Salvation's Sacrifice [Asuna & Codren]

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    • Was eine verändernde, landesbewegende Erneuerung war, hätte unspektakulärer nicht ausfallen können. Das Volk vor der Tür wäre sicher höchstgradig enttäuscht, wenn es herausfände, was in diesem Thronsaal vonstatten ging; das hier keine hoheitsvollen Reden gehalten wurden, dass keiner der Götter seine unendliche Weisheit an der Runde teilhaben ließ, dass niemand auf die Knie fiel, um dem einzigen Erfüller der Prophezeiung zu huldigen. Hier gab es kaum etwas, was in irgendeiner Weise ehrenvoll gewesen wäre, ja nicht einmal die Bestätigung, dass Zoras als Eviad anerkannt wurde. Mit aufeinandergebissenen Zähnen wurde hervorgepresst, dass die Krönung anberaumt wurde, von Prunk und Glorie wäre hier wohl kaum die Rede gewesen.
      Aber Zoras war es egal. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es ein derartiges Spektakel werden würde, er war nur froh, den Rat einigermaßen in eine Richtung gelenkt zu haben. So viel hätte schief gehen können, alleine in den vergangenen Stunden, aber auch in dem gesamten vorherigen Jahr, dass er auch ein einfaches "Ja" akzeptiert hätte. Mehr brauchte er nicht, alles andere wäre sowieso nur Farce gewesen. Jeder der Anwesende hier wusste, dass es mit der Prophezeiung kaum etwas anderes auf sich hatte als einen Streit zu schlichten, der sich wohl über die Jahrzehnte trotzdem fortgesetzt hatte.
      Daher lehnte er sich auch gleich zurück und überließ Kassandra den Vortritt, die bis zum jetzigen Moment stillschweigend an seiner Seite gestanden hatte und ihm dieselbe Unterstützung geleistet hatte wie in dem restlichen Jahr. Jetzt dachte sie auch noch einen Schritt weiter und füllte die Lücken, die Zoras übersehen hatte. Etwas anderes hätte er gar nicht erwartet.
      Der Rat sah gänzlich missmutig drein. Zustimmendes Gemurmel erhob sich, ausschließlich deswegen, weil Kassandras feuernder Blick über die Gesichter streifte und daran erinnerte, zu was eine entfesselte Phönixin alles fähig war. Halmyn stand schließlich auf und begann, mit langsamen Schritten auf die Tür zu zu staksen. Niemand sprach mehr ein weiteres Wort zu Zoras und Kassandra, allenfalls Geflüster zum Nebenmann, da drehte Zoras sich auch um und folgte dem Zyklop. Alle drei gingen sie vor die Tür, wo Halmyn sich wohl in gewohnter Manier aufstellte.
      Die Brücke war brechend voll. Der ganze Platz hinter den Mauern des Palastes war so sehr mit Menschen verstopft, dass die Soldaten auch mit größter Mühe nichts daran hätten ändern können. Die schiere Masse an Kuluarern, die sich dort wie die Hühner zusammendrängte, verhinderte eine geeignete Kontrolle. Im Hintergrund ritten bereits Kavalleristen entlang, aber nicht einmal Hufe konnten die Menschen davon abhalten, sich heran zu drängen.
      Der Lärm, der sich noch viel weiter hob, als die Tür für die drei aufging, war ohrenbrechend. Irgendwie schaffte Halmyn es trotzdem, dass seine starke Stimme die Luft zerriss.
      "DER EINZIGE KÖNIG VON KULUAR HEISST... EVIAD. EVIAD HEISST... ZORAS LUOR."
      Der Sturm, der entbrandete, pochte in ihren Köpfen und vibrierte durch die Luft. Donnerndes Getöse machte sämtliche anderen Geräusche völlig wirkungslos, der Lärm von Hunderten, gar tausenden Kuluarern genug, um die ganze Stadt zu erschüttern. Tausende Kehlen brüllten und kreischten und doppelt so viele Hände reckten sich in die Luft oder ergriffen die Begrenzungen der Mauern. Was sie genau schrien war völlig verwaschen, die Worte selbst verschluckt von dem wirbelnden Lärm. Es machte auch keinen Unterschied. Es war die Tatsache, dass sie eine solche Reaktion von sich gaben, die wesentlich war.
      Zoras besah sich die Menge mit einer gewissen Gleichgültigkeit. Sein Verstand hatte wohl noch nicht ganz begriffen, dass er jetzt Herrscher eines ganzen Landes sein sollte - oder zumindest mit der Krönung - denn sehr viel Gefühle löste es in ihm nicht aus. Nur eines, das dafür aber stark genug war, dass er seicht zu lächeln begann: Das Gefühl, ein Ziel gefunden zu haben, nicht mehr rastlos durch die Welt zu wandern und überleben zu müssen, einer Vergangenheit entlaufen zu wollen, die sich nie wieder ändern ließ, sondern eine Perspektive zu haben. Vielleicht ja sogar ein Zuhause. Könnte er Kuluar zu seinem neuen Zuhause machen? Könnte er sich mit dem Land gut genug anfreunden, um sich hier heimisch zu fühlen?
      Er drehte den Kopf zu Kassandra, die neben ihm stand und mit einem eigenen Ausdruck im Gesicht die Menge betrachtete, die ihnen zujubelte. Sie stand aufrecht und den Kopf hoch erhoben, ganz die hoheitsvolle Göttin, aber genauso sehr ganz Kassandra, die mit dem Feuer in ihrem Inneren ihre Umgebung in Brand setzte. Zwar war es jetzt zu dunkel, um dieses Feuer auch zu sehen, aber Zoras konnte es trotzdem ausmachen. Er würde es immer spüren können.
      Sie begegnete seinem Blick, da lächelte er mehr, schob den Arm um ihre Taille, holte sie sanft zu sich und küsste sie unter lärmendem Getöse.
      Es ging gar nicht darum, ob er sich in Kuluar heimisch fühlen könnte. Dort, wo Kassandra war, würde er ein Zuhause finden.


      Halmyn ging schon wieder hinein, ohne sich dem restlichen Lärm zuzuwenden, und überließ es dem Paar, ihren eigenen Weg zurück zum Stadthaus zu finden. Hätte es dabei nicht Kassandras Präsenz gegeben, hätten sie es wohl niemals geschafft; die Straßen waren völlig verstopft. Ganz egal wie weit sie auch gingen, die Leuten schrien und brüllten nach ihnen und versuchten, näher heranzukommen. Die Masse trampelte sich in ihrer Hektik selbst über den Haufen, aber das konnte man dann wohl auch nicht ändern. Dennoch mussten sie langsam gehen, allein schon, damit Kassandra in ihrer Bewachung nichts entging.
      Havas' Haus wurde sogleich belagert, kaum als sie dort einkehrten. Das war der große Nachteil ihrer strategisch gewählten Position: Es gab keine Mauern und keine Verstärkungen, um das eifernde Volk von ihnen abzuhalten. Kassandra sorgte eigenhändig dafür, dass sie nicht bis an die Hauswand herankamen und anfangen versuchten, an ihr nach oben zu klettern oder gar die Fenster einzuschlagen. Trotz geschlossener Türen und Fenster war es noch immer unglaublich laut, denn die Wände waren nicht sehr dick. Das hier war kein Palast, sondern ein einfaches Stadthaus, aber tausende Menschen, die gleichzeitig herandrängten.
      Zoras schnaufte, als er sich drinnen auf das Sofa fallen ließ - nur für einen Moment, nur ganz kurz hier sitzen. Sie mochten zwar einen wichtigen Sieg errungen haben, aber bis zur Krönung war es noch lange nicht vorbei. Sie mussten sicherstellen, dass der Rat keine Hintertürchen zu nutzen gedachte und sie mussten auch dafür sorgen, dass das menschliche Schutzschild, das sie sich hier aufgebaut hatten, auch weiterhin bestand haben würde. Sie mussten jetzt bereits vorsorgen, dass sie, sobald sie im Palast einzogen, nicht schutzlos den Champions und deren Trägern ausgeliefert sein würden und am allerwichtigsten mussten sie sich noch auf die Rolle des Eviads vorbereiten. Eigentlich hätte er gedacht, dass der Rat ihm Unterstüzung leisten würde, aber so wie es aussah, würde er sogar den Untergang des Landes in Kauf nehmen, um den Eviad wieder loszuwerden. Das Duell hatte gezeigt, dass es hier keinerlei Unterstützung geben würde.
      Und außerdem...
      "... Weißt du, wie eine kuluarische Krönung abläuft?"

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    • Kassandra verweilte einen kleinen Augenblick länger vor dem Rat, nachdem sie ihre Forderung bereits verkündet hatte. Das Stampfen von Halmyn donnerte am Rande ihres Bewusstseins und die Erleichterung, die Zoras noch immer versprühte, bewegte sich langsam hinter ihrem Rücken. Ihre Augen jedoch wanderten ein weiteres Mal über die menschlichen Träger, die allesamt ihren Champions zugehörig saßen. Aufmerksam ließ sie ihren Blick schweifen, um die entsprechenden Essenzen ausfindig zu machen. Manche waren offen getragen, wohingegen andere eher versteckt unter der Kleidung waren. Wichtige kleine Details und Hinweise für den Fall, dass sie ihnen die Essenzen jemals entreißen müsste.
      Erst danach wandte sie sich ebenfalls ab und schloss sich Zoras an, der dem Zyklopen zur Palasttür folgte. Als sich die Tür öffnete und den Blick auf den Vorplatz sowie die Brücke freigab, traf eine ungebremste Energie auf Göttin und zukünftigen Herrscher. Soweit das Auge reichte blickten Augen, Köpfe, Gesichter auf sie und eine Lautstärke, die selbst dem Tosen von Armeen Konkurrenz machen würde, schwoll an. Nach Halmyns Verkündung brach auch die letzte Zurückhaltung ein und sämtliche anderen Geräusche wurden vollkommen verschluckt. Die Anspannung, die Hoffnung, die Verzweiflung – all das, was sich über die Jahre in den Menschen Kuluars angesammelt hatte, explodierte mit einem Schlag und die Welle an Emotionen und Energie, die Kassandra entgegenschlug, raubte selbst ihr für eine Sekunde den Atem. Im Gegensatz zu Zoras zuckten ihre Mundwinkel kaum merklich in die Höhe, weil sie nicht nur Zoras anbeteten, sondern auch ihren Namen riefen. Sie stand an seiner Seite und war dank des Auftrittes unbestreitbar mit seinem Aufstieg verbunden. Sie würde in die Geschichte des Landes eingehen als die Phönixin, die dem ersten Eviad seit hunderten Jahren zur Seite stand. Man würde sich an ihren Namen erinnern, und das nicht nur, weil sie Tod und Verderbnis bringen würde. Das Summen der Kraft vibrierte in ihren Gliedmaßen, die sie abermals sanft vor ihrem Körper zusammenführte.
      Ihre tiefroten Augen begegneten Zoras‘ braunen Gegenspielern. Er schob einen Arm um ihre Taille, zog sie an sich und küsste sie vor versammeltem Volke. Er war nicht der hocherhobene Herrscher, der weit weg von seinem Volke stand. Sie war keine Göttin, die unantastbar für die Menschen war.
      Hiermit hatte sie sich der wahren Unsterblichkeit ein Stück nähergebracht.

      Der Weg zurück zum Stadthaus entpuppte sich als zeitraubende Angelegenheit. Konstant musste Kassandra ihre Präsenz verdichtet halten, damit die Menschen ihnen nicht zu Nahe kamen. Bewusst wandelte Kassandra den langsamen Gang in eine Art zeremoniellen Ritualgang aus, damit die Bürger des Landes sie als das feiern konnten, was sie nun darstellten. Sie sollten ruhig ihren Eviad aus nächster Nähe sehen, aber anfassen unterband die Phönixin rigoros. Es setzte sich sogar am Hause Havas‘ fort, wo Kassandra ihre Magie wie eine Kuppel um das Haus spannte, damit die Menschen nicht noch näherkamen. Dauerhaft spürte sie nun das Kratzen am Rande des Bannkreises, wo hunderte Hände versuchten, durch die unsichtbare Barriere zu dringen.
      Zoras ließ sich geschafft auf das Sofa fallen, während Kassandra mit verschränkten Armen im Raum stand und ihn betrachtete. Nach außen hin wirkte sie völlig unbeeindruckt, allerdings wusste sie, dass ihr irgendwann all die Hände am Bannkreis auf die Nerven gehen würde. Aber welche Wahl hatte sie schon?
      „Ich muss gestehen, dass ich es nicht weiß“, beantwortete sie seine Frage und schoss gezielt eine Welle aus Magie in die Richtung, wo sich gerade die Aura der Nymphe weiter verdichtet hatte. Sie löste sich umgehend auf. „Ich denke, wir sollten Schriftkundige kontaktieren. Jene, die es aus den Aufzeichnungen herauslesen können. Andernfalls laufen wir ein weiteres Mal in unbekanntes Territorium, und das möchte ich eigentlich vermeiden. Du wirst nicht nur Wachen brauchen, du benötigst auch jemanden, der sich mit der Kultur und den Riten und allem auskennt. Einen Berater neben mir.“
    • Es gab nur wenige Male, in denen selbst die Phönixin ihre Erfahrung nicht für die Situation nutzen konnte, und dieses eine Mal war eine davon. Aber auch, wenn es Zoras etwas enttäuschte, selbst von ihr nichts von der Krönung in Erfahrung zu bringen, wusste er doch, dass sie dafür sehr viel andere Sachen tat. Sich die Menschen vom Leib zu halten zum Beispiel und ganz sicher auch noch die Champions im Blick behalten. Er wusste zwar nicht, wie sie beides gleichzeitig anstellte, während sie ein Gespräch mit ihm führte und völlig locker wirkte, aber irgendwie schaffte sie es. Kassandra schaffte sowas immer.
      Müde rieb er sich die Augen mit dem Handballen.
      "Schriftkundige, ja. Wir müssen herausfinden, was der vorherige Eviad getan hat, vielleicht auch, ob es noch mehr als ihn gab. Wir brauchen auch die ganze Prophezeiung, nicht nur das, was Faia uns erzählt hat. Und irgendeine Unterweisung in kuluarischer Kultur."
      Faia. Er fragte sich, wo die Frau momentan sein mochte. Sie waren auf einer anderen Route geritten, um das Wort des Eviads weiterzutragen, aber auch wenn sie in der Hauptstadt wären, könnte er sie wohl kaum in der Menge ausmachen. Kassandra womöglich. Aber er wollte ihr nicht noch etwas aufbürden.
      Draußen krachte es kurz, relativ nah, allerdings nicht so laut. Zoras wandte den Kopf zu einem verhangenem Fenster.
      "... Hat da jemand etwas geworfen?"
      Und so war es auch, denn nachdem niemand nahe genug herankommen konnte, ferngehalten von einer unsichtbaren Barriere, hatte man einen Stein geschmissen. Es war nur ein einzelner, aber er wurde begleitet von tosendem Gebrüll nach Eviad.
      Zoras sah zurück zu Kassandra, dann stand er mit einem Ächzen auf.
      "Genug Pause. Das Volk verlangt, also bekommt das Volk auch. Hilf mir mit einer kurzen Rede, du kennst all die komplizierten Wörter."
      Dann setzten sie sich zusammen für einen abschließenden Auftritt an diesem Tag, der ihnen hoffentlich etwas Ruhe einbringen könnte.

      Aber mit dieser Hoffnung lagen sie falsch. Zoras wurde mit großem Applaus empfangen, aber die Geräuschkulisse ebbte nicht weiter ab, selbst dann nicht, als sie Havas und seine Feuerwachtmänner damit beauftragten, doch etwas Ruhe in die Meute zu bringen. Keine geschlossenen Fenster konnten den Lärm abhalten. Zoras fluchte, während er sich in das bescheidene Ehebett legte und unter fremden Decken zur Ruhe zu finden versuchte. Jetzt mehr denn je war er auf seine Göttin angewiesen, die nicht von seiner Seite wich. Ohne Kassandra würde er sicherlich schon anfangen, die Nerven zu verlieren.
      Er kuschelte mit ihr, indem sie sich mit dem Rücken zu ihm legte und er eine Decke zwischen ihre beiden Körper klemmte. Immerhin konnte er so das Gesicht an ihrem Nacken vergraben und den Geruch von Freiheit und unendliche Weiten einatmen. Es half ein wenig die Anspannung zu lockern, die in seinen Muskeln saß.

      Kassandra war es zu verdanken, dass er schlafen konnte. Ihr war es auch zu verdanken, dass er überhaupt bis zum Morgengrauen schlief, ohne größere Unterbrechungen. Ihr war es zu verdanken, dass keine weiteren Gegenstände mehr auf das Haus flogen und die Nymphe keinen Einzug unter ihrem Dach fand. Ihr war es zu verdanken, dass Havas und seine Männer so etwas wie eine Struktur in ihre Aufgabe bringen konnten. Ihr war es zu verdanken, dass der künftige Eviad ausgeruht und wohlgenährt die nächsten Schritte plante. Ihr alleine, durch einen konstanten Arbeitsaufwand, der sich über Stunden hinweg erstreckte.
      Havas, der irgendwie die Rolle des Dienstboten übernahm, trieb einen Gelehrten auf, der sich mit der Prophezeiung auszukennen behauptete. Der Mann brachte einen Stapel Schriftrollen mit sich, die zu Zoras’ großer Resignation auf alt-kuluarisch verfasst waren. Natürlich. Er fragte, ob es sie nicht auf neu-kuluarisch gäbe.
      “Aber warum sollte es das?”
      Der Gelehrte sah ihn erstaunt, aber auch etwas scheu an.
      “Jedes Kind kann doch alt-kuluarisch lesen.”
      Aber gesprochen wird es nicht mehr.
      “Nein, das wird es nicht.”
      Wieso wird es dann gelehrt?
      Der Mann sah jetzt aus, als würde er an der geistigen Fassung des neuen Eviads zweifeln.
      “Mit Verlaub, natürlich um die Prophezeiung zu lesen.”
      … Warum auch sonst.
      Zoras machte Blickkontakt mit Kassandra, dann beugte er sich über das Papier.
      Lest vor. Ich lese mit.
      Der Mann gehorchte.

      Die Prophezeiung war selbstverständlich länger und gedehnt, rein aus dem Zweck, sie göttlich scheinen zu lassen. Sie war ja auch göttlich, aber Zoras hätte gut darauf verzichten können. Die wenigen Bestandteile, die sich ihnen daraus entschlossen, konnten keine ganze Krönung füllen. Sie brauchten jemanden, der sich konkret auskannte.
      Jemanden vom Fach, der mit dem Palast arbeitete. Aber all jene waren mit absoluter Sicherheit vom Rat manipuliert und deren Informationen konnten nicht getraut werden. Also musste jemand anderer herhalten und da sie sich nicht sicher sein konnten, ob dieser Jemand auch wirklich die richtigen Informationen besaß, ließen sie hinterher noch jemand kommen. Und dann noch jemanden und noch jemanden. So viel, dass bald der ganzen Stadt bewusst sein müsste, dass der Eviad sich über die Krönung zu informieren versuchte.

      Während dieser ganzen Zeit verhielt der Palast sich ruhig. Dionysus bewegte sich ausschließlich in den selben Räumen herum, Esho kurierte sich vermutlich von seinen Verletzungen, Halmyn ging ein paar Mal vor das Tor, wenn die Menge zu laut wurde, um sie zur Ruhe zu bitten. Oronia lebte ausschließlich im Wasser. Ohne Unterbrechungen versuchte sie, eine Lücke in Kassandras Verteidigung zu finden und hindurch zu gelangen. Ihre Aura lebte so nahe an ihrem Bannkreis, wie es ihr möglich war, und verdichtete sich sofort wieder, wenn die Phönixin sie verscheuchte. Sie schlief nicht und sie hatte auch kein sonstiges Ziel. Sie schien allein aus dem Zweck zu handeln, Kassandra zu ärgern, aber darin hatte sie ein besonderes Talent.

      Am Tag darauf kam ein Bote des Palastes zu ihnen. Er kam nicht herein, weil Kassandra zu misstrauisch war, übermittelte aber die Nachricht, dass er ein Geschenk habe, zu Ehren des künftigen Eviads: Eine Flasche feinsten Rotwein, erzeugt von dem Gott des Weines höchstpersönlich. Es hieß, ihn zu trinken würde die Geschmacksknospen auf neue, unbekannte Höhen heben. Es solle das beste sein, was die Erde vorzuweisen hatte.
      Der Wein hatte keine Aura.
    • Bei dem Namen eines Menschen, de Kassandra beinahe aus ihrem Bewusstsein verbannt hatte, regte sich etwas in ihr. Sie persönlich hegte kein Interesse daran, was aus Faia oder Tysion geworden war, doch Zoras war noch immer ein Mensch mit weltlichen Bindungen, die zwar fragil sein mochten, aber dennoch vorhanden waren. Er war eine beträchtliche Zeit mit ihnen gereist, weshalb es durchaus nachvollziehbar war, dass er sich im Gegensatz zur Phönixin schon Gedanken machte, wo seine ehemaligen Gefährten sich des Weges verirrt hatten.
      „Ich würde jetzt nicht unbedingt einen Barden befragen, aber es gibt garantiert Gelehrte, die Zugriff auf die alten Schriften haben. Wir sollten einen von ihnen ausfindig machen, um-„
      Ein gedämpfter Schlag ließ sie abbrechen und ihre Miene verzog sich leicht verärgert. Ihr Blick folgte jenem von Zoras, der genau richtig schlussfolgerte. Sie hatte angenommen, dass es genügen würde, die Menschen auf Abstand zu halten. Dass sie sich erdreisteten, Steine zu werfen, hatte sie nicht erwartet.
      „Ja, haben sie. Weil sie nicht näher an die Bleibe ihres Führers kommen“, bestätigte Kassandra, deren Stimme merklich tiefer geworden war. Sollten sie noch einen einzigen Stein werfen, dann würde sie höchstpersönlich dafür sorgen, dass kein Mensch nah genug herankam, um überhaupt irgendetwas in ihre Richtung werfen zu können. Folglich war es die einzig richtige Entscheidung von Zoras, seine Göttin mit einer Rede abzulenken, damit sie ihren Gelüsten nicht wirklich verfiel. Mit einem Nicken setzte sie sich zu ihm und half ihm, die rechten Wörter und Aussprache zu finden.

      Während Zoras seine Rede draußen vor dem Volke hielt und mittels Havas und seinen Leuten versuchte, das Meer an Menschen ein wenig zu maßregeln, war Kassandra nur wie ein Schatten an seiner Seite. Es ereignete sich kein Zwischenfall mit den Champions oder Ratsmitgliedern, was sie ein wenig entspannter stimmte und sich am Ende des Abends in einer etwas ruhigeren Phönixin äußerte, die sich zu Zoras ins Bett legte und sich von ihm löffeln ließ. Mit jedem Atemzug, den er an ihrem Nacken nahm, wurde er ruhiger, fühlte sich sicherer. Doch er sah nicht, dass seine Göttin unbewegt die Wand ihnen gegenüber musterte. Die Decke in ihrem Rücken war ein Fremdkörper und ihr wurde ein weiteres Mal bewusst, wie sehr sie es verabscheute, dass man Zoras innerhalb von vier Jahren so sehr verstört hatte. Es würde ihr keine Genugtuung bescheren, denjenigen zu bestrafen, der ihm das angetan hatte. Aber die schiere Machtlosigkeit gegenüber dem, was man ihm angetan hatte, fraß sich tief in ihre Gefühlswelt. Mit all ihrer Macht war sie es gewohnt, mit nur einem Fingerschipp zu bekommen, was sie wünschte, und hier lag sie nun mit einer lächerlichen Stoffdecke im Rücken, die sie von Zoras‘ Körper trennte und der einzige Weg war, wie er überhaupt ihre Nähe in der Form ertragen konnte. Das war eine Krankheit, die sie nicht mit ihrer Magie heilen konnte, und die vielleicht niemals vollends ausheilen würde.

      Entgegen ihrer Hoffnung entpuppte sich der aufgetriebene Schriftkundige als Enttäuschung. Die Schriften, die Kassandra ohne Schwierigkeiten lesen konnte, enthielten nur einen Bruchteil an nötigem Wissen, welches sie für die Krönung brauchten. Nicht nur das, es gab auch nicht einen Verweis darauf, was die vorherigen Eviads getan hatten. Es waren nicht mehr als einige Worte, die Umstände beschrieben, aber nicht die eigentlichen Handlungen oder Konsequenzen. Wer auch immer diese Schrift niedergelegt hatte, gehörte ausgepeitscht und eingesperrt. Irgendwann klickte Kassandra nur noch leicht genervt mit der Zunge, nachdem sie genug gehört und sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt hatte.
      Nutzlos. Das war alles völlig nutzlos.
      Irgendwann musste sich Kassandra doch ein wenig Luft verschaffen und tat dies völlig unterschwellig. Noch während der Gelehrte zusammen mit Zoras über den alten Texten hing, schmälerten sich Kassandras Augen leicht, als sie nach dem Punkt am Rande ihres Bannkreises suchte, wo sich Oronias Aura verdichtete. Kaum hatte sie sie ausfindig gemacht, griff sie mit ihrer Aura nah ihr und hielt sie fest. Immer stärker komprimierte sie ihre Aura um das verdichtete Arsenal der Nymphe, bis es ein schier unaushaltbarer Druck sein müsste. Schließlich ploppte es gedanklich, als der Druck zu groß wurde und das Bewusstsein der Nymphe harsch aus dem Wasser in ihrer Nähe gepresst wurde. Ein bisschen weniger angespannt verlagerte Kassandra ihr Gewicht, nachdem sie ihre Tat vollendet hatte. Mehr als ein wenig Druck ablassen war es jedoch nicht gewesen.

      Einen Tag später bekam der Eviad einen Tribut. Unter Kassandras wachsamen Augen postierte sich der Überbringer des Tributes vor ihrem Bannkreis und wartete angemessen darauf, dass sie ihn zu Kenntnis nahm. Die Nachricht wurde jedoch durch eine der Wachen übermittelt, die die Göttin dazu bewegte, aus dem Haus zu treten und sich dem Rande ihres Kreises zu nähern. Ihr Blick fiel auf einen Soldaten in der Farbe des Weingottes, der eine Kiste in den Händen hielt, die zweifellos den Wein enthielt. Kassandra baute sich vor dem Mann auf und bedachte die Kiste mit einem Blick, worauf der Soldat sie öffnete und die Flasche ans Licht beförderte. Nach einem kurzen Mustern war klar: Der Wein war weder von Oronia befleckt noch durch Dionysus manipuliert worden. Kassandra und der Wachmann tauschten einen Blick aus, dann nahm sie die Flasche in Empfang.
      „Richtet unseren Dank aus.“ Damit machte sie kehrt und verschwand wieder im Haus.
      Zoras war fast augenblicklich an ihrer Seite, als die Phönixin die Flasche auf den Tisch in der Speisekammer stellte und mit einem Fingerschwenk die Flasche entkorkte. Es dauerte einen Moment, ehe sie zwei passende Gläser gefunden hatte und sie auf den Tisch neben der Flasche stellte, um sie aufzufüllen.
      „Dionysus per se ist nicht auf Gewalt oder Unfairness aus. Solange er sich unterhalten fühlt plant er keine Coup d’etat. Weshalb es durchaus sein kann, dass er einem Geschenke wie diesen Wein zukommen lässt“, erklärte Kassandra, bevor sie ihr Glas nahm, es schwenkte und einmal kurz kostete. Für sie war der Wein eine vage Erinnerung vor Äonen von Jahren. Als sie noch im Himmel täglich diesen Wein bekommen hatte und es so selbstverständlich wie das Wasser auf der Erde war. Für Zoras hingegen, der diesen Umstand nicht kannte und eine menschliche Zunge besaß, würden sich wahrlich neue Höhen auftun. Sie nickte zu dem Glas an seiner Seite.
      „Ist sicher. Aber leere nicht die ganze Flasche auf einmal, ja?“
    • Etwa 100 Meter weiter, in einem Waschzuber in einem Innenhof eines Wohnblocks, rüttelte es mit einem Mal. Der Innenhof lag verlassen da, leer gefegt, die Arbeiten vergessen und niedergelegt durch den Aufruhr, der noch am gestrigen Tag entbrandet war. Das Wasser war fahl, gräulich verfärbt von vergessener Wäsche, die dort über den Rand hing. Ein paar Flusen trieben auf der Oberfläche und ein paar verlorene Blätter. Der Zuber stand fest auf dem Boden.
      Das Holz knackte, dann war es wieder still. Der ganze Innenhof war grundsätzlich ruhig, unwissend über den Radau der geistigen Welt, der dort in diesem Moment vor sich ging.
      Das Holz knarzte wieder, dann begann das Wasser mit einem Mal Blasen zu schlagen, groß und immer größer werdend, richtige Kugeln, die sich auf der Oberfläche bildeten und wieder zerplatzten. Das Wasser kochte nicht, doch die Geräusche ließen darauf schließen.
      Es beruhigte sich wieder für einen Moment, nachdem es ein paar Sekunden geblubbert hatte, doch dann explodierte der einsame Zuber mit einem lauten Knall. Die Holzbretter barsten bei der Wassermasse, die ohne Vorwarnung nach allen Seiten spritzte und dabei eine einzelne, feste Gestalt unter sich bildeten. Mit einem Platschen landete sie gut zwei Meter neben dem zerstörten Zuber auf dem Boden und blieb dort liegen.
      Oronia die Nymphe nahm einen erstickten Atemzug und kotzte dann einen Schwall Wasser aus. Ihr sterblicher Körper mochte sich vollständig gebildet haben, aber so schnell, wie es geschehen war, hatte sie sich kaum von all dem Wasser befreien können, von dem sie sich gebildet hatte. Sie war froh gewesen, ihn auf die Schnelle vollständig hinbekommen zu haben und sich nicht körperlich zerfetzt zu haben, aber menschliche Lungen konnten nunmal kein Wasser verarbeiten.
      Sie krümmte sich auf dem Boden zusammen und nahm schmerzende Atemzüge. Wasser klebte ihr noch in den Atemwegen, aber momentan konnte sie das auch nicht ändern. Ihre Verbindung mit ihrem Element war so abrupt gekappt worden, dass sie sich merkwürdig zerrissen fühlte, als wäre sie irgendwo zwischen der Schwerelosigkeit des Wassers und dem Druck der Sterblichkeit hängen geblieben. Ihre Muskeln zuckten von wirren Energiestößen, mit denen sie sich sonst durch das kuluarische Nass bewegte.
      Die Phönixin hätte sie umbringen können. Natürlich war das jetzt unmöglich, weil ihre Essenz sicher verwahrt bei ihrem Träger war, aber sie hätte es tun können. Sie hätte Oronia wie eine Wasserblase platzen lassen können.
      Die Nymphe lag noch einige Sekunden lang zuckend mit weit aufgerissenen Augen auf dem Boden, dann begann sie sich aufzurichten. Ihre Gelenke gehorchten ihr noch nicht so recht, wie bei einem Kind, das gerade erst zu Laufen lernte, aber mit Sturheit alleine richtete sie sich in eine sitzende Position auf. Da erschallte schon die Stimme ihres Trägers in ihren Gedanken.
      Was ist passiert?
      Oronia sah sich nach dem Wasser auf dem Boden um, von dem sie sich gerade erst zusammengesetzt hatte, und in diesem Augenblick schlug der Zorn über diese Frechheit mit solcher Macht über sie ein, dass sie keine Worte benötigte, um ihrem Träger ihre Gedanken mitzuteilen. Wie hatte sie es wagen können! Wie konnte diese Phönixin sich erdreisten, die Nymphe aus ihrem eigenen Element zu pressen!! Die ganze Nacht schon hatte sie damit verbracht, sich an einen Vogel vorbei hinein zu drücken und dann hatte sie es mit einem einzigen Gegenschlag vergolten! Wer glaubte sie, wer sie war?! Eine Gottheit des Olymps?! Jemand namenhaftes?! Sie war nichts, nur ein jämmerlicher, feuerspeiender Vogel! Nichts!!
      Wilben schwieg, auch wenn sie genau wusste, dass er ihren Gefühlsausbruch verstanden hatte. Immerhin hatte er schon über 70 Jahre Erfahrung darin, mit Oronia zu kommunizieren.
      Komm zurück, kam schließlich die schroffe Antwort. Einem ganz natürlichen, bereits gewohnten Drang folgend, wieder zurück zu ihrem Träger zu gelangen, egal auf welchem Weg, erhob die Nymphe sich auf schlotternde Beine. Sie riss sich von einer nahen Wäscheleine einen Bettlaken herunter, in den sie ihren noch nassen Körper wickelte, bevor sie dann auf den Torbogen zu taumelte. Jetzt musste sie auch noch zu Fuß gehen, weil ihre Aura zu komprimiert, zu zusammengepresst war, um sie in etwas flüssiges, lockeres wie fließendes Wasser aufgehen zu lassen. Dieses Miststück würde dafür bezahlen!

      Am darauffolgenden Tag schenkte Kassandra Zoras und sich etwas vom Wein ein, nachdem das anfängliche Misstrauen überwunden war. Sie alleine hatte den Wein in Empfang genommen, so wie sie sich auch um alles andere kümmerte, was Zoras womöglich gar nicht mitbekam. Der konzentrierte sich eher auf den Wein; er war zwar kein Weintrinker, selbst zu seiner Zeit als Herzog nicht, aber er nahm sein Glas doch neugierig entgegen. Den Wein von dessen Schöpfer persönlich zu erhalten, war dann doch etwas anderes.
      Probeweise roch er daran.
      Kennst du ihn persönlich, Dionysus? Seid ihr euch einmal begegnet? … Lassen sich die hohen Götter überhaupt nieder, mit jemand anderem als ihrer Art zu sprechen?
      Während er ihrer Antwort lauschte, nippte er bereits daran; und riss überrascht die Augen auf. Der Wein trat über seine Lippen und breitete sich dann mit einer angenehmen Wärme auf seiner Zunge aus. Ein bitterer, fruchtiger Geschmack entfaltete sich, ein Geschmack nach Wein, ja, aber in einer solchen Intensität, die sämtlichen anderen Wein wie Spülwasser schmecken ließ. Er aktivierte Geschmacksknospen, von denen Zoras noch nicht einmal geahnt hatte, dass sie existierten, und ließ sie regelrecht aufblühen. Er hätte meinen können, dass er Farben schmeckte.
      Verblüfft nahm er das Glas wieder herunter und starrte den Inhalt an, der langsam in seinem Mund verging, aber dabei einen Schleier zurückließ, der nur dazu einlud, gleich wieder mehr nachzuschenken. Selbst das Phantombild des Weines war noch immer intensiv genug, um sich völlig in sein Gedächtnis einzuprägen.
      Himmelsscheiße.
      Jetzt verstand er auch, dass Kassandras Empfehlung eher eine Warnung gewesen war. Die ganze Flasche zu trinken würde vermutlich keinerlei Mühe benötigen, aber sehr viel stärker wirken als die gleiche Menge Met.
      Er zögerte, trank noch einmal und stellte das Glas dann endgültig ab. Wenn er noch weitertrank, würde er vermutlich gar nicht mehr damit aufhören können.
      "Dann müssen wir uns um ihn keine Gedanken machen, solange er unterhalten ist. Das wird er wohl auch. Was ist mit den anderen, traust du dir zu, sie im Zweifel in Schach zu halten? Die Gorgone, die Nymphe, der Minotaurus? Der Zyklop womöglich auch?"
    • Kassandra schmunzelte, als Zoras an dem Glas mit dem Wein roch, welches sie ihm eingeschenkt hatte. Das Rot des Weines besaß einen anderen Unterton, der immer dann ins Auge fiel, wenn man die Flüssigkeit schwenkte und Licht stärker hindurch fiel. Dann fielen die dunklen Nuancen auf, die mal violett, mal blutrot erschienen und zusammen einen undurchsichtigen, satten Rotton bildeten.
      „Natürlich kenne ich ihn nicht persönlich. Als ich noch in der Ebene der Götter beheimatet war, reichten mythische Wesen vom Rang her nicht bis zu den namenhaften Göttern. Also nein, weder habe ich ihn damals getroffen noch mit ihm gesprochen“, beantwortete sie die Frage während sie die Arme vor der Brust verschränkte und dabei zusah, wie nur ein einziges Mal am Wein nippte und ganz offensichtlich von seiner Wirkung bereits getroffen worden war. „Allerdings war sein Name natürlich bis an die äußeren Rande bekannt und er zählt zu den wenigen namenhaften Göttern, die ihre Fähigkeiten zum Wohle aller einsetzte. Er hat praktisch die gesamte Ebene mit Wein unterhalten, weswegen wir auch schon in dessen Genuss gekommen sind.“
      Das Schmunzeln wuchs zu einem wissenden Lächeln heran, obgleich die Phönixin niemals nachvollziehen konnte, wie es als Sterblicher wohl sein mochte, himmlische Gaben kosten zu dürfen. Seine Verblüffung und die Wortwahl, die er nun traf, verstärken ihre Mimik nur noch. Solche Worte hatte sie recht selten aus seinem Munde vernommen.
      „Wie ich bereits sagte. Aufpassen. Da sind Mächte im Spiel, die du nicht handhaben kannst.“
      Sachte zog sich Kassandra einen Stuhl heran und ließ sich anmutig auf dessen Sitz gleiten. Ihre Hände legte sie entspannt auf dem Tisch ab und führte nur die Fingerspitzen zusammen, deren Kuppen sie abwechselnd berührte. Ihre Miene wurde ein wenig pikiert bei seinen weiteren Fragen.
      „Du fragst wirklich, ob ich sie im Schach halten könnte? Habe ich dir nicht oft genug bereits versichert, dass das Individuum kein Problem darstellt, sondern vielmehr die versammelte Macht? Ich kann jeden von ihnen allein problemlos aus dem Weg räumen, manche auch zu zweit. Bei dreien wird es wohl schwierig, aber was ihr individuelles Potenzial betrifft, reicht keiner von ihnen an meine losgelöste Macht heran. Außer womöglich Dionysus, aber solange er es amüsant findet, wie ich die anderen in ihre Bestandteile auflöse, dürfte es keine Schwierigkeiten geben.“
      Bei dem Gedanken daran, wie Kassandra Oronia buchstäblich ausgequetscht hatte, bekam ihr Lächeln einen diabolisch anmutenden Zug. „Die kleine Nymphe durfte das schließlich auch schon am eigenen Leibe erfahren. Noch immer hält man sie an, sich meiner Barriere zu erwehren, was sie nun schmerzlich erfahren durfte. Es würde mich nicht wundern, wenn sie zutiefst gedemütigt in ihrer menschlichen Hülle durch die Straßen und Gassen zurück zum Palast stolpern muss.“
      Dabei lehnte sich Kassandra leicht zurück und reckte das Kinn ein wenig höher, was sie sehr selbstzufrieden erscheinen ließ.
      „Sowohl Zyklop als auch der Minotaurus besitzen keine magischen Fähigkeiten. Denen kann man mit entsprechender Magie recht schnell beikommen. Die Nymphe ist magisch veranlagt, stellt aber mittels der fehlenden Essenz keine Gefahr dar. Die Gorgone ist eine Mischung aus beidem und könnte je nach Erfahrungsgrat in Kombination etwas schwieriger zu händeln sein. Aber in einem reinen Duell kann niemand von ihnen mir das Wasser reichen, und das wissen sie. Deswegen agieren sie dermaßen gut zusammen, um doch eine Gefahr darzustellen und ihre Position zu behaupten.“
      Das diabolische aus ihren Zügen schwand und ein neuer Ausdruck trat in ihr Gesicht. Ihre dunklen Augen musterten Zoras eingehend, der sich keinen weiteren Schluck des Weines genehmigt hatte und damit eine bemerkenswerte Selbstkontrolle an den Tag legte. Es funkelte in den Untiefen ihrer Iriden, als etwas wölfisches in ihren Blick trat.
      „Wie geht es dir denn? Spürst du irgendetwas oder fühlst du dich noch unverändert? Eigentlich weiß ich gar nicht, wie viele Schlucke es bei Menschen bedarf, bis die Wirkung des Weines einsetzt“, sagte sie auf einmal und nur der sorgenfreie Tonfall versicherte ihrem Gegenüber, dass die Auswirkungen definitiv ungefährlich für ihn sein würden. Mehr allerdings auch nicht.
    • Die Vorstellung des Olymps, in dem die Schöpfer der Welt sitzen und über ihre Kreation herrschen sollten, war Zoras gänzlich fremd. Er hatte es sich immer als Raum vorgestellt, oder eher Halle, in dem lange Tische und große Stühle standen, aber das kam ihm primitiv vor - genauso wie der Gedanke, dass eine Phönixin dort einfach auftauchen und mit einem von ihnen reden könnte. Das waren wohl allzu menschliche Vorstellungen, die den Gesetzen von Zeit und Raum unterlagen. Kassandra hätte vermutlich, wäre sie noch im Himmel, keine Chance, jemals direkt zu den Göttern zu sprechen. Also ähnlich den Menschen.
      Interessant war aber zu wissen, dass sein Wein wohl sämtliche göttliche Geschöpfe unterhalten hatte. Wie auch sonst, es war schließlich nicht so, als würden sie sich mit einer menschlichen Schaffung wie Met zufrieden geben.
      Aufmerksam lauschte er auch, wie Kassandra ihm ein weiteres Mal versicherte, gegen die einzelnen Champions keinerlei Probleme zu haben. Dionysus würde nicht handeln, solange er sich amüsierte, Zyklop und Minotaurus waren ihr beide magisch unterlegen, die Nymphe war wohl kaum der Rede wert und nur die Gorgone, die sowohl magisch, als auch körperlich veranlagt war, könnte ein Problem darstellen. Allerdings sollte wohl auch sie im Zweikampf übertrumpft werden können.
      Doch lag genau dort der Schwachpunkt.
      "Sie sind kaum jemals nicht zusammen. Wenn sie nur einzeln agieren würden, wenn sie hier einzelne Aufgaben und Bereiche hätten, wären sie womöglich auseinander zu bringen, aber sie sitzen alle permanent auf einem Fleck. Wenn wir in den Konflikt mit ihnen geraten, dann nur mit allen."
      Vielleicht wäre das eine Möglichkeit, dieses Risiko aus der Welt zu schaffen. Aber bevor sie das überhaupt angehen konnten, mussten sie erst noch die Krönung überstehen. Und alles, was danach kommen mochte.
      "Wie es mir geht?"
      Er sah auf sein Weinglas hinab. Der Geschmack lag immernoch auf seiner Zunge, seine Kehle fühlte sich weich und geschmeidig an, bereit dazu, noch mehr von diesem göttlichen Gesöff herunter zu schlucken. Mit zwei Schlucken fühlte er sich aber kaum anberauscht.
      "Du meinst, abgesehen davon, dass man von diesem Zeug ganz sicher abhängig werden könnte? Dann geht es mir gut. Ich mag Wein noch nicht einmal besonders, aber der hier ist natürlich außerweltlich."
      Er griff schon nach dem Glas, wie, um sich selbst noch einmal davon zu überzeugen, konnte sich aber noch davon abhalten. Nein, von einem solchen Wein wollte er nicht abhängig werden. Da war ihm Met doch um einiges lieber.
      "Ich werde Havas fragen, vielleicht bekommen wir von irgendwo ein Fass Met geschenkt. Das wäre doch ein passenderes Präsent?"
      Er schenkte Kassandra ein kurzes, kleines Lächeln. Für den Moment sah doch alles, trotz ihrer Hindernisse, gar nicht mal so schlecht aus.

      Die nächsten Stunden ließen sie noch mehr Kundige kommen, die Havas für würdig befand, um sie über die Krönung aufzuklären und bereits die ersten Kulturen und Traditionen in Kuluar zu erklären. Ob sie mit ihrem Wissen richtig lagen, stand in den Sternen geschrieben, aber zumindest gab es doch so einige Überkreuzungen in ihren Erzählungen. Zoras war überrascht davon, wie wenig er von diesem Land wusste, in dem er sich zwei ganze Jahre lang selbst durchgeschlagen hatte. Er konnte ja noch nicht einmal alt-kuluarisch lesen, auch wenn er merkte, dass diese Dinge umso wichtiger für ihn sein würden.
      Immerhin würde er auch als König ein gänzlich anderes Bild anstatt als Söldner haben.
      Auch die weiteren Tage waren mit dieser Beschäftigung geprägt. Es kamen keine weiteren Geschenke aus dem Palast, geschweige denn irgendwelche Nachrichten oder Annäherungen, auch wenn Oronia einen Tag nach ihrer Niederlage schon wieder im Wasser lebte, sich jetzt aber im gehörigen Abstand zu Kassandras Aura bewegte. Dafür drängten mit jedem Tag mehr Leute heran, die den neuen Eviad kennenlernen wollten: Ansässige Bewohner, Reisende, Händler, Schneider, Schmiede, Poeten, Meister, Geistige. Die Stadtwachen hatten auf den Straßen schon längst wieder für Ordnung gesorgt, aber bei Havas' Haus konnte selbst die härteste Peitsche nichts ausrichten. Irgendwann wurde es aufgegeben, damit man nicht die vergangene Unruhe wieder förderte.
      Das menschliche Schutzschild eben, das noch immer für sie arbeitete.
      Zoras ließ sich zum ersten Mal seit Jahren wieder herrichten. Mehrere Barbiers wurden vorstellig, von denen Kassandra penibel einen auswählte, der Zoras' Haare in Form brachte und seine Bartstoppeln professionell entfernte, alles unter der strengen Aufsicht selbiger Phönixin, die ihn vermutlich bei lebendigem Leib verbrannt hätte, wenn er mit seiner Klinge Zoras' Hals auch nur zu nahe kam. Aber das tat er nicht und Zoras fühlte sich auch eigentlich recht entspannt während seiner Behandlung. Es erinnerte vielmehr an seine Heimat als die Wochen in einem dunklen Verlies. Fast genoss er es sogar.
      Auf dieselbe Weise wurde ein Schneider ausgewählt, der ihm ein paar anständige Klamotten anschaffen sollte, wofür er seine Maße nahm. Zoras ließ es geschehen und als er nur zwei Tage später vor einem Spiegel stand, die Haare gekämmt, frisch rasiert, in einem Aufzug, der schon fast einer Uniform glich, da sah er Zoras Luor aus dem Spiegelbild zurück starren, ein zielgerichteter Herzog mit Plänen und Wünschen. Er sah einen Mann, der für die Liebe seines Landes selbiges verriet und gleichzeitig weigerte, ein Kind zu köpfen. Er sah einen Mann, der, in sämtlicher Hinsicht, tot sein müsste.
      Da wandte er sich ab und zog das Hemd wieder aus.
      "Wenn ich schon Kleidung gestellt bekomme, dann doch wenigstens Reitklamotten. Wo ist eigentlich Kassadra? Sie wird doch im Stall noch versorgt, oder?"
      Für den restlichen Tag sah er sein Spiegelbild nicht noch einmal an.

      Eine kuluarische Krönung folgte einem traditionellen Ablauf: Der neue Eviad wurde namentlich bekannt gegeben. Der Rat verkündete offiziell seinen Entschluss, aufgrund dessen der Eviad seinen Titel erhalten sollte. Der Eviad musste sein Amt ausdrücklich annehmen und seinen Namen in den Prophezeiungstext einfügen. Danach würde jedes Mitglied des Rates denjenigen persönlich anerkennen, indem er ihm die Essenz des eigenen Champions darbot. Der Eviad war dazu angehalten, die Essenzen abzulehnen, weil er als Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde unbefleckt bleiben musste. Im Anschluss folgte eine Prozession durch die Stadt, die im Palast enden würde, wo man den Eviad in seinem neuen Zuhause willkommen heißen und ein Festmahl abhalten würde. Das Festmahl solle - wörtlich übersetzt - solange gehen, bis die Götter der Entscheidung zugestimmt hatten.
    • „Gut, es stimmt, dass wir in der Regel davon ausgehen müssen, dass wir die gesamte Gruppe und keinen einzelnen Champion zu erwarten haben. Andererseits muss ich zugeben, dass ich bislang immer sehr darauf bedacht war, wenig Kollateralschäden zu verursachen.“ Kassandra umspielte mit ihrem Zeigefinger die Lippe ihres Weinglases, in dem nur noch eine kleine, rötliche Lache war. „Die Verhältnisse werden sich ändern, wenn ich schlagartig freisetze, was in meinem Kern schlummert. Nur kann ich dann nicht mehr für die umstehenden Menschen bürgen.“
      Im Laufe der Zeit hatte die Phönixin gelernt, dass man das Spielen und Aufschieben direkt sein lassen sollte. Verfolgte man ein Ziel und wollte es unter allen Umständen erreichen, dann zog man es nicht in die Länge, sondern schlug am besten blitzartig zu. Wenn sie alle Champions außerhalb der Stadt versammelten und sie ohne Ankündigung wortwörtlich explodierte, dann standen die Chancen gut, dass sie mit diesem einen Schlag all ihre Probleme aus dem Wege räumen würden. Allerdings wäre damit zeitgleich das Argument zerschlagen, dass sie friedliebend und den Menschen zugetan sei. So viel Macht war für den simplen Geist der Menschen einfach zu viel und förderte eine Urangst zutage, die tief in ihrer Natur verankert war.
      Ein gedehntes Summen entfuhr Kassandra auf Zoras‘ Antwort hin. „Mhm… abhängig könntest du von dem Wein werden. Aber dann ist ja gut, dass du dich so sehr unter Kontrolle hast.“ Das Lächeln, mit dem sie seines erwiderte, konnte man nicht anders als spitzbübisch bezeichnen. Anscheinend hatte der Schwur ihn auch gegen solche Kleinigkeiten resistenter gemacht. Vielleicht musste Zoras nun einfach zwei oder drei Gläser von dem Wein trinken, damit die aphrodisierende Wirkung vollends einschlug, denn dafür war Dionysus‘ Wein in aller Munde bekannt.

      In den folgenden Stunden begab sich Kassandra wieder in ihre Rolle des Schattens oder, wie sie manchmal für sich selbst bemerkte, als hübsches Beiwerk. Längst hielt sie ihren Stolz als Göttin für begraben, doch je länger sie in der Hauptstadt residierten und je mehr Worte nur für den Eviad erklangen, desto sicherer wurde sie, dass sie die Huldigung mindestens genauso sehr wollte wie alle anderen Götter. Immer wieder erinnerte sich die Phönixin selbst daran, dann sie erst einmal Zoras‘ Sitz festigen mussten und danach konnte sie immer noch zusehen, zur Landesgottheit aufzusteigen. Eins nach dem anderen, Stufe um Stufe.
      Immerhin hatte Kassandra der Nymphe endlich klargemacht, wo ihr Platz war. Von nun an hielt sie sich weiter auf Abstand als jemals zuvor und das ließ Kassandra ihr so durchgehen. Von den anderen Champions war kein Lebenszeichen gekommen, und auch dafür war Kassandra dankbar. So konnte sie ihr magisches Level auf den niedrigsten Wert drosseln, der ihr die Menschen vom Hals hielt und nicht ständig auf Hochtouren wegen der anderen Götter laufen musste. Nichtsdestotrotz inspizierte sie jeden einzelnen Barbier, der sich auf Zoras‘ Geheiß hin eingefunden hatte, um aus dem Söldner eine Amtsperson zu machen. Mit gewissem Argwohn beobachtete sie den fremden Mann bei seinem Werk, der es tadellos bewerkstelligte. Gleiches galt für den Schneider, der den ehemaligen Herzog in Gewandung steckte, die deutlich landes- und standestypischer ausfiel als alles andere zuvor. Als Zoras zwei Tage später erstmals allein in einer Kammer vor einem Spiegel stand, mit Kassandra als seinen Schatten schräg hinter ihm an der Wand lehnend versetzt, war von dem Söldner nicht mehr viel zu sehen. Zunächst stand Kassandra so in seinem Rücken, dass sie sein Spiegelbild nicht sah. Von hinten betrachtet wirkte er unverändert, diesen Rücken hatte sie etliche Male gesehen. Er mag vielleicht etwas breiter oder gar kräftiger, bulliger, geworden sein, aber es war noch immer der gleiche Mann. Erst, als sie ein paar Schritte zur Seite machte und auch sie einen Blick mittels des Spiegels von seiner Front bekam, weiteten sich auch ihre Lider kaum merklich. Offensichtlich fiel ihnen beiden derselbe Gedanke ein, denn beide starrten nur das Abbild an und schwiegen über mehrere Sekunden. Das, was Kassandra dort im Spiegel sah, kam dem alten Zoras Luor unglaublich nahe. Aber nur solange, bis man auf die Details achtete. Auf das veränderte Hautbild, wo die Verhärtungen der Haut dank des fehlenden Bartes nun prägnant betont wurden. Insbesondere die Art, wie seine Augen das Licht brachen, zeugten von so viel mehr Dingen, die der alte Zoras, der Herzog Zoras, niemals hätte erleben können. Das dort war ein Herzog, der in einer alternativen Zukunft hätte existieren können, doch nicht im Hier und Jetzt ihrer Zeitlinie. Die Wärme, die trotz allem in Kassandras Brust aufstieg und sich sanft wie zwei Hände um ihr Herz legte, war jedoch nicht abzusprechen. Dieser Mann war wie ein Weckruf aus längst vergangener Zeit, und während Kassandra ihn noch eine Ewigkeit so hätte betrachten können, wandte sich Zoras von seinem alten Selbst ab, das er nicht mehr ertragen konnte. Sie verriet sich nur dadurch, dass sie nicht umgehend und präzise auf seine Frage hin antwortete, sondern erst verzögert darauf antwortete. Eine Erklärung dafür lieferte sie ihm jedoch nicht.

      So verstrichen die Tage zur Krönung hin erstaunlich unauffällig. Jeder Tag, der ohne Zwischenfall dahin tröpfelte, ließ Kassandra jedoch wachsamer als zuvor werden. Sie ahnte, dass nur auf den rechten Augenblick gewartet wurde, um dann zuzuschlagen. Dafür wollte sie gewappnet sein und gipfelte an dem Tag der Krönung darin, dass sie konstant von einem Halo umgeben war als pure Demonstration ihrer Macht. Wie einen schützenden Schleier hatte sie Zoras mit ihrer Magie überzogen, einem Schutzschild gleich, den man nicht ertasten konnte und nur unter speziellen Umständen ausgelöst wurde. Man hatte ihnen aufgetragen, sich bereits am frühen Vormittag am Tempel einzufinden, um die Kundgabe vorzubereiten. Das taten Kassandra und Zoras dann auch, begleitet von einer eigens auserkorenen Leibwache. Man hatte sie um Eviad und Göttin angeordnet, die in einer Traube ihren Weg zum Tempel bestritten, entgegen der Richtung zum Palast. Aber wo sonst sollte man denjenigen ausrufen lassen, der von den Göttern geschickt und mit ihnen im Pakt stand?
      Der Tempel schien mehreren Einflüssen im Laufe der Zeit ausgesetzt worden zu sein. Es gab keine zentrale Gottheit, die man in dessen Zentrum oder gar am Altar mittels einer Statue nachgeahmt hätte, sondern lediglich Dekorationen verschiedenster Geschmäcker waren ringsherum drapiert worden. Alles Leihgabe von Gläubigern, die den Ratsmitgliedern zu huldigen schienen. Kassandra verzog daraufhin nur angewidert das Gesicht. In Zukunft würde ein Abbild von ihr dort stehen und ihre schützende Hand über das Land halten.
      Rings um den Tempel war jedes freie Stückchen mit Menschen besetzt. Sie alle wollten es hören, wie man Zoras als neuen Eviad ausrief und der Rat sich ihm unterstellte. Hier wäre die Frage, wie sehr Kassandra agieren konnte, sollte es zu einem Eklat kommen. Doch sie setzte darauf, dass der Rat nicht zuschlagen würde, wenn die Krönung erst begonnen hatte. Sie würden es später tun, subtiler. Und darauf war Kassandra eingestellt.
    • Der Tag der Krönung wurde als Feiertag ausgerufen. Unter normalen Umständen wäre das ein gänzlich gewöhnlicher Vorgang, doch weil sie in Kuluar waren, hinterließ es unangenehme Fragen. Steckte mehr dahinter als die reine Befriedigung des Volkes? Erhoffte der Rat sich Hintertüren von einem solchen Akt? Ging es um mehr als nur den Feiertag?
      Zoras mochte nicht, dass er so schnell in die Gewohnheit zu rutschen drohte, die gegenwärtige Regierung des Landes nach Strich und Faden hinterfragen zu wollen, aber nachdem er mitbekommen hatte, wie Entscheidungen dort gefällt wurden - und besonders auf welcher Grundlage - konnte er sich nur allzu gut vorstellen, wie auch der Vorgang hinter diesem Entschluss gewesen sein musste. So sehr er es auch drehen und wenden mochte, er konnte sich nicht vorstellen, dass auch nur ein einziges gutes Wort über diesen heutigen Tag fallen würde.
      Zu seiner Erleichterung - vielleicht aber auch zu seiner Beunruhigung - schien Kassandra das ganz ähnlich zu sehen. Seit ihrer Offenbarung vor den Toren des Palastes hatte sie ihre Göttlichkeit niemals wieder verschleiert, aber an diesem Tag strahlte sie regelrecht in einem Licht, als wolle sie sämtliche Kräfte des Olymps in sich bündeln. Das Licht hatte sich auch ein wenig auf Zoras übertragen, wie ein Schleier, der von Kopf bis Fuß seine Haut bedeckte, aber das meiste ging noch immer von der Phönixin aus. Kassandra stellte sicher, dass die ganze Stadt wusste, dass sie anwesend war. Sie stellte auch sicher, dass niemand den Fehler beging, ihren Schützling als angreifbar zu erachten.
      Eigentlich hätte es ein fröhlicher Tag sein müssen, ein Tag voller Glanz und Glorie, an dem Wünsche erfüllt wurden und das Leben auf eine neue Stufe angehoben wurde, auf die höchste, die man sich in diesem Land vorstellen konnte. Doch Zoras fühlte sich mit dem Schmutz des Krieges besudelt, als er an diesem Tag seine maßgeschneiderten Festtagsklamotten anzog. Dies hier schien wie der Anfang einer langen, mühseligen Belagerung.

      Der Tempel, in dem die Krönung stattfand, war genauso heuchlerisch wie das ganze Spektakel um die so märchenbehaftete Prophezeiung. Ganz anscheinend wurde die Heiligenstätte als zentrale Anlaufstelle für sämtliche Ratsmitglieder verwendet, denn hier gab es keine hohen, aufmerksamkeitsheischenden Statuen, die auf die Meute an Besuchern hätte herab sehen können, sondern eine Ansammlung bunter Opfer- und Leihgaben, die sich alle in den schillernden Farben der Mitglieder abzusetzen versuchten. Der ganze Haufen war bunt, wirr und chaotisch, ohne erkennbare Struktur oder Regeln. Eine schaurig realitätsnahe Darstellung des Rates selbst.
      Es dauerte keine halbe Stunde, bis der große Vorraum des Tempels bis auf den letzten Zentimeter mit schaulustigen Besuchern gefüllt war. Kassandras aufmerksame Überwachung lieferte ihnen die Kenntnis, dass die Menschen unlängst alle anliegenden Straßen verstopften und trotz Platzmangel heranzudrängen versuchten. Kaum eine Woche war es her, dass der mögliche Eviad eingetroffen war, und wenn überhaupt, waren mittlerweile noch mehr Leute hinzugekommen. Es gab auch Gegner, Protestanten, die versuchten, die Position des Eviads zu untergraben und den Rat in seiner Stellung zu stützen, aber zum Glück waren sie deutlich in der Unterzahl. Das ersparte weitere, mühsame Arbeit.

      Zoras schlüpfte von seinen bunten Festagsklamotten in einen ihm gestellten, grauen Überzug, der ein wenig an einen Leinensack erinnerte, wäre der Stoff nicht von feinstem Gewebe und würde sich an den Rändern in schwierigste Stickkunst auflösen. Soviel zumindest hatten sie früh erfahren können: Farben unterschieden die Ratsmitglieder auf einen Blick und solange Zoras keine eigene Farbe gewählt hatte, durfte er niemals, unter gar keinen Umständen irgendeine Art von Farbe zur Schau stellen. Man könnte missverstehen, dass er unter den Ratsmitgliedern einen Favoriten hatte, oder gar schlimmer, dass er ihm unterstellt war, und solche Gerüchte verbreiteten sich viel schneller, alsdass man sie wieder umkehren konnte. Damit hatte er gerechnet; aber als er das form- und farblose Stück jetzt trug, winkte er Kassandra heran.
      "Verbrenn mir die Ärmel; nur etwa bis hier."
      Er deutete es ihr an und blickte dann in die klugen, feuerroten Augen herab. Natürlich verstand sie sofort und natürlich verbrannte sie ihm den Stoff auf eine Art, wie es nur eine Göttin des Feuers zustande bringen konnte. Die vorherige Stickerei zerfiel zu Asche, aber an ihrer Stelle prangte ein unvergleichliches Zeichen des Feuers, ein Symbol der Phönixin. Das war besser als jedes maßgeschneiderte Gewand.

      Die Ratsmitglieder trudelten in einer Karawane ein, Kutsche um Kutsche, allesamt schwerst bewacht und selbstverständlich durch eigens dafür abgesperrte Straßen hindurch - nicht etwa für zusätzliche Sicherheit, sondern rein für den Symbolismus. Sie konnten die Menschenmassen umgehen und den Tempel durch einen Hintereingang betreten, von dem aus sie sogleich ihre zehn vorgesehenen Plätze einnehmen konnten. Keiner machte die Anstalten, mit Zoras oder gar Kassandra ein Wort zu wechseln oder ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als unbedingt notwendig. Sie waren alle in die schönsten Kleider gehüllt, die Kuluar wohl hervorbringen mochte, traditionelle Uniformen, die sich Zoras nicht ganz erschlossen, aber von der Zeremonie selbst wirkten sie unbeeindruckt. Eine weitere Pflicht an einem bereits anstrengenden Tag, eine weitere Sache, der sie sich widmen mussten. Wenn die Kuluarer sich von ihrer Regierung dieselbe Euphorie und Begeisterung erhoffte, wie sie sie verspürten, wurden sie bodenlos enttäuscht.


      Die Zeremonie wurde mit schallenden Fanfaren eingeleitet. Zoras durfte nicht selbst gehen, stattdessen wurde er auf einer Art Sänfte von grauen, gesichtslosen Trägern getragen, die ihn bis nach vorne auf die Erhöhung des Altars brachten, wo er sowohl über dem kuluarischen Volk stehen, als auch die scharfen Blicke des Rates in seinem Rücken ertragen konnte. Dort musste er sich niederknien und abwarten.
      Die ältere Frau - deren Namen ihm noch niemand mitgeteilt hatte - war diejenige, die als erstes aufstand und den Zuspruch der Menschen geben musste, eine Anerkennung an den vor ihr knienden Eviad, dass er in den Augen der sterblichen Wesen dieser Welt als der Mann anerkannt wurde, der er ausgab zu sein. Sie hielt ihre Rede zwar mit einer Monotonie in der Stimme, die alles andere als feierlich war, aber ihre Worte wurden sowieso von einem Chor weitergetragen, der den ganzen Tempel erklingen ließ. Die vielschichtigen Stimmen dröhnten mit ihren Worten durch den Raum hinweg und bis auf die Straße hinaus, platonisches Gesülze, das mehr der Show als irgendetwas anderem zugute tat. Zoras war das nur recht, denn er musste nur bestätigen, dass er ein Mensch war. Danach setzte die Frau sich und der Zyklop stand auf, richtete sich zu der Menschenmasse aus und donnerte mit kräftiger Bassstimme einen drastisch vereinfachten Text heraus, der keine unnötigen Worte für die massive, aber kleinhirnige Kreatur bereithielt. Dies musste und konnte kein Chor weitertragen. Der Zyklop sprach und als er geendet hatte, musste Zoras bestätigen, dass er den Wille der Götter auf sich nahm. Die Rollen wurden vertauscht, als der Champion sich setzte und Zoras sich diesmal erhob, sich umdrehte und auf die Ansammlung an Kuluarern hinab blickte, die allesamt verstummten, um seiner Annahme zu lauschen. Zoras musste ihnen bestätigen, dass er der Auserwählte war, dass er der einzige war, dass niemand anderer jemals vorherbestimmt worden war als er selbst.

      Nun war Zoras niemand, der sich vor Reden scheute, nicht vor Zivilisten, nicht vor dem Militär, nicht vor Politikern. Er konnte reden, er besaß eine gewisse Wortgewandtheit und besonders eine Präsenz, mit der er sich ganz natürlich auf Podesten erhob und seine Zuschauer in den Bann zog. Aber dieses eine Mal nur, das erste Mal in etlichen, wenn nicht gar allen Jahren, zögerte er. Das erste Mal ruhten zu viele Augen auf ihm.
      Denn was er dort vor sich sah, die Ansammlung an bunten Haarschöpfen mit festlichem Schmuck und großen, tränenden oder hoffnungsvollen Blicken, waren in seinen Augen nicht weniger Kuluarer, als dass es auch Therisser hätten sein können, Massen an groß gebauten Luorern, oder vielleicht auch Kerellern, Niligadern, Rievern, allesamt versammelt für einen Zweck, allesamt unter seinem Wappen vereint, loyal bis in den Tod, ergeben in sämtlichen Facetten. Was für einen Unterschied machte es aus, dass er hier in Kuluar und nicht in Theriss stand? Wo lag der Unterschied zwischen diesem Tempel und einem Tempel, der in Theriss stand? Was machte einen Kuluarer so anders von einem Therisser? Warum sollte es anders sein, wenn kein Wappen über dem Eingang schwang, sondern alles mit fünf Farben versetzt war? Wo lag der Unterschied?
      Er wusste mit dieser Frage nichts anzufangen und doch war es etwas, bei dem er spürte, dass die Antwort einen maßgeblichen Einfluss auf ihn haben würde. Wo lag der Unterschied? Warum war das wichtig?
      Sein Blick glitt über die Köpfe hinweg, über die Reihen an Zuschauern, bis er sich an dem feurigen Haar seiner Phönixin verfing, an Kassandra, die an der Seite stand, fast unauffällig, und doch die einzige Schranke bildend, die ihn zu schützen wusste. Sie war selbst eine Statue, eine Göttin, die nicht atmen und nicht blinzeln musste, aber deren Blick für ihn so viel mehr aussagte als das blanke Feuer, das darin tanzte. Sie war ein Unterschied. Die Kassandra in Theriss war eine Sklavin ihrer Essenz gewesen, ein Mittel zum Zweck, aber auch eine Liebe, die sich schnell über die Grenzen der sterblichen Sinne hinaus erhoben hatte. Die Kassandra heute war eine Göttin, eine Herrin über sich selbst und ihre Welt. Die Kassandra damals schreckte die Menschen mit der Gestalt eines Feuervogels ab, die Kassandra heute mit einem Blick und einer pulsierenden Präsenz. Sie war ein Unterschied.
      Vor Zoras' innerem Auge sah er einen Jungen auf dem Boden liegen, heulend und schluchzend und flehend, während seine eigene Schwertspitze auf dessen Hals gerichtet war. Er sah jetzt viel deutlicher die Abzweigung, die sich in diesem entscheidenden Moment vor ihm aufgetan hatte, eine Spaltung des Weges vor ihm, die er nicht umgehen konnte. Er sah den Moment, in dem er einen Fuß vor den anderen gesetzt hatte und sich für einen Pfad entschieden hatte. Er sah auch, dass er eine lange Zeit noch hätte wechseln können, dass seine erste Entscheidung noch nicht endgültig hätte sein müssen. Aber damals hatte er sich entschieden und seine Augen fortan gegenüber dem anderen Weg verschlossen, sie einzig und allein auf die Sackgasse gerichtet, die vor ihm aufragte. Hätte er sich anders entschieden, hätte er eines Tages diese Rede vor dem Thron von Theriss gehalten, auf therissisch und nicht kuluarisch, vor seiner Familie und vor seinen Freunden, vor Kassandra. Er hätte eine Uniform getragen und kein graues Gewand. Er hätte eine Krone entgegen genommen und sich nicht von einem Menschen und einem Gott segnen lassen. Er hätte ein Siegel für all die therissischen Verträge anfertigen lassen und keine Farbe gewählt. Aber schlussendlich hätte er regiert.
      Was, wenn es noch einen dritten Weg gegeben hätte? Wenn es keine Spaltung gewesen wäre, so wie er angenommen hatte, sondern eine ganze Kreuzung? Wenn Kassandra nicht der Unterschied, sondern die Konstante war?
      Er blinzelte sie an. Er wartete - und dann öffnete er den Mund und hielt seine Rede mit einem strammen, disziplinierten Tonfall, in einem Dialekt, der die Rs zu zackig formte und die Worte zu abrupt abhackte. Er stellte sich als das Gleichgewicht dar, das Kuluar brauchte und das dem Land seine Zukunft sichern würde. Er erkannte sich selbst als Eviad an.
      Die Frau hieß ihn an, die Regentschaft des Eviads in einer Farbe niederzulegen, die ganz Kuluar mit seinem neuen Herrscher verbinden sollte. Und Zoras antwortete ohne zu zögern:
      "Türkis."
    • Wenn sich Kassandra im Voraus bereits wie ein Schatten gefühlt hatte, so wurde dieser Eindruck am heutigen Tage noch übertrumpft. Alle Augen waren auf den Eviad gerichtet, wie er in seinem unspektakulären grauen Sack, dessen Ärmel sie bis zu denn Ellbogen verbrannt hatte, zum Zentrum des Altars und damit der Aufmerksamkeit aller getragen wurde. Kassandra selbst war weiter unterhalb zurückgeblieben, weder ein Teil des Gefolges des Eviads noch zugehörig zu den Ratsmitgliedern, deren Gesichter entweder keinerlei Ausdruck oder nur eine milde Form der Ablehnung zeigten. Etwas in der Phönixin fühlte sich nicht wohl, begehrte unter der aktuellen Situation auf. Immer wieder war ihr dieses Gefühl gekommen und jedes Mal hatte sie es abgetan als ein unnützes Gefühl, das fehl am Platze war. Doch an dem heutigen Tage war es stark wie nie zuvor. Immer wieder hörte sie aus dem Stimmengewirr Zoras‘ Namen, aber niemals den ihren. Nachdem sie ihre volle Macht wiederbekommen hatte und sie nicht mehr mittels einer Knechtschaft gebunden war, war auch ihre Göttlichkeit mit sämtlichen Vor- und Nachteilen zurückgekehrt. Jede Faser ihres Götterdaseins sprach sich entgegen der Behandlung aus, die sie jetzt gerade erfuhr und es war einzig und allein ihrem Willen geschuldet, dass sie nicht längst dafür gesorgt hatte, dass die Menschen ihren Namen nicht nur anerkennend aussprachen. Eine innere Stimme schrie sie kontinuierlich an, dass nicht sie zu jemanden aufsehen sollte, sondern dass es andersherum sein musste.
      Einzig und allein der Moment, als sich Zoras erhob und zu den Kuluarern sprechen sollte. Das Zögern, das er aufgrund einer anderen Tatsache kurz zeigte, ließ die Stimme in der Phönixin einhalten. Sie kannte ihn zu lange, zu gut, als dass sie nicht mit absoluter Sicherheit bestimmen konnte, dass es keine Nervosität war, weshalb er zögerte. Oder weil er gar überwältigt sein mochte. Noch immer war sie nicht in der Lage, seine Gedanken lesen zu können, aber so, wie er auf die Menge an Köpfen hinabblickte und seine Sicht über die Menschen glitt, ahnte sie, dass dort eine andere, schwerwiegende Entscheidung anstand. In Schweigen gehüllte verfolgte sie seinen Blick, der immer weiterwanderte und schließlich an ihr vorüberzog, nur um wie ein Gummiband zu ihr zurückzuschnellen. Dunkle Augen trafen auf rubinrote und selbst auf die Distanz hin stellte Kassandra fest, dass sie maßgebliche seine Entscheidung beeinflusste. In welcher Hinsicht auch immer das sein mochte. Letztendlich traf er sie und signalisierte es dadurch, dass er zu seiner Rede ansetzte, die er zusammen mit ihr erstellt hatte. Sie war es gewesen, die ihm Worte übersetzt und ihm die Aussprache gelehrt hatte. Sie war es gewesen, die ihm gesagt hatte, welche Umschreibungen für das einfach Volk und welche für den Rat zu wählen waren. Und sie war es gewesen, die ihm gesagt hatte, dass er sich nicht die Mühe machen sollte, seinen Akzent zu überspielen.
      Als er schlussendlich seine Farbe als Zeichen der Regentschaft nannte, wusste die Phönixin unlängst, welche er wählte. Es war sein Zeichen der Anerkennung für Kassandra, eine Geste, die ihr eigentlich hätte schmeicheln sollen. Doch stattdessen fühlte sich der innere Teil in ihr mehr als nur gereizt. Er fühlte sich beschmutzt, regelrecht entehrt und untergraben. All die Menschen, die sich nun in diese eine Farbe kleideten und Gaben entsprechend eben jener entrichteten, taten dies nur aus dem Grund, da ihr Eviad diese Farbe gewählt hatte.
      Und nicht, weil es die auserkorene Farbe von Kassandra war.
      Dort, wo sie stand, bemerkte niemand, wie steif Kassandra wurde. Oder dass ihr Gesicht nicht mehr so entspannt war wie zuvor. Solange ihre Präsenz und Aura gleichmäßig waren und nicht wankten, würde es niemanden auffallen, wie aufgewühlt sie im Inneren war. Wie sehr sie im Disput mit ihrer Seele und ihrer Göttlichkeit war. Spätestens hier begriff sie, was Loki mit seinen Worten einst außerdem gemeint hatte. Sie war so lange nicht im Besitz ihrer Göttlichkeit gewesen, dass sich ihre Seele und ihre Natur voneinander entfernt hatten. So weit, dass sie sie vielleicht nie wieder in Einklang bringen können würde. Das machte sie zu der unberechenbaren Gefahr, die er angekündigt hatte. Deshalb war sie der Funken am Pulverfass, der das Gleichweicht der Welten stören konnte.
      Esho erhob sich von seinem Platz. Noch immer trug er Bandagen aus dem Kampf, wenn auch wesentlich besser versteckt unter seiner Kleidung, die kein Gewand, sondern eher eine aufwendig bestickte und geschnittene Lederrüstung war. Sein Gang war aufrecht, so als hätte er nie eine Schmach erlitten, und zielte auf einen Diener ab, der einen ganzen Korb an Bändern in verschiedenen Farben mit sich führte. Bis auf jene der Ratsmitglieder natürlich. Man hatte scheinbar im Voraus sämtliche Farben vorbereitet, um im Falle des Falles genau die richtige griffbereit zu haben. Ohne zu zögern griff der junge Mann nach dem türkisen Band und wickelte es sich um sein Handgelenk. Dann ging er ohne Umschweife auf Zoras zu. Parallel dazu verengten sich Kassandras Augen. Noch hatten nicht alle Ratsmitglieder ihre Zustimmung bekundet, also war es nichts Ungewöhnliches, dass das Mitglied seinen Zug nun vornahm. Nur die Sache mit dem Band war ihr nicht geläufig und versetzte sie direkt in eine gewisse Alarmbereitschaft.
      Indes war Esho zu Zoras heraufgestiegen. Als sich Zoras bereits hinknien wollte, wie er es zuvor auch getan hatte, hielt Esho ihn mit einem scharfen Kopfschütteln davon ab. Seine Miene war dieses Mal nicht von Spott oder Hohn gekennzeichnet, sondern wirkte ungewöhnlich seriös. Wie zu einem Handschlag streckte er die Hand mit dem Band aus und wartete, dass Zoras sie ergriff. Kaum schlug der Eviad ein, fing Esho an, das Band von seinem Gelenk teilweise ab- und um Zoras‘ zu binden, bis sie buchstäblich miteinander verbunden waren.
      „Es ist die Aufgabe des Kopfes der Streitkraft das oberste Kommando zu übergeben“, erklärte er nüchtern, wohlwissend, dass ihn niemand sonst hören konnte. „Ich bin noch immer derjenige, der das Militär führt, aber die Entscheidungsgewalt muss ich leider an dich abtreten.“ Damit hob er kurz ihrer beiden Hände an ehe er das Band von sich vollständig löste und es Zoras überließ. Mit einem Nicken zog sich Esho wieder zurück und steuerte seinen Sitzplatz an. Dabei begegnete er Kassandras Blick, die ihn eingehend betrachtete und der er lediglich ein verschmitztes Grinsen bescherte. Asterios würde nicht vortreten – der Minotaurus war der Sprache der Menschen nicht mächtig.
    • Nach der Bekanntgabe der Farbe erfolgte die Übergabe, soviel hatte Zoras auch schon umrissen. Da er ein Gleichgewicht sein sollte, brauchte er die ausdrückliche Zustimmung beider Seiten, um das Amt bekleiden zu können. Da beide Seiten der Prophezeiung zugestimmt hatten, waren in dieser Hinsicht ihre Hände gebunden.
      Und doch verspürte er keinerlei Siegesgefühl, keine Euphorie, keinen Stolz dabei, als der erste von ihnen - zu seiner nicht geringen Überraschung Esho - aufstand und zu ihm trat. Da war noch immer die gleiche Anspannung, die ihn seit dem Morgen fest im Griff hatte, und das gleiche Gefühl davon, dass er hier keine Krone entgegen nahm, sondern einen Krieg beschritt. Womöglich waren es seine eigenen Nerven, der mühselige, aufreibende Weg bis hierher, die Anstrengung des vergangenen Jahres, ja sogar der Jahre davor, die ihn daran hinderte, ehrliche Freude zu empfinden. Er wurde König, er wurde Herrscher; war das nicht der Traum jedes Bürgers, ob nun Kuluarer oder Therisser? Müsste er sich hierbei nicht ein lebenslanges Ziel erfüllen?
      Esho kam mit einem türkisen Band zu ihm, was ungewöhnlich war, denn Zoras wusste zwar, dass er das türkise Band annehmen sollte, aber nicht, dass es in Verbindung mit jemand anderem stehen würde. War das normal, war das üblich? Ein Seitenblick in die Menge gab ihm zwar nicht die Information, die er gesucht hatte, aber er zeigte ihm auch, dass es keinen Skandal auslöste. Die vordersten Reihen starrten wie gebannt zu den beiden Männern hoch, die Augen weit aufgerissen, ohne zu blinzeln. Vermutlich waren sie auch in der Arena gewesen; das Zeichen, das Esho hier setzte, war doppeldeutig.
      Zoras sah dem jüngeren Mann in die Augen, während er sein Gelübte ablegte. Er hätte vielleicht mit Ablehnung oder gar Hass gerechnet, aber Esho betrachtete ihn nur nüchtern und kam seiner Pflicht nach, nicht mehr und auch nicht weniger. Was auch immer der Verlust in der Arena bei ihm angestellt hatte, er konnte es gut verbergen.
      "Ich nehme es an."
      Der andere nickte offen, dann zog er sich zurück. Ein Brausen zog durch die Menge, ein Aufbauen von Gefühlsregungen. Nur noch neun weitere davon und Kuluar hatte ganz offiziell einen Eviad.
      Zoras sah noch einmal zu Kassandra zurück, er musste einfach. Sie hatte sich kein bisschen gerührt, gab auch jetzt keine Regung von sich, auch wenn sie seinem Blick begegnete. Er lächelte nicht; sie auch nicht.

      Der nächste war ein Gott, aber nicht Asterios, wie Zoras vermutet hätte, sondern der Zyklop. Er stand auf und stapfte zu Zoras nach vorne, seine nackten, riesigen Füße auf dem blanken Stein in der aufkommenden Ruhe ein leichtes Schaben. Seine Bewegungen waren allein durch die schiere Größe langsam, sein Rücken war etwas gebeugt, sein Kopf lag weiter vorne als seine Schultern. Seine Lippen schlossen sich nicht ganz, man konnte stets noch ein Teil der Zähne sehen. Das einzelne Auge blinzelte nicht; Zoras war sich nicht sicher, ob er es jemals hatte blinzeln sehen.
      Der Zyklop ragte vor ihm wie ein fleischiger Fels in die Höhe empor. Er streckte eine Hand aus, so wie Esho es getan hatte, und als Zoras die lederne Haut zu ergreifen versuchte, verschwand seine eigene vollständig in der des anderen. Der Gott könnte ihm vermutlich den gesamten Arm mit einem Ruck herausreißen, schoss es ihm durch den Kopf. Das war kein schöner Gedanke, während er sich klar wurde, wie wenig er diesen Handschlag unter Kontrolle haben würde.
      Der Zyklop bewegte sich aber nicht mehr. Er hatte nur seine Hand genommen und öffnete jetzt den Mund.
      "EVIAD..."
      Das Monstrum konnte vermutlich gar nicht leise sprechen, fiel ihm jetzt auf, als die brodelnde Stimme ihm entgegen donnerte.
      "NICHT GOTT. ICH GOTT. DU EVIAD."
      Vermutlich war das das Äquivalent zu "Ich erkenne dich, als Gott, hiermit als Eviad an". Zoras nickte bestätigend.
      "Ich nehme an."
      Seine eigene Stimme konnte wohl kaum so weit getragen werden wie die des Zyklops, doch dafür ließen Taten sprechen. Der gewaltige Gott ließ ihn los und beinahe gleichzeitig brandete die Menge wieder ein Stück auf. Vielleicht erleichtert, wie Zoras es sich einbilden mochte.

      Der dritte war wieder ein Mensch: Der Träger des Zyklopen. Er erhob sich in der Sekunde, als sein Champion sich auf dem überdimensionalen Stuhl niedergelassen hatte und kam mit gemäßigten Schritten herüber geschlichen. Der Mann war schlank gebaut, fast ein wenig dünn, fast ein wenig knochig; auch er hatte eine leichte Krümmung im Rücken, die ihn aber viel eher wie eine Katze wirken ließ, die bereit dazu war, ihr Fell zu sträuben. Er sah Zoras nicht direkt an so, wie die beiden anderen, er sah zu allererst zu Kassandra hinüber, dann weiter zur Menge und dann erst zu Zoras. Hinter den etwas kleineren Augen konnte man ein Gehirn rattern sehen, das ganz eindeutig nicht dazu ausgelegt war, einen Schmiedehammer oder gar ein Schwert zu schwingen. Seine Schritte schienen bedacht, sein Blick kalkulierend. Das Gewand, das er trug, erinnerte viel eher an einen Gelehrten als an ein Mitglied einer Regierung.
      Er kam vor Zoras zum Stehen und sah, durch einen geringen Größenunterschied, zu ihm auf. Sein Blick glitt über Zoras' Gesichtszüge, bevor er, ähnlich privat wie Esho zuvor, fragte:
      "Welchem Gott huldigt Ihr?"
      Darauf hatte Zoras natürlich nur eine Antwort:
      "Kassandra."
      Der Mann betrachtete ihn, schien für einen Moment den Kopf schütteln zu wollen, überlegte es sich dann aufgrund des Symbols anders und verzog stattdessen nur das Gesicht ein bisschen.
      "Ich meinte, welchem Gott huldigt Ihr?"
      Zoras verstand nicht, worauf der Mann herauswollte. Daher blieb er bei seinem wahrheitsgemäßen:
      "Kassandra."
      Der Mann seufzte, fast schon enttäuscht, dann streckte er die Hand aus. Zoras ergriff sie.
      "Mein Wort soll deines sein."
      "Ich nehme an."
      Sie lösten sich voneinander. Der Träger ging und schien dabei frustriert.

      Die vierte kam verzögert. Nachdem der Mann sich gesetzt hatte, verstrichen ein paar Sekunden, in denen Zoras alleine vorne stand, bevor die Trägerin von Dionysus sich erhob und auf ihn zugeschlendert kam. Sie wirkte jung, wenn schon nicht körperlich, dann doch eher geistig. Ihre Augen waren groß und weich, ihr Gang unbeschwert und federnd, ihr Kleid eine reine Zierde, eine Zurschaustellung von Reich- und Besitztum. Sie hatte nicht die richtige Ausstrahlung für eine Führungsposition, dafür wirkte sie zu unerfahren. Sie wirkte selbstbewusst, aber das schien sich auch auf das reine Äußere zu beschränken; ein objektiv nicht zu verachtendes Äußeres.
      "Ich glaube, wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt", lautete die Ansage, als sie sich noch kaum bei ihm aufgestellt hatte. Ihre Hand schnellte vor und als Zoras sie ergriff, schüttelte sie sie einmal kräftig.
      "Mein Name ist Feyra. Mein Champion ist Dionysus."
      "Sehr erfreut."
      Zoras war sich in diesem Augenblick sicher, dass es eigentlich ein offizielles Protokoll geben müsste, irgendeine Art von vorbestimmten Floskeln, die sie hier wie die Prophezeiung abarbeiten mussten. Ganz sicher war diese Zeremonie nicht dazu gedacht, einander vorstellig zu werden. Aber wenn es hier einen gab, der sich an das Protokoll gehalten hätte, dann vielleicht der Zyklop - und auch Esho, zu gewissen Teilen. Vom Rest durfte Zoras das wohl nicht erwarten.
      "Und Ihr wart?"
      "Zoras."
      Ein Lächeln blitzte in ihrem Gesicht auf, danach zog sie die Hand zurück. Es entstand eine kurze, unangenehme Pause, bevor sie etwas ungeduldig zischte:
      "Nun sagt schon."
      "Ich nehme an."
      Da nickte sie und zog erhobenen Hauptes wieder von dannen; eine weitere Aufgabe an diesem Tag erfüllt. Mehr sollte von ihr wohl nicht erwartet werden.

      Die fünfte war die Gorgone. Die Göttin stand auf und kam geräuschlos zu Zoras stolziert. Die Schlangen auf ihrem Kopf bogen und streckten sich in alle Richtungen, aber sie waren alle ruhig. Nicht wenige richteten sich nach Kassandra aus und starrten die Phönixin an.
      Die Gorgone mochte eine gewöhnliche Größe besitzen, aber mit dem ausladenden Schlangenhaar wirkte sie fast größer als Zoras. Der hielt seinen Blick auf ihr Schlüsselbein gesenkt, gerade weit genug unten, um ihren Mund zu sehen, aber nicht ihre Augen zu erblicken. Dorthin ließ er den Blick gerichtet, bis die Göttin in einem säuselnden, fast lockenden Tonfall flüsterte:
      "Du musst mir schon in die Augen sehen."
      Er wusste nicht, ob er das musste; auf der anderen Seite konnten die Menschen in den vordersten Reihen sicherlich sehen, dass er nicht in ihr Gesicht blickte. Musste er wirklich? Das hatten sie nicht vorher abgeklärt. Eigentlich wollte er es vermeiden, unwiderruflich in Stein verwandelt zu werden.
      Aber nachdem für weitere Sekunden nichts geschah, tat er es - und blickte in zwei gewöhnliche, gelbe Augen empor. Sie funkelten ein bisschen, schienen das Licht im Raum auf eine Weise zu reflektieren, die ihm vollkommen unweltlich schien, aber es waren normale Augen, die ihm nichts taten. Er wurde nicht in Stein verwandelt, er fühlte sich auch auf keine andere Weise durch ihren Blick bedroht.
      Ein leichtes Lächeln umspielte das Gesicht der Gorgone, als sie ihm die Hand hinhielt. Er ergriff sie und kaum hatten ihre beiden Handflächen sich berührt, fiel mit einem Mal eine der vielen Schlangen aus ihrem Haar hinab auf ihre Schulter. Zoras sah zu dem Tier, als es sich auf der Schulter seiner Herrin kräuselte und dann anfing, mit einem eindeutigen Ziel ihren Arm entlang hinab zu kriechen. Direkt auf Zoras' Hand zu.
      "Ich bin Mirdole, Herrin des Steins", säuselte die Gorgone ihm zu, das leichte Lächeln in ihrem Gesicht noch nicht verschwunden. Sie musste sich den flammenden Blick von Kassandra bewusst sein, versteckte sich aber hinter der Rolle des einfachen Ratsmitglieds.
      "Die Schlangen hören auf mich. Meistens tun es auch die Menschen; wenn nicht, würde es ihr letztes Vergehen sein."
      Die Schlange hatte jetzt ihre beiden Hände erreicht und wand sich weiter, erklomm Zoras' Arm und von dort weiter nach oben.
      "Meine Rolle im Rat werde ich auf dich übertragen. Aber die Rolle der Gottheit kannst du nicht einnehmen."
      Für einen kurzen, grauenvollen Moment dachte Zoras, dass die Schlange sich unter seinen Ärmel winden würde, aber sie kroch über den Stoff hinweg auf seine Schulter empor. Dort begann sie zu zischen, direkt an seinem Ohr, so nah, dass er die spitze Zunge fühlen konnte. Der ganze, lange Körper bewegte sich noch immer, ein unruhiges Rollen und Kreisen, das dort auf seiner Schulter stattfand, direkt neben seinem Gesicht.
      "Die Entscheidungsgewalt liegt bei dir. Doch bisher haben alle überlebt, die sich an meine Weisheiten gehalten haben."
      Zoras wusste nicht, ob das als Drohung aufgefasst werden sollte oder nicht. Er starrte die Gorgone nur an und versuchte, nicht vor der Schlange wegzuzucken.
      Ein paar Sekunden des Schweigens verstrichen, in dem das Tier sich weiter bewegte und über Zoras' Gesichtshälfte hinweg zischte, allerdings auch über seinen Hals. Er rührte sich noch immer nicht, in gewisser Maßen zu Stein erstarrt, da ließ das Tier sich plötzlich auf die Seite fallen und rollte von ihm herunter auf den Boden. Da zuckte Zoras doch, er konnte nicht anders. Aber Mirdole ließ ihn schon los.
      "Meine Macht ist die deine."
      "Ich nehme an."
      Sie lächelte noch einmal, dann lächelte sie auch pflichtbewusst Kassandra zu und strebte ihren Rücktritt an. Die Schlange auf dem Boden zischte jetzt unruhig, rollte sich herum und begann, ihr behände nachzuschlängeln. Die Göttin war noch nicht einmal bei ihrem Stuhl angekommen, da war das Tier schon ihr Bein empor gekrochen und zurück in ihren Haaren verschwunden.

      Die Trägerin der Gorgone, als auch der alte Mann waren beide weitaus mehr erträglich als das Theater, von dem Zoras noch ein wenig Herzrasen davontrug. Wie auch Feyra hatten sie wenig Worte für ihn und schienen es nur schnell hinter sich bringen zu wollen; die Nymphe ging bei ihrem Auftritt sogar so weit, dass sie Zoras nur ein bisschen beachtete und stattdessen lieber Kassandra im Hintergrund anfunkelte. Anscheinend hatte sie die Fehde zwischen ihnen beiden weitaus ernster genommen als die Phönixin, wenn sie dafür riskierte, den Plan des gesamten Rats auf die Kippe zu stellen. Aber Zoras akzeptierte, was auch immer sie ihm entgegen warf, und für die Menge schien es genug zu sein. Mittlerweile war eine regelrechte Ungeduld aufgetreten, dass der Eviad nun endlich akzeptiert würde.

      Dionysus kam als letzter. Wie schon seine Trägerin kam er in lässiger Manier nach vorne geschlendert und lächelte Zoras ganz unverbindlich an. Er reichte ihm die Hand und Zoras ergriff sie.
      "Blah blah, Geschwafel hier, Gesülze da, du bist der Eviad, ich leihe dir meine Macht und mein Wort und alles."
      Ein leichter Stich durchfuhr Zoras' Brust, als der Gott zu sprechen begann: Dionysus hatte in ein tadelloses therissisch gewechselt. Damit hatte er nicht gerechnet, nicht hier, nicht jetzt, nicht ein paar Minuten, nachdem er sich noch genaue Gedanken über den Unterschied zwischen Kuluar und seiner Heimat gemacht hatte. Es war nicht richtig, der Zeitpunkt gänzlich ungelegen. Die Überraschung traf bei ihm auf beinahe dieselbe Nervosität wie die Schlange der Gorgone.
      "Du nimmst an, richtig? Sonst wären wir ja gar nicht hier. Oh, ich weiß es."
      Dionysus ging vor ihm auf ein Knie - der Gott kniete sich vor ihm nieder, während Zoras' Nervosität ins Unermessliche überschlug. Der andere durfte doch nicht knien - oder doch? Galten für Götter andere Regeln? Machte es einen Unterschied? Er hatte schon die ausdrückliche Zustimmung von 8 Ratsmitgliedern, hier konnte doch nichts mehr schiefgehen. Aber wenn doch? Zoras starrte ihn unbewegt an.
      Und dann drehte er seine Hand und drückte einen festen, unnachgiebigen Kuss auf seinen Handrücken.
      Zoras sog scharf die Luft ein. Er wollte ihm die Hand entreißen, ihn hoch auf die Füße ziehen, von sich stoßen, reißaus nehmen. Nicht hier, nicht jetzt - gerade nicht jetzt. Wieso musste es gerade jetzt kommen, nachdem er bereits so kurzfristig gezweifelt hatte? Warum gerade hier, warum gerade heute, nur wenige Tage, nachdem er den alten Herzog erblickt hatte? Warum musste es überhaupt geschehen?
      Kaum einer hatte jemals seine Hand geküsst, weil Zoras als Herzog seine Ehrerbietung durch Loyalität und nicht durch Handküsse erhielt. Das letzte Mal war vor vier Jahren gewesen, als Kassandra ihn geküsst hatte. Jetzt tat es wieder ein Gott, ein namenhafter Gott noch dazu, für ihn, für seinen Status als König. Er wurde wieder geküsst - er wurde überhaupt geküsst. Zu viele Emotionen prasselten auf Zoras ein, alsdass er sie hätte bewältigen können. Und Dionysus, der Gott des Weines, der niemandem etwas zuleide tun mochte, solange er sich unterhalten fühlte, grinste nur wissend, als er sich wieder aufrichtete.
      "So tut man das doch in Theriss, oder etwa nicht?"
      Zoras starrte ihn nur wie festgefroren an. Das Grinsen wurde breiter, als der andere noch ein bisschen wartete.
      "Du musst noch etwas sagen, junger Mann. Schon vergessen?"
      "Ich nehme..."
      Er räusperte sich knapp, kämpfte um seine Verfassung. Er sollte den Kuss annehmen?
      "Ich nehme an."
      Da nickte Dionysus fast schon zufrieden und wandte sich zum Gehen um.
      "Wir werden sicher ganz wunderbar miteinander auskommen."
      Er ging und zwinkerte Kassandra dabei zu. Zoras blieb alleine zurück, starr und fassungslos.
    • Die Zeit verging langsamer als angenommen. Die Geräusche rings um Kassandra herum vergingen allmählich zu einem beständigen und undeutlichen Rauschen, während sie der Zeremonie am Rande beistand. Was auch immer Esho mit seiner Aktion auszulösen gedachte; es blieb wirkungslos. Ebenso spürte Kassandra von dem Zyklopen keinerlei Gefahr, der in der aktuellen Lage ohne das Kommando seines Trägers Zoras kein Haar krümmen würde. Besagter Träger machte sich nach seinem Champion auf den Weg – ein Mann mit sichtbaren Zeichen des Alters, dessen Haltung eher kränklich als alles andere wirkte. Das wirklich Beachtliche an ihm war jedoch, dass er weder die anwesenden Menschen noch den neuen Eviad mit seiner Beachtung beglückte, sondern gezielt zu Kassandra herübersah, die den Blick ausgesprochen ausdruckslos erwiderte. Im Anschluss kamen die Menschen, dann Zoras. Diese Reihenfolge war schon mehr Informationen, als sie mit jedem weiteren Gespräch mit diesem Mann hätte gewinnen können. Er stellte Zoras nach ganz hinten an, jeglicher Respekt war ihm vollkommen abhandengekommen. Seine Interessen lagen woanders vergraben, das wurde ersichtlich, als er in ein Gespräch mit Zoras verfiel, das scheinbar nur aus Frage und Antwort bestand. Die Worte erhaschte die Phönixin von ihrem Standort aus nicht, dafür betrachtete sie seine kränklich blassblaue Aura genauer, die eine Form des Unmutes preisgab. Wahrscheinlich wegen der Antwort, die Zoras ihm lieferte und bei der sie sich sicher war, dass es ihr Name gewesen war. Frust wallte alsbald in der Aura auf, das offensichtliche Zeichen, dass Zoras ihn verstimmte hatte.
      Bei Dionysus‘ Trägerin war sich Kassandra nicht sicher, wie er in ihre Hände gefallen war. Oder wieso der Gott überhaupt auf Erden gekommen war, wenn er doch Gefahr lief, ausnahmsweise mal arbeiten zu müssen, statt sich in die hinteren Reihen mit seinem Wein zu trollen. Vielleicht wurde seine Essenz vererbt, anders konnte sich Kassandra nicht wirklich vorstellen, wie so ein Weibsstück ausgerechnet an den Gott der Unterhaltung geraten sein wollte. Eine Gefahr schien sie tatsächlich nicht darzustellen und somit fragte sich Kassandra, ob dieses junge Ding möglicherweise sogar von Dionysus selbst manipuliert wurde, um seine Zwecke zu unterhalten.
      Die erste wirklich potenzielle Unsicherheit stellte Mirdole dar. Die Anspannung, die ohnehin in Kassandras Gliedern steckte, verstärkte sich abermals, als die Gorgone auf Zoras zu schritt und Teile ihrer Schlangen sich nach der Phönixin umsahen und in ein Blickduell verfielen. Noch immer war sie sich absolut sicher, dass man hier vor versammeltem Volke kein Attentat auf den neuen Eviad verrichten würde, aber Menschen war unberechenbar und die Champions gezwungen, dem Folge zu leisten. Es erfüllte sie allerdings ein bisschen mit Selbstzufriedenheit als sie bemerkte, dass Zoras ihre Warnung noch immer zu Herzen nahm und die Gorgone nicht direkt ansah. Dass er es allerdings tun musste, war klar, und somit wartete Kassandra den genauen Moment ab, in dem sich die Blicke beider Parteien kreuzen würden. Einfach nur, damit sie der Gorgone jede Schlange einzeln ausreißen konnte, sofern sie es wagen sollte, Zoras irgendetwas anzutun. Die Schlange, die sich aus Mirdoles Haar löste, war für Kassandra keine Drohung in dem Aspekt der Gefahr. Es war ein Zeichen, eine Art, wie die Gorgone kommunizierte und die die Anspannung nicht merklich verstärkte, den flammenden Blick aber auch nicht minderte. Diese Schlangen waren giftig und der Punkt, dass so ein Viech direkt neben Zoras‘ Gesicht rumschlängelte hätte manch einen sicherlich in Panik verfallen lassen. Da er es aber nicht wusste, weil Kassandra es ihm nicht gesagt hatte, blieb er still stehen, bis sich das Tier auf den Boden fallen ließ und die Gorgone ihres Weges ging.
      Den Abschluss bildete Dionysus selbst. Wenn Kassandra angenommen hatte, dass Mirdole schon fragwürdig gewesen war, dann kam mit dem Gott des Weines nun derjenige, der wirklich unberechenbar war. Unbewusst setzte Kassandra einen Fuß nach vorn, allein in der Andeutung, in der nächsten Sekunde das Treffen der beiden Männer zu entzweien. Er ignorierte Kassandra und schlenderte zu Zoras empor, dessen Hand kurz darauf schon angenommen wurde. Die Stimme, die sich seitens des Gottes erhob, war nun auch für die Phönixin unmissverständlich zu hören und ließ ihre Augen sich verschmälern. Sie hatte schon damit gerechnet, dass er in ein makelloses therissisch verfallen würde, einfach nur, um Zoras damit zu treffen. Leider hatte er damit auch imminenten Erfolg, denn die Überraschung war Zoras deutlich anzusehen. Fast ärgerte sich Kassandra, ihn nicht darauf hingewiesen zu haben, aber der ehemalige Herzog besaß alle Bausteine, um sich diese Möglichkeit selbst zusammenzureimen. Die Götter sprachen alle Sprachen und Dionysus lebte von dem Spießrutenlauf.
      Wobei es seine folgende Aktion war, die beinahe dafür gesorgt hätte, dass Kassandra ihren Posten als Statue verlassen hätte. Ihre Brust schwoll unweigerlich an, als sie einen tiefen Atemzug nahm, kaum setzte Dionysus an, sich auf ein Knie fallen zu lassen. Götter knieten nicht vor Menschen, niemals. Selbst ein Dionysus nicht. Ihr Stolz war dafür viel zu groß, viel zu ermesslich, viel zu…
      Dann ergriff Dionysus Zoras‘ Hand und drückte ihm einen Handrückenkuss auf.
      Kassandras wohlgehütete Aura entlud sich prickelnd in einem Umkreis von gut drei Metern um sie herum. Es war ihrer Voraussicht geschuldet, dass sie niemanden innerhalb von fünf Metern in ihrer Nähe geduldet hatte, dass niemand zu Schaden gekommen war. Denn wer sich innerhalb dieses Radius befand, wäre binnen einer Sekunde in Flammen aufgegangen. Sollten alle anwesenden Götter ruhig wissen, dass sich Dionysus ein Recht herausnahm, das sie ihm nicht zuerkannte. Sollten sie alle wissen, dass es Konsequenzen für diese Grenzüberschreitung gab. Scheinbar war Dionysus einfach gut im Lesen von Menschen, er brauchte keine Aurensicht um zu wissen, dass Zoras zögerte. Zweifelte. Er hatte Nachforschungen angestellt und vermutlich mehr über dessen Vergangenheit erfahren können, als ihnen beiden lieb gewesen ist.
      Allein der Punkt, dass Zoras zuerst auf therissisch antwortete und sich erst nach einem Räuspern korrigierte, zeugte davon, dass Dionysus ihn mehr als nur einem falschen Fuß erwischt hatte. Umgehend nahm sich Kassandra vor, dem Gott ein neues Mal als Zierde auf seinen Körper zu brennen, wenn sie ihn eines unbeobachteten Moments erwischen sollte. Als sich Dionysus dem Gehen wandte und Kassandra zuzwinkerte, nutzte sie das erste Mal seit Jahrhunderten die Gabe, in der Sprache der Götter direkt im Geiste mit Dionysus zu kommunizieren. Eine Gabe, die sie nur dann erhielten, wenn sie losgelöst von Zwang und Diensten der Menschen waren.

      Gehst du das nächste Mal vor ihm auf die Knie und erbittest seine Hand, stehst du kein weiteres Mal mehr auf.

      Kassandra war wieder zur Statue verkommen, die allerdings lichterloh zu brennen schien. Wenn auch nur für die übermenschlichen Augen der Götter im Tempel, verborgen vor den sterblichen Blicken. Doch die Phönixin hatte sich beisammen, um nicht diejenige zu sein, die die Veranstaltung komplett sprengte.

      Die Prozession zurück in den Palast, wo die Festlichkeit abgehalten werden sollte, verlief außerordentlich wenig ereignisreich. Man brachte sie mittels einer Festkutsche durch die Straßen der Stadt, die gesäumt waren von Horden an Menschen, die ihnen zujubelten und selbst die Becher und Krüge emporhoben, sodass Met und Bier und weitere Getränke über die Köpfe anderer Menschen schwappten und sie zu taufen versuchten.
      Kassandra war während der Fahrt in Schweigen gehüllt. Sie hatte Zoras‘ Nachfrage damit abgetan, dass sie sich weiterhin konzentrieren müsse, um hier draußen auch etwaige Angriffe aus größerer Distanz rechtzeitig erkennen und abwehren zu können. Dass sie noch immer mehr als nur geladen war, musste sie ihm nicht auch noch auf die Schultern bürden. Er musste erst einmal den Schock verdauen, den Dionysus und andere Dinge bei ihm hinterlassen hatten.

      Der Palast war komplett neu dekoriert worden. Man hatte jede freie Fläche mit Gestecken und Gaben dekoriert und scheinbar in den letzten Minuten das farbliche Thema des Türkis aufgegriffen. Hier und da fand sich die Farbe wieder, mal als kleiner Akzent, mal als etwas größere Auslage. Von dem kargen Gang war nicht mehr viel übrig und auch die Haupthalle mit dem Tisch und den zehn Stühlen war als Tafel neu ausgerichtet worden, mit einer Art Thron am Kopf der Tafel. Daneben stand etwas, das einer Sänfte ähnelte, und vermutlich für Kassandra gedacht war. Sie ignorierte diesen Sitzplatz jedoch und beschloss, erst einmal keinen Platz zu beziehen, sondern sich erst einmal weiter auf den Beinen zu halten. Sitzen konnte sie später noch, die Anspannung hatte sie noch immer nicht gänzlich verlassen.
      Während Kassandra langsam an der Tafel vorbei schritt, überholte Esho sie und streifte sie beinahe. Noch im Vorbeigehen raunte er ihr Worte zu, auf die sie weder einging noch ihm Aufmerksamkeit schenkte. „Ihr werdet doch bestimmt später mit mir tanzen, oder?“
      Tanzen? Sie? Mit einem Menschen? Mit Sicherheit nicht. Kassandra hatte sich noch nie dazu herabgelassen, mit einem Menschen zu tanzen, geschweige denn, dass sie überhaupt dazu aufgefordert wurde. Sie würde niemanden außer Zoras gewähren, sie zu berühren und diese Grenze würde wohl auch der übereifrige Kriegsherr noch lernen müssen. Also ging sie bis zu dem Thron, der nun Zoras gehören würde, und stellte sich dahinter auf, um auf ihn zu warten. Esho hatte den nächsten Platz zu ihnen heran gewählt, von Asterios wurde er nicht direkt begleitet. Der Minotaurus hielt sich am Rande der Halle an der Außenwand auf, da er bei Gesprächen sowieso nicht mitwirken konnte.
    • Für Kassandras übergriffiges Eindringen in Dionysus' Geist, hatte der Gott des Weines nicht viel mehr als ein Lächeln übrig. Seine menschlich anmutenden Augen begegneten Kassandras flammenden Rubinen mit fast provokanter Gelassenheit. Ihren verbalen Angriff konnte er auf diese Weise nicht erwidern, aber er konnte ihn in weltliche Gedanken übersetzen:
      "Nur die Ruhe, kleiner Vogel. Zum Schluss verbrennst du dich noch selbst."
      Seine Aura war eine entspannte, fließende Welle, die sich von seinen Schultern auf den Boden ergoss und dort hinterbliebene Pfützen erahnen ließ, die aber sogleich wieder verschwanden und keinen Bestand hatten. Zumindest besaß er die weise Voraussicht, sie nicht nach dem flammenden Inferno auszustrecken, das in diesem Moment die Aura der Phönixin darstellte, sondern sie brav und angemessen bei sich zu behalten. Aber der Hohn, der Spott, das Vergnügen war aus seiner ganzen Haltung, seiner Aura und seinen Gedanken nicht fortzudenken.
      Er ging zurück zu seinem Platz und stellte sich dem Zorn der menschlichen Ratsmitglieder, die nur gesehen hatten, dass der namenhafte Gott des Weines vor dem neuen Eviad eine erniedrigende Respektsbekundung abgegeben hatte. Auch ihnen begegnete er mit der gleichen Gelassenheit, nur die Nymphe grinste schadenfroh ob des Aufruhrs ihrer Rivalin, Mirdole hatte ein leichtes, finsteres Lächeln aufgelegt und Halmyn sah - wenn man das so beschreiben konnte bei dem Monstrum - nachdenklich drein. Asterios schnaubte nur mit keinem Hinweis darauf, was in dem Stierkopf vor sich gehen mochte.
      Zoras blieb alleine auf seiner Bühne zurück. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Handrücken kribbelte und piekste, als hätte er sich irgendwo verätzt. Alles in ihm schrie danach, dass er sich die Hand abwischte und sie wusch, so lange und ausgiebig, bis er sich sicher war, dass wirklich nichts von diesem Kuss übrig blieb, aber das konnte er nicht - nicht nur jetzt, gar nicht. Dionysus hatte genau gewusst, was er dort tat, und wenn Zoras seinen Kuss ablehnte, beantwortete er damit eine Frage, die er gar nicht gestellt bekommen wollte. Nein, er war Eviad und das war sein Kuss, Dionysus hatte ihn auf eine ganz persönliche Weise akzeptiert.
      Ihm war speiübel.
      Er blickte zurück auf das Meer aus Köpfen hinab, das jetzt in völligen Aufruhr darüber verfallen war, dass der Eviad anerkannt worden war. Sie schrien und brüllten und Zeus' Name hallte wieder durch die Halle, lauter Zischlaute, die Zoras' Namen, vielleicht aber auch Kassandras oder gar eine Schlange nachmachen sollten. Es war alles schwer auseinander zu halten.
      Theriss oder Kuluar, was machte es schon für einen Unterschied? Was machte es für einen Unterschied?

      Für den Rückweg durften sie sich nun der Kolonne der Ratsmitglieder anschließen, einige Kutschen vor ihnen, einige Kutschen dahinter und sie selbst auf einem gewaltigen Gefährt, das sie kaum schneller als mit Schrittgeschwindigkeit durch die Straßen bringen konnte. Dabei schlugen sie selbstverständlich nicht den direkten Weg zum Palast ein, sie nahmen einen Umweg über all die großen Plätze der Stadt, damit die Bevölkerung sich dort versammeln konnte, ihren neuen Herrscher empfangen und begrüßen konnte und dann mit ihm weiterzog. Die Kutsche war offen, besaß kein richtiges Dach oder Wände, damit man auch sehen konnte, dass es auch wirklich Eviad mit dem türkisen Band um den Arm war. Begleitet wurden sie von einem ganzen Bataillon an Soldaten, eine reine Zurschaustellung ihrer Macht und Position.
      Zoras winkte manchmal und zeigte seine Zähne in etwas, das hoffentlich auf die Entfernung wie ein Lächeln wirkte. Seine Hand prickelte noch immer unschön und er fühlte sich schmutzig. Vielleicht hätte es ihm etwas gebracht, wenn Kassandra ihn besänftigt hätte, oder auch irgendetwas gesagt hätte, aber die Phönixin war seit ihrem Aufbruch wortkarg und wandelte an seiner Seite wie ein Schatten. Dabei kannte er sie zu lange, um nicht die Anzeichen dafür zu erblicken, dass etwas nicht stimmen konnte. Ihre Augen waren starr aber lebendig, ihre Haltung war makellos würdevoll, ihr Kopf stolz erhoben, aber ihr Blick zu ruhig. Zu zielgerichtet. Vielleicht war es auch dem Schwur zu verdanken, dass er sich eine gewisse Anspannung einbildete. Vielleicht war es seinen eigenen Nerven zu verdanken, dass er sich sonst etwas einbildete.
      Er legte eine Hand auf ihr Knie, vorsichtig aber bestimmt. Ihre roten Augen sahen zu ihm auf, dann sahen beide wieder weg. Zoras winkte, Kassandra starrte.

      Der Palast war jetzt unter anderem mit türkisen Girlanden geschmückt, zusätzlich zu dem Bankett, das hier in der Haupthalle angerichtet worden war und sich sowohl nach draußen in einen Hofgarten, als auch in die Gänge erstreckte. Die Prozession samt Soldaten fand hier Einzug, genauso wie Zivilisten, die rein zufällig mitzukommen schienen. Der Palast füllte sich nach und nach mit einer Menschenmasse, die Zoras für den Adel hielt, mit ihren vornehmen Aufzügen und dem vielen türkisen Schmuck, den sie bereits trugen. Aber er hatte gedacht, Kuluar habe keinen Adel mehr, denn die Champions und ihre Träger zählten als der einzige Adel. Oder gab es nun doch einen? Womöglich wusste er über dieses Land noch weniger, als ihm lieb war.
      Kassandra begleitete ihn zwar auf seinem Weg zu dem offensichtlich vorbestimmten Platz, aber dann blieb sie zurück und überließ Zoras sich selbst. Der sah sich noch einmal zu ihr um, da schien der alte Mann die Gelegenheit ergriffen zu haben und drängte sich zu ihm heran, in seinem Schlepptau die Nymphe.
      "Ich gratuliere", schnorrte er unzufrieden. "Der letzte Eviad hat keine Woche durchgehalten. Wusstest du das?"
      Zoras riss sich unwillig von dem Anblick seiner eigenen Göttin los.
      "Wenn du mir drohen willst, überlege dir vorher lieber, wie du dich vor einer rasenden Phönixin verteidigen willst. Dein Champion hat es nicht geschafft."
      Das erntete ihm sicher einen garstigen Blick von der angesprochenen Göttin, aber Zoras beachtete sie nicht. Er ging zu seinem Platz und setzte sich.
      Mehrere dieser scheinbaren Gäste drängten schon nach vorne, um mit dem neuen Herrscher persönliche Worte zu wechseln. Zoras hörte Familiennamen, die ihm rein gar nichts sagten, aber ganz allgemein hohe Persönlichkeiten waren auch darunter: Der Hohepriester stellte sich bei ihm noch einmal persönlich vor, jener Mann, der ihm den grauen Überzug im Tempel gegeben hatte und wohl mitunter die Zeremonie angeleitet hatte. Das Oberhaupt der Handelsgilde war anwesend, eine hagere Frau, die Zoras überschwenglich mit Komplimenten zum Machtwechsel überhäufte. Sicherlich auch für ihren eigenen Profit. Der königliche Verwalter schenkte ihm sehr kurz seine Aufmerksamkeit, bevor er zu den anderen Ratsmitgliedern überging, um sie über die Feier auf dem Laufenden zu halten. Verschiedenste Botschafter aus Ländern, die Zoras nur von einer Weltkarte her kannte, suchten diplomatische Gespräche mit ihm, auf die er kaum eingehen konnte mit seinem wenigen Wissen über sein jetzt eigenes Land. Der Oberbefehlshaber der königlichen Armee salutierte vor ihm, genauso wie seine Begleiter, hochrangige Offiziere und Kommandanten. Der Mann war schon alt, schien etwas von Tysion an sich zu haben. Zoras versuchte sich an einem Gespräch mit ihm, doch als er ihn fragte, welcher Kompanie er angehörte, schien der andere verwirrt und wiederholte nur, dass er der Oberbefehlshaber sei. Womöglich hatte er ihn falsch verstanden. Zoras nahm sich vor, irgendwann einmal Kassandra über das hiesige Militär auszuquetschen - wenn sie überhaupt etwas dazu wusste.
      Die Phönixin ließ sich nicht neben ihm nieder. Sie stand, einer Wache gleich, leicht versetzt hinter ihm. Unsicher darüber, ob es nicht das falsche Zeichen setzen könnte, klopfte er auf die Sänfte neben sich.
      "Setz dich doch. Bitte."
      So könnte er sie zumindest ansehen, Trost in etwas Bekanntem in einem Raum voller Unbekanntem finden. Es war nicht so, dass er solche Feierlichkeiten nicht gewöhnt wäre, aber auch er war auf der Hut davor, was der Rat sich wohl in den Kopf gesetzt haben mochte. Sie verbargen ihre Ablehnung ihm gegenüber nicht, nur vor neugierigen Zuschauern, und das machte ihn nervös. Sie hatten Zeit genug gehabt, sich über den Machtwechsel zu beraten.

      Alle Besucher fanden schließlich irgendwo einen Platz und Zoras erhob zur dritten Rede an diesem Tag - oder vielleicht schon die vierte? Irgendwie waren sie ja doch alle so gleich. Er eröffnete das Essen souverän und kaum ließ er sich nieder, begann schon das Festmahl, untermalt von hintergründlicher, fremdartiger Musik.
      Nichts an dem Essen war vergiftet oder verdorben. Es gab niemanden, der sich an Zoras oder Kassandra herangeschlichen hätte oder der ihrem Essen zu nahe käme. Der Rat verzichtete auf Sticheleien, so sehr war er selbst mit essen beschäftigt, und die Position der Tische erlaubte es Zoras, in völliger Ungestörtheit zu essen. Natürlich war es ganz fantastisch und überirdisch; seit Jahren hatte er schon nicht mehr so gut gegessen. Dabei geriet ihm die Manier außer Kontrolle: Er schlang mehr, als dass er kaute, eine Angewohnheit aus Zeiten, in denen er Angst haben musste, sein Essen gleich wieder zu verlieren. Er brach dabei unbedachte Tischregeln: Er aß Fleisch, wenn das Brot hätte kommen müssen und trank, wenn das Gemüse an der Reihe gewesen wäre. Kassandra gebot ihm Einhalt, bevor es noch aufgefallen wäre. Danach bemühte er sich deutlicher.
      Ein paar Plätze weiter amüsierte Dionysus sich bereits prächtig darüber.
      Natürlich gab es für den Rat nur ein einziges Getränk: Göttlichen Wein. Er kam aus keinem Fass und musste nicht gebracht werden, er bildete sich einfach neu, in demselben Krug, aus dem man gerade getrunken hatte. Nach seinem Patzer mit dem Essen, traute Zoras sich nicht, nach einem anderen Getränk zu fragen, aus Vorsicht, nicht irgendeine Höflichkeit zu verletzen. Der Wein schmeckte, selbstverständlich, überirdisch. Nach ein paar Schlucken zu viel war er nicht mehr wegzudenken.

      Das Essen konnte bis in die Nacht oder auch die frühen Morgenstunden gehen, aber die erste Runde war irgendwann vorüber und so war es Kalea, Mirdoles Trägerin - Zoras hatte endlich den Namen erfahren - die um Aufmerksamkeit bat. Selbstzufrieden richtete sie sich an Zoras.
      "Der neue Eviad wird mit seiner Begleitung den Tanz eröffnen!"
      Natürlich fragte sie nicht, natürlich kam sie auch gar nicht dazu. Freudige Zurufe und Applaus dröhnten ihnen entgegen, während Zoras den Kopf zu Kassandra drehte. Natürlich könnte er den Tanz eröffnen - wenn sie denn in Theriss wären. Er beherrschte alle traditionellen Tänze, er bildete sich sogar ein, recht gut tanzen zu können. Aber kuluarische Tänze kannte er nicht, er hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, wie sie aussehen mochten. Aber vielleicht ja Kassandra? Hoffentlich Kassandra?
      Übertrieben selbstbewusst, für all die Augenpaare, die auf sie gerichtet waren, bot er ihr seine Hand an. Dabei kam ihm erst der Gedanke, dass dies nicht nur der Eröffnungstanz würde, das wäre überhaupt der erste Tanz zwischen ihnen. Damals hatte es kein Fest gegeben, keine Gelegenheit dazu, ihre Freude mit einem Tanz zu unterstreichen. Aber jetzt waren sie dazu gezwungen.
      Er hatte keine Ahnung, wie man mit Göttern tanzen sollte.
    • Wenn du mir drohen willst, überlege dir vorher lieber, wie du dich vor einer rasenden Phönixin verteidigen willst.

      Kassandras Miene glich noch immer der entspannten Göttin, die alles völlig unter Kontrolle und für Belanglos hielt. Allerdings war dieser kleine Satz, von Zoras nur als Antwort auf eine Stichelei gesagt und ganz sicher auch durch seinen Stress beeinflusst, mehr als nur eine simple Drohung für das Ratsmitglied. Zoras sah von seinem Standpunkt nicht, dass dieser Satz auch einen gewissen Schaden in seiner eigenen Göttin, die er so sehr verehrte, bewirkte. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern benutzte er sie als eine der mächtigsten Waffen, die ihm zur Verfügung standen. Eine Waffe, mit solch einer verheerenden Vernichtungskraft, dass er sich unantastbar fühlte. Zeitgleich überging er dabei spielend leicht den Punkt, dass es ihm nicht darum ging, was mit ihm persönlich geschah. Seine Worte richteten sich auf das, was kam, nachdem man ihm etwas angetan hatte. Er stellte sich hinter sie, in ihren viel kleineren Schatten, und schickte das große Übel vor, um seinen Weg, wenn nötig, mit Gewalt fortzusetzen.
      In der Sekunde, in der sich Zoras Kassandra zuwandte und den Platz am Thron bezog, hatte sich das kaum merkliche Zucken in ihren Kiefermuskeln bereits wieder ausgeschlichen und verriet rein gar nichts über diese wilden Gedanken in ihrem Geist. So vergingen Minuten, etliche Minuten, in denen die Phönixin schräg hinter dem Thron stand und dem langweiligen Geplaudere von Menschen lauschte, die sich allesamt beim neuen Eviad einschmeicheln mussten. Niemand von ihnen bekam ihre wahrliche Aufmerksamkeit oder gar Interesse, niemand von ihnen war auch nur ansatzweise eine Gefahr für Zoras.
      Irgendwann brachte ein bestimmtes Klopfen Kassandra aus ihrem Trott. Ihre Augen zuckten zu der Sänfte, gegen deren massives Holz der neue Herrscher Kuluars mit seiner flachen Hand leicht geschlagen hatte. Natürlich wollte er sie neben sich sitzen haben, ganz nah und in direkter Greifweite. Sodass er seine Hand in ihre Nähe bringen und sich durch ihre Wärme versichern lassen konnte, eine Zuflucht zu haben. Das war Kassandra für diesen Menschen geworden; eine Zuflucht und ein Ziel. Eine Heimat, eines der größten Komplimente, die er ihr hatte erbringen können. Und trotzdem ließ es ihr glühendes Herz argwöhnisch kalt, je länger sie mit diesem Gedanken spielte. Natürlich würde sie es nicht als Fehler bezeichnen, dass sie Jahre auf ihn gewartet hatte und ihm sogar einen Sohn geschenkt hatte. Ebenso wenig würde sie behaupten, dass sie ihn weniger liebte, aber irgendetwas hatte diese Mischung, ihre perfekte Symbiose, empfindlich gestört.
      Also ließ sich Kassandra schließlich doch auf der Sänfte nieder, kein Anzeichen von Unsicherheit oder Bedenken in ihrer Handlung. Sehr zu ihrem Erstaunen hielt sich Zoras davon fern, ihr eine Hand aufzulegen oder anderweitig den physischen Kontakt zu ihr zu suchen. So als wüsste er, dass er jetzt gerade eine echte Göttin nicht zu berühren hatte. Aber die Blicke waren da, die immer wieder zu ihrem Antlitz schossen und seine aufgewühlte Aura kurzzeitig wieder glättete. Hier neben ihm war sie sein Anker in der stürmischen See einer Krönung.
      Der erste Lichtblick zeigte sich tatsächlich, als das Mahl eröffnet wurde. Sehr zu Kassandras Überraschung verebbten jegliche Sticheleien oder potenzielle Spekulationen, als es ans Speisen und Tränken ging. Ein kleiner Teil der Anspannung verließ damit auch ihren Körper und schien damit Zoras zu signalisieren, dass er sich ebenfalls entspannen konnte. Jedenfalls war das einer der Gründe, warum er so zu schlingen schien, dass Kassandra gezwungen war, ihn mittels gedanklicher Maßregelung anzuhalten, es nicht weiter zu tun. Zwei Mal musste sie ihn korrigieren, unter den amüsierten Blicken Dionysus‘, der als einziger wirklich mitbekam, dass sie sich gedanklich mehr oder weniger unterhielten. Doch darum scherte sich Kassandra nicht sonderlich. Etikette beim Essen zu brechen sollte wohl noch das geringste Übel hier am Tisch sein. Leider verpasste sie dadurch die Gelegenheit, Zoras eine Alternative zu dem Wein anzubieten, der viel zu schnell die Lippen des Eviads benetzte und damit sein Schicksal besiegelte. Sie betete, dass ihre Verbindung ausreichte, damit er nicht allzu schnell dem Wein zum Opfer fiel und Dinge tat, die er später bereuen würde. Die Phönixin selbst hatte selbstverständlich auch einen Kelch erhalten, an dem sie hin und wieder nippte, während sie die Beine locker überschlagen hatte und die Tafel weiterhin im Auge behielt.

      Der bisher doch recht entspannte Ablauf bekam einen jähen Knick, als sich Kalea erhob und verkündete, dass es einen Eröffnungstanz geben würde, und zwar augenblicklich. Innerlich seufzte Kassandra, weil sie damit gerechnet hatte. Immerhin war es den alten Aufzeichnungen zu entnehmen gewesen, die die Schriftkundigen ihnen auf altkuluarisch gebracht hatten. Es gab immer einen Tanz des neuen Eviads, aber wie er ihn gestaltete, oblag demjenigen selbst. Bislang hatte immerhin keiner von ihnen eine echte Gottheit mit in den Palast bringen können, sondern bildete maximal das Bindeglied zwischen Menschen und Götter.
      Also zeigte sich etwas bislang Ungesehenes auf Kassandras Gesicht: Genugtuung.
      Begleitung? Sie? Eine echte Göttin, nur eine Begleitung? Scheinbar musste das Weibsstück noch lernen mit adäquatem Vokabular umzugehen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie das Kopfdrehen von Zoras, der sie ganz unbehelligt ansah und wahrscheinlich sogar nicht so sehr ein Pokerface besaß wie sie selbst. Aber das machte nichts. Immerhin hatten sie alle die echte und einzig ungebundene Göttin im Lande offensichtlich unterschätzt.
      Dann reichte Zoras Kassandra seine Hand.
      Sie ignorierte die Hand und sah ihn stattdessen mit hochgezogenen Augenbrauen erwartungsvoll an.
      Prompt erhob sich Zoras von seinem Thron und wiederholte die Geste, dieses Mal sogar mit einer angedeuteten Verbeugung. Da schlug die Genugtuung allmählich in einen etwas weicheren Ausdruck um, als sie ihre Hand federleicht in seine legte und sich von ihrer Sänfte erhob. Vermutlich war das alles hier kalkuliert, um an Kassandras Würde zu kratzen. Dank Dionysus würden sie alle wissen, was man Phönixen nachsagte und zu was man sie über die Jahrhunderte hinweg gezwungen hatte. Sie wollte sie daran erinnern, dass die Phönixin die Unterhaltung der Menschen darstellte und sie mit ihrer tänzerischen Darbietung amüsierte. Doch das war gewesen, als ihr Herzfeuer nicht mehr in ihrer eigenen Brust gebrannt hatte.
      Als sich Kassandra mit einer unmenschlichen Geschmeidigkeit erhob, sprach nichts anderes als Erhabenheit aus ihr. Natürlich wusste sie, wie man hierzulande tanzte und welcher Tanz nun erwartet würde. Sie kannte die Schrittfolgen, trug die Musik wie Blut in ihren Adern. Noch nie hatte sie mit Zoras zuvor getanzt und sie würde es hier nicht gezwungenermaßen nachholen. Nein, Kassandra würde die gestellte Falle demontieren und sie zu ihrem Vorteil auslegen.
      Du kennst doch noch sicherlich die Schrittfolge des Jüngsten Jagdritus aus Theriss?
      Ein selbstgefälliges Lächeln zog an ihren Mundwinkeln als sie ihre Hand aus der seinen löste und ihn einfach stehen ließ, während sie mit langen Schritten auf die freigewordene Tanzfläche schritt, wo sich vorhin noch etliche Menschen getummelt hatten und die nun Platz für den Hauptakt gemacht hatten.
      Ich bin mir sehr, sehr sicher, dass niemand hier weiß, was das ist. Mach die Bewegungen langsam und im Kreis von etwa zwei Metern Abstand um mich herum und dann dürfte es aussehen, als würdest du mich preisen, aber nicht wagen, mich zu berühren. Du ahnst, worauf es hinausläuft?
      Inmitten der Fläche stellte Kassandra ein langes Bein weit nach vor aus und ließ die Arme ineinander verschlungen gen Decke wandern. Ihren Kopf legte sie in den Nacken, schloss die Augen, und dann zeigte sie, dass sich gewisse Spielregeln hier nach ihrem Willen zu formen hatten. Ihre Aura flutete binnen einer Sekunde explosionsartig den gesamten Raum ließ es schlagartig auf weit über 30 Grad heiß werden. Die Luft wurde trocken, das Klima gar wüstenähnlich und manch einer würde im Nachhinein sogar behaupten, Sand zwischen den Zähnen gespürt zu haben. Eine widernatürliche Briese erhob sich durch den Raum, als sich der Takt der Musik änderte, die Nuance einen südländischen Einschlag bekam, aber noch immer deutlich geprägt von kuluarischen Instrumenten war. Magie wallte über Kassandras schlanken Körper hinweg, als sich ihr Gewand in hellrote Flammen auflöste und sich aus den verblassenden Zungen ein luftig, fast transparentes Gewand bildete, das denselben Türkiston besaß wie das Band am Handgelenk des Eviads. Ihre Haare waren eine freifließende, nachtschwarze Mähne, kleine Perlchen schmückten hier und da das Haar. Wie eine Statue stand sie inmitten der Fläche, das Zentrum einer pulsierenden Aura, die sich über Champion und Menschen gleichermaßen ergoß.
      Dionysus hatte einen winzigen Fehler in seiner Berechnung gehabt. Nicht nur der Rat hatte von dem göttlichen Wein bekommen, sondern auch etliche der restlichen Gäste. Und alle, ausnahmslos, wurden von diesem Gesöff beeinflusst und leichter zu lenken.
      „In den Schriften steht geschrieben, dass der Eviad seine Herkunft nicht leugnen muss“, sagte sie, öffnete die Augen halb und kippte den Kopf leicht seitlich, um so eine Handvoll Gäste ins Visier zu nehmen. Umgehend erstarrten sie, stellten dann ihre Kelche und Krüge ab und begannen, sich langsam im Takt der Musik zu bewegen. „Ebenso wenig ist es bisher vorgekommen, dass er eine echte Göttin als Beistand hat. Nicht als Begleitung. Der Eviad schlägt die Brücken zwischen Menschen“, sie ließ langsam einen Arm sinken und beschrieb einen Halbbogen. Alle Menschen innerhalb dieser Bewegung fingen ebenfalls wie verzaubert an, sich leicht zu bewegen. „Und den Göttern.“ Sie vollendete die Bewegung als einen Kreis, an dessen Ende sie direkt in Zoras‘ Gesicht sah, der sich wie geheißen im rechten Abstand vor ihr aufgestellt und damit begonnen hatte, die Schrittfolge zu vollziehen. Ganz langsam drehten sie sich in entgegengesetzte Richtungen und berührten sich nicht ein einziges Mal. So nah, und doch nicht erreichbar. Der einzige Mensch, der ihr so nah sein durfte. Das Sinnbild dessen, was der Eviad verkörperte.
      Immer mehr der Gäste schlossen sich der Formation an und selbst Esho wippte auf seinem Sitzplatz rhythmisch von links nach rechts und wieder zurück. Kassandra war viel zu ausgewieft, als dass sie sich so leicht zur Schau stellen lassen würde. Da bildete sie lieber selbst das Zentrum der Aufmerksamkeit, aber nicht, weil ihre Schönheit die Gäste unterhielt, sondern weil sich die Menschen ihrer Wirkung nicht entziehen konnten.
      Man versuchte, sowohl Kassandra als auch Zoras den Grund unter ihren Füßen zu entziehen. Doch Kassandra war schneller gewesen, hatte Zoras auf ihre Schwingen geladen und sich einfach vom Boden in die Lüfte geschwungen. Es gab nichts, was dafür sorgen konnte, dass sie den Boden unter ihren Füßen vermissen würde und solange Zoras es warm in ihrem Gefieder hatte, würde auch er ihn nicht missen. Die Luft war ihre Domäne, ihr Herrschaftsgebiet, und hier oben war sie unantastbar. Sollten sie doch versuchen, ihre Verbindung zu schwächen – sobald Zoras‘ Sitz als Eviad gefestigt war und sie nicht ständig um Attentate fürchten mussten, würde sich auch die Anspannung, die sich leise zwischen die Fäden ihres eigenmächtig gesponnenen Bands geschlichen hatte, bestimmt auch wieder auflösen lassen.
      Dessen war sich Kassandra in diesem Augenblick vollkommen sicher.
    • Die angebotene Hand hing für etwa zwei Sekunden in der Luft, unerwidert. Während dieser Zeit richtete Kassandra ihren abwartenden Blick auf Zoras - und der sah sich mit einem Mal aus ihren Augen, der gepflegt aussehende, dem Herzog Luor ähnelnde Herrscher, der ihr ganz unverbindlich eine Hand entgegen streckte, so als erwarte er, dass sie ihn letzten Endes hochziehen würde. Das war nicht nach seiner Art, nicht nach Zoras’ und auch nicht nach Herzog Luors, nicht wahr? Und es sollte auch nicht die Art des Eviads werden. Was hätte er in Theriss getan, im Thronsaal mit den beiden Thronen? Er wäre aufgestanden, wäre eine Stufe hinab gestiegen und vor ihr auf die Knie gegangen. Es wäre ihm ganz gleichgültig gewesen, was für einen möglichen Skandal er damit auslöste. Kassandra war eine Göttin!
      Hier gab es keine Stufen und auch keinen Platz zum Hinknien, aber er stand doch auf, nahm Haltung vor ihr an, eine Hand hinter dem Rücken versteckt, und bot ihr seine Hand diesmal als Einladung an. Da glätteten sich ein wenig die Wogen in Kassandras Blick, als auch sie die Geste erkennen musste, die ihrem Schwurpartner ähnlicher sah. Ihre Finger strichen über seine, eine hauchzarte Berührung, gleichzeitig Annahme seiner Einladung und Privileg, sie berühren zu dürfen. Ein ganz feines Lächeln schlich sich auf Zoras’ Gesicht, während die Phönixin sich in einer geschmeidigen Bewegung von ihrem Platz erhob. Ein wohliges Gefühl der Bekanntheit durchströmte ihn, eine Erinnerung an ein Leben Jahre zuvor. Wann hatte er nur aufgehört, sie als Göttin zu betrachten? Oder, nein; wann hatte er aufgehört, die Götter zu verehren?
      Ihre Hand verließ die seine, hatte ihm schon genug ihrer Ehre zuteil kommen lassen, und Kassandra schritt mit zielstrebigen Schritten auf die freie Fläche zwischen den Tischen zu. Zoras, Eviad, blieb nichts anderes übrig, als seiner “Begleitung” zu folgen.
      Ihre Frage in seinem Kopf kam unerwartet, zumal er fest davon ausgegangen war, einen kuluarischen Tanz aus den Ärmeln schütteln zu müssen, um die Zuschauer zu befriedigen. Was wollten die Anwesenden schließlich mit einem therissischen Brauch?
      Natürlich kenne ich sie noch.
      Sein letzter Tanz mochte über sechs Jahre zurückliegen, aber Tanzunterricht hatte für Zoras, als Adelskind und Erbe des Titels, mit Reitunterricht an erster Stelle gestanden. Und selbst wenn ihm einige Schritte entfallen sollten: Kassandra hatte vollkommen recht, niemand hier würde sich mit therissischen Tänzen auskennen. Vielleicht Dionysus, aber was würde ihm das nützen? Nein, dieser Tanz war nicht für den Rat gedacht, das hier diente, so wie alles andere in den letzten Tagen auch, rein dem Volke, all den Augenpaaren, die sich jetzt interessiert auf ihnen festsetzten. Und diesen würde er durch Kassandra auch einen würdigen Tanz präsentieren können.
      Die Phönixin gab den Mittelpunkt des Kreises vor und Zoras wählte seine Anfangsposition vor seinem eigenen Tisch, mit dem Rat in seinem Rücken. Es mochte für die ersten Sekunden wie ein schüchternes, vorsichtiges Annähern aussehen, doch Kassandra bewies sogleich, dass sie sich von niemandem unterwerfen lassen würde, nicht von Kalea, nicht vom Rat, nicht von der Gesellschaft. Ihre kunstvolle Haltung glich zunächst einer unschuldigen Statue, aber dann explodierte ihre Aura mit einer Macht, die ein phantomartiges Phönixfeuer im ganzen Saal aufflammen ließ. Schlagartig wurde die Luft um sie herum dumpf und fest, aufgeladen von zu viel Hitze, die sich sogleich auf den Menschen niederließ. Beunruhigtes, ja verängstigtes Raunen und Geflüster stob durch die Halle, doch interessanterweise war es Mirdole, die die Besucher mit einem Zischen, das auch sehr gut mit dem Geräusch ihrer Schlangen verwechselt werden könnte, auf ihre Plätze fesselte. In ihrem Blick glitzerte es, aber nur dabei blieb es. Sie hatte für Ruhe gesorgt, womöglich, weil sie selbst daran interessiert war, den Tanz zu beobachten. Der übrige Rat saß stumm auf seinen Plätzen.
      Kassandras Hitze fand, wie schon vormals, in Zoras’ Körper Einzug, doch nicht als unangenehme Belastung, sondern vielmehr als Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Es erleichterte ihm das Atmen, ließ die Festtagsuniform wie ein leichtes Tuch erscheinen, das seinen Körper höchstens umschmeichelte. Die Musik änderte sich in etwas, das ihn sogleich an die Vision bei Shukran erinnerte. Auch Kassandras Kleidung formte sich nach ihrem Willen und sogleich stand auch jene Kassandra vor ihm, die Phönixin, die einstmals in einem Land namens Nuliubda eine weltliche Heimat gefunden hatte. Die Kassandra, die schon länger auf der Erde verweilte, als sämtliche Champions im Rat zusammengenommen.

      Zoras setzte seinen ersten Schritt.
      „In den Schriften steht geschrieben, dass der Eviad seine Herkunft nicht leugnen muss.“
      Kassandras Stimme hallte laut und verständlich durch den Raum hindurch, ergriff auch die letzte Wache in den hintersten Ecken. Sie war herrisch aber nicht streng, intensiv aber nicht überheblich. Womöglich war es ihre Aura, dieses verborgene Feuer, das ihre Stimme nicht nur an die Ohren, sondern den ganzen Körper heran trug.
      Zoras beschrieb einen langsamen Halbkreis, einmal das rechte, das linke, das linke, das rechte Bein. Dabei streckte er die Hand aus, denn das wäre unlängst der Moment gewesen, in dem er sich seinem Partner angenähert hätte, aber mit nur Kassandra im Mittelpunkt wirkte es, als strebte er auf sie zu, nur um sich von seinen Füßen doch in eine andere Richtung lenken zu lassen. Wahrhaftig, Zoras hatte gleich verstanden, weshalb Kassandra den jüngsten Jagdritus gewählt hatte.
      “Ebenso wenig ist es bisher vorgekommen, dass er eine echte Göttin als Beistand hat. Nicht als Begleitung. Der Eviad schlägt die Brücken zwischen Menschen und den Göttern.”
      Sie drehte sich, fing die Zuschauer in ihren Bann, erlöste sie nur damit, dass ihr Blick auf ihre nächsten Opfer überging. Die Musik spielte einen vorhersehbaren, berechenbaren Takt, aber es waren die Klänge und die Melodie, die einen zu sich lockten.
      Zoras’ Hand hob und senkte sich wieder in der Luft, vollführte einen eigenen, unbeantworteten Tanz. Für einen Augenblick wirkte es so, als müssten ihre gemeinsamen Schritte sie unweigerlich zusammenführen, doch überbrückte Kassandra noch einen weiteren Takt und blickte erst direkt in Zoras’ Gesicht, als der bereits wusste, dass es hier nicht weitergehen würde. Sie drehten sich, doch nicht in dieselbe Richtung. Seine Hand streckte sich aus, lud ein, vermisste, sehnte und überbrückte doch nie die unweigerliche Distanz, die der Tanz zwischen ihnen aufrecht erhielt. Dabei waren sie sich so nahe, näher noch, als es einem Menschen jemals möglich wäre, einer freien Göttin zu kommen. In gewisser Weise wurde so seine wortlose Einladung dennoch angenommen und auf eigene Weise erwidert. Dies war schließlich kein Tanz zwischen Gleichberechtigten, war es niemals gewesen.
      Ihre Schritte entfernten die beiden wieder voneinander, aber ihr Blick hatte sich in diesem einen Moment ineinander verhakt und ließ nicht wieder los, egal, wie weit sie wieder auseinander tanzten. Zoras ließ sich von diesem bekannten, tröstlichen Feuer verschlingen und als sie wieder zueinander fanden, auf der sich langsam füllenden Tanzfläche, so nah und doch niemals nahe genug, lächelte er. Und diesmal fühlte es sich auch wie ein Lächeln an, diesmal war es ganz das Lächeln von Zoras, des Herzogs, bei dem sich neue, aber auch alte Falten um die Augen warfen und sein bartloser Mund sich nach oben bog. Kassandra nahm seine Hand niemals an, doch das war ihm nicht wichtig. Er wusste unlängst, was die Geste ihm bestätigt hätte.

      Der Rat selbst blieb nicht lange sitzen. Kalea sah zwar als einzige höchst unwillig dabei zu, wie der Eviad und die Phönixin sämtliche Gäste mit ihrer Einlage überzeugten, doch der Alte, Wilben, stand zeitnah auf und forderte seine Oronia zum Tanz auf. Ganz anscheinend war dieses Tanzpärchen bereits überall bekannt, denn sein Auftauchen wurde mit Beifall begrüßt und ihm wurde auch sogleich Platz gemacht - genauso, wie Zoras und Kassandra unbehelligt von anderen Tänzern blieben. Dionysus ließ sich auch anstecken: Er stand auf, strahlend und beglückt über diese wunderbare Show, und ging um den Tisch herum, um nicht vor seiner Trägerin, sondern vor Mirdole auf ein Knie zu fallen und in einer theatralischen Darbietung ihr etwas vorzusäuseln. Die Gorgone betrachtete das Grinsen des Weingottes mit einem Ausdruck, als hätte man ihr vergammeltes Fleisch vorgesetzt, dann stand sie aber auf, ohne seine Hand zu ergreifen, und kam auf die Tanzfläche. Wilben und Oronia tanzten einen eng anliegenden Tanz, bei dem jeder Fußtritt aufeinander abgestimmt sein musste, wenn man weder fallen, noch sich gegenseitig auf die Füße treten wollte; Dionysus und Mirdole hingegen schienen nicht verstanden zu haben, was tanzen bedeutete. Zumindest nicht aus menschlicher Sicht. Die Gorgone stand unbeweglich in der Mitte, während Dionysus vor ihr stand und einige Bewegungen mit den Armen machte, die weder zum Takt zu passen schienen, noch die Melodie in irgendeiner Weise aufgriffen. Dafür, dass sie das aber einige Minuten lang taten, musste ja wohl doch irgendwas dahinter stecken.
      Beim Ratstisch setzte Ristaer, Halmyns Träger, sich um, um sich nun neben Kaela zu setzen und sich gedämpft mit ihr zu unterhalten. Zurück blieben Esho, Feyra, Halmyn und Asterios, doch nur der Menschenmann unter ihnen schien von der Musik angetan. Halmyn war noch immer am Essen, aber nur sporadisch, wie es schien. Manchmal nahm er sich etwas, kaute irgendetwas anderes und dann wieder nicht mehr. Und manchmal schob er etwas von seinem Teller zu Asterios hinüber, ohne einen Ton zu sagen und ohne, dass der es mit einem Grunzen kommentiert hätte. Beide sprachen nicht miteinander; schließlich schienen sie beide dessen nicht sehr mächtig zu sein.

      Zoras und Kassandra tanzten und als er durstig wurde und sich auf seinen Platz zurückziehen wollte, zog sich auch ein Großteil der anderen Tanzpaare gleich zurück. Der Grund: Es wurde gleich wieder zu Essen aufgetischt. Getränke brauchte man nicht, schließlich füllten sie sich von selbst nach.
      Als er sich, gesättigt und zufrieden, wieder zurücklehnte, beugte Feyra sich über den Tisch nach vorne, um seinen Blick zu erhaschen. Sie lallte schon ein wenig, als sie sprach.
      “Wisst Ihr, Ihr solltet auch mit anderen tanzen, nicht nur mit Eurer Göttin. Es sind so viele hübsche Frauen hier, Ihr beleidigt sie noch.”
    • Nach außen hin war Kassandra der Kern des illustren Treibens inmitten einer noch recht feindlich gestimmten Spitze. Ihre Züge waren entspannt, gar erleichtert, während sie weiterhin langsame Kreise um die eigene Achse beschrieb und dabei Zoras, der sie wie einen Mond umkreiste, nie berührte. Doch ihr Inneres war noch immer nicht zur Ruhe gekommen und würde es wohl nicht. Denn selbst wenn sie wusste, dass viele Augenpaare auf sie gerichtet waren, so lag es einzig und allein daran, dass sie diese Aufmerksamkeit einforderte und nicht, weil man sie ihr freien Willens schenkte. Sie hatte sich absichtlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt und das genügte nicht, um sie zufrieden zu stellen oder die drängende Stimme in ihrem Kopf zu besänftigen. Es war nicht genug, es musste mehr sein. Dafür reichte nicht das Lächeln, das sich aufrichtig in Zoras‘ Gesicht zauberte. Dafür reichte es nicht, dass sich selbst die anderen Götter und der Rat von ihren Sitzen begaben und sich dem Treiben anschlossen. Während die Stimmung durch sie immer weiter angeheizt wurde und sich die Spannung in etwas weniger Bedrohliches wandelte, hörte Kassandra nur die Stille, wenn sie sich auf sich selbst konzentrierte. Als schwebe sie in einer Blase des Nichts, ungehört und unberührt.

      Schließlich gab Zoras Kassandra ein Zeichen, dass er vorerst genug hatte. Ihm standen glitzernde Perlchen auf der Stirn, wohingegen die Phönixin wirkte, als wäre sie gerade erst von ihrer Sänfte aufgestanden. Langsam ließ sie die Arme sinken, doch Temperatur sowie andersartige Gewandung blieb erhalten. Ihre Augen folgten dem neuen Eviad, wie er zielgerichtet an seinen Platz zurückkehrte und sich seinem Kelch widmete, der wie aus Zauberhand sich selbst immer wieder nachfüllte. Dann nahm er wieder Platz und richtete sich auf den nächsten Speisengang ein.
      Dunkle Rubine musterten die Tafel, an die sich die Ratsmitglieder zurückgezogen hatten. Mittels eines Wimpernschlages erkannte man bereits, wer dem Wein zum Opfer gefallen war und wer nicht. Es verwunderte die Göttin nicht sonderlich, dass Dionysus‘ Trägerin jene war, die offensichtlich als Erste betroffen reagierte. Noch immer erschloss sich ihr nicht, wie der Gott an dieses Menschenkind geraten sein mochte. In der gesamten Konstellation war dies der Punkt, der am meisten für Argwohn sorgte. Sie wusste noch viel zu wenig darüber, wie die jeweiligen Champions und Träger aneinandergeraten waren.
      Der Träger der Nymphe schien zwar berechnend, aber nicht offenkundig feindselig zum aktuellen Zeitpunkt. Das konnte man von seinem Champion nicht behaupten, denn die Nymphe schien die Phönixin nur anhand ihres giftigen Blickes auflösen zu wollen. Nur der Minotaurus und der Zyklop wirkten völlig unbeeindruckt von der Veranstaltung. Vermutlich waren sie das auch.
      Ihr Blick schweifte weiter, während sie an der Tafel entlang schritt und ihre Sänfte ansteuerte. Gesichter wurden gemustert, Ausdrücke analysiert. Und dann blieb ihr Blick bei Esho hängen, der sich mit den Ellbogen auf der Tafel abgestützt hatte, den Kelch am Stiel zwischen seinen verschränkten Fingern gefangen. Ganz unverblümt beobachtete er Kassandra, wer wusste, wie lange schon. Sie baute den Blickkontakt auf, der Mann zeigte keinerlei Regung. Außer dessen Augen, die selbst in dem diffusen Licht einen Schimmer zeigten, der sicherlich nicht nur Faszination entsprang. Sein Gesicht zeigte keine besondere Regung, doch der Blick war mehrdeutig. Mindestens zwei dieser Deutungen vermochte Kassandra zu tun, keine davon spielte unbedingt in ihre Karten. In seinem Blick lag eine stumme Erinnerung an etwas, das die Göttin nicht wissen konnte. Als gäbe es ein Versprechen, dass er einfordern konnte und sie nur daran erinnerte.
      Kassandra brach den Blickkontakt, als sie sich nebst Zoras auf ihrer Sänfte niederließ und selbst nach dem Weinkelch griff.

      Feyra schob sich in Kassandras Blickfeld, als sie mit dem nächsten Gang fertig waren. Ihre Haltung hatte bereits deutlich gelitten; da war keine Grazie mehr in den Bewegungen der Menschenfrau. Es war nur schwer zu schätzen, wie viel Wein sie für diesen Zustand wohl benötigt hatte, aber ihre Augen waren nicht mehr ganz so wach wie vorher. Ehrlich gesagt lungerte sie eher über den Tisch, um Zoras‘ Aufmerksamkeit zu bekommen als alles andere.
      Kassandra konnte sich ein gehässiges Schmunzeln nicht ganz verkneifen. „Wie schön, dass Ihr Euch nicht miteinbezieht.“
      Oronia erdolchte sie mittels Blicken, Mirdole erübrigte einen scharfen Blick und Dionysus grinste noch breiter als zuvor. Kassandra zuckte mit den Schultern, schloss kurz die Lider und wandte dann ihren Blick zu Zoras herüber. Elegant überschlug sie ihre Beine und schwenkte ihren Kelch ein bisschen bevor sie das Wort wieder aufnahm.
      „Eigentlich hat sie da gar nicht so unrecht. Du bist das Bindeglied und solltest dementsprechend allen Ansprüchen gerecht werden.“ Gedanklich rollte Kassandra jedoch mit den Augen. Unter Alkoholeinfluss funktionierten so plumpe Herangehensweisen nicht mehr sonderlich gut bei ihr. „Ich hätte ja direkt ein Ratsmitglied vorgeschlagen, Feyra beispielsweise, allerdings scheint ihr der Wein bereits zu Kopf zu steigen. Allerdings sind hier noch andere Damen, die dir schöne Augen machen. Bis zum nächsten Gang dauert es ja noch eine Weile.“
      Eifersucht war hier weder gefragt noch angebracht. Es war sinnvoll, sich unter die Gäste mischen zu können und vielleicht das ein oder andere Thema aufzuschnappen, das ihnen andernfalls entgangen wäre. In der Zwischenzeit würde sie selbst mit den restlichen Ratsmitgliedern auf Tuchfühlung gehen. In all dem Gemenge würde weniger auffallen, wenn sie Warnungen unter der Hand aussprach.
    • Keiner von beiden hätte wohl mit Kassandras Schlagfertigkeit gerechnet. Zoras musste sich ob des Kommentars ein Schmunzeln verkneifen, als er sehen konnte, wie in Feyras Gesicht sämtliche Lichter erloschen. Ihr Blick wanderte zu Kassandra hinüber und nahm dann einen Ausdruck an, als hätte die Phönixin soeben ihre ganze Familie und sogar Blutlinie beleidigt.
      Von allen Menschen im Raum konnte sich wohl nur ein Ratsmitglied einen solchen Blick erlauben.
      Die Bemerkung erhaschte die Aufmerksamkeit von den umliegenden Plätzen und Oronia schien sich ganz Feyras unausgesprochener Meinung anzuschließen, während Mirdole hauptsächlich zur Ordnung rufen zu wollen schien und Dionysus sich ganz prächtig amüsierte. Keiner von ihnen schritt allerdings dazwischen; vielleicht wollten sie sehen, welche Dynamik sich zwischen der bestehenden Gruppe und den Neuankömmlingen aufbauen würde.
      "Ihr seid unhöflich", stellte Feyra schroff fest, wobei der Wein ein paar Silben verschluckte und aus "unhöflich" eher ein "unöflch" machte. Ganz sicher lag es daran, dass den Worten eine gewisse Schärfe fehlte.
      Natürlich hatten sie aber beide recht. Zoras sollte sich wohl besser integrieren, denn im Gegensatz zu Theriss, wo der König hoch oben auf seinen vielen Stufen als unantastbar galt, war hier der Eviad deutlicher mit dem Land verwoben. Außerdem würde es ihm die Gelegenheit geben, mit den anderen ins Gespräch zu kommen. Ohne, dass der Rest unweigerliche Mitsprache hatte.
      "Das erscheint mir als eine wunderbare Idee."
      Er streckte die Hand nach Kassandra aus, legte sie über die ihrige und drückte sie leicht. Die Phönixin saß würdevoll auf ihrer Sänfte, ganz so, als wäre das der eigentliche Thronsitz im Saal, aber für Zoras saß sie sogar eine Spur zu würdevoll. Oder vielleicht auch zu steif... zu unnahbar? Er konnte nicht den Finger darauf legen, was ihm so ins Auge stach, aber solange sie ihm nichts zu berichten hatte, war es wohl auch nichts weiter als ein rohes Gefühl. Immerhin hatte er ein ganzes Jahr an ihrer Seite verbracht, während sie durch die Straßen von Kuluar geritten und bei gottesfürchtigen Menschen vorstellig geworden waren, da war er schlichtweg nicht gewohnt, die Phönixin wieder an einem Platz zu sehen, der ihr mehr zusprach. Das musste es sein.
      Er schenkte ihr einen weichen, intimen Blick, dann stand er auf. Feyra lehnte sich bereits erwartungsvoll nach hinten, aber die Frau schien ihm wirklich nicht als Tanzpartnerin geeignet. Er war auch nicht auf Tanzen aus, er war auf Diplomatie aus und die schien bei der Frau, die sich zu leicht von Dionysus' Wein beeinflussen ließ und an nicht viel mehr denken mochte als an ihre Adeligkeit, Fehl am Platz zu sein. Daher umrundete er den Tisch und kam schräg hinter Kalea zum Stehen.
      "Dürfte ich um den Tanz bitten?"
      Eine handvoll Augenpaare richtete sich auf die beiden, fast schon erwartungsvoll. Kalea selbst sah zu ihm auf; die von Falten umsäumten Augen schmälerten sich, als sie erst ihn, dann seine Hand musterten. Viel Zeit zum Antworten blieb ihr nicht, das musste sie selbst wissen. Dennoch dauerte es eine Sekunde länger, bis sie einwilligte und ihre Hand in seine legte. Nach Kassandras makelloser, weicher Haut, kam ihm die knochige, runzelige Hand von Kalea wie eine Fälschung vor. Auch sie ließ sich nicht von ihm führen, sie ahmte die Phönixin einwandfrei nach, indem sie sich aufstehen helfen ließ und ihn dann losließ, um voran zur Tanzfläche zu schreiten. Dieses Mal füllten gleich ein paar mehr Paare die Fläche, die nur darauf gewartet zu haben schienen, dass der Eviad nicht mehr weiteressen würde.
      Kalea blieb aufrecht vor ihm stehen.
      "Ich wünsche, den Vieg zu tanzen."
      Zoras zog eine einzelne Augenbraue in die Höhe. Den bitte wie?
      "Ihr solltet darüber im Klaren sein, dass ich keine traditionell kuluarischen Tänze beherrsche."
      "Warum nicht?" Ihre Stimme war ganz gelassen, völlig neutral. Das konnte keine ernst gemeinte Frage sein.
      "Ich bin kein gebürtiger Kuluarer. Ich habe keinen Tanzunterricht in Kuluar genommen."
      "Dann nun eine kleine Geschichtsstunde: Der Vieg ist ein traditioneller Eröffnungstanz. Er wäre für ein Ereignis wie dieses angemessen gewesen, aber Ihr habt Euch dazu entschlossen, einer eigenen Tradition zu folgen. Ich möchte nun daran erinnern, dass Ihr in Kuluar seid und daher der Vieg getanzt werden muss."
      "Ich bin mir sicher, Ihr könnt ihn mir beibringen, wenn Ihr darauf bestehen mögt."
      "Welche Traditionen sind Euch noch unbekannt? Wie wollt Ihr ein Land regieren, dessen Kultur Euch fremd ist? Ein Kind könnte den Vieg tanzen, doch Ihr, einziger Eviad des Landes, könnt es nicht. Habt Ihr keinen Respekt vor unseren Traditionen? Vor der Geschichte des Landes?"
      Ah, natürlich. Zoras hätte wissen müssen, dass Kalea, die eine Gorgone mit sich führte, genauso spitzzüngig war wie die Schlangen ihres Champions. Ihr Einwand war berechtigt und er würde bald aus der Welt geschaffen werden müssen, bevor man noch anfing, an Zoras' Überzeugung zu zweifeln.
      "Ich entschuldige mich, Euch den Vieg vorenthalten zu müssen. Welch bessere Chance hätte ich, die Traditionen von Kuluar kennenzulernen, als in dessen eigenem Herz? Aber wenn Ihr unwillens seid, mich zu unterweisen, lässt sich bestimmt eine andere Freiwillige finden."
      Teilweise hatte er erwartet, dass Kalea klein beigeben würde und sich doch noch darauf einließ, ihm den Vieg zu zeigen, aber erstaunlicherweise nickte die Frau nur knapp, drehte auf den Fersen um und stolzierte zu ihrem Platz zurück. Ihr Abgang wurde mit neugierigen Blicken und aufkommendem Getuschel begleitet. Mit dieser Abfuhr und deren Bedeutung würde man sich wohl noch eine ganze Weile ausgiebig beschäftigen. Zoras wusste selbst, wie schlimm Gerüchte werden konnten bei einer adeligen Gesellschaft, die den ganzen Tag nichts besseres zu tun hatte, als sich die Mäuler zu zerreißen. Deswegen wirkte er auch offensichtlich unbeteiligt, als er sich umdrehte und sich darum bemühte, nicht suchend durch die Menge zu blicken. Mühselig ging er die vielen Personen durch, die vorhin noch bei ihm vorstellig geworden waren und die er jetzt auf die Schnelle zum Tanz auffordern könnte, ohne es noch einmal beim Rat zu versuchen. Eine zweite Abfuhr würde seinem Ruf vermutlich noch ernsthaft schaden.
      Sein Blick fiel auf das Oberhaupt der Handelsgilde, die als einzige so schnell für ihn in Betracht kam. Zu seinem Glück saß sie auch noch an ihrem Tisch. Zielstrebig, wenn auch nicht allzu eilend, kam er auf sie zu.
      "Fräulein, dürfte ich um den Tanz bitten?"
      Der ganze Tisch war in Schweigen verfallen, kaum als er sich genähert hatte, doch jetzt raunten sie sich wieder gegenseitig etwas zu. Die hagere Frau nickte nur und zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht, das bis dahin unsichtbare Falten zum Vorschein brachte.
      "Sehr gerne doch."
      Ihre kleine Hand blieb diesmal in seiner liegen, während er sie zur Tanzfläche führte. Sie stellten sich zumindest auf, aber die Frau schien noch nicht in Position gehen zu wollen.
      "Worum ging es dort gerade?"
      Ihr Blick huschte zu Kalea, die sich wieder gesetzt hatte.
      "Ich musste die Dame - und vielleicht auch Euch - leider enttäuschen: Ich beherrsche den Vieg nicht. Doch womöglich lässt sich ein anderer Tanz finden."
      Ein Ausdruck huschte über das Gesicht seiner Tanzpartnerin, dann streckte sie ihm auch endlich die Hand entgegen. Er ergriff sie und nahm die Haltung an, die er hier bei den meisten Tanzpärchen sehen konnte.
      "Warum beherrscht Ihr ihn nicht?"
      "Aus demselben Grund, aus dem Ihr die Tänze meiner Heimat nicht beherrscht."
      Es war die falsche Antwort, das wusste er anhand der Musterung, der er sich von ihrem Blick unterziehen lassen musste. Vielleicht schien auch sie abzuwägen, ob sie den Eviad auf der Tanzfläche stehen lassen konnte und entschied sich dann wohl dazu, dass das Risiko für ihre Seite zu hoch war. Ihre Zähne blitzten bei dem flüchtigen Lächeln kurz auf.
      "Aus Theriss stammt Ihr, nicht wahr? Therissische Verträge gelten im Westen schon fast als eigene Währung. Sie gewährleisten eine der stabilsten Handelsverbindungen, die in Zeiten wie diesen möglich sind. Ein therissischer Vertrag ist bei manchen soviel wert wie eine ganze Kompanie Soldaten, samt Verpflegung und Ausrüstung. Wären Kuluar und Theriss nicht durch so viele Grenzen getrennt, hätten wir uns schon in Verbindung gesetzt. Aber die vielen Zölle neutralisieren selbst den besten therissischen Vertrag."
      Zoras war überrascht davon, dass die Frau nicht nur Theriss kannte, sondern auch noch mit den Verträgen bewandert war. Er setzte zu einem langsamen, unkomplizierten Tanz an, während er sich gleich an ihre Lippen hängte. Eine derartige Beschreibung seines eigenen Landes hatte er noch nie gehört - die Verträge waren ein sicheres Mittel, klar, aber zu seiner Zeit waren sie eher Mittel zum Zweck gewesen. Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie in diesen Landen als fast schon stabile Währung anerkannt wurden.
      "Ihr schmeichelt meiner Heimat. Erleuchtet mich: Welche Bedeutung haben therissische Verträge für die Handelsgilde?"

      Am Tisch des Rates lehnte sich Feyra gleich hinüber, um Kalea auszuquetschen. Die alte Frau blickte hochnäsig drein.
      "Unser neuer Eviad beherrscht den Vieg nicht."
      Feyra machte ein abschätziges Geräusch, Oronia kicherte schadenfroh und Dionysus freute sich natürlich. Der Weingott wandte sich an Kassandra.
      "Wieso hast du es ihm nicht beigebracht? Du müsstest doch sogar dagewesen sein, als er sich etabliert hatte. Vor mehreren hundert Jahren."
      Sein Grinsen war fröhlich und wirkte dabei noch mehr schadensfroh, als wenn er es gleich offen gezeigt hätte. Es war unübersehbar, dass er sich hierbei ganz prächtig amüsierte.
      "Nun sitz doch nicht so rum wie ein Götzenbild. Lass uns ihnen doch zeigen, wie der Vieg ursprünglich getanzt werden sollte."
      Und mit einem diebischen Grinsen bot er ihr seine Hand an.
    • Kassandra schnitt Feyra weitere Worte mittels einer wegwischenden Handbewegung ab, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Unhöflich war sie schließlich keines Falles – immerhin war sie hier die Göttin und ließ sich nicht von einem Sterblichen in irgendwelche Schranken weisen. Nie wieder, nicht, solange sie ihre Essenz in ihrer Brust trug und die Füße auf diese Erde setzte. Bevor es aber weiter eskalieren konnte, stimmte Zoras seiner Göttin zu und legte ihr eine Hand auf die ihre. Der kurze Druck, den er ausübte, stellte eine Versicherung dar, die Kassandra gar nicht nötig hatte. Ihre Augen richteten sich auf sein Gesicht und ihre Züge wurden für einen Augenblick weicher, ihre Mundwinkel zuckten kaum merklich nach oben. Einen Wimpernschlag später war dieser Ausdruck jedoch wieder verschwunden und sie schwenkte weiterhin den Kelch in ihrer schlanken Hand, als sei ihr langweilig. Demnach ließ sie den Eviad ziehen und sich seine potenzielle Tanzpartnerin auserwählen. Beinahe hätte sich Kassandra allerdings doch eingeschalten, als er ausgerechnet auf die blendende Idee kam, Kalea zu fragen. Nachdem er nicht einen einzigen Tanz aus Kuluar kannte und sie alles darangesetzt hatten, keine Blöße zu zeigen, wählte er ausgerechnet eine der ausgefuchsten Damen aus, die ihre Zunge noch beherrschen konnten. Als er mit ihr zur Tanzfläche ging, schloss Kassandra gedanklich bereits ab. Wenn die Frau von ihr richtig eingeschätzt wurde, dann würde sie ihn auf der Fläche einfach stehen lassen. Das wäre jedenfalls ihre eigene Herangehensweise, wenn sie an Kaleas Stelle gewesen wäre.
      „Er fragt ausgerechnet Kalea? Der wird sich gleich direkt blamieren“, lachte Esho von etwas weiter hinten und ertränkte sein Gelächter mit dem Wein, der ihm lediglich etwas Farbe in das braungebrannte Gesicht zauberte. Ansonsten wirkte er noch völlig unbefangen und seine Aufmerksamkeit war von der Phönixin zur Tanzfläche gewandert. Gerade rechtzeitig, wo auch Kassandra bemerkte, wie Zoras und Kalea zum Stillstand gekommen waren. Sie unterhielten sich, und wenn Kassandra es gewollt hätte, würde sie wohl jedes Wort erhaschen können. Doch sie lehnte sich nur noch ein wenig weiter zurück und nippte an ihrem Wein. Er brandete viel zu süß und viel zu gefällig ihre Kehle hinab als sie dabei zusah, wie Kalea einfach auf dem Absatz kehrt machte und Zoras sich eine neue Dame suchen musste.

      „Unser neuer Eviad beherrscht den Vieg nicht.“
      Kassandras Augen zuckten nur kurz zu Kalea ehe sie sich wieder mit der Frau beschäftigte, die sich scheinbar angeregt mit Zoras unterhielt. Das dürfte diejenige gewesen sein, die zu den Händlern zählte. Ganz leicht schmälerten sich ihre Augen, um ein paar Worte aufzuschnappen und erhaschte unter anderem das Wort Theriss und Verträge.
      „Wieso hast du ihm es nicht beigebracht? Du müsstest doch sogar dagewesen sein, als er sich etabliert hatte. Vor mehreren hundert Jahren.“
      Die Aufmerksamkeit der Phönixin schnappte zu dem Weingott, der sie regelrecht anstrahlte. „Leider war ich zu der Zeit nicht in kuluarischer Nähe, sondern eher Richtung Südkontinente unterwegs. Die Stammeskriege aus den Wüsten Svensolanici? Da gab es leider nicht viel Möglichkeit zur künstlerischen Entfaltung“, schoss sie eine Spur zu gereizt zurück und bekam prompt die Retourkutsche, als sich Dionysus‘ Grinsen noch weiter verbreiterte. Kassandra starrte ihn an und sah dann wieder zu Zoras und der Frau der Händlergilde. Lange konnte sie sich der Situation jedoch nicht entziehen, denn die viel zu weiche Hand des Weingottes schob sich in den Rand ihres Sichtfeldes.
      „Wenn du ihn so tanzt wie du vorhin mit der Gorgone gezuckt hast, dann wird ihn niemand als solchen erkennen“, verkündete Kassandra mit einer vernichtenden Eindeutigkeit, dass dieses Mal niemand lachte oder grinste. Nicht einmal ein Gesicht verzog sich, als sich etwas zwischen den beiden Göttern aufbaute, was für Menschen nicht mehr greifbar war.
      Dann entließ sie einen angehaltenen Atemzug, trennte ihre Beine voneinander und beugte sich vor, um den Kelch abzustellen. „Ich hoffe, es ist dir klar, dass du dich nicht mehr aus der Affäre ziehen kannst und besser eine ordentliche Leistung zustande bringst. Sonst sinkt selbst dein Ansehen unter deinen Gläubigen“, fügte sie noch hinzu ehe sie ihre Hand in seine platzierte und ihm am liebsten den ganzen Arm ausgerissen hätte.
    • Dionysus bedachte Kassandra unbewegt mit seinem weiten, sorglosen Lächeln.
      "Svensolanici? Damit hatte ich stets wenig zu tun. Alles viel zu heiß und viel zu karg... kein Sinn für die schönen Gelüste des Lebens. Definitiv auch kein Sinn für Tanz."
      In seinen Augen blitzte es auf.
      "Wenn die Frauen tanzen sollen, zieht man sie nur nackt aus und lässt sie über glühende Steine laufen. Aber das hat man bei dir sicher anders gemacht, oder? Du kannst es uns gerne demonstrieren."
      Natürlich war das kein ernst gemeintes Angebot von Dionysus, es ging allein um die Leichtigkeit, die Phönixin weiter als das zu betrachten, zu was sie unlängst im Götterhimmel geworden war: Ein Besitz der Menschheit, eine Sklavin, gefesselt auf die Erde, wo sie bis ans Ende ihrer Tage dazu verdammt war, die niedersten Gelüste zu erfüllen. Sie mochte jetzt ihre Essenz zurückerhalten haben, aber das änderte nichts daran, dass sie noch immer nicht zurückkehren konnte und dass sie viele Jahrtausende in einer Position verbracht hat, die in vielen Ländern sogar unter dem Vieh stand.
      Und Dionysus freute sich daran. Er freute sich, dass er es so leicht hatte, mit diesem verbannten Vogel zu spielen.
      Ihre Retoure belachte er.
      "Mit einem menschlichen Körper ist das ein schwieriger Tanz, ich gebe es zu. Ich würde dir ja anbieten, einen traditionell phönixschen Tanz aufzuführen, aber das geht wohl besser mit einem großen, roten Kopf und einer Menge Gefieder. Nur besitze ich sowas leider nicht - niemand in diesem Raum. In diesem ganzen Land, möchte ich meinen."
      Sein Grinsen war unbestritten, seine Aussage eindeutig: Nicht einmal Zoras. Gar niemand, denn Telandir gab es schließlich auch nicht mehr.
      Dionysus' Blick lag auf der Phönixin, unermüdlich, ohne zu blinzeln. Sie mochte ihre Fassade aufrecht erhalten, aber der Weingott war sich absolut selbstsicher dabei, dass er einfach nur weiter darauf einhacken und einhacken musste, bis sie einmal bröckeln würde. Und dieses Theater würde er sich nicht entgehen lassen.
      Allerdings nahm er ohne weitere große Einreden ihre Hand entgegen und führte sie auf die Tanzfläche hinaus. Den beiden Göttern wurde sofort ehrfürchtig Platz gemacht.
      "Wofür hältst du mich? Selbstverständlich werde ich einen fabelhaften Tanz präsentieren. Lass uns den Menschlein zeigen, worum es beim Tanzen wirklich geht."
      Er zwinkerte ihr zu und nahm die Ausgangsposition an, natürlich makellos, einwandfrei, genauso wie die Phönixin gegenüber. Einen Takt lang verharrten sie, ebenmäßig wie Statuen, eine Verkörperung von reiner Perfektion, dann eröffneten sie den Vieg mit zwei Umdrehungen. Vier Takte lang dauerte der Einstieg, dann tanzten sie so nah aneinander, dass Dionysus' Grinsen direkt in Kassandras Gesicht strahlte.
      "Was ist dein Ziel, Kassandra? Jetzt hast du deine so wertvolle Essenz wiederbekommen, aber in den Himmel kannst du trotzdem nicht zurückkehren. Deine Verbannung wurde noch immer nicht aufgehoben. Weißt du, woher ich das weiß?"
      Keine ernstgemeinte Frage, natürlich. Dionysus spielte nur mit ihr.
      Sie tanzten auseinander und wieder zusammen.
      "Sie haben es schon im vergangenen Jahrtausend nicht getan und daher werden sie es dieses auch nicht tun. Wonach strebst du also? Willst du Kuluar in dein Feuer hüllen, dein Markenzeichen hier hinterlassen? Die schwarzen Feuer von Mynos, aber diesmal in Kuluar? Mach nur weiter und eines Tages wird man deine Verbannung aufheben, weil sich für eine tote Phönixin niemand mehr interessiert."
      Das Grinsen wurde sehr viel breiter.
    • Svensolanici war eines der düsteren Kapitel in Kassandras Existenz. Das Wüstenvolk war nicht unbedingt für seine Kultur bekannt, sondern vielmehr für die unglaublich versierte Streitkraft, die nach außen hin eher wie eine unkoordinierte Meute wirkte. In dieser Zeit hatte man sie als Überbringerin des Todes in flammender Gestalt eingesetzt und dafür gesorgt, dass sich die Wüste schneller ausgebreitet hatte als geologisch angedacht war.
      Bisher hatte die Phönixin nur selten direkten Kontakt mit den wirklich bedeutsamen Göttern der Menschheit gehabt. In der Himmelsebene bekam man ständig Wort von den Machenschaften und den Umgängen eben jener Götter mit, aber mythische Wesen wie sie es war kamen normalerweise nicht mal in deren Reichweite. Nun hatte sie ihre Hand in jene eines eben solchen Gottes gegeben und als sie das Blitzen in seinen Augen sah ahnte sie unlängst, dass er sich aus praktisch allem einen Spaß machte.
      „Das war auch kein Tanzen, das war um festzustellen, ob die Frauen geeignet waren, um die Kinder des Stammes zu empfangen. Man unterzog das mit geraubten Frauen, nicht mit den claneigenen“, korrigierte Kassandra ihn geflissentlich und tat unbetroffen, obwohl sie sich sehr gut an die Bilder und Schreie erinnern konnte. „Ich durfte den Gang einmal bestreiten und da du sicherlich mit meiner Natur vertraut bist, dürfte dir der Ausgang bekannt sein.“
      Ihre Hand in seiner zuckte nicht ein einziges Mal. Stattdessen behielt sie ihren Kopf würdevoll erhoben, während sie neben ihn schritt wie man sich eine Göttin vorstellte, wohingegen er regelrecht plump zur Tanzfläche ging. Je mehr Worte aus diesem gefesselten Körper quollen, umso mehr festigte sich das Bild, das Kassandra von ihm bekam. Man konnte es Intuition nennen, aber sie bekam den Eindruck, dass Dionysus hier gerade eigenmächtig handelte. Es wirkte nicht fremdbestimmt oder dazu gezwungen, sie immer weiter mit Sticheleien zu übersähen. Es wirkte nicht so, als müsse er so sprechen, sondern vielmehr, als täte er es aus seiner Laune heraus. Als wäre es überhaupt nicht daran interessiert, Beziehungen zu pflegen oder generell Affinitäten zu entwickeln.
      Dionysus hielt seinen Blick unentwegt auf Kassandra gerichtet. Sie blinzelte ihn einmal an und machte keinen Hehl daraus, die Erkenntnis und Erinnerung zu kaschieren, die in ihren eigenen Augen erschien. Sie hatte Zoras doch mehrfach erklärt, wie die Götter einst gewesen waren und was sie von Menschen unterschied. Hier stand nun vor ihr in greifbarer Nähe genau dieses Wesen. Eines von vielen, die keine Empathie empfinden konnten und nur dem folgten, auf dessen Natur sie basierten. Vor ihr stand ein Gott, doch noch unverfälscht war. Ein Gott wie ein Spiegelbild, der ihr aufzeigte, wie sie auch einmal gewesen war und wie weit sie von diesem Punkt mittlerweile entfernt war.
      Loki hatte recht. Sie besaß all die Macht und Fähigkeiten eines Gottes, obwohl sie mental den Status längst verloren hatte. Sie war näher am Menschsein mit viel zu viel Macht als am Gottsein angekommen. Das war es, was er damals gemeint hatte.
      „Was gibt es Schöneres als das Wissen, dass man wirklich einzigartig ist? Unbestritten die einzige Einheit auf Erden zu sein, die zu solchen Taten fähig ist klingt in meinen Ohren doch eigentlich ganz wunderbar, oder nicht?“, erwiderte sie gelassen, als er sich von ihr trennte und die Ausgangsposition einnahm, die sie spiegelte. Als sie auf den Takt einstiegen und den Vieg in Perfektion zeigten, bereitete sich Kassandra mental bereits vor. Der Weingott würde den Umstand nutzen und sie noch weiter anstacheln, wenn hier niemand Ohr und Auge bei ihnen hatte. Und genau das geschah schließlich, als sie sich gemäß des Tanzes das erste Mal annäherten.
      Sie ließ ihn seine Frage ausformulieren bevor sie sich trennten. Er wollte wissen, was ihr Ziel sei? Wieso sollte ihn das auch nur annähernd interessieren? Ihm sollte es doch eigentlich gelegen kommen, wenn sie weiterhin Katastrophen forcierte und für Unruhen sorgte, die er lediglich als Unterhaltung auffasste. Oder wollte er vorab nur herausfinden, wohin er sich positionieren sollte, um den besten Blick zu bekommen?
      Beim zweiten Annähern blieben sie länger beisammen. Noch immer grinste er überschwänglich, wohingegen Kassandra eher einen gediegenen Ausdruck für ihr Gesicht wählte. „Wieso geht ihr alle eigentlich immer davon aus, dass man unbedingt zurück in das Himmelsreich möchte? Vielleicht bin ich ja einfach schon zu lange hier und zu sehr Mensch, als dass ich die Vorteile aus den Augen verloren habe?“
      Kassandra beschrieb eine Drehung mit einem ausgestellten Bein und zog einen Arm in einer verlangsamten Bewegung nach außen. Sie nutzte den Moment, um ihren Blick nach Zoras ausschweifen zu lassen, doch sie sah ihn nicht sofort und musste zur Dionysus zurückkehren.
      „Ich weiß, du als ranghoher Gott kannst es nicht nachvollziehen wie die niederen Arten darum kämpfen müssen, nicht zu vergehen. Was habe ich hier unten also zu verlieren? Wir alle wissen, wie wir in die Existenz treten und wie kann man seine besser festigen, als direkt unter den Schöpfern dafür zu sorgen, dass man im Gedächtnis bleibt?“ Ihre Stimme war schon beinahe ätzend süß, weil sie genau wusste, dass gerade die hochrangigen Götter es verteufelten, dass sie auf den Glauben von Menschen basierten. Sie hassten die Vorstellung, dass sie von etwas so Niederem geschaffen worden sein könnten, dass sie die Wahrheit gerne verunglimpflichten. Aber nicht so Kassandra.
      Sie fing Dionysus‘ Ellbogen ein, um daran geleitet ihre Hand in seine zu bringen und recht nah an ihn heranzutreten. Es wirkte beinahe intim zwischen ihnen, wäre da nicht die Aura der beiden gewesen, die sich mit allen Mitteln dagegen wehrte, eins zu werden.
      „Ich bin frei hier unten, Dionysus. Jetzt und für immer und es gibt niemanden, der dem Einhalt gebieten kann. Ich muss nicht um meine Existenz oder das Gutdünken eines hohen Gottes fürchten. Außerdem scheinen diejenigen im Himmel ihre eigenen Probleme zu haben, wenn sie Loki nicht unter Kontrolle bekommen…“ Nun zwinkerte sie ihm einmal übertrieben zu. „Das Gleichgewicht ist gefährdet und die Grenze droht zu brechen. Wenn ich wählen könnte, wo dabei mein Sitzplatz ist, dann ja wohl dort, wo am meisten passiert, nicht wahr?“