Salvation's Sacrifice [Asuna & Codren]

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    • Zoras ließ es sich nicht nehmen, den kurzen Moment ihrer Zusammenkunft so sehr zu genießen, wie es der Moment hergab. Er drückte einen sanften Kuss auf Kassandras Knöchel, die selbst unter seinen Lippen noch überirdisch weich waren, und senkte dann ihre Hand, ohne sie loszulassen. Es war schon beinahe kriminell, dass Kassandra wohl nicht wusste, was es mit dieser Geste auf sich hatte.
      "Nur, weil du dich nicht umentscheidest, heißt das nicht, dass du nicht die Möglichkeit dazu haben sollst. Ich möchte, dass du zu jeder Zeit dazu in der Lage bist, deine Meinung zu ändern, egal was davor war oder danach kommt. Wirst du mir versprechen, dass du das tun wirst, wenn es der Moment verlangt? Dann werde ich auch nicht mehr jedes Mal fragen. Vielleicht jedes zweite Mal?"
      Er lächelte und zwinkerte ihr zu, dann ließ er ihre Hand los und bot ihr stattdessen seinen Arm an.
      "Als nächstes werde ich dich noch einmal entführen, aber nur in den Garten. Und wenn du es so schon formulierst, hoffe ich fast, dass uns Elive über den Weg läuft. Manchmal glaube ich, diese Frau kann so ziemlich nichts erschüttern, außer vielleicht eine Gottheit persönlich. Das würde ich zu gerne mal sehen."
      Er grinste, dann wies er Kassandra an, einfach alles so stehen und liegen zu lassen, die Bediensteten würden es schon aufräumen. Sie könne die Obstschale mitnehmen, wenn sie wollte.

      Auf dem Weg ließ er es sich nicht entgehen, sie über seine Taten ein wenig aufzuklären.
      "Ein Handkuss ist eine Respektserweisung, ich drücke damit aus, dass ich dich respektiere und ehre. In meinem Fall bedeutet er wohl auch, dass ich zu meinen Worten stehe. Etwas anderes wäre es, wenn ich dein Handgelenk oder deinen Arm küsse: abhängig von unserer Beziehung hätte es verschiedene Bedeutungen, aber in unserem Fall würde es heißen, dass ich dich körperlich begehre. Und wenn ich deine Finger küsse, nicht die Knöchel, aber die Finger selbst, drücke ich damit meinen Wunsch zur Heirat aus. Ganz grob gesagt."
      Er grinste spitzbübisch.
      "Es gibt auch andere Stellen, die ich küssen könnte, aber das sollten wir lieber nicht in der Öffentlichkeit tun."

      Es gab keinen besonderen Grund, dass Zoras Kassandra in den Garten führte, außer der, dass sie die Natur wohl der Zivilisation bevorzugte. Er tat es allein aus dem Bedürfnis, ihr etwas gutes zu tun; wäre er alleine gewesen, wäre er wohl in die Stadt geritten und hätte sich mit Ryoran, seinem Hauptmann oder einem seiner Offiziere in eine der Kneipen zurückgezogen, um den Abend ausklingen zu lassen. Es wäre aber nicht halb so schön geworden wie die Idee, sich mit Kassandra in den Garten zu setzen.
      Der Garten war eigentlich nur einer von den vielen Innenhöfen, in denen es blühte und gedeihte, als hätte man in die Beete sämtliche Samen gepflanzt, die man in Theriss hatte auftreiben können. Hüfthohe Schlingpflanzen teilten sich hier einen Platz mit blühenden Sommerlilien und kräftigen, gesunden Strauchwerken, in denen es auch wieder blühte. Der ganze Hof war erfüllt von dem Summen der Insekten, die sich hier niedergelassen hatten.
      Zwei Bedienstete waren gerade dabei, einen Bereich der Beete zu wässern, als sie Zoras erblickten und wie aufgeschreckte Rehe davonstoben - nicht ohne Kassandra bei ihrem Abgang prüfenden Blicken zu unterziehen. Anscheinend hatten die Bewohner des Hauses schon mitbekommen, dass Kassandra keine gewöhnliche Frau war, oder es hatte sich bereits das Gerücht verbreitet, dass sie Zoras' neue Geliebte war. In jedem Fall war sie das Zentrum neugieriger Blicke, bevor die beiden verschwunden waren und der Innenhof verlassen zurückblieb.
      Sie hatten so lange im Kartenraum zugebracht, dass es langsam schon dämmerte. Trotzdem war es noch angenehm warm.
      "Setzen wir uns da vorne hin, die letzten Stunden genießen."
    • "Du räumst einer Frau viel zu viele Freiheiten ein", schmunzelte Kassandra am Ende nur und harkte sich bei Zoras im Arm ein. "Ich habe dir doch schon einmal versprochen, dass ich mich melden werde, wenn mir etwas nicht passt. Ich habe weiterhin nicht vor Dinge zu tun, die mir missfallen. Das solltest du eigentlich langsam wissen."
      Egal, wie oft sie darauf beharrte, dass er ihr zu viele Freiheiten einräumte: Insgeheim genoß sie es. Wie er versprochen hatte besaß sie nun so viele Freiheiten wie schon lange nicht mehr und konnte sich ungebunden bewegen. Nur das Fehlen ihrer vollen Macht und das Amulett an seiner Brust waren noch Beweismittel für ihre eigentliche Verbindung.
      "Im Übrigen glaube ich nicht, dass du sehen möchtest, wie sich zwei Frauen gegenseitig an die Gurgel gehen."
      Obwohl es sicherlich ein unterhaltsamer Anblick gewesen wäre.

      Also schlenderten sie die Gänge des Hauses entlang und mochten auf Außenstehende wie ein längst lang betrautes Paar wirken. Das dem aber noch gar nicht so war, war lediglich den beiden Hauptakteuren bewusst. Im Allgemeinen war Kassandra selbst darüber erstaunt, wie entspannt sie an Zoras' Seite war und wie viel sie ihm generell durchgehen ließ. Die meisten anderen, die es auch nur gewagt hätten sie anzufassen, hatte sie mit höhnischem Grinsen die Hände verbrannt. Doch bei ihm war es ein wenig anders, er kämpfte sich effektiv durch den Panzer, den sie sich über Äonen aufgebaut hatte. Sie selbst war als Phönix das Sinnbild von Wiedergeburt und Reinkarnation - umso erstaunlicher war, dass ihr nicht einmal der Gedanke daran kam, dass Zoras' Seele die Reinkarnation Shukrans hätte sein können.
      "Du fragst dich, wie das Trommelssystem von Armeen funktionieren kann obwohl ihr eine dermaßen ausgeklügelte Sprache entwickelt hab, je nachdem welche Körperstelle ihr küsst?", lachte Kassandra lauter als gewollt auf, aber die Vorstellung war einfach zu komisch.
      Selbst der spitzbübische Blick seinerseits konnte das Grinsen nicht von ihrem Gesicht fortwaschen.
      "Als wenn du es auch nur wagen würdest, andere Stellen von mir auch nur zu berühren. Übrigens, was bedeutet es in eurer Sprache, wenn du mir die Handinnenfläche küsst, wie du es schon einmal getan hast?", schoss sie überraschend schlagfertig zurück und ging regelrecht beschwingt mit seinem Schritt mit.

      Die Innenhöfe hatte Zoras Kassandra bereits einmal im Vorbeigehen gezeigt. Damals hatten sie allerdings nicht die Ruhe finden können, um sich die Gegebenheiten ordnungsgemäß anzusehen. Jetzt allerdings konnte sie in aller Ruhe die verschiedenen Gewächse begutachten, die man gut sortiert in Beeten angesetzt hatte und von Bediensten umsorgt wurden. Bald würde dieser Anblick des Friedens wohl nicht mehr sein und die Pflanzen nicht mehr so gepflegt werden wie jetzt.
      Wo sie gerade noch an die Bediensteten dachte: Jene zwei Damen, die mit dem Bewässern beschäftigt waren, ergriffen regelrecht die Flucht als sie beide die Gärten betraten. Natürlich entging es Kassandra nicht, welche Blicke man ihr zuwarf und sie konnte nicht anders als den beiden Damen mit hochgezogenen Augenbrauen hinterher zu sehen.
      "Mein Gott, Zoras, was für einen Titel habe ich denn auferlegt bekommen?"
      Dass sie dabei nicht nur als Gottheit sondern noch eine gänzliche andere Rolle einnehmen konnte, war ihr so noch gar nicht aufgefallen.
      Noch immer an seiner Seite gingen sie inmitten des Innenhofes, in dessen Mitte ein kleines Wasserbecken angelegt war. Rund herum standen drei Bänke aus Holz gezimmert als Sitzgelegenheit. Genau diese steuerten sie nun an und setzten sich gemeinsam vor das Becken.
      Kassandra saß eine gute Armlänge von ihm entfernt als sie den Kopf in den Nacken legte und in den Himmel blickte. Keine Wolke trübte den orange leuchtenden Himmel und auch das Gesurre der Insekten würde nicht mehr lange anhalten.
      "Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal einen so.. losgelösten Tag erleben durfte."
      Und wenn es nur ein einziger Tag war bevor die Hölle losbrach. Bevor das Rad der Zeit unbarmherzig weiterlief und sie dem Ende ihrer Bekanntschaft mit Zoras näher bringen sollte. Kassandra senkte ihren Kopf, musterte kurz das Becken und faltete schließlich die Hände in ihrem Schoß.
      "Ich weiß gar nicht so recht, was ich dazu sagen soll. Wenn ich daran denke, dass ab morgen schon alles anders sein wird... Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesem Moment der Ruhe und Frieden so nachtrauern könnte. Aber mein Versprechen bleibt bestehen wie das deine. Ich unterstütze dich bis zum Ende deiner Reise. Aber... können wir erst Morgen wieder darüber ein Wort verlieren?"
      Sie löste ihren Blick vom Becken und sah auf ihre Hände hinab. Er hatte ihr gesagt, warum er diesen Tag so geplant und durchgeführt hatte. Dass es der letzte Tag sein würde, den sie so verbringen würden. Und dass sie ihm gewährte, sie näher kennenlernen zu dürfen, anders, als man es von einem göttlichen Wesen erwarten würde. Dennoch musste sie sich selbst noch einmal bestätigen, dass dies bedeutete, nicht auf alles abwehrend reagieren zu müssen.
      "Danke für heute. Ich... kenne das gar nicht mehr wirklich wie es ist, wenn man aufrichtiges Interesse erfährt. Sicher, meine Reise mit Herantep war angenehm aber ich habe mich nie bei ihm so gefühlt wie hier bei dir. Du hattest Erfolg damit, mich nicht mehr fühlen zu lassen wie eine Gefangene."
      Nun lächelte sie ein wenige ihre eigenen Hände an. Wenn sie etwas definitiv nicht bei Zoras spüren konnte, dann war es Boswillen. Alles, was er bis jetzt getan hatte, entsprang einer gutmütigen Natur ihr gegenüber. Er war wirklich darum bemüht, ihr näher zu kommen und vergaß dabei langsam sogar, dass sie gar kein Mensch war. So, wie es einst Shukran tat.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Zoras lachte, während sie auf die Bänke zusteuerten und sich niederließen. Dass Kassandra die Blicke der Bediensteten mit einer solchen Überraschung aufnahm, erheiterte ihn zusehends.
      "Ich glaube, so genau möchtest du es gar nicht wissen - so genau möchte ja noch nicht einmal ich es wissen. Manche Sachen sind einfach nicht dazu bestimmt, die Dienstquartiere zu verlassen."
      Sie hätte einmal mitkriegen sollen, was die Dienerschaft der Königin für Blicke gewidmet hatten - selbstverständlich nicht, wenn jemand zusah und erst recht nicht, wenn die Garde in der Nähe lungerte. Aber das war wohl nichts, was Zoras Kassandra in aller Ausführlichkeit erzählen wollte.
      "Beachte sie gar nicht. Es gibt schlimmeres als ein paar Gerüchte."
      Zum Beispiel, dass Kassandra nach diesem kleinen Spaziergang an seinem Arm wieder auf Abstand rückte. Er wusste, dass es ihn nicht interessieren sollte, dass er froh darum sein sollte, ihre Anwesenheit überhaupt genießen zu dürfen und besonders das Vertrauen, das sie ihm entgegen brachte, aber enttäuschend war es trotzdem. Er hätte ihre körperliche Nähe zu gerne noch länger genossen.
      Aber er sagte kein Wort darüber, sondern streckte nur die Beine aus und ließ den Blick über die Beete wandern. Neben ihm legte Kassandra den Kopf in den Nacken.
      Bei ihren Worten drehte er den Kopf zu ihr. Es war merkwürdig mit anzusehen, wie eine Phönixin eine so menschliche Empfindung spüren konnte.
      "Das nennt man die Ruhe vor dem Sturm, wenn man weiß, dass etwas schlimmes kommen wird, aber im Moment noch alles schön und ruhig ist. Das haben wir gerade, ab morgen werden wir im Krieg sein, aber heute ist noch alles normal, so als gäbe es kein Morgen."
      Er lächelte dennoch, ließ sich von dem Thema kaum die Stimmung verschlechtern. Ab morgen konnte er sich genug damit herumschlagen.
      "Aber ja. Lass uns morgen wieder darüber sprechen, hm?"
      Für einen Augenblick sah es dann so aus, als würde Kassandra schüchtern werden, so wie sie die Hände in ihrem Schoß faltete und sie musterte. Konnte es sowas geben, eine schüchterne Phönixin? Nun, vermutlich, aber das passte nicht zu Kassandra, nicht zu ihrer sonst so energetischen Art. Es war ein Anblick, der so völlig unnatürlich war, dass er Zoras kalt erwischte.
      Er musste sich dazu zwingen ihr zu antworten, konnte dem unglaublich großen Drang aber nicht widerstehen ihre Nähe wieder aufzusuchen und rutsche das wenige Stück zu ihr auf, bis ihre Beine sich berührten. Dann legte er einen Arm auf die Lehne hinter ihr, berührte sie damit aber nicht. Es war lediglich die Andeutung einer Umarmung.
      "Ich glaube, das zählt unter anderem als Einhaltung meines Wortes, oder?", fragte er etwas leiser, noch immer das Lächeln im Gesicht. Es machte etwas ganz seltsames mit seinem Herz, sie so zärtlich zu sehen. Fast, als hätte sie die Fäden zu seiner Brust in der Hand und würde einmal kräftig daran ziehen.
      "Du hast es nicht verdient eine Gefangene zu sein, niemals. Es freut mich, dass du den Tag genießen konntest, denn ich habe nicht vor, etwas daran zu ändern. Du sollst nur das beste bekommen; das beste, was ich aufbringen kann."
      Er streckte die Hand leicht nach ihr aus, die Handfläche nach oben zeigend. Es war eine Geste ähnlich der im Palast, als er der Phönixin zum ersten Mal die Hand hingehalten hatte, trotz der komplizierten Umstände, trotz ihres Übernatürlichen Wesens. Als sie jetzt aber ihre Hand in seine legte, war es etwas anderes als damals, es war verbunden mit mehr Vertrauen, als man sich damals hätte zutrauen können.
      Zoras umschloss ihre kleinere Hand und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken.
      "Du hast doch vorhin gefragt, was es bedeutet, wenn man die Handinnenfläche küsst, nicht wahr?"
      Er drehte ihre Hand, der Griff kaum stark genug, dass sie sich nicht hätte einfach entziehen können. Aber sie tat es nicht, nicht einmal dann, als er ihre Hand auf seinem Bein ablegte, die Handfläche nach oben zeigend.
      "Das hat eine abstraktere Bedeutung, als die anderen Stellen der Hand, obwohl eigentlich alles ziemlich abstrakt ist; ich erkläre nur sehr primitiv. Wir teilen die Hand effektiv in zwei Bereiche ein: Die Vorderseite und die Rückseite. Während die Vorderseite, der Handrücken, eher für alles... öffentliche steht, steht die Rückseite für... intimeres. Hier haben auch alle drei Bereiche eine andere Bedeutung. Die Finger", er strich mit seinen Fingern an ihren entlang, "stehen dafür, dass ich dir vertraue, nur auf eine sehr... tiefgründige Art. Gibt es dafür ein besseres Wort? Vermutlich, aber ich weiß es nicht, es ist ja auch nicht so wichtig. Die Handfläche bedeutet", er fuhr mit den Fingern darüber, "dass ich die Zeit wertschätze, die du mir opferst. Du machst deine Hand in gewissermaßen frei für das, was ich dir gebe, aber anstatt einer Axt, einem Stift oder eines Schwertes, gebe ich dir einen Kuss, den du tragen sollst und der dein Werkzeug sein soll. Und wenn ich dich dort küsse", sein Finger glitt weiter zu ihrer Hauptschlagader, "zeige ich dir, dass ich selbst in den schlechtesten Zeiten deine größte Schwäche nicht zu meinem Nutzen werden lasse. Wenn du mich diese Stelle küssen lässt, zeigst du mir im Gegenzug, dass du mir dein Leben anvertraust. Das macht man in der Regel unter Liebenden nicht, weil es eine noch größere Bindung ist als die Hochzeit, aber Soldaten auf dem Schlachtfeld machen das manchmal. Der König kann es tun, wann auch immer es ihm beliebt. Niemand würde ernsthaft in Erwägung ziehen, die Hand wegzunehmen."
      Seine Finger glitten wieder nach oben und hoben Kassandras Hand vorsichtig an.
      "In diesem Sinne..."
      Er führte sie zu seinem Mund und presste seine Lippen in die Mitte ihrer Handfläche, lange und nachdrücklich. Als er sie einen Moment später wieder löste, rollte er Kassandras Hand in seiner vorsichtig zu einer Faust zusammen und drehte sie, um einen erneuten, unnachgiebigen Kuss auf ihrem Handrücken zu platzieren. Dann senkte er ihre Hand und unterstrich seine Geste mit einem sanftmütigen Lächeln.
      "Ich stehe zu dem, was ich sage und tue - jetzt und auch immer sonst."
      Diesmal löste er den Arm von der Lehne, um ihn stattdessen um Kassandra zu legen. Sie saßen bereits Schulter an Schulter, aber er schaffte es trotzdem, sie noch ein unmögliches Stück näher zu sich zu ziehen und dort zu halten. Ihre ausstrahlende Wärme färbte sofort auf sein Gemüt ab.
    • Die Ruhe vor dem Sturm... Diese Redewendung besaß für Kassandra, die keine irdische Bindung hatte, weniger Gewicht als für jeden anderen Menschen auf Erden. Sie verfügte über die Gaben, sich über Hunderte von Widersachen hinwegzusetzen sofern man sie denn ließ. Es war nicht die Aussicht auf den bevorstehenden Krieg, der ihr Unwohlsein bescherte. Es war die Aussicht darauf, dass Zoras' Zeit ablief und sie eigentlich besser nicht daran täte, auch nur den Hauch von Sympathie für diesen Mann, der sein Todesurteil bereits unterschrieben hatte, zu entwickeln.
      So in Gedanken merkte sie nicht, wie Zoras still und heimlich seinen Arm auf die Rückenlehne hinter ihr platziert hatte. Dafür bemerkte sie sehr wohl, wie ihre Beine aneinander stießen als er die Armlänge Abstand zwischen ihnen aufrückte. Jedes Mal, wenn er sich auf diese Art und Weise ihr näherte, verspürte sie nicht den üblichen Drang, ihren Standpunkt klarzumachen und Distanz zu fordern. Über diesen Punkt war sie schon Äonen hinweg, spätestens seit dem Ausbruch im Kartenraum. Sehr gut erinnerte sie sich daran, wie sie sich nach Shukran untersagt hatte, wieder eine emotionale Bindung zu einem Menschen aufzubauen. Doch hier an Zoras Seite, der einfach nur dem folgte, was sein Herz ihm riet, zweifelte sie diese Entscheidung an. Früher noch, wo sie eine vollwertige mythische Kreatur gewesen war brauchte sie diese Nähe nicht. Nun jedoch war sie so nah an den Menschen dran, dass sie sich insgeheim doch nach eben jener Nähe sehnte. Obzwar sie es ungern offen zugeben würde, da sie es noch immer als Schwäche betrachten würde.
      "Meinst du nicht, dass du das Beste nicht unbedingt einer mythischen Kreatur entgegen bringen solltest sondern lieber einer Sterblichen?", fragte sie leise und deutete die stumme Bitte nach ihrer Hand richtig.
      Kassandras Hand glitt wie das passende Gegenstück in Zoras' Hand, dessen Finger sich um ihre Hand schlossen. Seltsam fasziniert betrachtete sie, wie ihre Hand in seiner zu verschwinden schien und sein Daumen sich auf ihren Handrücken legte. Nur kurz streichelte er ihren Handrücken und, vielleicht mochte es der Situation geschuldet sein, löste in ihr ein Gefühl aus, das sie nicht recht deuten konnte. Sie atmete viel flacher als zuvor und wagte es nicht einmal, eine unnötige Bewegung zu machen.
      Dann kam der Herzog auf die Frage der Phönixin in den Fluren zurück und sorgte dafür, dass sich ihr Blick kurzzeitig von ihrer Hand löste und zu seinem Gesicht glitt. Lange hielt sie den Blickkontakt jedoch nicht aus Angst, dass er etwas in ihren Augen sehen konnte, das zu viel von ihren Gedanken oder gar Gefühlen verriet. Stattdessen sah sie dabei zu wie er ihre Hand auf seinem Oberschenkel ablegte und nutzte die Gunst der Stunde, um die unbemerkt anwachsende Spannung aus ihren Schultern zu verbannen. Diese kehrte jäh wieder zurück während die Phönixin dem Herzog und der Erklärung lauschte und wie gebannt auf ihre Hand im Spiel mit seiner starrte. Wie zuvor ging ihr Atem wieder flacher und ihre Finger zuckten ein wenig als er über ihre Handinnenfläche strich. Er verweilte dort nicht sonderlich lang sondern schloss seine Erklärung an ihrer Pulsschlagader.
      Dann, ohne Vorwarnung, zogen sich die Sekunden plötzlich wie Stunden vor Kassandras geistigem Auge. Fetzen von alten verblassten Erinnerungen drängten sich in ihr Bewusstsein, als das letzte Mal jemand in ähnlicher Art und Weise über ihre Handgelenke gestrichen hatte. Fetzen, die eine grausige Abfolge von Hass, Gewalt und Blut mit sich brachten. Fetzen, die sie nie wieder sehen wollte und sich dennoch tief in ihr Wesen eingebrannt zu scheinen hatten.
      "In diesem Sinne..."
      Fast genauso barsch taumelte ihr Verstand wieder in die Realität zurück und sie schnappte beinahe nach Luft, die sie konsequent angehalten hatte. Ein neues Gefühl drängte sich mit einer Urgewalt in ihren Geist, überschwänglich geprägt von Wärme und Zuneigung. Die rubinroten Augen folgten ihren Händen viel zu spät und fanden einen Anblick, der nicht weniger eindrucksvoll auf sie hätte sein können. Ein neuer Eindruck schien sich just in diesem Augenblick in ihren Geist zu brennen. Von Zoras, wie er mit geschlossenen Augen seine Lippen an ihre locker geöffnete Handinnenseite presste und seinen Worten Nachdruck verlieh. Wie gebannt verfolgte sie schweigend wie er es ähnlich mit ihrem Handrücken anstellte und ihre Hände schließlich gemeinsam senkte. Zu keiner Sekunde löste er seine Finger zur Gänze von ihrer Hand.
      "Niemand würde bezweifeln, dass du nicht zu deinen Taten oder Worten stehst..."
      Kassandras Hals war marginal wie zugeschnürt kaum hatte Zoras seinen taktisch klug platzierten Arm von der Rückenlehne um sie gelegt. Er zog sie sogar noch ein Stückchen näher zu sich, als es überhaupt hätte möglich sein dürfen. Es gab praktisch keinen Luftraum mehr zwischen ihren Seiten und dies war der erste Moment von dem sie später sicher sagen können würde, dass sich ihr Herzschlag verändert hatte.
      In ihr entbrannte ein Kampf zwischen ihrem Sein als mythisches Wesen und der Version, wie sie sich während ihrer Zeit auf Erden entwickelt hatte. Das Übermenschliche in ihr sträubte sich dagegen zu akzeptieren, dass der verweichlichte, menschgewordene Teil in ihr sich genau nach diesen Berührungen sehnte. Es würde bedeuten, schwach zu werden und Schwächen waren Eigenschaften, die Kassandra nur schwer akzeptieren konnte. Folglich suchten ihre Augen mithilfe von Seitenblicken nach Anzeichen in Zoras Gesicht, dass das hier einen übergeordneten Sinn und Zweck hatte. Dass es nur dazu diente, sich ihr Vertrauen zu erschleichen, um sie dann ins Messer laufen lassen zu können.
      Nur wusste Kassandra, dass sie in der Lage war, Lügen zu enttarnen. Und so sehr, wie sie sich jetzt schon nahe standen, hätte sie zweifellos jede etwaige Lüge seinerseits enttarnt.
      "Es ist schön zu wissen, dass du auch so empfinden würdest, wenn ich dir in Form einer gewöhnlichen Frau über den Weg gelaufen wäre", stellte sie nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens fest und haderte noch immer damit, sich seiner Umarmung vollends zu ergeben. "Aber ich schwöre dir hier und jetzt, dass diese Klassifizierung meinerseits nun ein Ende hat."
      Sie hatte es satt sich ständig in dem Zwiespalt zwischen dem Sein und dem Sein müssen zu bewegen. Dieser dahergelaufene Herzog hatte ihr unmissverständlich gezeigt, dass sie sich selbst nicht mehr so deutlich zwischen beiden Fraktionen teilen konnte und sich noch nicht so akzeptiert hatte, wie sie mittlerweile geworden war. Eisern hielt sie an alten Regeln und Sitten fest, die für sie gar nicht mehr galten. Schließlich gab es hier unten niemanden, der sie nach diesen Regeln beurteilen könnte. DIe Verbannung hatte die Phönixin auf eine Art und Weise frei gemacht, wie sie es erst jetzt richtig verstand.
      Merklich verlor Kassandras Körper an Anspannung, als sie auch den letzten Funken Widerstand aufgab und sich vollends an den Körper des Mannes an ihrer Seite drücken ließ. Ihr Kopf kippte ganz sachte zur Seite bis sie spürte, wie ihr Kopf an seinem anlag und sie seinen typischen Geruch von Pferd und einem Duftwasser, das nur spärlich eingesetzt worden war, wahrnahm. Nun merkte sie deutlich, dass ihr Puls kein Ruhepuls mehr war und ihr mehr als nur angenehm warm war.
      Sie erkämpfte sich die Gewalt über ihre Hand und der seinen zurück, um seine Hand flach auf seinen Oberschenkel zu drücken. Ihre Finger fuhren in die Zwischenräume seiner Finger und harkten sich dort ein. Es musste kein Zeichen der Schwäche sein, wenn man seinen Bedürfnissen folgte. Es konnte eine Stärke sein wenn man für das einstand, was man wahrlich wollte.
      Sachte, fast wie in Zeitlupe, suchte ihre freie Hand nach jener, mit der Zoras ihre Schulter an sich drückte. Schmale Finger ertasteten seine raue Hand, lösten ihren Griff von ihrer Schulter. Sie nahm ihren Kopf von seinem zurück, drehte ihn bis sie ihre gemeinsamen Hände nebst ihrer Schulter entdecken konnte. So abgewandt von Zoras gestattete sie sich, dass die kontrollierte Mimik in ihrem Gesicht brach und die Grenze zum Menschsein mit sich einriss. Ein kleines Stückchen noch zog sie seine Hand weiter nach vorne bis sie ihre Lippen hauchzart auf seinen Handrücken legen konnte. Noch währenddessen kniff sie ihre Lider fest zusammen, gab seine Hand wieder frei und bemühte sich mit ihrem ganzen Sein darum, ihre Mimik wieder aufzubauen. Es dauerte einen unendlich lang anmutenden Atemzug ehe sie den Kopf wieder nach vorn richtete und einen Seitenblick zu Zoras warf.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Als Kassandra nach einem Moment wieder sprach, schwang etwas in ihrer Stimme mit, das Zoras nicht so ganz zu deuten vermochte. Es mochte ein Lächeln sein, wenn sie denn gelächelt hätte, oder auch das Gegenteil davon. Er konnte es nicht einordnen.
      Was er durchaus einsortieren konnte war, dass es einen Umschwung in Kassandras Stimmung zu geben schien. Was genau ihre Worte zu bedeuten hatten wusste er nicht, er konnte aber allzu deutlich spüren, wie ihre Schultern erweichten und sie sich gegen ihn lehnte, das perfekte Gegenstück zu seiner offenen Seite, an die sie sich nun schmiegte. Als wäre der Platz für sie geschaffen worden. Jetzt war es an Zoras zu lächeln und er empfing sie, indem er den Kopf sanft neigte, ihren Scheitel küsste und seinen Kopf an ihren anlehnte. Sie war so unglaublich warm, fast schon heiß, eine Hitze, die von ihrem ganzen Körper ausgestrahlt wurde, aber die nie groß genug schien, um unangenehm zu werden; selbst jetzt nicht, an dem lauwarmen Sommerabend, während die Sonne noch in ihren Körpern steckte. Mittlerweile glaubte er, dass selbst Kassandras wahrhaftiges Feuer nie warm genug sein konnte, zumindest nicht zu warm, um etwas anderes in ihm hervorzurufen als gänzliche Zufriedenheit. Das war es, nach was es ihm verlangte und nichts anderes, die hübsche, wärmende Kassandra, die sich aus freien Stücken an ihn schmiegte. Wenn er einen Todeswunsch offen hätte für den Tag in zwei Jahren, an dem er verenden würde, dann wäre es, dass zwischen diesem Augenblick und zwei Jahren nichts mehr passieren würde. Er wollte für seinen letzten Augenblick nichts anderes, als Kassandra an sich zu spüren.
      Auch ihre Hand gewann an Leben zurück und bemächtigte sich seiner Finger. Er hielt still, bis sie sich in seine Zwischenräume gezwängt hatte, dann schloss er die Hand sanft zu einer Faust. Als sie sich auch seine andere Hand ergriff und sachte beiseite schob, machte er sich schon darauf gefasst, die Umarmung zu lösen und sie in die gewünschte Freiheit zu entlassen, als er stattdessen unvermittelt ihre Lippen auf seinem Handrücken spürte, weich wie eine Feder und spürbar warm, als würde die Hitze einen Abdruck hinterlassen. Er spürte sein eigenes Herz in seinen Hals hinauf schlagen und hielt den Atem an.
      Die Geste hätte natürlich unbeabsichtigt sein können, eine ledigliche Zuneigung an ihn, so klein sie auch war, aber nicht, nachdem er ihr in solch Ausführlichkeit berichtet hatte, was die verschiedenen Küsse der Hände bedeuteten; erst recht nicht, nachdem sie ihre Lippen so unnachgiebig auf seine Haut presste, sodass kein Zweifel daran bestand, dass sie wusste, was sie tat. Er glaubte, unter dem Schlag seines Herzens gleich zerbersten zu müssen. Er hätte niemals in Worte fassen können, was diese einfache Geste bei ihm bewirkte, aber der Effekt war stärker als alles andere, was er jemals in seinem Leben erlebt hatte. Die Königin hatte seinen Handrücken niemals geküsst, die Bedeutung dahinter war selbstverständlich gewesen. Auch keine andere Frau hatte diese Geste jemals erwidert, womöglich seinem Stand verschuldet, womöglich der Tatsache, dass sie es nicht als nötig empfand, wenn er ihr schon den Hof machte. Und jetzt konnte er es nicht nur am eigenen Leib erfahren, es kam auch noch von Kassandra, dem einzigen Lebewesen, von dem er es wahrlich nicht benötigt hätte, die alles andere als ihn in irgendeiner Weise respektieren musste. Aber sie tat es trotzdem und Zoras glaubte, dass seine Welt vor überschwänglichem Glück gleich kippen würde.
      Es benötigte ihn sämtliche aufzubringende Willenskraft, sie nicht weiter zu sich zu ziehen und sein Glück mit ihr zu teilen. Er konnte es nicht verhindern, dass er sie tatsächlich ein Stück fester an sich presste und den Griff ihrer verschlungenen Finger verstärkte, aber er ließ kurz darauf auch schon wieder locker und begnügte sich damit, ihr einen weiteren Kuss auf den Scheitel zu setzen. Dann lehnte er sich zurück und genoss einfach nur ihre Nähe, unfähig dazu, seine Gedanken zu vollständigen Wörtern zusammenzukratzen. Er wollte es auch gar nicht. Sie schwiegen beide und Zoras betete zu den Göttern, dass das Glück dieses Augenblicks ihn bis zum letzten Atemzug begleiten würde.

      Sie saßen so lange beieinander, bis die Sterne bald auftauchten und den Nachthimmel bedeckten. Zoras wollte den Tag nicht zu Ende gehen lassen aus der irrationalen Angst, niemals wieder diese Freiheit verspüren zu können, wie er sie in diesem Moment hatte, aber er wusste, dass es einige Probleme geben würde, wenn er nach seinem erzwungen freien Tag auch noch unausgeschlafen an seine Arbeit ging. Es ging nicht anders, aber er wünschte sich, dass es eine Möglichkeit gegeben hätte.
      Schließlich gab er sich dennoch geschlagen und löste seinen Griff vorsichtig von der Phönixin.
      "Kassandra…?"
      Er wollte sie nicht von sich schieben, also tat er es auch nicht.
      "Wir sollten langsam reingehen."
      Sie lösten sich auf eine entsetzlich langsame Art, bevor Zoras aufstand und Kassandra den Arm anbot. Er konnte ihre Lippen noch immer auf seiner Hand spüren, der geisterhafte Nachhall ihrer Berührung, der sich regelrecht in sein Gedächtnis eingebrannt zu haben schien. Es störte ihn nicht, in keinster Weise. Eher sehnte er sich nach mehr.
      Sie wanderten durch ein scheinlichst verlassenes Haus, bis sie bei ihren Gemächern ankamen, wo Zoras sich Kassandra zuwandte. Er ergriff ihre Hände und drückte sie; mittlerweile verschwendete er noch nicht einmal einen zweiten Gedanken daran.
      "Ich danke dir für den heutigen Tag. Ohne dich wäre er sicherlich nicht halb so angenehm geworden."
      Er spürte das Lächeln, bevor es auf seinem Gesicht erstrahlte, aus einer inneren Tiefe heraus, die er vorher noch nie derartig wahrgenommen hatte. Wenn Kassandra doch nur ahnen könnte, was für einen Zauber sie ihm auferlegt hatte - wenn sie den Zauber vielleicht sogar selbst spüren könnte, Zoras würde ihn mit ihr in allem Frohmut teilen.
      So blieb es aber nur bei einem herzlichen Lächeln, bis er sich von ihr löste.
      "Schlaf gut, und genieße die letzten freien Tage, auch ohne mich. Das Anwesen steht dir zur freien Verfügung."
      Noch immer lächelnd, noch immer glücklich, noch immer frohen Mutes, legte er seine Hand ganz vorsichtig an Kassandras Wange, beugte sich vor und platzierte seine Lippen in einem flüchtigen Kuss auf ihrer Stirn. Dann ließ er sie los, vollständig, um ihr ihre benötigte Freiheit zu gewähren, und wünschte ihr noch einmal eine gute Nacht. Als er in seinem Zimmer verschwand, war der Drang, ins andere zu gehen und weiter bei Kassandra zu sein, so übermächtig, dass es wie ein Magnet auf ihn wirkte. Er schlief viele Stunden nicht, während er immer wieder an das Gefühl von Kassandras Lippen an seinem Handrücken dachte. Als er schließlich doch einschlief, war er sich ganz sicher, die Berührung noch immer spüren zu können.

      Am Morgen ertönte ein Klopfen an Kassandras Tür, das sich nicht abwimmeln ließ. Als die Phönixin schließlich nachgab, schob sich eine nervös wirkende Bedienstete ins Zimmer. Auf den Händen balancierte sie ein Tablett, das beinahe ihrer eigenen Größe entsprach.
      "Guten Morgen Eure… Eure… ähh– Hoheit?! Wir- ahem. Entschuldigt. Seine Hoheit lässt Grüße ausrichten. Ich zitiere: Ihr sollt Euch eine Eures Wesens angemessene Beschäftigung für den Tag suchen, er werde seiner Arbeit nachgehen. Ich soll Euch außerdem darauf hinweisen, dass Euch jederzeit eine Kutsche in die Stadt bringen kann - oder ein Pferd, je nachdem, was Euch beliebt. … Eure Hoheit."
      Die Frau lief rot an, dann gewann sie so viel an ihrer Professionalität zurück, um ins Zimmer zu gehen und das Tablett auf dem Fußende von Kassandras Bett abzustellen. Darauf angerichtet war ein weites Ensemble aus verschiedensten Früchten, drei verschiedenen Brotarten, süßer Aufstrich, Wurst und Käse und zuletzt eine mittelgroße Schüssel mit Nüssen. Die Frau verneigte sich, dann trat sie rückwärts den Rückzug zur Tür an.
      "Solltet Ihr etwas benötigen, dann lasst es uns wissen! … Eure Hoheit!"
    • Die Reaktion Zoras' ließ nicht auf sich warten. Wohlwissend hatte Kassandra den Schachzug gewählt, der unmissverständlich in seiner Sprache gewesen war. Sie wusste, dass sie damit Knöpfe bei ihm betätigte und ließ sich noch enger an ihn heran ziehen. Für eine geraume Weile rechnete sie damit, dass er die letzten Grenzen überspannen und übergriffig werden würde. Ausnutzen würde, wie viel sie bereits bereit gewesen war ihm zu geben. Doch nichts dergleichen erfolgte. Stattdessen begnügte sich der Mann einfach damit, an ihrer Seite zu sitzen und ihr einen Kuss auf den Scheitel zu hauchen. Niemand von ihnen brach auch nur mit einem Wort die Stille, die sich wie eine dünne Seifenblase um sie legte und für den Moment alles war, was sie brauchten.

      Die Dunkelheit hatte Einzug gehalten als sich Zoras das erste Mal merklich regte. Für Kassandra spielte Zeit eine nebengeordnete Rolle, für den Herzog hingegen war das Limit, das er sich erkämpft hatte, abgelaufen. Er musste sie darauf aufmerksam machen, dass für ihn das Rad nicht anhalten würde und so seufzte sie leise bevor sie sich überraschend träge von seiner Seite löste. Die kühle Nachtluft war zwar nicht sonderlich barsch, dennoch löste sie ein Frösteln aus als sie über die nun freiliegenden Körperstellen streifte.
      "Das sollten wir", bestätigte sie ihm als akustische Bestätigung, dass sie Beide besser keine Regeln brechen sollten.
      Wie in einer ihr schon immer gewohnten Geste harkte sie sich in seinen angebotenen Arm ein und gemeinsam kehrten sie den Innengärten den Rücken, um in den gähnenden Schlund der Gemäuer zu verschwinden. Sie gingen langsam, verschwendeten so viel Zeit wie es ihnen nur irgendwie möglich war bis sie schließlich vor den Türen ihrer Gemächer ankamen und sie ihren Arm aus dem seinen löste. Augenblicklich fasste er ihr an den Händen nach und drückte sie.
      "Wir sollten aufhören uns wiederholt bei dem Anderen zu bedanken. Das nimmt sonst kein Ende. Aber es freut mich, dass es dir gefallen hat", schmuzelte sie und erwiderte so sein eigenes Lächeln, hinter dem viel mehr steckte.
      So viel, dass es ihr nicht vollends entging. Sie konnte nicht vollständig greifen, wie sehr sie ihn in ihren Bann gezogen hatte, aber Auswüchse davon sah sie mehr als deutlich in seinen Augen. Wie die glitzernden dunklen Augen auf ihr lagen und die Augenringe unter ihnen regelrecht überstrahlten. Wie sich seine Finger mit einem Nachdruck, der überhaupt nicht schmerzhaft war, um ihre Hände geschlossen hatten und sich weigerten, sie gehen zu lassen. Und zu guter Letzt das Lächeln, das so viel mehr Wärme trug als jedes andere seiner Lächeln zuvor.
      Die Phönixin ging sogar soweit, dass sie es Zoras gestattete, ihr Gesicht zu berühren. Mit unverholenem Blicke sah sie ihn fest an, bereit, ihm seine Grenze des heutigen Abends aufzuzeigen. Sie atmete bereits ein als sie sah, wie er sich ihr näherte. Doch der Winkel passte nicht. Wie aus einem Luftballon entwich die Luft in ihrem Brustkorb als Zoras seine Lippen nicht auf ihre, sondern nur ihre Stirn legte. Tatsächlich etwas perplex wünschte sie ihm auch eine gute Nacht und wartete ab bis er hinter der Tür seines Gemaches verschwunden war.
      Das war mehr Bestätigung als sie es sich hätte vorstellen können. Es kam nicht einmal die Nachfrage, ob sie ihn in sein Zimmer oder andersherum begleiten wollte. Stattdessen hatte er sich zurückgezogen, die Grenze gewahrt und dafür gesorgt, dass sich Kassandra fragte, ob sich dieser Mann möglicherweise nicht nur einfach in sie verguckt haben könnte.

      In dieser Nacht schlief Kassandra keinen schlaflosen Traum. Sie lag oberhalb ihrer Decke auf der Seite auf ihrem Bett und blickte zum Fenster hinüber, durch das das schwaches Licht der Sterne den sonst finsteren Raum etwas erhellten. Sie verlor sich in Erinnerungen, die sie länger nicht mehr in ihr Bewusstsein geholt hatte und ließ die vergangenen Wochen Revue passieren. Wenn sich die Situation so weiterentwickelte, dann würde sie Gefahr laufen, ihr Versprechen zu brechen. Sie würde dafür sorgen, dass sein Plan fehl schlüge und er sein Leben nicht lassen müsste. Der altbekannte Egoismus kam zurück, der sie glauben ließ, dass sie dieses Mal etwas tun konnte, um den einen Menschen zu bewahren, der ihr mehr als hunderttausend Andere bedeutete. Auch wenn sie dafür seine Pläne zerschlagen müsste - sie war sich sicher, dass es andere Wege geben musste.
      Folglich verbrachte sie die Nacht damit, nach eben jenen Wegen zu suchen, die im Bestfall sogar ihnen beiden helfen konnten.
      Als es etliche Stunden später an ihre Tür klopfte, der Morgen war schon längst angebrochen, war sie schnell auf den Beinen. Im Gegensatz zum Herzog sah man ihr diese eine Nacht nicht im Gesicht an und so öffnete sie die Tür, um einer Bediensteten mit einem Tablett entgegenzutreten. Das überaus groß ausfiel und mit allem Möglichen gespickt war, das ihr so gefallen hat.
      Eine erhobene Augenbraue ließ sich Kassandra trotzdem nicht nehmen. "Seit wann bekleide ich den Titel der Hoheit? Ich bin noch immer euer Champion und nichts weiter."
      Das klang herablassender, als sie es gemeint hatte. Aber so rot wie die Dame anlief schien etwas im Argen zu sein, das sich ihr nicht gänzlich erklärte. Sichtlich verwundert ließ die Phönixin sie das Tablett abstellen und sah ihr dann schon beim Rückzug zu. Sachte schüttelte sie den Kopf und lächelte ein wenig amüsiert.
      "Keine Sorge, ich werde den Herzog nicht weiter von seinen Tätigkeiten abhalten. Das habe ich gestern schon zur Genüge." Sie dachte an das Personal aus den Innengärten und erlebte einen Aha!-Moment. "Ein wenig Ruhe verschafft bevor er sich in Kriegsplanungen verliert war damit gemeint. Auf seinen Wunsch hin. Das nächste Mal kann man mir auch einfach Bescheid geben, dann komme ich in den Saal herunter. Man muss mir nicht extra etwas servieren.... In meinem Zimmer..."
      Sie warf einen bedeutungsschwangeren Blick zum Tablett zurück und nickt dann der Dame zu, die daraufhin verschwand. Seufzend machte sich Kassandra trotzdem über das Tablett her. Verfallen lassen sollte man so eine Gabe trotz Allem nicht.

      Tatsächlich verbachte Kassandra den gesamten Tag in Abgeschiedenheit. Sie hatte sich ungesehen auf das Dach des Haupthauses geschwungen und thronte wie eine Dachzier auf den Querbalken unter den Schindeln, dem Werdegang der Sonne folgend. Für das, was ihnen bevorstand, würde sie Ruhe und Sonnenlicht ansammeln müssen, um nicht mittendrin den Kopf zu verlieren. Denn sie fühlte, wie sich ihre Magie prasselnd in ihren Fäusten sammeln ließ und sie so viele Ressourcen im Hintergrund liegen hatte, wie schon lange nicht mehr. Zwar würde es für einen namenhaften Gott nicht ausreichen, aber mehrere Tausend Mann auf einen Schlag stellten somit keinerlei Probleme mehr da.
      Während Zoras also etliche Etagen unter ihr seine Planung vervollständigte, residierte die Phönixin hoch oben auf den Dächern und sammelte sich für die anstehenden Wochen.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Am nächsten Tag war wieder alles beim Alten. Fast.
      Zoras setzte sich frühmorgendlich mit Ryoran und den Grenzberichten auseinander, aber es erforderte seine gesamte Geistesstärke, um sich nicht vom gestrigen Tag ablenken zu lassen - um nicht an den Kuss zu denken, den Kassandra ihm gegeben hatte. Es war so lächerlich, ein simpler Handkuss! Als ob er sich von so etwas banalem aus der Fassung bringen ließ.
      Aber sie wusste, was damit gemeint gewesen war, sie war nicht zu der Geste gezwungen gewesen, sie hatte sie aus freien Stücken gewählt. Sie, eine Phönixin. Kassandra. Eine Gänsehaut schlich ihm über die Arme, wenn er nur daran dachte.
      Vielleicht wurde er langsam zu alt für dieses Amt. Vielleicht war es Geistesschwäche, die ihm erst eine verrückte Idee in den Kopf setzte und dann dafür sorgte, dass er sich so leicht aus der Fassung bringen ließ. Er fühlte sich geistig nicht schwach, aber das würde ein wahrlich Verrückter auch sagen. Schließlich plante er seinen eigenen Tod, war das nicht in gewisser Weise hirnrissig? Aber wenn das schon verkehrt war, waren es dann seine Gefühle auch?
      Es brachte nichts, allzu viel darüber nachzudenken, denn zum Schluss gelang er doch sowieso auf den selben Gedanken zurück: Er wollte Kassandra sehen, egal zu welcher Uhrzeit. Sie hatten noch nicht annähernd genügend Zeit miteinander verbracht, wie sollte das die nächsten zwei Jahre werden? Aber wenn er wenigstens noch so lange aushalten wollte, musste er seine Arbeit tun und das tat er besser ohne eine hübsche Phönixin mit zwei glänzenden, hellen Augen, einer samtig weichen Haut und verführerischen Lippen. Sogar auf ihre Stimme musste er verzichten.

      Letzten Endes versuchte er zwar nicht, ihr aus dem Weg zu gehen, aber sie begegneten sich sowieso nicht oft. Kassandra kam nicht wieder in sein Zimmer herein und wann auch immer er durch das Haus schlenderte - ja, er ging extra langsam, um sie vielleicht doch zu erwischen, er würde es ja zugeben - war sie immer irgendwo anders. Zwei Mal ging er in den nächsten Tagen zu den Pferden hinaus, um den Kopf frei zu bekommen, und hielt dabei unauffällig Ausschau nach Solair, aber der Hengst war immer auf der Weide. Wo auch immer Kassandra sich versteckte, es war ein gänzlich unentdeckter Ort.
      Aber letzten Endes war es wohl besser. Zoras ging die Planung für die nächsten zwei Jahre durch, den Aufstand, der in einer Schlacht enden würde so wie es die Kriegsregeln forderten, verbunden mit einer vagen Planung für danach, die er lediglich aus dem Sinn ansetzte, keinen Verdacht zu erregen. Er präsentierte Ryoran zu diesem Zweck sogar einen losen Gesetzesentwurf, den er in den schlaflosen Stunden seiner Nächte aufsetzte und als frisch ernannter König planen würde. Manchmal dachte er darüber nach, Kassandra in ihrem Zimmer zu besuchen, damit sie ihm wieder vorsang, aber dann erinnerte er sich unweigerlich an den Kuss und bezweifelte, dass er nicht etwas dummes anstellen könnte. Der Stirnkuss war schon grenzwertig gewesen, dessen war er sich bewusst, und auch wenn er ihn nicht bereute wusste er, dass der Faden zwischen ihnen damit dünn gespannt war. Nein, lieber wartete er darauf, bis sie wieder ordentlich Zeit miteinander verbrachten und er sehen konnte, ob er nicht zu weit gegangen war. Und da sie in wenigen Tagen schon abreisen würden, bräuchte er nur ein wenig weiter Geduld.

      Der besagte Tag der Abreise kam in Windeseile herbei und bevor Zoras sich überhaupt darüber bewusst wurde, war Elive schon in sein Gemach eingedrungen und packte seine Sachen, während er sich noch mit Ryoran auseinandersetzte. Die Aufbruchsstimmung verbreitete sich binnen Minuten durch das ganze Haus und als er Elive herunterkommen sah, mit gerunzelter Stirn und zusammengepressten Lippen, die davon zeugten, dass die Frau versuchte Tränen zurückzuhalten, erwischte es ihn erst wie kaltes Wasser. Das war es dann also, alles andere lag vorerst in Ryorans Hand.
      Er ging nach draußen um sein Pferd zu satteln, als er vom Tor zwei Transportwägen heranfahren sah, jeweils von zwei Pferden gezogen und mit reichlich Personal darum herum. Fast hätte er es vergessen, aber anscheinend war es noch pünktlich gewesen.
      "Ah! Na endlich. Kassandra? Kassandra!"
      Die Phönixin kam herbei und erntete sich ein verstohlenes Lächeln von Zoras, während er auf die Wägen zeigte.
      "Nehmt euch doch am besten den kleinen Salon dafür. Nimm ruhig, wie viel du möchtest, wir werden Platz genug haben."
      Eine Erklärung kam nicht, stattdessen stieg vom vordersten Wagen der Schneider herab, der schon vor ein paar Tagen dagewesen war und gab Anweisungen dazu, den Inhalt der Wägen zu leeren.

      "Seine Hoheit hat mich darüber aufgeklärt, dass Türkis Eure Lieblingsfarbe ist, Champion. Wenn Ihr gestattet, ich war so frei, ein Eurem Teint entsprechendes Türkis zu wählen. Es passt ganz hervorragend zum Landeswappen, ich denke, es wird Euch gefallen."
      Die Wägen beinhalteten eine überschwängliche Auswahl an Kleidungsstücken: Von Trachten zu Arbeitskleidung, Ballkleidern, einfachen Hemden und Hosen und sogar Uniformen war alles beinhaltet. Der Schneider hatte seine Assistenz mitgebracht, die die Kleidung nun im Salon ausbreiteten, als müssten sie eine Leichenschau veranstalten.
      "In der kurzen Zeit konnte ich nichts handfertigen, aber ich habe Eure Maße genommen und ein paar vorhandene Exemplare modifiziert. Wählt ruhig aus, was auch immer Ihr für die Reise benötigt, ich werde das Gegenstück aufsetzen und Euch bei Eurer Rückkehr präsentieren. Ich entschuldige mich vielmals für die Umstände, aber Seine Hoheit betonte, dass es höchst eilig wäre, da Ihr bald wieder abreist."
      Er verneigte sich vor Kassandra und bot dann an, sie bei der Auswahl ihrer Kleider zu unterstützen.

      Draußen bereitete Zoras die Pferde vor und außerdem eine Kutsche mit dem nötigen Gepäck, die von einem der Bediensteten gefahren werden würde. Zoras selbst brachte bis auf seine Kleidung und Proviant auch noch drei verschiedene Uniformen mit, die er fein säuberlich in einer Truhe verstaut auf dem Wagen platzierte. Schließlich wollte er die Herzöge nicht in Reitklamotten aufsuchen, auch wenn ihm das persönlich nicht unrecht gewesen wäre.
      Die ganze Familie stand draußen und sah mit betretenem Schweigen zu, wie Zoras letzte Sicherheitsprüfungen an den Sattelgurten vollzog. Ryoran sah recht neutral drein, vermutlich war er in Gedanken schon dabei seine Pflicht auszuführen, aber Elive schien gänzlich aus dem Häuschen und hatte eine Hand auf Teals Schulter gelegt, als wolle sie verhindern, dass der Junge plötzlich weglief.
      Als Zoras ihrem Blick begegnete, schnappte sie theatralisch nach Luft.
      "Himmel, Elive, ich ziehe doch nicht in den Krieg aus."
      "Und was ist das dann?"
      Sie wirkte so gänzlich aufgelöst, dass Zoras nur hilfesuchend zu Ryoran sah. Was ist denn mit ihr los?
      Sein Bruder zuckte nur knapp mit den Schultern und rollte mit den Augen. Das geht schon eine ganze Weile so, was weiß ich.
      Zoras hob die Augenbrauen. Angst vor dem Krieg?
      Ryoran kniff die Augen leicht zusammen. Doch nicht Elive.
      Nein, wahrscheinlich nicht Elive. Er wandte sich wieder den Pferden zu, während sie eigentlich nur noch auf Kassandra warteten.
    • Wie angekündigt schien Kassandra regelrecht vom Anwesen verschwunden zu sein. Ein Niemand kam auf die Idee, ausgerechnet auf einem der Dächer nach ihr Ausschau zu halten. Von hier oben aus konnte sie selbst mit geschlossenen Augen zu jeder Zeit genau bestimmen, wo sich die wichtigen Personen des Luor Haushaltes gerade aufhielten. So wusste sie auch zu absolut jeder Zeit wo sich Zoras aufhielt oder wenn er wie so häufig sehr langsam seine Runden in den Gängen des Hauses zog. Wenn sie es nicht besser wüsste würde sie sagen, er wäre auf der Suche nach etwas oder jemanden. Und ein jedes Mal, wenn ihr dieser Gedanke kam, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen weil sie wusste, wen er zu finden hoffte.

      Am Tag des Aufbruchs sah Kassandra Kutschwagen schon aus der Ferne einziehen. Sie waren weder bewaffnet noch wurden sie begleitet und es dauerte eine geraume Weile bis sie nah genug waren, damit sie in etwa erahnen konnte, welchen Besuch Zoras hier noch erwartete. Unter ihr - sie saß schon wieder auf dem Giebel - war eine beinahe hektische Stimmung eingekehrt. Überall wuselten die Bediensteten umher und Elive höchstpersönlich packte die Sachen des Herzoges. Alles waren tunlichst mit seinem Aufbruch beschäftigt, doch der Herr des Hauses selbst kümmerte sich lieber um seine treuen Reittiere bis er selbst die Wagen entdeckte.
      Von oben herab beobachtete Kassandra Zoras wie er zu den Toren ging und bevor er auch nur ihren Namen ausgesprochen hatte war sie bereits aufgestanden und war zur Kante des Daches gegangen. In einer flüssigen Bewegung ließ sie sich vom Dach fallen und zu ihren Füßen bremste eine Druckwelle ihren Fall. Leichtfüßig kam sie die letzten Meter zu Zoras gelaufen, das erste Mal seit ihrem provisorischen Date, dass sie wirklich Worte miteinander austauschten. Ihr Blick ging fragend zu den Wagen, von dem gerade der Schneider abstieg, den sie bereits kennenlernen durfte. Daher wehte also der Wind. Keine Rüstung, wie sie ursprünglich angenommen hatte.
      "Du findest allen Ernstes noch Zeit für sowas?", fragte sie sicherheitshalber nach, gab jedoch keine Widerworte und nahm kopfschüttelnd den Schneider samt Besatzung mit in den besagten kleinen Saal.
      Im besagten Saal war Kassandra sprachlos. Es begannen sich die Kleider zu türmen und es schien gar kein Ende zu nehmen. Es dauerte nicht lang, da war der gesamte Boden ausgelegt mit den verschiedensten Stücken. Und alle trugen die Akzente von dem Türkis, das sie nur in einer beiläufigen Antwort mal erwähnt hatte. Sie presste die Lippen aufeinander bei diesem Anblick, nickt dann jedoch und begann sich die Stücke auszusuchen, die sie am ehesten auf der Reise verwenden würde.
      Im Endeffekt wählte sie sogar mehr aus als sie es eigentlich gewollt hatte. Doch sie wollte nicht Zoras Aufwand schmälern und so hatten verschiedene Stücke den Weg in ihre eigene Kiste gefunden. Allein der Gedanke daran, dass sie eine eigene Kiste besaß mit ihren Besitztümern ließ sie ungläubig den Kopf schütteln.

      Draußen auf dem Vorplatz hatte sich der gesamte Haushalt versammelt, um ihren Herzog eine gute Reise zu wünschen. Hinter Kassandra, die aktuell noch die klassichen Gewänder trug die Elive ihr einst ausgesucht hatte, schleppte man die Truhe an, um sie hinter Zoras' Kiste fest zu zurren.
      Indes fiel der Blick der Phönixin prompt auf die Luors. Bei Ryoran sah man äußerlich rein gar nichts. Er starrte seinen Bruder einfach an als sei es das normalste der Welt. Elive hingegen, die von dem Plan dank Kassandra wusste, war völlig außer sich. Sie hatte ihre Hand förmlich in die Schulter ihres Sohnes gegraben, der mindestens so blass war wie seine Mutter rot. Bei ihm sah es eher so aus, als würde er sich mit Händen und Füßen wehren wollen, dass sein Onkel sie verließ. Er vertraute af sein Bauchgefühl, das gar nicht so schlecht war.
      Mehr als nur selbstsicher trat Kassandra langsam in Hörweite und meldete sich direkt zu Wort. Der Hauptakteur, dem sie ihre Worte richtete, war erstaulicherweise ausgerechnet Elive.
      "Im Gegensatz zu seinen letzten Reisen wird er dieses Mal von einem mythischen Wesen begleitet. Das sollte euch alle eigentlich ruhig stimmen oder etwa nicht?"
      An Zoras gewandt schaute sie kurz nachdrücklich auf die wieder abreisende Schneidergesellschaft. Rein nach dem Motto 'Wirklich? Das alles wäre nicht nötig gewesen'.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Alle der Anwesenden wandten sich Kassandra kurzzeitig zu, aber nur Elive kniff dabei die Augen zusammen, als wolle sie die Phönixin gleich anfauchen. Als sie das Wort erhob, war es zwar an alle gerichtet, aber gleichzeitig auch nur an Kassandra.
      "Ich bin immer um das Wohl meines Herzogs besorgt."
      In ihrer Stimme schwang etwas mit, das sich anhörte, als wolle sie sich rechtfertigen.
      Als Kassandra dann zu Zoras blickte und mit den Augen in Richtung des Schneiders gestikulierte, konnte er sich ein eigenes Grinsen nicht verkneifen und zuckte knapp mit den Schultern. War doch eine hübsche Idee.
      Als es schließlich keine weiteren Ausreden gab, um den Abschied weiter herauszuzögern, kam Zoras seiner Pflicht endlich nach. Er umarmte Ryoran knapp, während die beiden Brüder sich an die Schulter klopften und dann den Unterarm des jeweils anderen fassten. Ryoran war ernst und bestätigte mit knappen Aussagen, dass er sich um alles kümmern würde, was sie besprochen hatten. Zoras klopfte ihm noch einmal auf die Schulter und wandte sich dann an Teal neben ihm.
      "Pass mir gut auf deinen Vater auf, okay? Damit er keine Dummheiten macht."
      Er grinste und zwinkerte ihm zu, dann raufte er ihm durch die Haare.
      "Und wenn ich zurückkomme, möchte ich einen ordentlichen Rückhandschlag bei dir sehen. Wir haben jetzt gar nicht trainiert, aber das werden wir dann nachholen - denk nicht, dass du dich davor drücken kannst."
      Auch ihm klopfte er auf die Schulter, leichter als bei Ryoran allerdings, bevor er sich an Elive wandte. Er küsste flüchtig ihren Handrücken und ließ sie gleich darauf schon wieder los. Auch sie beteuerte ihm ihre Unterstützung mit feuchten Augen und betonte, an die Götter zu beten für seine heile Rückkehr. Ein Blick huschte dabei zu Kassandra, den Zoras aber nicht bemerkte. Dann trennten auch sie sich und der Herzog saß auf seinem Fuchs auf.
      Die Abreise wurde begleitet von winkenden Bediensteten und salutierenden Soldaten, während ein Gespann, das alles andere als nach einem Herzog aussah, den Hof verließ. Zoras winkte einmal zurück, fröhlicher als er sich eigentlich fühlte, und schnitt dann ein zügiges Tempo an.

      Drei Wochen brauchten sie bis zur Grenze zum Herzogtum Riev, was teilweise auch dadurch verschuldet war, dass Zoras häufiger einen Umweg anschnitt, um Städte und Ortschaften zu durchqueren, in denen er sich zeigen konnte. Beinahe durchgängig nächtigten sie bei den jeweiligen Fürsten, bei Bürgermeistern oder Offizieren - je nachdem, wie groß der Ort gerade war - und klärten über die aktuelle Lage auf. Zoras verfiel in eine repetitive Erläuterung der Situation und beantwortete Fragen, die sich zumeist ebenfalls wiederholten.
      Kassandra war dabei nicht selten das Hauptthema des Gesprächs und obwohl Zoras es zu vermeiden versuchte sie vorzuführen, wurde sie doch stets unmittelbar in den Mittelpunkt geschoben. Seine Fürsten zwang er noch dazu, die Phönixin eher wie eine Adelige zu behandeln und nicht wie einen Fremdkörper, aber letzten Endes blieb es doch größtenteils bei ängstlichen Blicken, nervösem Getue und misstrauischen Fragen. Kaum einer brachte wirklich den Mut auf, Kassandra direkt anzusprechen, sondern richtete Fragen und Bemerkungen grundsätzlich an Zoras. Es nervte ihn. Als sei sie ein Monster, das man nur von der Leine lassen musste, damit sie Verderben über das Land brachte. Ihm war klar, dass die meisten nichts für ihre Skepsis konnten, aber es war ihm doch zuwider.

      Dafür genoss er die Zeit, die sie gemeinsam hatten, umso mehr. Den meisten Tag lang ritten sie, während der Wagen ein Stück weiter hinten blieb, und Zoras machte sich alle Mühe, eine ähnlich entspannte Atmosphäre zu schaffen, wie sie sie an ihrem freien Tag gehabt hatten. Ihm waren wieder neue Fragen eingefallen, mit denen er Kassandra traktieren konnte und mit der er sie manchmal sogar zum Lachen brachte, wenn die Frage derart absurd war, dass die Antwort keine wirkliche Rolle spielte. Es überschattete zu großen Teilen seine eigene, zunehmende Anspannung, die sich mit jedem Tag noch ein wenig steigerte. Und wenn sie sich doch nicht so entspannen konnten, wie sie eigentlich wollten, unterhielt er Kassandra dennoch mit Erzählungen über seine Ländereien, über das Herzogtum, das sie aufsuchen würden und was er mit Ryoran alles besprochen hatte. An vielen Stellen holte er ihren Rat ein und an genauso vielen Stellen erzählte sie aus ihrem eigenen Leben, wenn der Zusammenhang gerade passte. Man hätte bei ihren Gesprächen meinen können, dass sie alles andere als auf dem Weg waren, den Krieg anzufachen.

      Es war auch noch immer nicht spürbar, bis sie schließlich die Grenze zum besagten Herzogtum erreichten und kontrolliert wurden. Zoras gab sich alle Mühe, unscheinbar zu wirken, und obwohl er nicht glaube, dass es funktionierte, obwohl er es mehr aus Laune heraus tat als alles andere, waren die Soldaten zu weit von seinem Heimatland entfernt, um ihn zu erkennen. Ganz besonders rechneten sie wohl nicht damit, dass ein Herzog gänzlich ohne Gefolgschaft und Wappen reisen würde. Er wurde nach einigen misstrauischen Fragen anstandslos durchgelassen.
      Eigentlich war er darüber erleichtert, aber das bedeutete auch, dass ihnen jetzt nichts mehr im Weg stand: Sie würden bis vor die Tore reiten und sich dort erst als Luor zu erkennen geben. Nichts stand mehr zwischen ihm und seiner bevorstehenden Aufgabe.
      "Herzogin Veren beschäftigt sich hauptsächlich mit Eisenverarbeitung", erläuterte er lose, während sie über steinige Hügel ritten. Die Landschaft glich hier beängstigend weit den Steinebenen der Hauptstadt.
      "Sie ist eigentlich eine fast direkte Konkurrentin zu Riev, der einen Großteil der Eisenminen besitzt. Er stellt auch Waffen und Rüstungen her und bringt sie sicherlich um den ein oder anderen Auftrag, aber es ist schließlich auch ein großes Land, das sie beliefern müssen. Das ist aber ein Grund, weshalb ich nicht glaube, viel Erfolg bei ihr zu haben. Wenn Riev auf der einen Seite ist, wird sie sich der anderen anschließen wollen. Aber noch ist schließlich nichts beschlossen."
      Er musste mehrere Male nach dem Weg fragen, weil die Karte ihm selbst nicht genug Auskunft gab. Nach weiteren zwei Wochen erreichten sie die Hauptstadt des Herzogtums Veren und den Sitz der amtierenden Herzogin Estja Veren.

      Eine Stunde von der Stadt entfernt schlugen sie ihr Lager auf, wo Zoras seine Reitkleidung gegen seine Uniform eintauschte, die er bereits im Palast getragen hatte und die nervenaufreibende Zeit in Anspruch nahm, um die vielen Knöpfe ordentlich zu verschließen. Dann sattelte er seinen Fuchs ab, striegelte sein Fell, bürstete seine Mähne und frisierte sich schließlich selbst. Fertig herausgeputzt, mit glänzenden Knöpfen und einer sichtbaren Ordnung in seiner Gesichtsbehaarung, war er wieder abreisebereit. Stattdessen suchte er aber Kassandra auf, die sich ebenfalls in etwas vorzeigbareres gekleidet hatte.
      "Alles okay?"
      Er sah einmal an ihr hinab und lächelte dann seicht.
      "Die Farbe steht dir. Ich sollte dem Schneider einen Bonus geben."
      Die Stimmung hielt aber nicht lange, ehe er wieder ernst wurde.
      "Wenn wir dort hineingehen und wenn Veren beschließt, dass sie sich uns nicht nur nicht anschließen, sondern dem König auch noch meinen Kopf präsentieren möchte, will ich, dass du nichts tust, bis ich dir ein Zeichen dazu gebe. Okay? Ich will ledigliche Gewalt so weit hinauszögern, wie es nur möglich ist."
      Er musste es auch für sich selbst sagen, denn es wäre so einfach, zu einfach Kassandra einfach vorauszuschicken und sich seinen Weg mit Feuer zu bereiten. Aber noch musste er psychologischen Krieg führen und das tat sich schwer mit offensiven Mitteln.
      "Ich glaube, so schlimm wird es sowieso nicht werden", schloss er etwas sanfter und rang sich dann nochmal zu einem Lächeln durch.
      "... Ich wünschte, wir hätten einen großen Spiegel mitgenommen. Das steht dir wirklich ausgezeichnet."

      Sie waren noch nicht einmal an den Toren angekommen, als bereits Bewegung in die Wachen kam und größeres Gewusel zustande kam. Zoras hätte es vielleicht noch als einen Zufall abgetan, wenn viele der Soldaten nicht in seine Richtung gezeigt hätten, wenn nicht das meiste Gewusel deshalb zustande kam, weil sie sich formierten. Er hätte sich erhofft, dass sie versuchten einen Herzog gebührend zu empfangen, aber er fürchtete, dass sie zunächst nur sein Wappen und seine Farben erkannt hatten und gar nicht wussten, dass er Herzog Luor persönlich war.
      Seine Vermutung bestätigte sich, als das Trio die Tore erreichten und Speere vor ihnen gekreuzt wurden, um ihnen den Zugang zu verwehren.
      "Halt! Wer seid Ihr und was habt Ihr hier zu suchen?"
      Jetzt wichen auch andere Reisende vor ihnen zurück und blickten mit neugierigem Argwohn zu den beiden Reitern und dem Wagen im Hintergrund. Vermutlich versuchten sie dieselbe Frage gerade selbst zu beantworten.
      Als Zoras antwortete, war seine Stimme laut genug, um auf dem ganzen Vorplatz gehört zu werden.
      "Ich bin Herzog Luor mit einem Gesuch an die amtierende Herzogin. Meine Begleiterin ist Kassandra."
      Gemurmel erhob sich, nicht zuletzt auch Geklapper unter den Soldaten. Der sprechende Wachmann unterzog Zoras einer kritischen Prüfung und schien sich dazu zu entschließen, dass der Mann die Wahrheit sprach, denn seinem Gesicht entzog sich ein wenig das Blut. Als er wieder sprach, war seine Stimme noch immer herrisch, aber eine Spur unsicherer.
      "Die Herzogin empfängt momentan keine Gäste."
      Ach. Selbst in Kriegszeiten nicht? Zoras konnte sich die Frage nur schwerlich verkneifen, stattdessen lenkte er aber seinen Hengst ein wenig zur Seite, bis er seitlich zu dem Wachmann stand und auf ihn herunterstarrte. Die Magie einer Konfrontation mit einem Reiter; Zoras hatte schon längst gemeistert, wie sie richtig umzusetzen war.
      "Ich bin auch kein Gast, sondern eher ein Bote. Wenn die Herzogin mich nicht sehen will, soll sie es mir persönlich sagen."
      Der Mann presste die Lippen aufeinander. Was schien wie eine Ewigkeit, die er brauchte, um auf eine Entscheidung zu kommen, endete mit einem knappen Nicken.
      "Folgt mir, Eure Hoheit."
      Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ das kleine Gespann in eine Traube aus Soldaten eintreten, die sie umzingelten wie ein Schlachter, der sein Opfer zur Schlachtbank führte.
    • Der Abschied von der restlichen Luorfamilie war der letzte wirkliche Punkt in einer langen Zeitspanne, an den sich Kassandra noch vollständig erinnern konnte. Mehrfach bekam sie Eindrücke von Elive, die immerhin wusste, wie sich dieser Plan am Ende schlagen würde. Weder ihr Mann Ryoran wusste davon noch der junge Teal, der unglücklich dem Zug des Herzoges nachgesehen hatte. Am liebsten hätte Kassandra ihnen allen versichert, dass Zoras nichts widerfahren würde. Dass er sich nicht selbst in den Tod stürzen müsste und wenn er es wollte, dann wäre sie zur Stelle um ihn davor zu bewahren. Doch die Phönixin bewies Stillschweigen und schloss sich wie ein Zahnrad in einem Uhrwerk der Kolonne an.

      Die folgenden Wochen waren für Kassandra nur ein diffuser Wust an wechselnden Ortschaften und fremden Personen, die sie nicht weniger interessieren konnten. Sie verstand die Notwendigkeit, mit der Zoras die Stopps bei seinen Fürsten und Offizieren einlegen musste und genauso sehr verstand sie auch die Blicke, die man gerade ihr zuwarf. Dass es aber nicht einer von ihnen zustande brachte, sie direkt anzusprechen war schon ein hartes Armutszeugnis. Doch das hier war genau das, was die Phönixin verteilt über den gesamten Globus immer wiederkehrend erlebt hatte. Angst, Ehrfurcht und Misstrauen prägten fremde Augen, die auf sie gerichtet waren. Und so wurde Kassandra ein jedes Mal zu einem ehrhaften, stillen Schatten an Zoras Seite, immerwährend wie ein Damoklesschwert über den Köpfen Anderer ausgerichtet.

      Der harte Kontrast dazu bildete die Zeit in der sie von einer Ortschaft in die nächste ritten. Zoras hatte sich jedes Mal mit Kassandra abgesetzt, um sie mit aberwitzigen Fragen zu löchern. So losgelöst es zwischen ihnen wirkte, konnte Zoras doch nicht wissen, dass sie ständig ein feines Magienetz um sie gesponnen hatte. Unsichtbar für die meisten Lebendigen und erstes Signal, falls sich etwas Feindseliges nähern sollte. Nicht einmal schlug dieses Sicherheitsnetz aus, aber ihr Lachen auf die Fragen des Herzoges hin war nie wieder so unbefangen wie am letzten gemeinsamen Tag vor ihrer Abreise.

      Schließlich kamen sie in unmittelbarer Nähe zu der verenischen Hauptstadt an. Ihr Trupp schlug weit genug im Voraus ein knappes Lager auf, um die Tarnung bis hierher in den Wind zu schießen. Binnen kürzester Zeit tauchten die Farben und Wappen des Hauses Luors überall auf und symbolisierten überdeutlich, wessen Gefolgschaft hier gerade auf dem Weg war.
      Auch Kassandra wurde angehalten, das unauffällige Gewand gegen etwas anderes zu tauschen. Sie hatte sich geweigert, ein ordnungsmäßes Kleid anzuziehen. Stattdessen hatte sie eine enganliegende, dunkle Stoffhose gewählt. Ihren Oberkörper hatte sie in ein hochgeschlossenes Babydolloberteil gehüllt mit weit ausladenden Ärmeln. Der weiße Stoff war mit Batiktechnik behandelt worden und lief nach unten hin ins türkise. Die schwarzen Haare hatte sie an den Seiten zu wellenartigen Zöpfen geflochten, die an ihrem Hinterkopf zusammenliefen und dort in einen breit gefächerten offenen Zopf mündeten. Sie steckte gerade die letzte Nadel fest als Zoras in ihr Zelt kam.
      "Gib ihm bloß keinen Bonus. Der wird dir einen enormen Aufschlag für die Farbe abverlangt haben und er wittert den Auftrag nach mehr", erwiderte Kassandra schlicht und wandte sich Zoras zu, den sie wieder so sah wie zu Anbeginn ihrer Bekanntschaft.
      "Ich denke auch nicht, dass es schlimm wird. Generell wollte ich der Gewalt fern bleiben sofern wir nicht in offenem Terretorium verhandeln. Wir sind auf fremden Boden und - ich weiß, sehr erstaunlich - ich weiß mich angemessen zu verhalten."
      Die letzten Worte waren vielleicht etwas übertrieben aber auch sie wollte ihm zumindest etwas Last von den Schultern nehmen. Er sollte sich sicher wissen, dass sie in seinem Schatten stand und im Notfall greifbar wäre. Nur weil sie gern die Herausforderung suchte bdeutete das aber noch lange nicht, dass sie ihrem Herzog das Leben unnötig schwieriger gestalten musste.
      "Aber danke für die netten Worte."

      Wie erwartet stießen Zoras und Kassandra erst am Wachtor auf Gegenwehr. Aber wie sie es ihm versprochen hatte, schwieg Kassandra und ließ nicht einmal ihre Miene verraten, was sie gerade dachte. Dass sie am liebsten den Wachen hier ihre eigenen Speere durch den Schädel gejagt hätte und klargestellt hatte, mit wem sie es eigentlich zu tun hatten. Stattdessen saß sie ruhig und besonnen auf Solair, der an seiner Kandarre kaute und mit ihr zusah, wie Zoras seine Dominanz als Reiter ausspielte. Da entrückte ihr doch ein winziges Schmunzeln als man ihnen Zutritt gewährte. Wenn auch in vollgeschlossener Begleitung.
      "Ich bin erstaunt", richtete Kassandra das Wort an Zoras und war im Gegensatz zu ihm vollkommen entspannt, "sie scheinen dich selbst ohne Heer als Gefahr einzuschätzen. Zumindest laut dieser Traube an Menschen um uns nach zu urteilen."
      Beinahe hätte sie absichtlich einen zu nahe gekommenden Soldaten weggetreten, bekämpfte den Drang allerdings noch rechtzeitig.
      "Stell mich nicht extra vor. Halte einfach deine Absichten vor und lenke keinerlei Aufmerksamkeit auf mich. Sie weiß, wer ich bin und eine Vorstellung würde nur den Fokus falsch legen. Ich bleibe, wie du wünschtest, als Schatten in deiner Nähe. Keine hinterrücksen Attentate", versicherte die Phönixin ihrem Träger uns blickte auf zu dem prächtigen Gebäude, das der Sitz der Herzogin sein musste.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • "Das will ich auch hoffen", brummte Zoras, der Kassandra einen kurzen Blick zuwarf, bevor er sich wieder nach vorne ausrichtete. Selbst mit der Phönixin an seiner Seite, stand es ihm nicht im Sinn, die fremden Soldaten aus dem Blick zu lassen.
      Eine anschließende Bemerkung ließ er sich dennoch nicht entgehen.
      "Ich würde es ihnen verübeln, wenn sie es nicht täten. Ich bin kein Mann, den man unterschätzen sollte."
      Im Gegensatz zu ihm, der mit dieser Aussage eigentlich nur noch seine eigene Anspannung steigerte, wirkte Kassandra gänzlich unbefangen. Wieso auch nicht, die Soldaten dieser Stadt waren ihr kaum eine Gefahr und sonst gab es wohl auch nichts, wovor sie sich in Acht nehmen sollte. Aus ihrer Sicht suchten sie lediglich einen weiteren Menschen von vielen auf und wenn Zoras es nicht besser gewusst hätte, hätte er sogar vermuten können, dass ihre Sorglosigkeit von Langeweile stammte.

      Sie erreichten das mehrstöckige, prunkvolle Anwesen im hinteren Teil der Stadt, wo die Anwesenheit der Soldaten noch einmal verdreifacht war. Dem merkwürdigen Gespann wurden finstere Blicke zugeworfen, die nicht minder von den luorischen Farben und Wappen hervorgerufen wurden, die sie präsentierten. Es blieb allerdings bei diesen Blicken, denn sie erreichten den Eingang ohne Zwischenfälle.
      "Keine Waffen", stellte die Wache neben der Tür fest, nachdem sie ihre Pferde abgegeben hatten. Zoras übergab ihm wortlos sein Schwert, musste sich aber dennoch einer Überprüfung unterziehen. Auch Kassandra klopften sie ab und da wurde Zoras erst bewusst, dass die Männer entweder gar nicht wussten wer sie war, oder dass sie paranoid genug waren zu glauben, dass eine Phönixin mit einer irdischen Waffe eine erheblich größere Gefahr darstellte als eine ohne.
      Zoras entschied sich dazu, dass beide Gründe die Soldaten gänzlich unsympathisch machten.

      Sie wurden eingelassen und in einem Salon abgeladen, wo das Warten begann, das sich später noch mehren würde. Der selbsternannte Bote kam nach einer Stunde erst zurück und verkündete, dass Ihre Hoheit sich entschuldigte, aber keine Zeit für Gäste habe. Es nagte an Zoras' Geduldsfaden, mehr als die Vorbereitungen für diese Reise, mehr als die ganzen Wochen zuvor, in denen er seinen Aufstand und vorher seinen Putsch geplant hatte. Er übergab dem Mann das Schreiben, das er eigens für Estja aufgesetzt hatte, und nötigte ihn dazu, seine Herrin noch einmal aufzusuchen. Dann warteten sie wieder. Als er schließlich wieder zurückkam, übermittelte er, dass die Herzogin sie am Folgetag empfangen würde. Nun, das war wenigstens etwas, auch wenn es nicht genug war. Zoras ließ sich vertrösten und dann wurden ihnen Gästezimmer im Anwesen zugewiesen.

      Der Folgetag kam und verging, die Herzogin ließ sich entschuldigen. Sie verbrachten einen weiteren untätigen Tag im Anwesen. Am zweiten Tag dasselbe und da wusste Zoras, dass er dieses Spiel nicht mitspielen können würde.
      "Sie plant etwas", ereiferte er sich bei Kassandra, die nicht nur ihr Versprechen ihm gegenüber einhielt, sondern zudem keine Reaktion dazu zeigte, dass er bei ihr nun nach mentaler Unterstützung suchte.
      "So beschäftigt kann sie gar nicht sein, wofür hat sie ihre ganzen Offiziere und ihre Bediensteten? Sie hat einen Mann, sie ist verheiratet, er soll sich um das kümmern, was auch immer so viel Aufmerksamkeit bedarf. So viel hat nicht einmal der König zu tun."
      Er zog unruhige Runden durch das Gästezimmer, während er sie dafür verurteilte, ihn so lange hinzuhalten. Sein Plan war durchdacht, aber es konnte immer etwas schief gehen und solange er nicht wusste, was genau schief ging, konnte er es auch nicht beheben. Es machte ihn ruhelos.
      "Wenn sie sich nicht bald meldet, marschiere ich persönlich in ihr Zimmer. Mir egal, was sie davon halten wird."

      Die Nachricht kam am nächsten Tag: Herzogin Veren lud ein, in offener Runde über die Forderungen zu sprechen. Anwesend würden einige Würdenträger ihres Landes sein und wichtige Repräsentanten aus ihrem Führungsstab. In Kurzform hieß das, dass ein paar Fürsten und vermutlich ein paar Offiziere anwesend sein würden.
      "Sie möchte verhindern, dass wir ein Attentat auf sie durchführen", mutmaßte Zoras, als er sich auf den Weg mit Kassandra machte. Sie waren wieder umgeben von einem Rudel Soldaten.
      "Das kann ich sogar noch verstehen. Es macht die Warterei trotzdem nicht besser."
      Er zog die Stirn in Falten, während sie den Gang hinunter gingen. In diesem Moment wünschte er sich, so gänzlich sorglos sein zu können wie Kassandra.

      Das Treffen fand in einem mittelgroßen Saal statt, in dem die geladenen Gäste sich schon versammelt hatten. Als der Haushalt Luor eintrat, verstummten Gespräche und Köpfe drehten sich.
      Estja Veren war eine dürre Frau mitte 40, deren Stressfalten im Gesicht sie älter erscheinen ließen, als sie eigentlich war. Sie saß auf einem Stuhl und unterhielt sich mit einem älteren Mann, stand aber auf, als sie Zoras eintreten sah. Skeptische Blicke wurden gewechselt, dann kam sie auf ihn zu und tauschte Höflichkeitsbezeugungen aus. Es wurden keine Hände geküsst und der Abstand zwischen ihnen blieb stets auf einem vertretbaren Maß. Das war ein schlechtes Zeichen, wie Zoras fand.
      "Zoras. Kassandra."
      Die Herzogin wandte ihr vogelartiges Gesicht zu Kassandra und schien mit sich zu hadern, ob es wirklich eine gute Idee war, die Phönixin anzusprechen. Schließlich rang sie sich wohl dazu durch.
      "Rapider Trägerwechsel, wie ich gehört habe?"
      Zoras verkniff sich einen Kommentar. Nach einem Moment deutete Estja vage auf die langen Tische.
      "Bitte, setzt euch."

      Der Saal war gut gefüllt, ausgestattet mit Reihen an Tischen und bewacht von an Wänden stehenden Soldaten, die mit Speeren ausgerüstet waren und sich nicht regten. Als Zoras und Kassandra sich auf die ihnen zugewiesene Plätze setzten, war das nächste Soldatenpaar gerade mal einen Meter entfernt.
      "Was möchtet ihr trinken? Wein?"
      Die Spannung war Estjas Stimme beinahe herauszuhören.
      "Bier wäre mir lieber."
      "Sicher."
      Ihr Blick ging zu Kassandra, dann scheuchte sie ihre Bediensteten fort. Es dauerte eine Weile, bis auch der letzte Rest des Saales Platz genommen hatte und die Gespräche langsam wieder einsetzten, sodass die Herzöge sich unterhalten konnten, ohne vom ganzen Raum gehört zu werden. Sie bekamen ihre Getränke geliefert, kurz nachdem Estja nach dem Grund ihres Besuches fragte. Zoras erläuterte es ihr, so wie er es seinen ganzen Fürsten erklärt hatte, so wie er es mit Ryoran besprochen hatte, eine große Ausführung darüber, weshalb ein Umschwung nötig war, weshalb es ein Aufstand sein musste, weshalb er Estja dafür brauchte. Die Herzogin ließ es sich erklären, ohne das Gesicht dabei zu verziehen. Ihre Augen waren dabei ein wenig trüb, ein Zeichen von Alter; vielleicht war sie auch schon Anfang 50, wenn Zoras es sich recht überlegte.
      "Das sind anmaßende Behauptungen", schloss sie seinen Bericht und ließ ihren Blick abermals über Kassandra wandern. Aus ihrer Miene war herzlich wenig herauszulesen.
      "Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie gutheißen soll. Aber lasst uns erst essen, danach können wir sicher noch darüber verhandeln."
      Dieses Wort war es schließlich, was Zoras ein wenig beruhigte. Verhandeln hörte sich gut an. Das gab Hoffnung.
      Er hob den Krug und prostete der Herzogin kühl zu, welche die Geste erwiderte. Als er trank, hatte das Bier einen eigenartigen Nebengeschmack, den er nicht so recht deuten konnte. Er konnte nicht sagen, ob es ihm sonderlich gefiel und stellte seinen Krug daher nach einem Schluck wieder ab.
    • Ab dem Zeitpunkt, an dem sie am Eingang des prunkvollen Gebäudes ankamen, änderte Kassandra noch drastischer ihre Haltung. Wie angekündigt verwandelte sie sich in Zoras' Schatten ohne Mimikspiel während er sie bei den Wachen ankündigte und als erstes abstieg. Er gab sein Schwert ab und wurde abgetastet. Dann warf man auch ihr einen Blick zu und bedeutete ihr, näher zu treten. Ohne Widerworte ließ auch sie sich nach versteckten Waffen abklopfen und lachte sich gedanklich ins Fäustchen. Sollten diese Männern so intensiv forschen wie sie wollten, sie erkannten scheinbar nicht, dass kein Mensch vor ihnen stand.

      Dann begann ein Wartespiel, das mehr an Zoras Nerven nagte als an den ihren. Sie versuchte zumindest ein wenig einen Ruhepol zu ihm darzustellen, doch ohne weitere Hilfe schien sie nicht zu ihm durchzukommen. Folglich beobachtete sie ihn dabei, wie er im Salon noch sittsam wartete bis man sie den ersten Tag vertröstete und schließlich auch den zweiten.
      Am dritten Tage saß Kassandra wieder bei Zoras im Gästezimmer auf dem Bett. Sie war für ihre Verhältnisse mehr als nur ruhig und redete nur, wenn es sich wirklich anbot. Wie beispielsweise jetzt.
      "Ich schätze auch, dass sie etwas veranlasst. Vermutlich war es sogar ein Fehler, ihr so viel Zeit einzuräumen...", stimmte Kassandra Zoras zu, ihre Augen folgten dem ruhelosen Herzog, der langsam wirklich in Sorge zu verfallen schien.
      Doch bei diesem selbstgewählten Los würde sie kein Urteil abgeben.

      Erst am Tage darauf kam Bewegung in die Angelegenheit. Man hatte Champion und Herzog von einem Rudel Soldaten abholen lassen, die sie umringten wie T-Zellen Krankheitserreger. Kassandra ging so dicht hinter Zoras, dass sie ihm bei jedem Schritt beinahe in die Hacken trat. Aber sie mochte es nicht, wenn so viele Leiber um sie herum den Blick auf das Wichtige verdeckten.
      "Warum solltest du ein Attentat auf sie durchführen? Du suchst Verbündete und keine toten Herzöge", murmelte die Phönixin leise an sein Ohr und zählte noch einmal, wie viele Männer um sie herum liefen. "Sicher, du bringst einen Champion mit aber dein Ziel ist der König und nicht sie."
      Nach außen hin wirkte sie noch immer tiefenentspannt. Tatsächlich aber fuhren gerade sämtliche ihrer Alarmsignale auf Hochtouren und das Magienetz, das sie konstant um sie beide sponn, verdichtete sich. Sie wollte unter allen Umständen mitbekommen falls sich etwas tat und sie eingreifen müsste. Schließlich waren sie allein auf offensichtlich feindlichen Boden und nun kam es auf sie an, den Herzog Luor in Sicherheit zu wähnen.
      Im Saal angekommen beobachtete Kassandra zu allererst die Anwesenden und deren Reaktionen. Sie alle schienen mit der mittelalten Dame verbandelt zu sein, die sich als die Herzogin Veren herausstellte und als einzige auf sie beiden zukam. Es war ebenfalls das erste Mal, dass Kassandra keinerlei Bekundungen der freundlichen Aufmerksamkeit erlebte sondern eine nüchterne Distanz wahrnahm. Und nicht nur das. Sie ließ es sich zwar nicht im Gesicht anmerken, als sie der Herzogin nickte kaum wurde sie angesprochen, aber sie stellte beinahe augenblicklich fest, dass mehr Menschen im direkten Umkreis waren als sichtbar im Saal saßen. Veren hatte zusätzliche Einheiten, gut verborgen vor menschlichen Augen, hinter den Wänden versteckt. Ein zusätzliches Sicherheitsprotokoll?
      Auf der Herzogin Geheiß hin nahmen Zoras und Kassandra an der langen Tafel Platz. Die zahlreichen Soldaten an den Wänden, gespickt mit Speeren nicht unähnlich dem ihren, bereiteten ihr weniger Sorge. Es lag kein Hauch von Magie in der Luft, mit allem anderen konnte sie schnell genug umgehen. Nur dass sie gerade mal eine Armlänge von dem nächsten Soldatenpaar entfernt saßen missfiel ihr mehr als gedacht.
      "Ich nehme das Gleiche wie Herzog Luor", war ihre nüchterne Antwort und auch alles, was sie die nächsten Minuten zu sprechen gedachte.
      Ein weiteres Mal wurde Kassandra zu einer hübsch anzusehenden Statue neben Zoras, der sich mit Estja etwas ungestörter unterhalten konnte nachdem endlich auch die restlichen Anwesenden Platz genommen und ihre Unterhaltungen wieder aufgenommen hatten. Trotzdem hörte die Phönixin als stummer Beobachter die Spannung auf beiden Seiten in den Stimmen heraus. Die Herzöge taktierten sich ohne es vielleicht selbst zu merken. Immer wieder bekam sie einen Seitenblick von Estja ab, dem sie mit absoluter Selbstsicherheit begegnete. Die Frau war nicht nur angespannt, sie war auch leicht nervös wie es schien. Nervös angesichts Kassandras Anwesenheit? Weil sie einen Hochverräter in den eigenen Hallen hatte?
      Dann wurde die Atmosphäre urplötzlich etwas seichter als man sich entschloss, erst einmal anzustoßen. Kassandra indes verzog noch immer keine Miene. Interessanterweise wurden die Krüge nicht am Tisch gemeinsam aufgegossen sondern vereinzelt herein gebracht. Bereits gefüllt. Und für einen Moment hätte sie schwören können, dass die Herzogin zu intensiv darauf geachtet hatte, wie Zoras wirklich von seinem Bier trank.
      Erst jetzt erschienen leichte Falten auf Kassandras aalglatter Stirn.
      Ihre roten Augen wanderten hinab zu dem Bier vor ihr. Ohne zu zögern griff sie nach dem Krug und nahm einen kurzen Schluck bevor sie das Gefäß wieder abgestellte, den Griff jedoch nicht löste. Ihre Augen richteten sich unverholen auf Estja, der das Starren seitens der Phönixin nicht entging. Nicht entgehen konnte, so intensiv bohrte sich ihr Blick in die Herzogin hinein.
      Ach so...
      Provokativ hob Kassandra den Krug wieder an und leerte den Krug ohne ein weiteres Mal abzusetzen. Währenddessen löste sie nicht einmal den Blickkontakt auf, selbst als Zoras sie plötzlich verdutzt anblickte. Mit einem gut hörbaren Geräusch stellte sie den leeren Krug wieder ab und ging sicher, dass Estja wusste, dass Kassandra den Braten gerochen hatte. Sie benutzte ein Gift, das man zwar nicht riechen aber schmecken konnte. Es musste hochpotent sein, wenn selbst das Benetzen der Lippen für die Wirkung ausreichte. Deswegen wurden die Getränke ohne ihre Einsicht eingeschüttet. Alle anderen Anwesenden mussten unversetzte Getränke bekommen haben oder waren mit Gegengiften ausgestattet. Kluger Schachzug, sofern sie es nicht mit einem Phönix zu tun gehabt hätte. So verriet Estja Veren lediglich, auf welcher Seite sie stand.
      Rubinrote Augen richteten sich eindringlich aber ruhig auf Zoras während sie nach seinem Krug langte und am Inhalt nippte. Dann erschien endlich eine Regung auf ihrem Gesicht: Ein wissendes, erhabenes Lächeln.
      Mit einer geschmeidigen Bewegung schob Kassandra Zoras' Becher zu Estja hinüber. "Ich nehme stark an, Ihr wollt nicht ebenfalls einmal probieren? Verzeiht mein Anmaßen aber ich bin es gewohnt, dass die Getränke üblicherweise am Tisch aus einer Vase für alle eingeschenkt werden und nicht nur zwei Gäste ein Spezialgetränk erhalten."
      Anschließend lehnte sich Kassandra in ihrem Stuhl zurück. Nun, da der Giftplan nicht funktioniert hatte waren möglicherweise die versteckten Männer am Zuge. Wenn ja, dann würde sie schnell genug reagieren müssen um Zoras an ihrer Seite vor dem ersten Ansturm zu schützen. Unter das Lächeln mischte sich eine Priese Wildheit in Aussicht auf einen Kampf. Sollte sie es ruhig versuchen, sich ohne eigenen Champion gegen Kassandra zu stellen. Kassandra würden jeden richten der es auch nur wagte, Zoras zu berühren.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Selbst Zoras bemerkte den plötzlichen Umschwung der Stimmung, als beide der hochrangigen Gäste von ihren Getränken nippten. Augenpaare huschten zu ihnen hinüber, Gespräche verstummten, manche der anderen Anwesenden sahen auch erwartungsvoll zur Herzogin. Er dachte sich nicht viel dabei, oder zumindest nicht mehr, als die bizarre Situation sowieso schon hervorrief, aber als selbst Kassandra, welche die letzten Tage mehr wie eine Hülle ihrer selbst war als alles andere, sich regte, überkam ihn plötzliche Skepsis. Und dann Misstrauen. Und schließlich blanker Zorn.
      Die Herzogin selbst war es schließlich, die seine Vermutung bestätigte. Sie beäugte Kassandra mit einem noch immer unleserlichen Blick, dann schüttelte sie knapp den Kopf mit der Aussage:
      "Ich bevorzuge Wein gegenüber Bier."
      Zoras glaubte, sein Blut kochen zu spüren. Er schnaubte.
      "Na wenn das so ist."
      Er streckte sich über die Tischplatte, griff sich wieder seinen Krug von Estjas Platz und leerte ihn in einem Zug, wie es schon Kassandra getan hatte. Es dauerte nur ein paar Sekunden länger, aber dennoch erstarben auch die restlichen Gespräche und sämtliche Blicke richteten sich nun auf den Luor-Haushalt. Zoras stellte das Gefäß so geräuschvoll ab, dass es durch den Saal hallte. Zu seiner geringen Befriedigung konnte er beobachten, wie Estjas Gesichtsfarbe etwas heller wurde.
      "Also dann."
      Er lehnte sich in ihre Richtung und verschränkte die Hände auf dem Tisch, die Augen zusammengekniffen. Bisher hatte er Estja immer leiden können, ein Attentatsversuch nahm er ihr aber schon zu persönlich. Als er weitersprach, hatte seine Stimme an zornentbrannter Schärfe gewonnen.
      "Lass uns verhandeln. Nicht wahr?"
      Rückwirkend betrachtet war das eine der eher unklugen Herangehensweisen. Zugegeben, es gab wohl nicht viele Möglichkeiten, sich effizient mit dem Verursacher eines misslungenen Mordes auseinanderzusetzen, aber ihn zu provozieren war gänzlich die falsche Art - besonders, nachdem Zoras eigentlich hier war, weil er von ihm etwas wollte. Entsprechend dessen hätte er wohl viel anders machen können, aber er tat es nicht. Die Wut siegte über ihn, ein Gemisch aus der angestauten Ungeduld der letzten Tage, einer vierwöchigen Reise und vorangehende, nervenaufreibende Tage. Er wollte nicht über Konsequenzen nachdenken, er wollte seinem Frust Luft machen.
      Während Estja ihn noch eine Sekunde länger anstarrte, begann die Fassade ihrer Miene zu bröckeln. Falten kamen zum Vorschein, die davor noch nicht dagewesen waren und ein gehetzter Ausdruck trat in ihre Augen, der sehr an ein in die Enge getriebenes Tier erinnerte. Sie hatte endlich die Gefahr begriffen, in der sie sich jetzt befand. Jetzt, wo das Gift nicht wirkte, gab es nur noch die Soldatenkraft, die zwischen ihr und einem Champion standen.
      Und genau die brachte sie zum Einsatz. Es war der Wink einer Hand, eine lächerlich minimalistische Geste, für die sicherlich die letzten Tage der Vorbereitung draufgegangen waren, mit der sie ihren Befehl zum Ausdruck brachte. Bevor Zoras überhaupt Zeit zum Reagieren hatte, brachen die Wände hinter ihren Stühlen auf und ließen vollgerüstete Soldaten ein, die Speere bereits im Anschlag, die Spitzen ausnahmslos auf das Paar vor ihnen gerichtet. Zoras sprang nun selbst auf, auch wenn ein Teil seines Verstandes ihn zur Ruhe mahnte, auch wenn er wusste, dass er damit der Herzogin die Überhand überließ. Womöglich hätte er die Situation noch retten können, wenn er vorgegeben hätte, auf alles gewappnet zu sein, aber selbst mit einer Phönixin an seiner Seite, der er wohl oder übel sein Leben anvertraut hatte, konnte er seine Instinkte nicht beherrschen. Nicht, ohne eine Waffe parat zu haben und ohne eine eigene Rüstung zu besitzen.
      Er hatte kaum genug Zeit sich überhaupt umzudrehen, als die Speere nach vorne stachen. Sie waren auf ihn und Kassandra ausgerichtet und ausnahmslos auf ihre Hälse.
    • Dass die Herzogin Veren nicht einmal Anstalten machte, sich rauszureden konnte man der Frau eher positiv vorhalten. Wie auch sonst hätte die Gute reagieren sollen während eine Phönixin sie quasi niederstarrte. Allerdings verengten sich Kassandras Augen nicht angesichts der Situation sondern wegen dem, was sie von ihrer Seite aus spürte. Zoras verlor seinen üblicherweise kühlen Kopf und wandte sich der Option zu, seinem Frust Luft zu machen. Eine Wahl, die Kassandra sofort unterbunden hätte, da sie bereits wusste, was die Konsequenzen waren. Aber das war der Weg, das unsichtbare Personal aus seinen Verstecken herauszulocken oder den Aggressor spielen zu müssen.
      Trotzdem schwang eine Spur Sorge mit als sie einen Seitenblick zu ihrem Herzog warf. Er hatte ihre Geste einfach nachgeahmt, was unter gewöhnlichen Umständen höchst riskant gewesen wäre. Ihm war bewusst, dass sie Gifte neutralisieren konnte, doch wo die Grenze begann war ihm nicht klar. Ab jetzt musste sie aufpassen, dass er das gut versteckte Amulett an seiner Brust unter keinen Umständen verlor.
      Einen Augenblick später lagen die roten Augen wieder auf Estja, die schließlich ihr wahres Gesicht zeigte. Ein zerfurchtes Gesicht, gespeist von Furcht und etwas, das Kassandra aus ihrer kurzen Bekanntschaft nicht herauslesen konnte. Aber den gehetzten Ausdruck kannte sie nur zu gut und wusste, dass eine Reaktion nicht lange auf sich warten lassen würde. Eine Reaktion, die höchstwahrscheinlich auf Konfrontation aus war. Menschen mit Macht und solchen Augen neigten immer dazu, andere vorzuschicken. Das lag nun mehr in ihrer Natur.
      Estja schaffte gerade einmal die Handgeste ehe Kassandra selbst aktiv wurde. Noch während die Wände hinter ihnen einbrachen und die versteckten Soldaten, bewaffnet mit Speeren, enthüllten, ging ein Puls von der Phönixin aus. Eine Druckwelle, unsichtbar für die Menschen, die die Wachen im Umkreis von zwei Metern nach hinten katapultieren ließ. Sie standen zu nah an Zoras als dass Kassandra direkt hätte eingreifen können und das Risiko ging sie nicht ein.
      Schwungvoll warf sie ihren Stuhl um als sie schneller noch als Zoras auf die Beine sprang und herumwirbelte. Ihre Miene trug nichts von der wahnsinnigen Wildheit wie sie sie einst im Thronsaal vor Feris während des Massakers an den Tag gelegt hatte. Nein, jetzt lag eine unheimliche Konzentration in ihren Gesichtszügen während ihre Hand in hellen, lodernden Flammen aufging. Als Zoras endlich auf den eigenen Füßen stand hatte Kassandra die herannahende Gefahr längst in ihre Schranken gewiesen. Noch während sie scheinbar auf die nächsten Speerträger losgehen wollte schwang sie ihre lodernde Hand nach vorne, was verdächtig nach einer Hiebbewegung aussah. Sekundenbruchteile später ging ein Ruck durch die nächsten Speere, die zu nah an sie heran gekommen waren. Zoras hatte sich nicht einmal umdrehen können, da stand die Phönixin mit noch wehendem Haar zwischen ihm und den Speerträgern, die verdutzt ihre gekürzten Stöcke betrachteten. In Kassandras Hand ruhte ein ungewöhnlich unscheinbares Kurzschwert mit dem sie die Spitzen der Speere sauber abgeschlagen hatte. Ihr Blick war warnend auf die Kampfkräfte gerichtet, ihre gesamte Körperhaltung sprach eine eine Drohung aus es auch nur wagen, näher heranzukommen.
      Wie versprochen hielt sich die Phönixin an ihr Wort und setzte sich lediglich zur Wehr. Selbst die weggeschleuderten Wachen rappelten sich langsam wieder auf und schienen die Macht hinter einer einfachen Druckwelle nicht gänzlich verarbeiten zu können.
      "Zoras, wir wollten gewaltfrei bleiben", erklang ihre Stimme im sonst urplötzlich still gewordenen Raume. Ihre Aufmerksamkeit lag ununterbrochen auf den umstehenden Speerträgern, die nicht mehr ganz so schlüssig erschienen, was sie tun sollten.

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    • Im Gegensatz dazu, was neben Zoras vor sich ging, kam ihm seine eigene Reaktion geradezu schleichend vor. Während er noch das Krachen hinter sich hörte, als ungesehene Nischen aufgebrochen und das bis dahin ungesehene Militär hereingelassen hatten, hatte Kassandra schon einen Zauber entfacht, der seine Umgebung lichtete. Der Tisch vor ihm prallte zurück, die Rüstungen hinter ihm rasselten und schepperten lauthals aneinander, auch das Publikum des restlichen Saales löste sich aus seiner Schockstarre und stieß angsterfüllte Schreie aus. Es krachte noch einmal, als die dicke Tischplatte mit dem Steinboden in Berührung kam und da hatte auch Zoras sich endlich aufgerichtet und wich mit einem reflexartigem Ausfallschritt nach vorne aus, um sich der Gefahr hinter sich zuzuwenden.

      Kassandra war schneller gewesen, als es in irgendeiner Weise hätte möglich sein sollen. Es konnten kaum drei Sekunden zwischen der Handbewegung und diesem Moment vergangen sein, da hatte die Phönixin die Soldaten bereits auf Abstand gebracht und ihre Waffen durchtrennt, alles ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Jetzt stand sie zwischen Zoras und der Front, eine unscheinbar wirkende, mittelgroße Frau in feinen Klamotten - welche durch ihren Ausfall noch nicht einmal verrutscht waren - welche den Soldaten ein überirdisches Schwert entgegen hielt. Nicht einmal Zoras blieb gänzlich ungerührt von diesem Anblick, er starrte die Phönixin mit einem ähnlich perplexen Gesichtsausdruck an, wie ihn auch die Wachen zur Schau trugen. Nur konnte seine Mimik niemand anderes sehen.
      Mit Kassandras Worten brauchte er noch einmal einen langen Augenblick, um seinen rasenden Puls ein wenig unter Kontrolle zu bringen, um sich zu vergegenwärtigen, dass er wahrhaftig auch ohne Schwert und Rüstung keiner einzigen Gefahr ausgesetzt war und dass er nun einen Weg finden musste, dieses Desaster aufzulösen. Sein Kopf schwirrte von sich überschlagenden Gedanken, wie es nur dazu hätte kommen können, wieso er in der Hitze des Moments so naiv sein musste sich mitreißen zu lassen, welche Rolle er den versammelten Gästen nun zeigen sollte. Das war wohl das wichtigste, mit dem er sich in diesem Moment befassen musste: Wie kam er hier wieder raus, was wollte er dem Herzogtum Veren präsentieren? Einen hitzigen, aufbrausenden Herzog, der Unschuldige dafür büßen ließ, dass man seine Ehre angekratzt hatte? Einen kaltblütigen Opportunisten, der sich die Chance nicht entgehen ließ, um ein Zeichen zu setzen? Einen naiven Aufständischen, der die Macht dazu hatte, das ganze Land brennen zu lassen und nicht wusste, wie sie richtig einzusetzen war?
      Nach diesem einen Moment der Mäßigung straffte er sich, strich über die Vorderseite seiner Uniformjacke und zwang seine Gedanken zur Ruhe. Am allermeisten brauchte er jetzt einen klaren Kopf. Der ganze Raum war totenstill und jeder Anwesende starrte mit vor Grauen erfüllter Furcht auf das Luor-Paar. Er hatte jetzt eine einzige Chance für einen einigermaßen würdevollen Abgang zu sorgen.
      "Das wollten wir, nicht wahr?"
      Seine Stimme war dunkel, sie verbannte hörbare Unsicherheit und Unruhe. Sein Vater hatte ihm einst beigebracht, so zu reden, damit in der Schlacht niemand die eigene Angst hören konnte. Das könnte die Moral senken.
      Jetzt steigerte sie die Furcht, als Zoras sich mit diesen Worten umdrehte. Eine Bewegung ging durch die Menge, die sich unlängst von den Tischen entfernt hatten und jetzt an die andere Seite des Saales drängte. Der Anblick war merkwürdig und schien falsch auf Zoras, bis er erst begriff, dass die Tür aus dem Saal hinter der Herzogin war und man dafür wiederum in Kassandras Nähe müsste, um dort hinauszugelangen. Es würde also vorerst niemand verschwinden.
      "Haben wir uns nicht überlegt, wie wichtig es wäre, friedlich zu bleiben, damit man sich nicht dazu genötigt fühlte, sich unserer Sache anzuschließen?", überlegte er laut weiter, während er langsame, zielstrebige Schritte durch die Unordnung auf dem Boden vornahm und dabei auf die Herzogin zusteuerte. Sie hatte sich auch unlängst von ihrem Stuhl entfernt und war von einer Traube Soldaten umgeben, die mindestens genauso schreckensbleich dreinsahen wie jene unglückliche, die noch immer von Kassandra auf Abstand gehalten wurden. Die Rüstungen rasselten nicht mehr, keiner von ihnen schien Lust darauf bekommen zu haben, einen Suizid durch göttliche Hand zu begehen. Von der Menge an Gästen kamen ängstliche Geräusche.
      "Und wie wir klar machen wollen, dass wir unsere Sache mit fairen Mitteln beschreiten? Das haben wir doch, oder, Kassandra? Also sag mir, Estja..."
      Er spuckte den Namen fast aus und die Menge gab ein Wimmern von sich. Unter seinen Stiefeln zerbrach ein Glas und klirrte für einen Moment erschreckend laut.
      "... wie fair es sein kann, einen Herzog zu vergiften? Ihn auf dein Anwesen einzuladen, nur..."
      "Ich habe dich nicht eingel-"
      "... nur um ihn vorzuführen? Was war dein Ziel, wolltest du, dass sie uns von hinten aufspießen, wie zwei Schlachttiere? Ohne eine Rüstung, ohne eine Möglichkeit, uns zu verteidigen? Wolltest du einen Champion morden, eine Göttin, eine Phönixin, hinterrücks wie ein wildes Tier? War das dein Ziel?"
      "Ich wollte nicht -"
      "Du hast mit unseren Leben gespielt, ich bin dir kein erbarmen schuldig, nicht jetzt und nie wieder!", fauchte er, mittlerweile nur noch wenige Schritte von ihrer Garde entfernt. Die Männer rührten sich nicht, das war ihnen wohl zuzuschreiben, aber Zoras hatte auch keine Lust, an diesem Abend tatsächlich noch einen Mord zu begehen.
      "Ich bin in friedlicher Absicht gekommen und du hast ihn schamlos ausgenutzt! Wenn ich -
      "Woher sollte ich wissen, dass du in friedlicher Absicht hier bist, wenn du einen Champion bei dir hast!", kam die Anklage der Herzogin, die sich hinter der schützenden Wand ihrer Wachen hielt. Ihre Stimme war ein wenig schrill, dieselbe Angst war darin, wie sie auch dem zusehenden Publikum anhaftete.
      "... Gibt es hier einen Toten? Kassandra?"
      Er drehte sich kurzzeitig in ihre Richtung, ließ sich bestätigen, dass es nicht einen Mord gegeben hatte. Zumindest keinen geglückten. Mit einer Handbewegung deutete er auf die Soldaten, die durch die Wände gekommen waren.
      "Nicht einmal denjenigen, die durch deine Anweisung nach unseren Leben getrachtet haben, ist etwas schlimmeres passiert als eine Prellung! Möchtest du herausfinden, wie einfach es wäre, deine Befürchtungen wahr werden zu lassen?"
      Für einen Moment überlegte er, tatsächlich eine Antwort zu fordern, zu hören, wie die Herzogin vor versammelter Mannschaft darum bat, die Leben ihrer Männer zu verschonen. Aber das ging zu weit. Er sollte sich das ganze nicht noch einmal verspielen.
      Als er wieder sprach, waren seine Worte leiser, nur noch für die Herzogin bestimmt und nicht mehr für die Mehrheit der Gäste im Saal.
      "Ich werde die Götter bitten den Männern zu verzeihen, die unter deinem Wappen das Schwert erheben. Sie können nichts dafür."
      Er ließ den Sturm seiner Emotionen durch seine Augen blitzen, mit denen er Estja durchbohrte, dann straffte er den Rücken erneut und drehte sich nach Kassandra um, sprach aber laut genug, damit man ihn im ganzen Saal hören konnte.
      "Wir werden jetzt gehen und wir werden mit dem selben Frieden gehen, mit dem wir gekommen sind. Wenn du, Herzogin, weiterhin an deiner Hinterhältigkeit festhältst, dann bedenke, dass der Ersatz von Waffen Gold kostet, das an anderer Stelle besser aufgehoben wäre. Bei schmackhafterem Bier, zum Beispiel."
      Er wartete mit scheinbarer Seelenruhe, bis Kassandra zu ihm aufgeschlossen hatte, dann ging er mit bemüht gemäßigten Schritten auf die Tür zu. Keiner hielt ihn auf, aber auch keiner öffnete ihm die Flügel. Er stieß sie selbst auf und trat mit Kassandra in den Gang hinaus.

      Als die Tür hinter ihnen zuknallte, erlaubte er sich endlich einen kleinen Moment der Entspannung und stieß den Atem aus. Dann schüttelte er die Arme aus und setzte ein zügiges Tempo an. Sein Herz raste noch immer und er hatte sich trotz allem nicht gänzlich daran gewöhnt, ohne Waffe oder Rüstung durch feindliche Räume zu marschieren.
      "Das war gut, das war ausgezeichnet", murmelte er in Kassandras Richtung, der er einen kurzen Blick zuwarf. "Deine schnelle Reaktion, meine ich. Alles andere war beschissen. Wirklich beschissen."
      Die Gänge waren leer, aber das würden sie nicht lange sein. Zoras ging nicht davon aus, dass Estja es einfach dabei belassen würde.
      "Wir müssen es nur noch heil hier herausschaffen. Mein Schwert ist auch noch irgendwo, ich denke in den Wachräumen, die sind irgendwo beim Eingang. Bring uns hier möglichst unversehrt und schnell raus, ja?"
      Sie waren noch keine zehn Schritte geeilt, da erscholl der Alarm.
    • Es vergingen quälende Sekunden der Stille während Kassandra darauf wartete, dass der Herzog in ihrem Rücken auf ihre Worte einging. Dass er solange zögerte bedeutete, dass er unschlüssig war. Nicht wusste, wie er adäquat zu reagieren hatte. Je nachdem wie er seine Worte wählen würde bedeutete dies, dass sich die Phönixin inmitten eines Gemetzels befand, das sie eigentlich zu vermeiden suchten. All diese Gedanken spiegelten sich jedoch nicht in ihrem Gesicht wider während sie wie eine Statue unbeweglich an Ort und Stelle verblieb, eine Warnung für die umstehenden Soldaten.
      Schließlich fand Zoras seine Stimme wieder und entschied sich für einen Weg, der ihn direkt auf Estja zu führte. Kassandra, die die Furcht unter den Helmen und hinter den Visieren deutlich erkennen konnte, ließ das Schwert langsam sinken und wechselte in eine etwas lockerere Haltung. Halb drehte sie sich zu den beiden Herzögen um, um sie im Blick zu behalten und musste feststellen, dass es praktisch niemanden im Raum gab, der nicht bleich zu ihnen hinüber blickte. Wenn sie sich recht entsinnte, schienen die Augenpaare auch gar nicht auf Zoras zu liegen.
      Sie waren allesamt auf Kassandra gerichtet.
      Dann hörte sie die Worte aus dem Munde Estjas auf die sie gewartet hatte. Die Bestätigung, dass sie der Quell dieser Angst war. Einfach nur weil sie sich dermaßen stark von den menschlichen Soldaten abhob, obwohl sie noch nicht einmal ihre Magie in vollem Umfang genutzt hatte. Noch immer blieb ihre Mimik unberührt von ihren Gedanken, die sich allmählich mit Enttäuschung und Traurigkeit färbten. In den vergangenen Tagen hatte Zoras dafür gesorgt, dass sie sich weniger wie ein Gott und vielmehr wie sich selbst fühlte. Diese Situation warf jeglichen Erfolg einfach fort in die Abwasserkanäle und machte ihr bewusst, dass er die Ausnahme war. Dass nur er sie so sah und sonst niemand.
      "Keinerlei Tote. Nur unschädliche gemachte Waffen und ein paar Kratzer", bestätigte Kassandra die Nachfrage.
      Sie hatte absichtlich keinen Schaden zugefügt. Nur so konnte Zoras das Argument anbringen, dass sie gewaltfrei blieben und die Phönixin an seiner Seite keine Gefahr darstellte. Kassandras Blick fand Zoras' und ihr Schwert ging in hellen Flammen auf, um spurlos zu verschwinden. Noch immer schweigsam zog sie ihren Pfad zu dem Herzog herüber, auch unter ihren Schritten knirschte das Glas auf dem Boden. Gemeinsam beschritten sie ihren Abgang und fühlten sich erst etwas weniger beobachtet als die Türen hinter ihnen ihnen die Sicht auf den Saal und die Gäste nahm.
      Just in diesem Moment zog Zoras das Tempo etwas an und schüttelte die Arme. Kassandra lief nun an seiner Seite und nicht mehr schräg hinter ihm versetzt während sie bereits ausfindig machte, wo sich die annahenden Wachen befanden. Sie spürte seinen extrem beschleunigten Pulsschlag, der von Unsicherheit herrührte.
      "Ich habe die Speerträger gespürt seitdem wir den Saal betreten haben. Ich wusste nicht, wann sie sie einsetzen würde aber nachdem das Gift nicht funktioniert hatte war es die einzige Gelegenheit. Ich sagte ja, du brauchst dir keine Sorgen machen. Aber wie fahrlässig war das bitte? Ich hätte gedacht, Feris hätte seine Verbündeten informiert, was ich kann. Er wusste, dass mein Amulett meinen Träger immun gegen Gifte macht."
      Sie bogen um die nächste Ecke, hinter der sie keine Wachen spürte. Zoras hatte gerade sein weiteres Vorgehen offenbahrt, da ertönte ein Alarm und Kassandra verzog das erste Mal angesäuert das Gesicht.
      "Dumme Frau. Sie hätte uns einfach ziehen lassen sollen", meinte Kassandra und orientierte sich kurz, wohin sie gehen mussten. "Immerhin war das eine deutliche Antwort."
      Gemeinsam huschten sie durch die Gänge, unberührt von Feindkontakt solange die Phönixin es umspielen konnte. Zwangsläufig gab es am Ende allerdings keinen Weg mehr ohne Konfrontation, denn die Wachen fluteten, ausgelöst durch den Alarm, das gesamte Gebäude. Schlussendlich trafen sie in einem langen Gang auf den ersten Trupp Soldaten, bestehend aus drei Schwertträgern, einem Schildträger und einem augenscheinlich unbewaffneten Soldaten. Für eine Moment dachte Kassandra daran, die Männer zu warnen, doch sie wusste, dass diese Männer noch nichts von ihr wussten. Oder geneigt waren, ihre Befehle zu ignorieren. Also trat Kassandra vor Zoras, streckte die rechte Hand aus und ließ ihren treuen Speer in ihrer Hand materialisieren.
      Die Auseinandersetzung dauerte nur Sekunden. Sekunden, in denen schmerzerfülltes Stöhnen durch den Gang hallte, Rüstungen gegen Wände knallten und am Ende fünf Männer am Boden den Gang säumten wie eine absurde Zierde. Zwischen ihnen stand Kassandra, die Zoras zunickte und ihn aufforderte, weiterzugehen. Die Männer an den Wänden waren allesamt unverletzt, wenn man Prellungen mal außen vor ließ. Sie alle waren lediglich von stumpfen Schlägen außer Gefecht gesetzt worden, die so stark gewesen waren, dass die Brustplatten unter anderem Dellen aufwiesen. Kassandra hielt an ihrer Politik fest. Sie würde hier vorerst niemanden töten.
      Ein etwas längeres Gemenge entstand in den Wachräumen. Man hatte vermutet, dass sie Zoras Waffe zurückholen wollten und hatte den Bereich mit gut zwanzig Mann gefüllt. Doch auch hier stellte die pure Menge an Soldaten kein Problem für die Phönixin dar. Zufrieden reichte sie Zoras sein Schwert und konstantem Ächzen der am boden liegenden Soldaten. Es waren nur noch wenige Meter bis sie die geschlossenen Räumlichkeiten hinter sich lassen konnten und wieder freien Himmel über ihren Köpfen hatten.
      Auf dem Vorplatz hatte Estja scheinbar die Mehrzahl ihrer Garde aufstellen lassen. Kassandra überflog die zahllosen Köpfe, die allesamt ihre Waffen auf das Luor-Paar ausgerichtet hatten. Von Schwert- und Schildträgern bis Bogenschützen war gefühlt alles dabei. Offensichtlich hatte die Herzogin wirklich nicht die Absicht, sie gehen zu lassen.
      Kassandra atmete einmal tief durch.
      "Hartnäckig sind sie. Muss man zugestehen."
      Es wäre ein leichtes, ihre eigenen Regeln zu ignorieren und sich gewaltsam einen Weg zu bahnen. Menschen waren fragil und in ihren Rüstungen vollkommen empfänglich für die grausame Hitze, die Kassandra über sie bringen konnte. Wenn sie es wollte, könnte sie diese Männer in ihren eigenen Rüstungen schmoren. Sich ihren Lebenslichtern bedienen und ein Mahmal setzen, so wie Zoras es bei den Dörfern getan hatte auf ihrem Weg nach Luor.
      Es ging ein Puls von Kassandra aus als sie sich langsam in Bewegung setzte. Ihre Schritte hinterließen flammende Spuren während sich Feuer scheinbar aus dem Nichts um sie materialisierte und sie wie einen Umhang umgab. Ihr Blick war eisern auf die Männer vor ihnen gerichtet als die Flammen über ihren gesamten Körper leckten und von rotgold zu schwarz wechselten. Das nicht greifbare Feuer wurde fest, bekam eine greifbare Form als sich Kassandras schwarze Plattenrüstung um sie ausbildete. Der Speer ging ebenfalls in Flammen auf und wurde durch eine größere, massigere Waffe ersetzt: Ihre Hellebarde. Alles an ihre triefte nur so vor allumfassender Dominanz während sich die Temperatur in ihrer Umgebung schlagartig erhöhte wie sie es Zoras bereits einmal gezeigt hatte. Nun aber war das erste Mal, dass sie spürbar für alle Anwesenden ihre göttliche Aura einsetzte. Sie wollte nicht kämpfen - sie wollte die Menschen soweit einschüchtern, dass sie von selbst ihnen den Weg freimachten.

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Zoras gab einen geringschätzenden Laut von sich, der begleitet wurde von der nächsten Welle an Zorn, die ihn überspühlte. Das Wappen von Veren war ihm nie so feindlich vorgekommen wie in diesem Augenblick.
      "Sie hat ihre Gäste nicht eingeladen, um sich abzusichern, sondern um ihnen eine Show zu bieten. Wenn niemand gekommen wäre, hätte sie vermutlich einen Attentäter in unsere Zimmer geschickt. Und du denkst doch nicht, dass der König so weit denkt und seine Herzöge über so etwas aufklärt! Wenn du es mir nicht erzählt hättest, hätte ich auch nichts davon gewusst. Vergiftete Getränke! Sie hätte zugesehen, wie wir uns am Boden winden, während ihre ganzen Gäste ihren tollen Wein trinken. Ich möchte gar nicht wissen, was sie für Probleme in ihren Ländereien hat, um solche Maßnahmen aufzuziehen, es ist mir auch egal. Meinetwegen soll Thagora sich Veren holen, dann sind alle zufrieden."
      Er schritt ein wenig stärker aus, um die anstauende Energie abzulassen, hielt sich aber dicht an Kassandras Seite, die ihnen einen recht effektiven Weg durch die Gänge des Anwesens suchte. Ihre Schritte gingen unter dem Lärm des Alarms unter und obwohl Zoras in der Ferne stetig näherkommendes Gerassel von Rüstungsplatten hören konnte, schaffte es Kassandra doch, sie an sämtlichen Patrouillen vorbei zu manövrieren. Die Phönixin hatte sich auch in dieser Hinsicht als deutlich unverzichtbar erwiesen und er war zum ersten Mal ernsthaft froh, keine Garde mit sich zu führen, die auf seine Entscheidungen angewiesen waren. Er konnte im Moment keine Entscheidungen treffen, die nicht unmittelbar in einem Blutbad geendet hätten, und Kassandra verlangte davon auch nichts. Sie ging der einzigen Anweisung nach, die er ihr gegeben hatte und stellte keine weitere Fragen.

      Sehr viel länger hielt das Glück allerdings nicht an, als sie dem ersten Strom gegenüberstanden, der sich mittlerweile durch das Gebäude ergossen hatte. Instinktiv griff Zoras nach seinem Schwert und fluchte gleich in Gedanken, dass er es schließlich nicht dabei hatte. Aber auch das war letzten Endes nicht von Belang. Kassandra trat vor und räumte den Gang in Rekordzeit, wobei nicht ein Tropfen Blut floss. Sie bewegte sich mit der tödlichen Grazie, die sie bereits auf dem Trainingsplatz im Palast zur Schau gestellt hatte und setzte die Soldaten außer Gefecht, bevor diese erst richtig realisiert hatten, was vor sich ging. Als Zoras mit langen Schritten zu ihr aufschloss und sie sich wieder Seite an Seite in Bewegung setzten, murmelte er ihr ein aufrichtiges und erleichtertes "Sehr gut" zu. Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn sie nach diesem Abgang damit anfingen, sich doch noch zur Freiheit hinaus zu morden.
      Sie erreichten die Wachräume ohne einen Kratzer und ohne eine größere Verletzung als eine Prellung verursacht zu haben. Erleichtert nahm Zoras sein Schwert entgegen und schnallte es sich um, das Gewicht an seiner Hüfte so tröstlich vertraut, dass es ein wenig Licht in seine Gedanken brachte. Die Stadt verlassen und dann die Grenze überqueren, bevor Veren noch auf die Idee kam, Niligad eine Geschichte aufzutischen, die so gar nicht geschehen war - das war jetzt relevant. Den anderen Herzog aufsuchen und darauf hoffen, dass wenigstens er etwas mehr Manieren aufzeigen konnte. Das war wohl das wichtigste.
      Sie verließen das Anwesen, wo sie erst der wahre Sturm an Militärskraft erwartete. Den Empfang schien eine eigene, kleine Armee zu bilden bei der puren Vielfalt an Wachsoldaten, die sich dort tummelten, allesamt die Waffen in Anschlag und auf das Paar gerichtet. Es juckte Zoras förmlich in den Fingern, wenigstens die Hand auf den Griff seines Schwertes zu legen, wenn er es schon nicht herausziehen sollte, aber er zwang sich mit all seiner Selbstbeherrschung, die ihm zur Verfügung stand, auch hier Kassandra sein Leben anzuvertrauen. Welchen Eindruck würde es auch hinterlassen, wenn er mit einem Champion an der Seite selbst zur Waffe griff?
      Als Kassandra sich nach einem Moment in Bewegung setzte, schien die Zeit ein wenig langsamer zu vergehen - oder vielleicht war es auch der Eindruck von über drei Dutzend Zuschauern, die gleichzeitig den Atem anhielten. In den wenigen Schritten, die sie unternahm, steckten bereits so viel ungeahnte Macht und selbsterfüllende Autorität, dass sogar Zoras unter einer akuten Gänsehaut fröstelte - und er stand schließlich auf der gleichen Seite wie sie. Die Aussicht von der anderen Seite musste sehr viel schlimmer sein, denn er sah es an den weit aufgerissenen Augen der Soldaten, an dem Zittern, das durch die erhobenen Waffen fuhr, an den kreidebleichen Gesichtern. Jeder Schritt von Kassandra, untermauert von einer Feuerzunge, die an ihr empor und zur Seite leckte, wirkte wie ein endgültiges Omen, ein Weg zum sicheren Tod. Dabei sagte sie nichts, sie tat auch nichts weiter, als ihre Rüstung hervorzurufen und ihre Waffe zu wechseln. Aber es war auch alles, was sie benötigte; das und der Ausdruck in ihrem Gesicht, den Zoras nicht sehen konnte.

      Als der erste der Männer seine Nerven verlor - die Waffe rutschte ihm wohl aus der schweißnassen Hand und fiel mit einem hellen Klirren zu Boden - löste es eine Kettenreaktion aus. Die vorderste Front wich zurück, stolperte dabei in ihre Hintermänner herein, bemühte sich darum, so schnell so viel Distanz zwischen sich und der heranschreitenden Phönixin zu bringen wie nur möglich. Der Hauptmann begann seine Befehle zu brüllen, die in dem aufsteigenden Chaos nutzlos untergingen und verhört wurden. Manche Bogenschützen schossen Pfeile ab, aber sie waren deutlich in der Unterzahl. Die Formation verlor sich binnen Herzschlägen und wurde von reinem Chaos ersetzt.
      Zoras setzte sich in Bewegung, um Kassandras Spur zu folgen, jetzt selbst etwas hinter ihr versetzt. Er bemühte sich, die dominante Haltung der Phönixin zu imitieren und das beste aus der Situation zu machen, wie er nur konnte. In seinem Kopf tobten derweil die Gedanken, prügelten sich darum, ob er in erster Linie den Stolz empfinden sollte, den er dabei verspürte, ein solches Geschöpf an seiner Seite zu wissen, oder viel eher die Sorge um die noch bevorstehende Flucht oder vielleicht ein gewisses Triumphgefühl, nicht einmal das Schwert heben zu müssen, um einen solchen Schrecken auszulösen. Er würde sich noch früh genug mit dieser Situation beschäftigen und wie sie optimal vonstatten hätte gehen können, jetzt versuchte er sich darauf zu konzentrieren, dass sie die Tore erreichten. Zumindest konnten sie wohl hoffen, dass Kassandras Anblick die meisten Soldaten fernhalten würde.
      Sie holten die Pferde und saßen auf. Der Apfelschimmel von Kassandra schien einige Probleme damit zu haben, sich einem überirdischen, flammenden Geschöpft zu nähern, aber er beruhigte sich, nachdem sie ihre Magie auf ihn einwirkte. Die Soldaten drängten sich noch immer im Hintergrund, noch immer herrschte heilloses Chaos, aber langsam gelang es dem Hauptmann, an manchen Stellen wieder etwas Ordnung zu schaffen.
      "Wir reiten gemäßigt", teilte Zoras Kassandra mit, der sich damit eher selbst davon überzeugen wollte, nicht mit dem schnellsten Galopp das Weite zu suchen. Seine sämtlichen Instinkte schrien ihn an, bloß nicht seinem Feind den Rücken zu kehren, bloß nicht seinen ungeschützten Körper den Pfeilen und Speeren auszusetzen, bloß nicht die Gelegenheit zu einem geordneten Angriff zu bieten. Aber er wusste, dass er sich mäßigen wusste. Kassandra war an seiner Seite, er musste ihr vertrauen und sich nicht auf die eingefleischten Reflexe seines Verstandes verlassen.
      Die Kutsche schloss zu ihnen auf und gemeinsam beschritten sie den Rückzug zum Tor in einem gemäßigten Trab. Zoras gab seiner Begleiterin ein Zeichen, neben ihm zu bleiben, die Kutsche war ihnen direkt auf den Fersen. Menschenmassen, angelockt von dem fernen Alarm und der Aufregung der Soldaten, strömten auf die Straße und gafften Kassandra mit unverhohlenem Wunder an. Zoras war nur froh, dass sie ihnen wenigstens rechtzeitig aus dem Weg gingen.
      "Alles in Ordnung?"
      Er wandte sich erst zu Kassandra und dann zu ihrem Wagen hinter sich.
      "Allemann heil? Keine Verwundeten? Pferde gesund?"
      Seine Stimme klang lockerer, als er sich fühlte.
      Als sie schließlich das Tor erreichten, sahen sie sich der nächsten menschlichen Barrikade gegenüber, welche nun offensichtlich nicht viel von den Geschehnissen des Herzoganwesens mitbekommen hatten und lediglich das Protokoll ausführten, das einem Alarm folgte. Zoras überließ wieder Kassandra den Vortrit.
      Als sie sich auch hier den Weg durch den Auftritt einer albtraumhaften Phönixin geebnet hatten, ritten sie endlich in die Freiheit hinaus. Zoras fühlte sich, als hätte sich eine unsichtbare Schlinge von seiner Kehle gelöst. Er riskierte keinen Blick zurück, stattdessen lauschte er für einen Moment fernen Anzeichen von Verfolgern.
      "Wir reiten noch ein, zwei Stunden, dann schlagen wir Lager auf. Ich brauche eine verdammte Pause."
    • Das Chaos hatte nur Sekunden auf sich warten lassen. Wie erwartet brach die Mauer der Soldaten von selbst zusammen, kaum war dem Ersten seine Waffe entglitten. Der Hauptmann, der dank seiner Distanz noch einen kühlen Kopf behalten konnte, schrie seine Mannschaft zusammen, die im heilosen Chaos zu flüchten begannen. Dadurch konnten Zoras und sie ohne Probleme ihre Pferde holen und sich wieder mit dem Kutschwagen treffen. Wie er es wollte mäßigte Kassandra den Gang Solairs, der angesichts ihrer Aura und dem Chaos draußen alles andere als erpicht darauf war, ruhig und gemäßigt von Dannen zu ziehen. Aber wie eine gute Formation führten Zoras und Kassandra ihren Trupp an und schlugen sich durch die Straßen der Stadt. Permanent achtete die Phönixin auf ihre Umgebung, insbesondere auf das, was in ihrer aller Rücken vor sich ging. Kein Pfeil flog in ihre Richtung, keine Formation wurde neu aufgestellt. Vom Herrenhaus aus wagte niemand es, ihnen Paroli zu bieten. So konzentriert achtete sie nicht auf die Blicke der Zivilisten, die sie anstarrten wie die Leibhaftige persönlich. Sie glich aber auch tatsächlich einer Sagengestalt, wie sie in komplett schwarzer Rüstung auf einem Schimmel daher ritt, unerkennbar was sie fühlen oder denken mochte. Lediglich ein Nicken entrang sich ihr als Zoras sie nach ihrem Zustand fragte.
      Zur Hölle, sie hatte schon lange nicht mehr so viel Magie in ihren Fingerspitzen kribbeln fühlen können.
      Am Tor trafen sie dann doch auf eine wehrhafte Barrikade. Kassandra hielt es aber nicht einmal für nötig, von ihrem Pferd abzusteigen. Hoch zu Ross, gekleidet in Schwarz mit einer seitlich ausgerichteten Hellebarde näherte sie sich den Torwachen, die plötzlich nicht mehr so gelangweilt oder gar arrogant in der Ecke saßen. Nein, sie waren höchst alarmiert und vielleicht etwas verwirrt. Spätestens, als Kassandra wieder ihre Aura einsetzte und Flammen sich aus den Spalten ihrer Rüstung zeigten, brandete auch bei diesen Männern die Panik auf. Wie zuvor am Vorplatz brach ein Chaos aus, das es dem Luor-Trupp ermöglichte ohne Schwierigkeiten das Tor zu passieren und das Weite zu suchen. Alles jedoch in einem angemessenen Tempo - man wollte schließlich nicht den Anschein erwecken, dass man in Angst die Flucht ergriff.

      Sie hielten nach zwei vollen Stunden gemächlichem Ritt an, um ihr Lager wie angekündigt aufzuschlagen. Kassandra hatte kurz nachdem sie die Stadt verlassen hatten sich von ihrer Rüstung und Waffe getrennt und war zu ihrem unscheinbaren Selbst zurückgekehrt. Doch noch immer war sie in Alarmbereitschaft und ließ die etlichen Lebenslichter hinter ihnen nicht aus den Augen. Man hatte also doch einen feindlichen Trupp organisiert, der ihnen nachstellen würde.
      Während also die Zelte aufgeschlagen wurden und ein zentrales Lagerfeuer errichtet wurde trennte sich Kassandra von dem Rest der Gruppe. Zusammen mit Solair trennte ritt sie etwas abseits auf die nächste Erhöhung und richtete den Hengst nach ihren Gelüsten aus. Das Tier schnaubte als es den Hals lang werden ließ und einen Huf aufstellte. Die Augen der Phönixin gingen in die Richtung, in der sie den verfolgenden Trupp wusste. Dann ließ sie die Zügel fallen, stieg aus den Steigbügeln und stellte sich vorsichtig auf den Rücken ihres Pferdes. Ihre Hände summten noch immer von der angesammelten Magie, die sie für den Notfall parat hielt. Und genau diese würde sie jetzt einmal kurz entlassen.
      Ihre Hände tauchten in Flammen ab als sie einen Halbbogen beschrieb und sich der flammende Bogen in ihrer Hand materialisierte. Mit der anderen Hand zog sie an der geisterhaften Sehne und nockte einen Feuerpfeil an, den sie ein paar Sekunden ausrichtete und schließlich geräuschlos abschoss. Augenblicklich verschwand der Bogen aus ihren Händen während sie dabei zusah, wie der Pfeil einen langen, viel zu langen und geräuschlosen Parabelflug beschrieb. Kassandra sah ihn zwar nicht mehr, aber sie wusste, dass er vor dem Verfolgertrupp im Boden einschlagen und eine Explosion verursachen würde. Eine weitere Warnung, dass sie wusste, wo und wie weit sich die Feinde aufhielten und es ja nicht wagen sollten, näher zu kommen.
      Also wartete Kassandra auf den Knall und ritt erst wieder zurück als sie sich sicher war, dass ihre Warnung angekommen war.
      In der Zwischenzeit standen schon die meisten Zelte und die Dämmerung hatte unlängst eingesetzt. Das Feuer prasselte bereits im Zentrum und die Kutsche sowie die Pferde waren gesichert. Kassandra suchte einen Moment lang nach Zoras, der sich noch mit dem letzten Hering seines Zeltes beschäftigte.
      "Ich schätze, Gasthäuser werden wir erst einmal nicht mehr besuchen können?", fragte sie ihn nachdem er sich aufgerichtet hatte und sie ansah. "Hast du etwas Zeit für mich? Ich muss etwas überprüfen."
      Auf seine Bestätigung hin verschwand Kassandra in seinem Zelt und wartete bis er hinterher gekommen war und die Plane herunterfallen lassen hatte. Kaum hatte das Flattern der Plane geendet war Kassandra an Zoras herangetreten und hatte die Hand nach seinem Gesicht ausgestreckt. Ihr Gesichtsausdruck war forsch als sie ihren Daumen an den äußeren Rand seines unteren Lides legte und es etwas nach unten zog. Als sie gesehen hatte, was sie wollte, gab sie ihn wieder frei und trat einen andächtigen Schritt wieder zurück.
      "Das Gift war hochpotent. Eine einzige Berührung mit den Lippen hätte für seine Wirkung gereicht. Du bist dank mir zwar immun gegen Gifte, verstoffwechseln musst du es allerdings trotzdem. Du darfst in dieser Zeit mein Amulett nicht abgeben, sonst verlierst du meinen Einfluss und das Gift wirkt verzögert doch noch. Ich weiß, es klingt seltsam, aber ich würde gerne darauf achten, dass du es die kommende Nacht nicht verlierst..."

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      "I rather trust and regret than doubt and regret"
    • Die Weiterreise blieb unbeschwert, auch wenn Zoras mit dem Gegenteil gerechnet hatte. Aber anstatt sich darüber zu freuen, dass sie endlich von der Miserie der letzten Tage erlöst worden waren, reizte es ihn nur noch mehr, Veren schon wieder falsch eingeschätzt zu haben. Er hatte sich nun schon einmal von ihr zum Narren halten lassen und er dachte nicht daran, es noch einmal auch nur ansatzweise so weit kommen zu lassen.
      Mit überstrapazierten Nerven versuchte er damit, etwas Friede in ihrer ungestörten Reise zu finden. Sie schlugen ihr Lager auf und bereiteten ein Feuer vor, während Kassandra in die Richtung verschwand, aus der sie gekommen waren. Zoras wollte sie schon ermahnen, sich nicht allzu weit vom Lager zu entfernen, bevor er sich noch rechtzeitig eines besseren belehrte. Was, war er tatsächlich darum besorgt, dass Kassandra etwas zustoßen könnte? Er sollte er sich wohl Sorgen machen, dass ihrer Umwelt etwas zustieß, bevor er mit so einem Schwachsinn anfing.
      Während sie weg war, fand er ein wenig Entspannung in der Versorgung der Pferde, der er sich mit größtem Elan widmete. Während er Roran striegelte, redete er leise auf ihn ein, ungehört von seiner Umgebung. Er streichelte ihn, lobte ihn, dankte ihm für seine Hilfe und murmelte Unsinn vor sich hin. Der Fuchs ließ es sich gefallen, peitschte mit dem Schweif und knabberte an seinen Haaren, wenn er seinem Kopf zu nahe kam. Als Zoras mit seiner Pflege fertig war, fühlte er sich besser - nicht ausgewogen, aber zumindest im Stande dazu, einigermaßen klare Gedanken zu fassen.
      Sie wurden wohl doch verfolgt, wie Kassandras kleine Expedition gezeigt hatte. Zoras hätte nicht in 100 Jahren zugegeben, dass ihn diese kleine Information erleichterte, denn sie zeigte, dass er doch etwas bei Veren richtig vorhergesagt hatte. Er ließ es sich aber nicht erkennen und folgte Kassandra in sein Zelt, wo sie ihm eröffnete, was sie zu prüfen gedachte. Die Wärme ihrer Hand kam wie ein Schlag und auch wenn er vor ihrer merkwürdigen Berührung etwas zurückzuckte, glaubte er doch, dass sie, wenn sie ihre Hand nur etwas länger an seine Wange gelegt hätte, einen ähnlich entspannenden Effekt erreicht hätte, wie die Pflege seiner Pferde es getan hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas jemals den gleichen Effekt erzielen könnte, aber er war doch so von der Idee angetan, dass er für einen Moment den unheimlich großen Drang verspürte, wieder ihre Hand zu küssen. Er tat es nicht, stattdessen beobachtete er sie eingehend, während sie sich zurückzog.
      "Das mit dem Bier war wohl keine sehr gute Idee, was?"
      Er lächelte kurz.
      "Zum Glück eröffnest du mir jetzt nicht, dass du nur eine gewisse Menge neutralisieren kannst. Dann hätte sie ihr Ziel wohl doch noch erreicht."
      Er musterte ihren Gesichtsausdruck, der offene Blick, den sie auf ihn gerichtet hatte. Es würde ihm nicht im Traum einfallen, eine derartige Bitte auszuschlagen. Wieso auch? Er hatte ihr schon in der Stadt sein Leben anvertraut, jetzt tat er es wieder, ohne ein zweites Mal darüber nachdenken zu müssen. Im Gegenteil, er hatte ihre Gegenwart in seinen Gemächern noch nie verschmäht.
      "Natürlich, ich vertraue dir. Wie lange wird es dauern, einen Tag? Oder eher zwei, bei der Menge? Bei den Göttern, das war wirklich dumm, oder? Ich will mir gar nicht ausmalen was geschehen wäre, wenn es da tatsächlich ein Limit gibt. Der erste Schluck wäre schon mehr als genug gewesen und ich habe den ganzen verdammten Krug getrunken."
      Er rieb sich über die Augen.
      "Aber egal, jetzt kann ich es auch nicht mehr ändern. Das war gute Arbeit in der Stadt, ich bin froh, mich auf dich verlassen zu können. Bleib heute Nacht bei mir, hier ist genug Platz. Soll ich deine Sachen holen?"

      Sie aßen gemeinsam zu Abend von den Vorräten, die der Kutschführer in der Stadt noch am ersten Tag besorgt hatte. Zoras war froh darum, dass der Mann mitgedacht hatte, denn jetzt gab es wohl nicht viel Möglichkeiten mehr, großartig Proviant zu besorgen. Aber das war ein Problem, mit dem er sich beschäftigen konnte, sollten sie es nicht mit ihrem Vorrat bis zur Grenze schaffen. Im Notfall könnte man wohl immer noch jagen - oder plündern.
      Im Anschluss schrieb er seine Berichte und ging später in sein Zelt, in dem sich Kassandra bereits für die Nacht eingerichtet hatte. Er konnte seine ungemeine Freude nicht verbergen, sie mit dem Wissen zu sehen, dass sie die Nacht über an seiner Seite verbringen würde und lächelte, was sie aber nicht sehen konnte. Er befreite sich aus seiner Uniform und legte sich hin, bemüht um einen angemessenen Abstand zwischen ihnen, bevor er nach einigen Momenten den Kopf in ihre Richtung drehte.
      "Kassandra...?"
      Das Feuer von draußen flackerte noch seicht durch die Zeltwände und ließ ihn ihre schemenhafte Umrisse erkennen.
      "Würdest du...?"
      Sie musste wissen, was er meinte, daher setzte er gleich hinterher:
      "Nur, wenn du möchtest."

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    • "Das mit dem Bier war grob fahrlässig, ja."
      Kassandra konnte nicht anders als Zoras dort beizupflichten. Wären die Umstände anders gewesen oder die Faktoren hätte diese Aktion ihn dennoch das Leben kosten können. Es war eine Sache, wenn sie als nahezu unsterbliches Wesen sich absichtlich wahnsinnige Mengen an Gift zuführte - eine gänzlich andere war es jedoch für einen Menschen.
      "Wärst du Träger eines anderen Gottes hätte es dich vermutlich deinen Kopf gekostet." Ihre Mundwinkel zuckten leicht als sie versuchte ein gehässiges Lächeln zu übertünchen. "So solltest du eigentlich nach dieser Nacht das Gröbste verstoffwechselt haben. Die Wirkung dieser Gifte treten schnell ein und werden in der Regel auch schnell wieder zersetzt."
      Trotzdem war sie eine Spur erleichtert als er ihrem Vorschlag nachgab und ihre Sachen holen ließ. Seit diesem einen Vorfall traute sie ihrer eigenen Fähigkeit nicht mehr zur Genüge und die Schatten der Vergangenheit ließen sie nie vollständig los. Das spürte sie überdeutlich in Moment wie diesen.

      Kassandra hielt sich beim Abendessen sichtlich zurück. Sie wusste, dass der Proviant nur spärlich angesiedelt war und sie länger ohne Nahrung auskam wie die umsitzenden Menschen. Damit es nicht sonderlich auffiel entschuldigte sie sich eher mit den Worten, dass sie noch etwas im Zelt richten müsse.
      Das tat sie tatsächlich auch als sie ihre Bettzeug locker ausschlug und es neben jenes von Zoras platzierte. Ihre Unterdecken gingen nahtlos ineinander über und sie konnte ein leichtes Seufzen nicht unterdrücken. Es war anders gewesen, als sie im Gasthaus in einem Zimmer genächtigt hatten mit mehreren Metern Abstand zwischen ihnen. Hier wäre es maximal anderthalb Armlängen, vielleicht zwei wenn jeder von ihnen an der Zeltwand kuschelte. Aber immerhin hatte sie sich selbst diese Situation eingebrockt und würde nun damit leben müssen.
      Nachdem sie mit den Fingern geschnippt hatte und drei geisterhafte Flämmchen das Zelt in ein wohliges Licht getaucht hatten, schälte sich Kassandra aus ihrer Kleidung und löste die Haare. Sie schlüpfte in ein langes Nachthemd, das einen ähnlichen Farbverlauf aufzeigte, und setzte sich auf die Decke ihrer Seite. Dann machte sie sich daran, die Flechten zu lösen und ihre schwarzen Haare mit den Fingern zu weichen Wellen auszukämmen.
      Nur wenige Momente später stieß Zoras hinzu. Kassandras Augen richteten auf den Mann, der einen Augenblick lang im Eingang des Zeltes verharrte und auf sie hinab starrte. Wortlos und regungslos sahen sie sich so ein paar Sekunden lang an ehe sich Zoras in Bewegung setzte, um seine Uniform auszuziehen. Währenddessen kümmerte sie sich weiter um ihre Haare, allerdings ohne den Blick auch nur einen Moment lang von ihm abzuwenden. Recht schnell verschwand er dann unter seiner Decke, so harmlos wie es in dieser Situation eben ging. Bis jetzt hatten sie beide geschwiegen, doch dann drehte er seinen Kopf zu ihr und stellte ihr eine Bitte.
      Kassandra erwiderte Zoras Blick.
      Mit einem weiteren Schnippen erloschen die Geisterflammen zu ihren Köpfen und tauchten das Zelt in ein schummriges Licht. Das Flackern des Feuers war der einzige Schein, der durch die dünnen Zeltwände schien und die Phönixin in eine Schattengestalt verwandelte. Ihre Händen sanken langsam gen Boden als sie nach einer gefühlten Ewigkeit die Stimme erhob: "Was möchtest du hören?"
      Eine sanfte Nachfrage. Sie setzte sich mit dem Rücken zum Flackerschein und demnach genau gegenüber von Zoras. Im Gegensatz zu ihm konnte sie noch die Umrisse seines Gesichts erkennen, sie selbst hingegen war ein einziger, dunkler Schatten. Langsam zog sie die Beine an bis sie ihre Arme um sie legen konnte und einen Moment überlegte, was sie singen sollte. Als sie etwas gefunden hatte holte sie gedehnt Luft und schlug einen sehr langsamen, sehr ruhigen Rhythmus an. Dieses Mal sang sie komplett alles in der gemeinen Sprache, nur so unglaublich leise da sie nicht wollte, dass man viel von außen mit anhören konnte. Immerhin hatte er darum gebeten und sonst niemand.

      "Zu große Herzenssprünge lügen
      Das weiß ich nur zu gut
      Aber du lässt mich gerade atmen
      Machst mich frei und resulut.


      Es interessiert mich nicht was morgen ist
      Denn es gibt noch den Moment
      Ich lass mich fallen ohne nachzusehen
      Ob du mich morgen noch erkennst
      Es interessiert mich nicht was morgen ist."


      Kassandra stoppte kurz mit den Versen und summte die Melodie während sie Zoras vor sich unverholen musterte. In Sicherheit gewähnt, dass er ihr Gesicht nicht sah, verlor sich der übliche konzentrierte Ausdruck in ihrem Gesicht und wich der weichen, menschlichen Seite ihrer Selbst. Sie sah, wie sich seine Lider bewegen mussten und er also nicht die Augen geschlossen hatte, damit sie ihn in den Schlaf sang. Warum tat sie es eigentlich gerade? Er zeigte nicht die übliche Ruhelosigkeit, weshalb sie ihn bereits einmal Linderung verschafft hatte. Stattdessen war es wohl wirklich so einfach, wie er es ihr einst erklärt hatte: Er hörte sie einfach gerne singen.

      "Es interessiert mich nicht was morgen ist
      Und ich leb mit der Gefahr
      Dass ab morgen alles anders ist
      Und nichts mehr wird wie es mal war
      Es interessiert mich nicht was morgen ist
      ."

      Die gut drei Minuten, die das Lied andauerte, vergingen so schnell wie ein einziger Wimpernschlag in Kassandras Wahrnehmung. Als sie geendet hatte verließ sie ihre Haltung im ersten Augenblick nicht sondern ließ Stille und das Knistern des Feuers Einzug halten. Dann löste sie schließlich ihre Haltung, rutschte ein wenig näher an ihn heran und streckte eine Hand nach Zoras aus. Sanft legte sie sie oberhalb der Decke auf seine Brust und berührte somit sein Lebenslicht. Sie ließ sich davon speisen und überprüfte es auf Ungereimtheiten, ausgelöst durch das Gift. Doch nichts Außerordentliches machte sich bemerkbar. Sachte zog sie ihre Hand wieder zurück und legte sie in ihren Schoß.
      "Du kannst ruhig schlafen. Ich werde aufpassen", versprach sie ihm.

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