuzen.
      "Du hast genug Grundhaltungen gelernt, du musst auch lernen, die Waffe wirklich einzusetzen. Niemand wird sich verletzen, ich verspreche es dir."
      Seine Nase war geschwollen und er hatte sich Verbände um die Hände gewickelt. Telandirs Narbe pochte immernoch, das würde wohl die nächsten Tage nicht verschwinden.
      "Gib mir einen ordentlichen Aufschwung, ich wehre ab. Danach Rückhand und Stich, in der Reihenfolge. Los."
      Amartius gehorchte ihm und während sie ein paar vorsichtige Schlagabfolgen austauschten, kam Zoras etwas anderes in den Sinn.
      "Das war gut, nur keine Scheu haben. Mach mir nur einen Vorderschlag, auf die Kante meines Schwertes, etwa hierhin. Aber mach ihn so stark wie du nur irgendwie kannst, okay? Mit aller Kraft, so viel wie du aufbringen kannst."
      Und er fasste das Schwert mit beiden Händen.
    • Amartius bekam genau den Zeitpunkt mit, in dem Zoras dem Schlaf verfiel und seiner Erschöpfung nachgab. Fast augenblicklich fiel eine ungeahnte Spannung von den Schultern des Jungen ab ehe er sich etwas angenehmer hinstellte und sich für den Rest der Nacht wappnete.
      Nach einer guten Stunde fiel ihm eine Katze an der Ecke der Gasse auf. Sie war schon mehrmals hin und her gelaufen und hatte sich nun neben einem Haufen Abfall gesetzt. Irgendwann war ihm aufgefallen, dass sich die leuchtenden Augen immer wieder auf ihn richtete und er wurde das Gefühl nicht los, beobachtete zu werden. Am Ende ging er in die Hocke und beobachtete die Katze nun genauer.
      Sie erwiderte seinen Blick.
      Menschen besitzen ein furchtbar gewalttätiges Wesen, hm?
      „Dachte ich's mir doch...“, murmelte Amartius mehr zu sich selbst. „Also können nicht nur Vögel denken.“
      Alle Tiere denken. Ob nun Vogel, Katze oder Käfer. Jedes Lebewesen denkt und fühlt. So wie du.
      Der Junge nickte kaum merklich. „Stimmt. Ich glaube, den Schmerz teilen sie sich alle. Aber woher weißt du, dass Menschen gewalttätig sind?“
      Der Mann hinter dir stinkt nach Blut. Und das passiert nur, wenn man ihn verletzte hat. Er hat gekämpft und Wunden davongetragen. Die meisten Menschen, die ich sehe, kämpfen weil sie etwas begehren oder zum Schutze. Niemand von ihnen tut es nur, um zu überleben.
      Amartius horchte auf. Stimmt. Zoras tat alles für seinen Sohn und stellte sich selbst zurück. Es wäre sinnvoller für ihn als Person gewesen, die Fremden machen zu lassen und den Jungen zu ignorieren. Das hätte ihm die Blessuren erspart. Stattdessen hatte er auf Gewalt zurückgegriffen.
      Aber du solltest es nicht. Du bist nicht nur Mensch, du bist mehr. Du riechst nach mehr. Weißt du denn nicht, dass Götter sich nicht mit Menschen abgeben sollen?
      „Aber wieso denn nicht? Er ist immerhin mein Vater.“
      Götter sind nicht dafür gemacht, den Emotionen der Menschen ausgesetzt zu sein. Sie besitzen zu viel Macht und der Mensch verdirbt den Gott. Hast du schon mal einen verdorbenen Gott gesehen?
      „Nein, wie denn? Ich bin doch erst ein paar Monate alt.“
      Dann wünsche ich dir, dass du es nie sehen oder am eigenen Leib erfahren musst. Verdorbene Götter sind wie eine all umfängliche Nacht. Sie verschlucken alles spurlos und lassen nur das Nichts zurück.
      Damit stand die Katze auf und verschwand um die Ecke ebenso ins Nichts.

      Amartius hatte sich wieder so hingestellt, wie zu Beginn. Die Katze war nie wieder gekommen und es hatte sich auch niemand in die Gasse getraut. Als er hinter sich Bewegung vernahm, wandte er sich um und sah, wie sich Zoras gerade aufsetzte. Jetzt im jungen Tageslicht sah er noch viel schlechter aus als vorher. Das getrocknete Blut vertuschte die blauen Flecken, die sich überall unter der Haut ergossen hatten und dem Jungen stockte der Atem als sich sein Vater sein Hemd über den Kopf zog und eine spektakuläre Narbe auf der Brust offenbarte. Genau auf der Stelle, wo sein Herz war. Hatte Kassandra ihm buchstäblich sein Herz entrissen??
      „Jap“, sagte Amartius nur nachdem er seinem Vater das Schwert zurückgegeben hatte und sich von seinem Starren hatte lösen können. Für Fragen war später auch noch Zeit genug.

      Das Zusammentreffen mit dem Rest der Runde verlief den... Umständen entsprechend. Interessanterweise hinterfragte niemand Zoras' Zustand, dafür ging er jedoch direkt in Konfrontationskurs mit Faia. Das konnte sich Amartius beim besten Willen nicht auch noch anhören, als hielt er so viel Abstand es wie es nur ging und versuchte sich abzulenken, während sich die zwei regelrecht an die Gurgel gingen. Was auch immer sie besprochen hatten, es führte dazu, dass Zoras seine kühle Art ihm gegenüber in Anwesenheit der Anderen nicht mehr aufrecht hielt. Ab jetzt ging er offener mit seinem Sohn um und ehrlich gesagt stieß dies auf ein wenig Genugtuung. Endlich musste Amartius es nicht mehr so sehr kaschieren und auf seine Haltung achten. Was ihn tatsächlich massiv entlastete. So setzten sie ihre Reise nach Norden fort.

      Am nächsten Morgen wachte Amartius vor Zoras auf. Geweckt wurde er von einem seltsamen Gefühl, das er schlaftrunken nicht recht zuordnen konnte. Doch je wacher er wurde, umso deutlicher wurde das Gefühl. Er schreckte komplett hoch und ließ sich von seiner Panik beherrschen als er feststellte, dass er seine Hände und Füße nicht mehr spürte. Sein Atem ging rasant während er seine Hände anstarrte, die sich einwandfrei bewegen ließen. Nur das Gefühl war weg und sie fühlten sich seltsam kalt an. Er musste sich zusammenreißen und sammeln, um seine Magie zu aktivieren und sich auf den Fluss seiner Aura zu konzentrieren. Erst dann kehrte das Gefühl in seine Gliedmaßen zurück und seine Panik legte sich.
      Er hatte ja darauf gewartet, dass sich die ersten Anzeichen meldeten. Nach seinem stagnierenden Wachstum hatte er nun den Beginn des Verfalls datiert.

      Amartius hatte Zoras nichts von dem Zwischenfall erzählt. Sie waren weiter ihren Weg gereist bis sie am Abend wieder ihr Lager aufschlugen. Auch dort hatte der Junge wieder kräftig mitgeholfen und ließ sich dazu animieren, noch einmal ins Schwerttraining mit Zoras zu gehen. Allerdings war sein Gesicht alles andere als mit überschwänglicher Freude gekennzeichnet als er seinem Vater gegenüber stand und in sein noch immer malträtiertes Gesicht blickte.
      „Du siehst immer noch richtig scheiße aus“, sagte Amartius völlig frei heraus und Sorge lag in seinem Blick. „Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“
      Die Antwort darauf war eine Anweisung, was er zu tun hatte. Und so seufzte der Junge nur und tat wie gefordert. Sein Aufschwung war tatsächlich tadellos, der Rest dafür aber eher Mangelware. Trotz Zoras' katastrophalem Zustand waren seine Antworten auf die Angriffe seines Sohnes erstaunlich fließend und vorausschauend.
      „Hä? Du willst was? Warum das denn?“, fragte er entgeistert nach als es hieß, er solle seine Kraft aufwenden. Unsicher schaute er zu dem Rest der Gruppe herüber, die am Feuer saßen und sich über irgendetwas unterhielten. Immer wieder warfen sie ihnen Blicke zu, das war ihm nicht entgangen. „Du bist dir sicher?....“
      Er bekam postwendend die Antwort indem sich Zoras aufstellte und sein Schwert fest mit beiden Händen hielt. Amartius war sichtlich betrübt und nicht wirklich entschlossen. Dann aber gab er sich einen Ruck. Wenn er Zoras nicht davon überzeugen konnte, dass er sich zur Wehr setzten konnte, dann wäre er nie mehr als Ballast. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, damit man das Glühen in seinen Iren nicht sehen konnte, dann hob er das Schwert. Er hielt die Luft an und ließ sein Schwert auf besagte Stelle von Zoras' Klinge hinab sausen.
      Ein fürchterliches Krachen erklang als Amartius traf. Er hatte dermaßen viel Kraft eingesetzt, dass er Zoras das Schwert aus den Händen gerissen und es zur Hälfte in den Boden getrieben hatte. Mit seiner eigenen Waffe. Völlig schockiert starrte er die im Boden steckende Waffe an, dann ließ er seine eigene fallen.
      „Ach du...!“, begann er und brach ab als er schuldbewusst zusammenzuckte und zu den Dreien am Feuer schielte. „Das... war so nicht geplant!“, zischte er zu Zoras herüber.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Zoras wappnete sich für den Fall, dass Amartius tatsächlich seiner Anforderung genau nachkommen würde. Selbst jetzt, nach dem Vorfall in der Stadt, schien er noch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Gewalt zu haben, auch wenn sie mit Übungsschwertern und in einem klar erkennbaren Rahmen stattfand. Zumindest konnte er sich soweit durchringen, die zuvor geübten Bewegungen an Zoras auszuführen.
      Aber seine letzte Anweisung stieß auf deutliches Zögern. Amartius war sich unsicher, das hätte man auch ohne seine fragenden Worte erkennen können. Vermutlich, weil Zoras noch immer gänzlich lädiert aussah, auch wenn darunter seine Kampfkraft kaum zu leiden hatte.
      "Ich bin mir absolut sicher. So stark, wie du nur irgendwie kannst."
      Und schließlich kam der Schwung.
      Zoras hatte in seinen letzten Jahren einiges an Muskelkraft in seinem Oberkörper zugelegt von zu wenig reiten und zu viel anderer Beschäftigung, der er hauptsächlich in seiner Sklavenzeit nachgekommen war. Er mochte wohl nicht unbedingt besser in seiner Schwertkunst geworden sein, aber er konnte doch einiges besser wegstecken als damals. Zumindest bis zu dem Moment, in dem Amartius auf ihn traf.
      Kassandras Schwünge waren schon unmöglich gewesen und gleiches galt wohl auch für ihren halb-göttlichen Sohn, nur hatte Zoras in der Zwischenzeit vergessen, wie unmöglich sie waren. Er hatte zwar genug Zeit, sein Schwert dem aufkommenden Schlag entgegenzudrücken, schließlich war Amartius nicht übermenschlich schnell, aber das brachte ihm auch nichts. Nichts hätte etwas daran gehindert, dass das Holzschwert mit einer Kraft von zehn Pferden auf seines traf, das er auch nicht hätte aufhalten können, wenn er seinen ganzen Körper hätte einsetzen können. Er war sich nicht einmal sicher, ob irgendein Mensch diesem Schwung standhalten könne.
      Das war also definitiv eine Fähigkeit, die Amartius aus seiner göttlichen Seite erhalten hatte. Diese phänomenale Entdeckung durchzog Zoras, während er notgedrungen seine Waffe losließ, um sich nicht die Finger brechen zu lassen.
      "Sehr gut!"
      Er war zu laut gewesen, fiel ihm auf, aber das machte sowieso keinen Unterschied, wie er einen Moment später entdeckte. Alle drei anderen starrten bereits, Omnar und Faia hatten sogar aufgehört zu schwatzen.
      Schnell schüttelte sich Zoras die Hand aus, als wäre das der Grund gewesen, weshalb er die Waffe nicht richtig festgehalten hatte und umfasste den Griff des Übungsschwertes. Die Klinge steckte im Boden drin. Er positionierte sich etwas anders und zog sie dann mit einem Ruck heraus, um es möglichst normal wirken zu lassen.
      "Das war gut, wirklich gut. Jetzt tu so", seine Stimme änderte sich zu einem düstereren Tonfall, "als ob ich dich schimpfen und bestrafen würde. Wir gehen da nach vorne hin", er zeigte mit einer barschen Geste mit seinem Schwert, "hinter die Büsche und dann machen wir das noch einmal. Das war ausgezeichnet."
      Er wartete darauf, dass Amartius sich seiner Aufforderung zuerst fügte und in die angegebene Richtung schlurfte, bevor Zoras die Hände ausschüttelte und mit griesgrämiger Miene hinter ihm herstapfte. Ein flüchtiger Blick zurück zeigte ihm, dass die anderen noch immer starrten, aber jetzt hatte Omnar zumindest wieder angefangen zu tuscheln.
      Hinter dem sichtverdeckenden Gebüsch schloss er zu Amartius auf und jetzt grinste er richtig. Jetzt, wo er es sich erlauben konnte, packte ihn auch gleich das Hochgefühl.
      "Das war wirklich toll, du hast alles richtig gemacht. Siehst du, ein paar Fähigkeiten deiner göttlichen Seite hast du. Kassandra mit ihrem Speer war unaufhaltbar gewesen, weißt du das? Und du kannst es genauso sein, dafür brauchst du keine Vogelgestalt und auch keine Magie. Komm, stell dich nochmal auf, zweimal einen leichten Aufschwung, Rückhand, Stich und dann einen kräftigen Aufschwung. Mein Schwert muss fliegen, erst dann hast du alles richtig gemacht. Je weiter es fliegt desto besser."
    • Amartius hatte mit allem gerechnet. Aber ganz bestimmt nicht mit einem Lob seitens Zoras. Den er im Übrigen immer noch anstarrte wie ein Esel. Es dauerte folglich auch einen Moment eher er den Wechsel in Zoras' Stimmlage richtig einordnete. Er versuchte das Geschehe noch immer zu kaschieren. Also zog Amartius den Kopf ein wenig ein, die Schultern hoch und setzte einen möglichst betroffenen Blick auf. Dann machte er sich auf den Weg in die Richtung, die man ihm gewiesen hatte. Er sollte es nochmal machen? Reichte es denn nicht, wenn man einmal gesehen hatte, was er konnte? Er sollte doch nicht mehr Aufmerksamkeit generieren als ohnehin schon.
      Immer noch verunsichert kämpfte sich Amartius durch das Gestrüpp hinter ein paar Bäume bis die restliche Truppe am Feuer nicht mehr zu sehen war. Einen Moment später stieß Zoras schon zu ihm und was der Junge da sah, ließ ihn seine Unsicherheit ein wenig vergessen. Sie machte Platz für ein neues Gefühl, das sich ganz zaghaft in ihm bildete. Stolz.
      „War sie wirklich so gut?!“, platzte es jetzt auch aus ihm heraus, angestachelt durch die Euphorie seines Vaters. Er vergaß dabei den Fakt, dass sie gegen Telandir verloren hatte.
      Schon eine Sekunde später stand er in Ausgangsstellung vor Zoras, die Unsicherheit war völlig aus seiner Miene verflogen. Was sich dort nun breitmachte, war der Ausdruck eines Jungen, der das erste Mal in etwas wirklich gut war und mehr davon wollte. Als sie bereits waren führte Amartius die Abfolge aus.
      Beim ersten Mal war er dermaßen übermotiviert, dass er beim starken Aufschwung eiskalt daneben schlug. Er hatte allerdings noch so viel Kraft reingepackt, dass er einen oberarmdicken Ast nebst Zoras einfach abhackte. Mit einem stumpfen Übungsschwert. Er hielt sich allerdings nicht weiter daran auf und lief in den zweiten Versuch hinein. Dieses Mal stimmte der Winkel nicht und so entwaffnete er seinen Vater zwar, das Schwert flog aber nur quer zum nächsten Baum und prallte dort ab. Die Rinde wies einen Einschlag in der Form der stumpfen Klinge auf. Beim dritten Versuch stimmte dann der Winkel. Mit seiner schier unbändigen Kraft schlug er auf das Schwert seines Vaters von unten ein und riss es geradewegs gen Himmel. Er sah noch, wie Zoras' Arme folgten ehe er das Schwert loslassen musste und es sich von seinem Herren verabschiedete. Mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit verschwand das Schwert durch die Baumkrone über ihren Köpfen im Himmel.
      Amartius' Augen wurden groß. „Was, wenn es nicht wiederkommt?“
      Er hörte regelrecht Kassandras Stimme in seinem Kopf. Alles kommt wieder zurück auf die Erde.
      Er grinste. Sie würden sich jetzt nur Gedanken machen müssen, nicht von einem stumpfen Schwert erschlagen zu werden. Plötzlich hörte man das Brechen von Ästen und einen dumpfen Aufschlag. Sofort wirbelte der junge Halbphönix herum und sprintete los in Richtung des Geräusches. Nur wenige Sekunden später war er wieder zurück mit dem Schwert in der anderen Hand, das eine deutliche Druckstelle aufwies. Noch immer grinsend hielt er es seinem Vater wieder hin.

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    • "Deine Mutter ist eine Nemesis mit ihrem Speer. Sie ist wie ein Orkan auf dem Schlachtfeld, unaufhaltbar und unbezwingbar. Ihren Schlag hättest du nicht kommen sehen und er hätte dich trotzdem von den Füßen geholt."
      Das war zwar eine gänzlich Untertreibung dafür, dass Kassandra jemanden problemlos hätte köpfen können, ohne dass der es mitbekommen hätte, aber Zoras wollte Amartius' Fantasie nicht unnötig mit Bildern füllen, die sowieso nichts beizutragen hatten. Kassandra war unaufhaltbar auf dem Schlachtfeld gewesen, den Rest konnte der Junge sich auch selbst zusammenreimen.
      Noch immer grinsend stellte Zoras sich selbst auf, das Schwert mit beiden Händen vor sich haltend, Defensivhaltung. Eines Tages würde er sich überlegen müssen, wie er sich anständig vor Amartius' Schlägen schützen und gleichzeitig kontern konnte, aber erst einmal mussten sie eine Grenze finden - und diesen kleinen Fortschritt in ihrem tagelangen Training genießen. Zu ihrem Glück lernte Amartius gleich schnell mit seinem Wachstum, andernfalls hätten sie für diesen Fortschritt Wochen gebraucht.
      Das erste Mal wies wieder einen deutlichen Rückfall auf, den Zoras allerdings belächeln konnte. Er war nicht zu schnell mit seinem Lob gewesen, der Junge musste nur lernen, seine Euphorie ordentlich zu begrenzen - es war ihm fast schon anzusehen, wie hibbelig er jetzt war.
      "Nicht schlimm, einfach weiter. Nicht zögern."
      Nur ganz flüchtig wagte Zoras es, den Blick zu dem aufgetretenen Geräusch zu wenden, das sich so angehört hatte wie ein brechender Ast. Hatte der Junge gerade einen Ast abgeschlagen? Zoras wurde vor Begeisterung fast selbst schon hibbelig.
      Der zweite Versuch saß besser und Zoras' Waffe flog wie gewünscht durch die Luft - allerdings nicht mehr so schön sauber in den Boden hinein. Das hatte er Amartius nicht erklärt und das würde er wohl nachholen müssen: Die Stelle des Aufpralls war mindestens genauso wichtig wie die Kraft. Sicher, mit der Kraft allein konnte er so ziemlich jeden Menschen übertrumpfen, aber wenn er gegen jemand antreten sollte, der die gleiche Kraft aufwies, ging es sehr viel mehr um die Technik und die wollte Zoras vor allem anderen nicht vernachlässigen.
      Er strahlte dennoch, als er der Waffe hinterherblickte und dann ein paar Schritte zurückging, bevor das Ding gleich wieder heruntergesaust kommen würde.
      "Nun, wenn das nicht wiederkommt, wirst du wohl klettern lernen müssen, hm?"
      Für ein paar Sekunden geschah tatsächlich gar nichts, während beide Männer in den Himmel starrten, aber dann knackte es in der Ferne und das Schwert fiel sicherlich zurück auf den Boden. Bevor Zoras noch etwas hätte sagen können, raste Amartius schon davon, um es holen zu gehen. So schnell wie er war, würde er vermutlich auch eine annähernde Geschwindigkeit wie Kassandra aufbauen können. Vermutlich beschränkte sich sein göttliches Blut eher auf die physischen Fähigkeiten als die magischen - nicht, dass Zoras dagegen etwas einzuwenden gehabt hätte. Ein Halbphönix ohne heilerische Begabung, aber dafür mit einer ordentlichen Kampfausbildung brachte sicher auch seinen angemessenen Beitrag zu dem allgemeinen Götterpool.
      "Sehr gut, wirklich gut - aber siehst du hier? Die Kerbe sollte weiter vorne sitzen und nicht so schräg. Das müssen wir nochmal langsam machen, aber es war wirklich ganz ausgezeichnet. Deine Mutter wird so stolz auf dich sein."
      Er rauft ihm durch die Haare, dann stellten sich beide wieder auf. Das Training schien jetzt irgendwie entspannter abzulaufen. Amartius scheute sich nicht mehr vor der Waffe oder der Auseinandersetzung und er hielt sich noch immer brav an Zoras' Anweisungen - und der konnte schon fast sekündlich einen Fortschritt sehen. Er musste es dem Jungen nur einmal richtig erläutern und durchführen lassen und schon beherrschte er es. Er war wirklich ein Schüler, wie er im Buche stand.
      Sie wiederholten die Abfolge langsamer und sobald Zoras zufrieden mit seiner Haltung war, ließ er ihn wieder mit voller Kraft zuschlagen. Der Hieb zog durch seine Arme, schmerzte in seinen Handgelenken und dann schoss das Schwert geradewegs in den Boden hinein.
      Zoras jubelte.
      "Ausgezeichnet! Der war gut, den wirst du dir merken. Ganz wunderbar!"
      Er riss das Schwert aus der Erde und begutachtete sich den bisherigen Schaden, den das Holz genommen hatte. Noch ein paar Tage weiter so und es würde vermutlich brechen, diese Zeit mussten sie noch gut ausnutzen.
      "Das lassen wir erstmal für heute, stattdessen werde ich dir jetzt beibringen, wie du deine Waffe stoppen kannst, einverstanden? Das wirst du zwar im Kampf vermutlich nicht brauchen, aber das brauchen wir für unser Training, wenn du mir nicht die Knochen brechen willst - keine Angst, dazu wird es schon nicht kommen, aber ich möchte nur, dass du dir bewusst bist, dass ein solcher Schlag gegen ein Körperteil nicht gerade gesund ist. Okay? Wenn du das beherrschst, kannst du wieder richtig draufhauen. Ich werde mir schon was überlegen, wie wir das noch besser trainieren können, aber für den Anfang reicht es. Komm, Aufstellung. Erst eine Hand und dann beide. Du machst deine Abfolge und sobald ich die Klinge drehe, etwa so, will ich keinen Treffer mehr bekommen, nichtmal nur ganz leicht. Das gilt ab jetzt für alle unsere Trainingseinheiten, verstanden? Du musst darauf vorbereitet sein, jederzeit, das gehört leider dazu."
      Das war wohl eine angemessene Umschreibung dafür, dass Zoras gerne vermeiden wollte, bei ihrem gemeinsamen Training einer tödlichen Wunde ausgesetzt zu werden. Wenn Amartius auch nur die Hälfte von Kassandras Geschwindigkeit drauf hatte, würde er sich bald gänzlich auf dessen Fähigkeit verlassen müssen, sich rechtzeitig anzupassen, falls etwas schief ging. Je schneller er sich daher zu beherrschen wusste, desto besser.
    • Deine Mutter wird so stolz auf dich sein.
      Amartius' glänzenden Augen bekamen einen kaum sichtbaren dunklen Schatten als er daran dachte, dass er es ihr womöglich nie zeigen können würde. Dann musste sein Vater ihr das Wort weitertragen, wenn er irgendwann nicht mehr war. Was ihm am Anfang keine Sorgen bereitet hatte, wurde mit zunehmenden Alter immer bitterer. Nachdem er gesehen hatte, wie Menschen aussahen, wenn sie gestorben waren, fragte er sich, ob das auch für ihn galt. Wie starben Halbgötter?
      Sein Grinsen war jedoch echt als Zoras ihm durch die Haare raufte und ihm ein jungenhaftes Grinsen entlockte. Einfach nur in dem Moment zu sein, das war es, was Amartius jetzt gerade brauchte. Nicht länger daran denken, was ihn in der Zukunft wohl erwarten mochte. Nicht an die Bilder aus den letzten Nächten denken, die ihm wohl ewig hinterher hängen würden. Nicht weiter den Kopf zermartern, was mit ihm nicht stimmen mochte.
      Jetzt arbeiteten sie gemeinsam an der Haltung des Jungen und feilten an seiner Technik. Mit jeder Wiederholung änderten sie ein winziges Stück am Ablauf bis Amartius am Ende genau die Form hatte, die sein Vater anstrebte. Als er diesen einen, besonders guten Schlag platzierte, schlug er seinem Vater das Übungsschwert wieder aus der Hand und versenkte es beinahe zur Hälfte im weichen Waldboden. Der Jubel, der von Zoras aufbrandete, ließ den Jungen peinlich berührt seinen Hinterkopf kraulen und schüchtern lächeln. „Schrei nicht so laut, sonst hören die Anderen dich!“
      Nicht, dass er seinen Vater jemals davon abgehalten hätte.
      „Wenn ich sehe, wie leicht ich mit dem Ding hier einen Ast abhacken kann, dann ist es nicht weit weg sich deinen Arm stattdessen vorzustellen“, bemerkte Amartius und und wog das Übungsschwert in seiner Hand. Vorher hatte er es mit beiden Händen gehalten, jetzt führte er es meist nur noch mit einer Hand. „Ist mir schon klar, dass ich besser nicht mit dieser Kraft auf was anderes außer dem Schwert einhacken sollte....“
      Aufmerksam prägte sich Amartius die genaue Haltung des Schwertes ein. Er schärfte seinem Unterbewusstsein ein, dass es dann mit der Bewegung zu stoppen hatte, egal was er gerade im Begriff war zu tun. Und selbst wenn die Haltung nicht eins zu eins identisch war, würde er vorher schon halten. Menschen konnten ihre Bewegungen selten exakt so wiederholen wie sie es einmal getan hatten. Das musste er sich im Hinterkopf halten.
      Und so stoppte Amartius tatsächlich penibel genau, sobald Zoras sein Schwert entsprechend drehte. Kein Schweißtröpfchen erschien auf der Stirn des Jungen, nur sein Atem sprach ein wenig von der körperlichen Betätigung. Es konnte aber auch einfach nur die Aufregung und Euphorie sein. Kassandra hatte ihm nie erzählt, dass er im Kampf brillieren konnte sondern immer nur, dass er Gewalt meiden sollte. Wollte sie ihn nur schützen oder war er auch hier eine Abart? Aber seine Mutter selbst war kampferprobt... Wieso sollte er es dann nicht werden?

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    • Es dauerte noch nicht einmal eine Stunde und Amartius hatte gemeistert, für was normale Menschen Wochen der Wiederholung benötigten. Seine Schläge saßen, die zunehmende Kerbe an Zoras' Schwert vertiefte sich und er brach in der Sekunde ab, in der Zoras seine Klinge drehte. Es war schon beinahe zu schön um wahr zu sein; so lange, wie er bei der Ausbildung von Rekruten verbracht und selbst vorher durchschritten hatte, so wenig Aufmerksamkeit benötigte Amartius. Eine Erklärung, eine richtige, und der Junge hatte es drauf.
      In diesem Tempo konnte er schon nächste Woche einen ernsthaften Übungskampf führen und übernächste Woche hätte Zoras ihm auch zugetraut, einen eigenständigen Kampf zu beschreiten. Er würde ein Soldat sein, noch bevor sie die Festung erreicht hätten.
      Das war natürlich durchaus erstrebenswert und machte Zoras euphorisch, aber auf der anderen Seite ging es schon fast zu schnell. Wo waren all die Hindernisse, denen sich ein Rekrut stellte und die genauso bildend waren wie all die Übungen? Wo waren die Verletzungen, die Prellungen, die Beulen, durch die man erst lernte, welchen Teil seines Körpers es besonders zu schützen galt? Amartius hatte sich bisher, bis auf den Zwischenfall mit dem Dolch, nichts eingefangen und auch das verunsicherte Zoras. Eine Verletzung im Kampf würde ihn lähmen, das Gefühl zu intensiv für das erste Mal, um es ignorieren zu können. Auch dafür musste er sich wohl oder übel etwas einfallen lassen.
      Vorerst ließ er sich aber von dem Stolz erfüllen, der beim Anblick seines Sohnes nur noch weiter anschwoll. Das war sein Blut, sein Erbe und wenn das so weiterging, würde er der mächtigste Krieger der ganzen Welt werden - der größtenteils menschliche mächtigste Krieger.
      "Ganz ausgezeichnet!"
      Er ließ Amartius die Abfolge noch einmal durchführen, um zu überprüfen, ob er die Bewegungen auch wirklich verinnerlicht hatte, dann stoppte er ihr Training.
      "Das war sehr gut. Wir werden ab sofort bei den anderen dreien Technik üben und dann kommen wir her und üben... übermenschliches. Okay? Komm her, das war fabelhaft."
      Er streckte die Arme aus und drückte Amartius einmal fest an sich, bevor er ihn mit einem Klopfen auf seinen Rücken losließ.
      "Jetzt schau ein bisschen finster drein und tu so, als würdest du dich darüber ärgern, was auch immer ich dir gerade aufgebrummt habe."
      Er grinste selbst, was er sich auch abgewöhnen musste, bevor sie sich auf den Weg zurück machten. Die anderen drei starrten fast augenblicklich als sie kamen, aber es wurden keine Fragen gestellt.
      Am nächsten Tag wiederholte sich dieses Prozedere: Trainieren, ein bisschen schauspielern, von den anderen weggehen und dort etwas neues trainieren. Zoras hielt Amartius aber auf, als er sein Schwert zücken wollte.
      "Heute probieren wir etwas anderes. Wir müssen immernoch herausfinden, was du von deiner Mutter und was du von mir geerbt hast. Einverstanden? Dann stell dich hier auf."
      Er scharrte eine kurze Linie in den Boden und ging dann weiter zwischen den Bäumen hindurch. Dieses Mal hatten sie keinen ganzen Wald zur Verfügung, aber die bisschen Vegetation reichte dennoch als Sichtschutz aus. Weiter hinten zeichnete er die zweite Linie.
      "Du läufst von da nach dort und wieder zurück so schnell du nur irgendwie kannst, okay? Mehr ist es nicht. Auf die Plätze und los."
      Dann stellte er sich seitlich zu der unsichtbaren Rennbahn.
    • Amartius war ein genügsamer Junge. In der Eisfeste von Asvoß hatte er nur Liebe seitens Kassandra erfahren und wie er nun gelernt hatte, war diese äußerst spärlich ausgefallen. Sie hatte von Anbeginn ihn darauf trainiert, selbstständig zu sein. Wehrhaft zu sein, so gut es für seine Begriffe eben nur ging. Und alles, damit er am Ende in einer Welt strandete, die ihm fremder nicht hätte sein können.
      In dieser fremden Welt hatte er seinen Vater durch eine Fügung getroffen und bekam nun zu spüren, wie es war, wenn man ungefilterte Aufmerksamkeit bekam. Ohne die Sorge, dass im nächsten Moment schon jemand ihnen auflauern und seinen Sohn köpfen konnte. Ohne die Sorge, das eigene Kind zu verlieren oder noch schlimmer, es in Sklaverei zu sehen. Ohne die Sorge, dass der Junge nicht wissen würde, wer oder was er eigentlich im Kerne war.
      Stattdessen ließ sich Amartius von dem warmen, samtigen Gefühl überlaufen, welches Zoras ihm zuteil werden ließ. Wo er anfangs nur das Lob gehört hatte, fühlte er mittlerweile den Stolz. Einen Stolz, den nur ein Vater für sein eigenes Kind empfinden konnte. Die Euphorie, die sich mit seiner eigenen mischte, war ebenfalls nicht mehr zu verkennen. Am Ende waren sie beide neugierig darauf, wo die Grenzen in dem lagen, zu dem Amartius tatsächlich fähig war.
      „Du wirst aber nicht lange übermenschliches mit mir üben können“, grinste der Junge und ließ sich von Zoras in die Arme nehmen. Ein kurzer Augenblick, voll von der Wärme und der liebevollen Aura, die nur Familie mit sich brachte. „Wie soll ich denn angesichts deiner Euphorie böse gucken??“
      Wie zum Beweis versuchte er das Grinsen aus seinem Gesicht zu bannen, versagte jedoch kläglich bei dem Versuch. Mindestens genauso sehr wie Zoras selbst, fiel ihm gerade auf. Also rümpfte er die Nase und gab sich die größtmögliche Mühe, böse Miene zum guten Spiel zu machen. Dementsprechend seltsam wirkte es auch, als die Beiden wieder auf Faia, Tysion und Omnar trafen. Die, zu ihrem Glück, aber erneut keinerlei Fragen stellten.
      Am nächsten Abend wiederholte sich ihr Training. Am Tage hatten sie einiges an Wegstrecke zurückgelegt und abends wieder ein Feldlager aufgeschlagen. Nach dem Techniktraining waren sie wieder in der nächstbesten Böschung verschwunden und Amartius fühlte sich gleich wie in seinem Element. Er griff bereits zu seinem lädierten Übungsschwert, da stoppte Zoras ihn.
      „Ist das nicht offensichtlich?“, fragte er während er dabei zusah, wie sein Vater Linien im Boden zog. „Von ihr hab ich die Macht und von dir... das Aussehen?“
      Das bescherte ihm einen vielsagenden Blick. Er quittierte es mit einem feschen Grinsen.
      „Hä, was? Nur laufen?.... Aaaaah, laufen. Okay. Das kann ich.“
      In der Tat. Laufen konnte Amartius. Als er die Strecke ablief fiel ihm allerdings sehr schnell auf, dass er gar nicht so schnell war. Er brauchte vermutlich genauso lange wie ein normales Kind in seinem Alter. Stirnrunzelnd betrachtete er seine zurückgelegte Strecke. Für die er viel zu lange gebraucht hatte, dafür aber auch gar nicht außer Atem oder dergleichen war.
      „Das war nicht so.... übermenschlich“, stellte er nüchtern fest und verzog das Gesicht. „Vielleicht... ist das ja auch nicht unbedingt meine Stärke?....“

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Zoras zog beide Augenbrauen hoch und verharrte absichtlich in der Bewegung, um die Theatralik seines Blickes zu erhöhen, den er auf Amartius richtete. Der begegnete dem Blick mit einem höchst frechen Grinsen.
      "Hör mal zu, junger Mann, ich habe auch so einige Qualitäten, die sicherlich nützlich sind und die du nicht von deiner Mutter bekommen kannst. Zum Beispiel… hm… Pferde züchten! Das kann deine Mutter ganz bestimmt nicht, weil alle Pferde nur von ihr weglaufen. Und das ist wichtig, weil… du…"
      Er kratzte sich am Kinn.
      "..... Vielleicht ist es nicht ganz so wichtig, aber es gibt bestimmt irgendwas, was du nur von mir bekommen kannst - außer meinem Aussehen. Werd also nicht frech, ja?"
      Er wandte sich wieder seinen Linien zu und runzelte die Stirn in dem Versuch, etwas zu finden, was Amartius nur von ihm hätte. Er war schließlich mehr als nur ein Zuchttier, das die Stute schwängern und ihre Nachkommen formen sollte. Er hatte neben Kassandra auch gute und wichtige Gene, die vererbt gehörten!
      … Nicht wahr?
      Noch immer zweifelnd, wandte er sich schließlich Amartius zu.
      Wo sie gestern noch einen guten Erfolg zu verzeichnen hatten, blieb er heute aus. Zoras hätte schwören können, dass Amartius zumindest physisch Kassandra in nichts nachstünde, aber das stimmte wohl nicht, zumindest was die Geschwindigkeit betraf. Für einen Moment war er enttäuscht, dann lichtete sich seine Stimmung.
      "Siehst du? Die Geschwindigkeit hast du von mir geerbt. Gern geschehen, Junge. Ah, keine Widerworte, das kann bestimmt zu deinem Vorteil sein. Jetzt stell dich nochmal auf und lauf fünf Mal hin und her - nein, zehn Mal, lass uns auf Nummer sicher gehen. Komm, auf geht's."
      Er scheuchte Amartius zurück zur Linie und sah dann dabei zu, wie der Junge artig vor und zurück lief. Seine Geschwindigkeit war tatsächlich nicht allzu berauschend, das konnte er nicht von Kassandra geerbt haben. Dafür machte Zoras eine andere, durchaus ebenfalls interessante Entdeckung.
      "Wie fühlst du dich? Heiß, schwitzig? Außer Atem?"
      Er kam zu ihm und legte ihm die Hand auf die Stirn, nur um seine Vermutung bestätigt zu bekommen, dass Amartius keine dieser drei Symptome hatte. Es war ihm gestern schon ins Auge gefallen, aber er hätte es auf seine These zurückgeführt, dass Amartius körperlich ein Gott war. Jetzt musste er die neue These aufstellen, dass nur manche Attribute göttergleich waren und das machte es um einiges schwieriger, alle ausfindig zu machen.
      "Okay… nicht schlecht, wirklich. Wir machen Fortschritte, das ist gut."
      Er kratzte sich am Kinn.
      "Fliegen kannst du nicht, nicht wahr? Das können wir gleich von der Liste streichen. Wie sieht es mit deinem Feuer aus, was kannst du damit alles anstellen? Was hat Kassandra dir beigebracht?"
    • „Hä? Pferde züchten? Wo ist das denn ein Talent, was du vererben kannst? Die pflanzen sich auch ohne dein Zutun fort“, erwiderte Amartius nachdem er für sich entschieden hatte, dass Geschwindigkeit wohl wirklich nicht unbedingt zu seinen Sternstunden zählte.
      Aber wenn er sich doch richtig entsann, gab es da doch einmal diesen Moment, wo er...
      Nicht wirklich begeistert von seiner Tat hatte der Junge die Hände in die Seiten gestemmt. Irgendetwas war hier faul, nur konnte er seinen Finger nicht genau darauf legen. Vielleicht war es wirklich so, dass er erst noch reifen musste. Das könnte mit dem sterblichen Anteil in seinen Adern zusammenhängen, so dachte er sich das zumindest.
      Stattdessen rollte Amartius mit den Augen als es hieß, er solle die gleiche Strecke noch weitere Male absolvieren. Nicht, dass er der Aufforderung nicht nachkam, aber einfach nur laufen war bei Weitem nicht so unterhaltsam wie ein bisschen Schlagen mit einem stumpfen Schwert. Also setzte er sich brav in Bewegung und probierte mal sprinten, mal langsameres Joggen mit größeren Sprüngen dazwischen. Nichts von alledem wirkte auf ihn außerordentlich oder gar göttlich. Am Ende stand er wieder wie zuvor mit den Händen in den Seiten da und blickte missmutig drein.
      Wie fühlst du dich? Heiß, schwitzig? Außer Atem?“
      Amartius schüttelte den Kopf noch bevor Zoras ihm seine Hand auf die Stirn legen konnte. Erst da realisierte er, dass diese Strecke genau solche Reaktionen bei Menschen hervorgerufen hätte. Doch bei dem Jungen gab es nicht einmal Ansätze von diesen Reaktionen zu sehen. Als stünde er schon stundenlang einfach nur da anstatt etliche Meter gelaufen zu sein.
      „Nein?“, meinte er und fasste sich selbst dabei ins Gesicht. „Gar nichts. Jetzt wo du's sagst, du warst nach dem Kampf fix und fertig. Ich hab's damals auf dein Alter und deinen Zustand geschoben, aber dass es mir gar nichts ausmacht, ist nicht normal.“
      Auf die Frage hin, ob er fliegen könnte, hätte er am liebsten gelacht. Ihm entrang sich maximal ein bitteres Lächeln. Zu gern hätte er gesagt, dass er fliegen konnte. Seine Gestalt wandelbar war wie die seiner Mutter oder auch Telandirs. Mittlerweile hatte er sogar die Hoffnung aufgegeben, jemals so weit zu sein als dass er eine Wandlung hätte durchführen können. Vielleicht war auch das Menschenblut in seinen Adern zu dick, als dass es die Verwandlung aushalten konnte.
      „Was hat mir Kassandra beigebracht...“ Er trat von Zoras zurück und streckte seine Arme leicht nach vorn aus. „Kann ich dir zeigen.“

      Das Training heute bestand daraus, festzustellen, wo Amartius Grenzen lagen. Eine Liste zu erstellen, was bei ihm außerordentlich war und was nicht, um ganz danach auszulegen, wie sie weiter trainieren sollten. Denn das mussten sie tun, wenn sie auch nur einen Hauch gegen Telandir und etwaige andere Götter bestehen wollten.
      Man konnte festhalten, dass der Junge praktisch eine unerschöpfliche Konstitution hatte. Was mit seiner übermenschlichen Kraft zusammenspielte und nur von der sehr menschlichen Geschwindigkeit gedrosselt wurde. Er fühlte wie Kassandra Auren und sah Lebenslichter sowie Krankheiten und die generelle Lebenszeit. Das erstreckte sich zur Zeit über dutzende Meter im Durchmesser und kannte keine Begrenzungen. Der Schnitt, den er an seiner Hand gehabt hatte, war unlängst spurlos verschwunden und zeugte von einer erhöhten Regeneration, wenn auch nicht binnen Sekunden wie Kassandra es konnte. Diese heilenden Fähigkeiten hatte er noch auf kein anderes Lebewesen übertragen können, wobei sie das bei Zoras auch nicht weiter ausprobiert hatten. Gleiches galt dafür, ob er Gifte neutralisieren konnte oder nicht.
      Amartius konnte seine Gestalt nicht ändern. Auch nicht mit Magie oder Trugbilder erschaffen. Dafür besaß er eine Affinität für das Feuer, erschuf es aus dem Nichts in jeglicher Intensität und Ausführung. Waffen konnte er leider nicht beschwören. Dafür teilte er seinem Vater mit, dass er dessen Gefühle erspüren und manchmal nicht von seinen eigenen trennen konnte. Dass er mehrmals nun mit Tieren gesprochen hatte, fiel ihm in diesem Aspekt nicht wieder auf.