Salvation's Sacrifice [Asuna & Codren]

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    • Dionysus schwenkte seinen Kelch in der Hand und beobachtete das ungleich werdende Gerangel unten.
      “Das ist die Moral eines Soldaten. Aber die hat hier nichts zu suchen. Wenn du sein General wärst, würdest du ihn nicht zum Rückzug rufen? Hier gibt es keinen Gewinn mehr, nur Verluste."
      Dionysus hörte sich versonnen an, dabei waren seine Züge noch immer gelockert und amüsiert. Hier ging es nicht um Zoras oder irgendwelche Moralgeschichten, hier ging es trotz allem um Unterhaltung.
      "Das solltest du von uns allen doch sicher am besten wissen."

      Zoras kam nicht ein zweites Mal hoch. Esho trat ihn und jeder Tritt, der mit der Wucht eines Hammerschlags kam, beulte die Rüstung weiter ein. Er begriff, dass er sich nicht von ihm wegdrehen durfte, wenn er keinen Rückenbruch riskieren wollte. Er rollte sich in einer defensiven Haltung zusammen, versuchte seinen Körper zu schützen. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, in seinem Körper wütete ein Schmerz nach dem anderen. Abgehackt stöhnte er.

      Dionysus ließ den Blick über Kassandras schwarze Flammen wandern und schmunzelte.
      “Naiver Vogel. Denkst du wirklich, du kannst hier deine schwarzen Feuer wieder loslassen und der Olymp wird nur zusehen? Pass nur auf und bald wird man dir eine Leine anlegen. Oder dich zurück in deinen Brutkasten schicken.”
      Dionysus wirkte amüsiert.
      “Denk nicht, dass dein Name keinem mehr etwas sagen würde.”

      Zoras blinzelte empor. Er konnte Eshos Gestalt über sich aufragen sehen, aber seine Glieder waren zu schwer, um sie gegen den Zug anzuheben, der ihn hochhob. Er konnte kaum klar sehen.
      Kassandras Wärme war das einzig tröstende. Er war nicht alleine, er war in keiner Dunkelheit gefangen, den Schmerzen schutzlos ausgesetzt. Er hatte seine Göttin bei sich und für sie konnte er kämpfen, wenn er schon nicht schaffte, für seinen eigenen Körper zu kämpfen. Sie war das Ziel vor seinen Augen, als er die gebrochene Hand anhob. Trotz allem war es nicht genug. Der Schlag kam und ließ Zoras endgültig im Wasser untergehen.

      Die Menge war totenstill, als auch Esho nicht mehr tat, als nach hinten zu straucheln und dann umzufallen. Keiner der beiden rührte sich mehr. Eshos Gesicht lag frei und unbedeckt, Zoras trug noch seinen zerbeulten Helm. Halmyn kam mit langsamen, trägen Schritten, beugte sich hinab und zerrte Zoras’ Helm mit dicken Fingern von seinem Kopf. Schweißnasse, braune Strähnen fielen nach hinten, ein angeschwollenes Gesicht kam zum Vorschein, aufgeplatzte Lippen und eine blutige, krumme Nase. Die Augen waren geschlossen, er rührte sich nicht mehr.
      Der Zyklop hob den Kopf zur totenstillen Manege. Sein Auge wanderte ganz zielgerichtet zur Tribüne des Rates, wo angeregt miteinander getuschelt wurde und Dionysus grinsend mit einer finsteren Kassandra zurücksah. Er öffnete den Mund.
      "DER… SIEGER…"
      Nicht ein Besucher regte sich mehr. Die Anspannung war geradezu greifbar, so schwer wie sie in der Luft hing.
      Halmyn starrte zu den Ratsmitgliedern empor. Sein Träger starrte eindringlich zurück.
      "… WIRD… ENTSCHIEDEN."
      Tosender Lärm brach los. Schreie, Rufe und Getöse, die sich in die Arena ergossen und völlig überschatteten, dass die Gatter sich wieder öffneten. Sanitäter kamen hereingelaufen und luden Zoras auf eine Trage auf, bei Esho stopften sie zuerst das Loch, bevor sie ihn ebenso hochhoben. Die Bewusstlosen wurden aus der Arena getragen, aber nicht durch dasselbe Gatter. Halmyn zögerte nicht, er ging Zoras mit langsamen Schritten nach.
      Oben drehte Dionysus sich um.
      "Dann wollen wir doch mal abstimmen. Werte Kassandra, vielleicht möchtest du uns erzählen, warum wir deinen Schwurpartner als Eviad krönen sollten."
    • „Der Olymp interessiert sich einen Dreck um das, was hier vor sich geht“, zischte Kassandra, die praktisch nie solche Worte benutzte. Dass sie es tat, zeugte von der vertrackten Lage in der sie sich befand. „Solange sie ihren Spaß haben und Unterhaltung finden, interessieren sie die Mittel dafür nicht. Oder warum sonst konnte ich bisher walten, wie es mir beliebte?“
      Loki war der beste Beweis dafür. Es lag vermutlich einzig und allein an ihm, dass sie bisher kaum einen Einschnitt erfahren hatte. Kassandra fürchtete sich nicht vor etwas, das noch nie aus dem Himmel herabgestiegen war. Sie fürchtete Loki für das, was er zu tun gedachte und wie leichtfertig er ihre aller Existenz aufs Spiel setzte für ein bisschen Unterhaltung.
      Kassandra zuckte zusammen als sie spürte, dass das Bewusstsein Zoras verlassen hatte. Sie schoss Dionysus einen finsteren Blick zu bevor sie sich eines Blickes hinab bemühte. Überaus deutlich wurde ihre Anspannung, als der Zyklop sich Zoras näherte und ihm seinen Helm vom Kopf zog. Dass darunter nichts Schönes zu sehen sein würde, war ihr klar. Aber sie rechnete jederzeit damit, dass der Zyklop einfach aus Versehen zu viel Kraft aufbrachte. Doch das konnte er nicht unter den Augen der Menge, die in Totenstille zusahen, wie der Sieger verkündet wurde.
      Den es, offensichtlich, nicht gab.
      Dann ging alles furchtbar schnell. Plötzlich kamen Heilmacher in die Arena geströmt, widmeten sich Esho und Zoras gleichermaßen als ein ohrenbetäubender Laut die Stille zerriss. Die Zuschauer brandeten auf, wie ein gewaltiges Heer schrien, kreischten und riefen sie Dinge in allen erdenklichen Reaktionen. Als Kassandra sah, wie beide Kontrahenten in verschiedene Ausgänge gebracht wurden und auch der Zyklop los ging, riss ihr Geduldsfaden endgültig. Sie hörte gerade noch so wie Dionysus ihr etwas sagte, doch sie reagierte nicht mehr darauf. Mit einer unbeschreiblichen Geschmeidigkeit sprang Kassandra über das Geländer die zig Meter in die Tiefe, wo sie mit einer Leichtigkeit landete, die deutlich wider menschliche Natur war. Noch bevor man Zoras gänzlich aus ihrem Blickfeld befördert hatte, machte sich Kassandra auf mehreren Ebenen bemerkbar. Ihre Stimme war so laut, so eingehend, als sie in jedermanns Köpfen ihre Stimme widerhallen ließ, dass niemand sie einfach ignorieren konnte.
      „Nehmt die Hände vom Eviad und wagt es nicht, ihm hinter verschlossener Türe etwas zuzufügen!“
      Schneller als das Auge sehen konnte stand Kassandra plötzlich neben der Trage. Erschrocken zuckten die Heilmacher zurück, ließen die Trage los und es war nur Kassandras Schnelligkeit zu verdanken, dass Zoras nicht auf dem Boden aufschlug. Sie fing ihn mit ihren viel zu schwach wirkenden Armen auf, ein Gott, der sich für einen Menschen aufopferte, und wies auch den Zyklopen mit finsterem Blick an, Abstand zu halten. Sie würde keine weitere Szene machen, sie würde schön brav den Weg gehen, den man ihr wies. Aber niemand würde sie von Zoras trennen.
      Nicht eine Sekunde lang.

      Man versorgte die Verletzten nicht in den Katakomben der Arena sondern brachte beide, nachdem Kassandra unmissverständlich klar gemacht hatte, dass beide Männer Aufmerksamkeit bedurften und sie ansonsten auch gerne ohne Aufsicht ihren Schwurpartner wieder heilen würde, in das Heilzentrum der Stadt. Emsig eilten hier die Heiler umher, als man Esho und Zoras einlieferte und beide auf einem weichen Bett ihren Platz fanden. Kassandra zog sich aus Zoras unmittelbarer Nähe zurück und ließ die Heilmacher machen, doch sie überwachte alles mit Argusaugen. Ihr war bewusst, dass sie vorhin eher die Flucht als alles andere ergriffen hatte, aber wenn der Rat weiter verhandeln wollte, dann konnten sie sich genauso gut hierher bequemen.
    • Kassandras Ruf wurde sofort aufgefasst und in Wellen durch die ganze Arena getragen. Eine ganz neue Art von Aufruhr machte sich breit, jetzt wütendes, aufgebrachtes Geschrei, als würde das Volk erst begreifen, dass es hintergangen würde. Zuschauer drängten sich gegen das Geländer und mussten von den aufgestellten Wachen zurückgehalten werden, damit sie nicht nach unten sprangen. Die Absperrung des Rates wurde in Mitleidenschaft gezogen, als die Menschen sich dagegen aufbegehrten, um den Mitgliedern ihre wütenden Meinungen mitzuteilen. Sämtliche Wachen waren ausschließlich damit beschäftigt, Ordnung zu schaffen. Die ältere Frau versuchte sich daran, beschwichtigende Worte zu verrichten, aber ihr hörte sowieso keiner zu. Sie mussten sich zurückziehen, während unten Halmyn vor Kassandra stehenblieb und sie reglos anblinzelte. Er bewegte sich nicht, auch dann nicht, als die Phönixin mit ihrer kostbaren Fracht in die Gänge verschwand.

      Ein Krankentransport wurde in letzter Sekunde organisiert, ausschließlich deshalb, weil man sich vor dem Zorn einer entfesselten Göttin fürchtete. Im Krankenhaus wurden sogleich die besten Ärzte zusammengerufen, um sich um das Ratsmitglied zu kümmern - und damit auch um Zoras, wie Kassandra unmissverständlich klarstellte. Sie wurden beide aus ihren Rüstungen geschält, Esho schneller als Zoras. Dessen Stahlplatten waren an mehreren Stellen eingedrückt und ließen sich nicht einfach so entfernen. Die Rüstung musste unter Kassandras kritischem Blick aufgeschnitten werden.
      Zoras’ Oberkörper war mit dunkelblauen Prellungen übersät, seine Schulter geschwollen, das Handgelenk dick, geschwollen und rot. Esho trug dafür eine Landschaft aus Kratzern und Schnitten davon, allen voran das Loch in der Schulter, das ihnen allen am meisten Arbeit bescherte. Vom Blutverlust war der Mann schon käseweiß. Die Ärzte, die an ihm hantierten, schwitzten unter dem Druck, kein Ratsmitglied verlieren zu dürfen. Es war vermutlich eine Todessünde.
      Es dauerte eine halbe Stunde, bis Zoras' Handgelenk geschient und seine Prellungen gekühlt waren, aber eine ganze Stunde, bis Eshos Loch ausgebrannt und genäht und der Rest seines Körpers verpflegt worden war. Der Rat kam aber nicht. Sie fanden sich zurück im Palast ein, wenngleich die jetzt bekannte Aura von Oronia sich um das Krankenhaus herum sammelte und verdichtete. Sie hätte wohl einen Ort finden können, um aus dem Wasser zu steigen, tat es aber nicht. Sie war eine unsichtbare Begleiterin bei Kassandras Wache.
      Zoras rührte sich als erstes. Die Phönixin konnte sehen, dass er zurück durch die Oberfläche zu brechen versuchte, noch bevor sein Körper zuckte. Es gelang ihm auch, aber es war ein unfassbar harter Kampf gegen das eigene Bewusstsein. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er die Lider aufgezwungen hatte.
      Er war benommen und orientierungslos, als sich erst eine Frau in sein Gesichtsfeld schob und sie dann zurückwich, um stattdessen Kassandra Platz zu machen. Für einen kurzen Augenblick dachte Zoras, er sei ganz woanders, aber der Anblick seiner Göttin erstickte aufkommende Angst bereits im Keim. Es dauerte weitere benommene Sekunden, bis ihm wieder Worte einfielen.
      "Hey..."
      Er hob den linken Arm in ihre Richtung, weil er den Schmerz des Handgelenks selbst bewegungslos schon spürte, und zuckte, weil dafür seine Schulter aufflammte. Er fühlte sich grässlich; dabei müsste er doch eigentlich in der Arena sein. War es schon vorbei?
      "... Wo sind wir? ... Haben wir es geschafft?"
    • Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, wie die Menschen versuchten, die Stahlplatten von Zoras zu lösen und ihn angemessen zu versorgen. Er hatte etliche Prellungen und Brüche erlitten, die nicht lebensbedrohlich waren. Deswegen hielt sie sich zurück, solange, bis man ihn als stabil empfand und sich traute, sie beiden unbeaufsichtigt zu lassen. Wobei das nicht ganz zutraf, wenn man bedachte, dass sich die Aura einer gewissen Nymphe ständig im nahen Umkreis befand.
      Immer noch sichtlich erzürnt schloss Kassandra sämtliche Türen, Vorhänge und was sonst noch für Privatsphäre sorgen konnte. Aufgrund der harschen Verletzungen des Ratsmitgliedes hatte man sie nicht auf einzelne Zimmer verfrachtet, sondern in dem Schockzimmer zuerst behandelt. Es trennte also nur ein Vorhang Zoras von Esho, der vorerst eine ganze Weile schlafen würde.
      Die Aura um Zoras wurde in Schwingungen versetzt, als sich sein Bewusstsein zurückkämpfte. Der Schwester, die sich gerade noch prüfend über den Mann gebeugt hatte, fiel es erst auf, als auch sein Körper zu zucken begann. Sie hing noch immer über ihm, als er bereits die Augen öffnete und Kassandra mit einem sehr eindeutigen Räuspern dafür sorgte, dass sie sich aus dem Raum trollte.
      Einen Augenblick lang sag Kassandra der Frau hinterher, dann stand sie bereits neben Zoras und musterte ihn. So lädiert hatte sie ihn noch nie gesehen und am liebsten würde sie sich tausendfach bei dem Mann fünf Meter weiter revanchieren. Doch sie legte ihm lediglich die Hand auf die Brust und ließ einen warmen, langsamen Rinnsal an Magie in den sterblichen Körper fließen. Wie von selbst suchte sie die Prellungen und linderte die geschundenen Muskeln. Sie suchte nach dem gebrochenen Handgelenk und flickte, was Wochen zur Heilung benötigte.
      „Das Heilerquartier. Esho hat dich bewusstlos geschlagen und ist anschließend selbst gefallen. Er liegt dort drüben“, klärte sie ihn sanft auf, doch das Feuer, was noch immer in ihrem Kern loderte, brannte noch in ihren Augen. „Sie haben es als unentschieden gewertet. Ich war so frei und habe die Zuschauer ein bisschen… angeheizt.“
      Wobei das wohl untertrieben war. Draußen ging eine regelrechte Revolte vor sich, als man versuchte die Arena zu klären und ein Haufen an wütender Menschen sich gegen die Miliz wandte. Bis hierher konnte Kassandra die erhitzten Auren spüren, die sich gegenseitig an die Gurgel gingen.
      „Ich schätze, sie werden einen anderen Plan finden müssen, als es mit einem Duell besiegeln zu können.“
      Dass man ohne ihr Eingreifen Zoras noch im Abtransport vermutlich die Kehle durchgeschnitten hätte, enthielt sie ihm vor. Auch von den ganzen Sticheleien auf den oberen Rängen erwähnte sie nichts.
      „Du hast dich unglaublich gut gegen ihn geschlagen. Ich schätze, er hat nicht einkalkuliert, solch einen Schaden bei einem Duell gegen einen älteren Mann einzustecken“, lächelte sie Zoras an und strich ihm seine Haarsträhnen aus dem Gesicht, die noch immer klebrig auf seiner Stirn gelegen hatten. „Auf jeden Fall darf sich der Rat nun mit einem sichtlich erzürnten Gefolge herumschlagen.“
    • Kassandras Hand legte sich auf seine Brust und keinen Augenblick später durchströmte ihn die Wärme, die nach Kassandra schmeckte. Sie drang in Winkel seines Körpers vor, der er sich gar nicht bewusst gewesen war, bis er jetzt erst merkte, dass er sie dort dringend benötigte. Sein Handgelenk, seine Schulter, sein Oberkörper kribbelten. Unter dem Kribbeln verschwand der Schmerz und Zoras seufzte erleichtert. Er konnte nicht einschätzen, wie lange sie genau in der Arena gekämpft hatten, aber es fühlte sich so an, als hätte er stundenlang die Front verteidigt. Er war so müde wie schon lange nicht mehr.
      Kassandras Stimme war weich, als wolle sie ihm nicht zu nahe treten, aber in ihrem Blick spielte sich etwas anderes ab. Zoras hatte das Feuer nun oft genug gesehen, um trotz des oberflächlichen Flackerns genau sehen zu können, wie das Flammenmeer in ihrem Inneren tobte. Unmittelbar fragte er sich, was für die Phönixin dort oben vorgefallen war; er hatte sich kein einziges Mal zu ihr umdrehen können, um nach ihr zu sehen. Er wusste nicht, wie viel sie an dem Ausgang des Geschehens beteiligt gewesen war.
      "Okay. Das ist gut so, ich hätte nicht gewinnen können. Das wusste ich gleich, als ich gesehen habe, wie er seine Waffe führt."
      Er hatte keine Gedächtnislücken davongetragen - leider, denn dann hätte er sich jetzt die Erinnerung ersparen können, als das Breitschwert ihn fast aufgespießt hätte. Wenn die Rüstung manipuliert gewesen wäre, dann hätte die Klinge seinen ganzen Brustkorb durchschlagen; so war es immerhin nur zu einer Prellung gekommen.
      Telandirs Narbe pochte auf, als verhöhne sie ihn. Unbedacht hob Zoras die Hand, um sie über Kassandras zu legen, damit sie sie bloß nicht wegnahm. Sein Handgelenk stach ihm doch noch ins Fleisch, aber es war schon wesentlich schwächer als zuvor.
      Erschöpft atmete er aus.
      "Er kannte mich nicht, das war mein einziger Vorteil. Noch einmal werde ich nicht gegen ihn antreten können, nicht unter den selben Voraussetzungen. Ich glaube, er ist wahnsinnig... ich habe es in seinen Augen gesehen."
      Noch während er es aussprach, hörte es sich wie eine Einbildung an, aber er war sich sicher, dass Eshos Wahn echt gewesen war. Er mochte sich die Kraft des Minotauren leihen, aber auch so einiges anderes, was nicht in den sterblichen Körper gehörte.
      Müde lächelte er zurück.
      "Er hätte mich vor vier Jahren einmal kennenlernen sollen. Da hätte ich ihn in Grund und Boden geschlagen."
      Die Bemerkung war unvorsichtig hervorgekommen, denn jetzt schmälerte sie sein Lächeln in Anbetracht der Tatsache, weshalb die vier Jahre einen Unterschied ausmachten.
      Gern hätte er Kassandras Hand geküsst, um wieder abzulenken. Er war auch schon auf gutem Weg dahin, als ihm klar wurde, wie unappetitlich er aussehen musste nach einem Kampf in einer luftdichten Rüstung mit Helm. Abgesehen davon sollte er keine Zeit damit vertrödeln, hier in diesem Bett zu liegen, während der Rat dort draußen am Gange sein mochte. Sie sollten nicht abwarten, ob ihnen in den Sinn käme, dass Zoras jetzt auch noch gegen Eshos Champion antrete.
      "Wir müssen wieder hin, bevor sie auf irgendwelche Schnapsideen kommen. Es würde mich bei dem Haufen nicht wundern. Und wir brauchen menschliche Wachen, eine Truppe, die uns überall hin folgt und möglichst öffentlich ist. Sie müssen Zeugen dafür sein, dass sich niemand einzumischen versucht. Wir brauchen genug Menschen, sodass es auffällig wird, wenn sie alle ebenso sterben würden."
      Er beanspruchte seine gequälten Muskeln, um sich ächzend aufzusetzen. Kaum kam sein bleierner Kopf in eine erhöhte Lage, ergriff ihn ein Schwindel, der ihn am Bettrand festhalten ließ. Angestrengt kniff er die Augen zusammen und stemmte sich trotzdem weiter gegen seine Erschöpfung an.
    • Zoras wusste es nicht, aber seine Hand auf ihrer nahm ihr langsam und stetig den flammenden Zorn in ihrem Herzen. Natürlich konnte sie nicht vergessen, was böse Zungen ihr auf der Tribüne zugeflüstert hatten, aber sein schlagendes Herz unter ihrer Hand zu spüren war mehr, als sie sich derzeitig hätte wünschen können.
      „Das war kein gewöhnlicher Wahnsinn. Dieser Mann ist vom Kampf besessen. Ich kenne diesen Ausdruck sehr gut“, sagte Kassandra, schloss die Augen und erinnerte sich an die Male, als sie diesen Ausdruck in ihrem Spiegelbild hatte erblicken können. „Er profiliert sich. Er weiß, dass er außerordentlich gut darin ist. Dass er einen Minotauren als Champion hat, ist gelinde ausgedrückt ein ungünstig passender Treffer.“
      Ihre Lider öffneten sich erneut, als Zoras die Zeitspanne vor vier Jahren erwähnte. Womöglich hatte er recht. Womöglich hätte er unter den passenden Umständen etliche andere Leute unangespitzt in den Boden gerammt. Aber die Zeit war nicht angehalten worden, sie lief weiter und hatte ihn zu dem gemacht, der er jetzt war. Zu einem Eviad, wenn alles nach Plan lief.
      Sie nahm ihre Hand erst von ihm herunter, als er sich aufrichtete. Oder besser gesagt, es versuchte, denn die Bemühung war unlängst für alle sichtbar. Die Schwellungen und dunklen Flecken waren bereits lichter und kleiner geworden, aber es würde noch eine kleine Weile dauern, ehe alles spurlos verschwunden wäre.
      „Du kannst nicht ständig in ihrer Umgebung sein und versuchen, dich einzumischen. Sie werden dir nicht hörig sein, genauso wie du dich bei ihnen vorgestellt hast. Ich habe einen kurzen Einblick von dem Pack bekommen, das Kuluar sein Reich nennt. Du nennst diesen Mann da drüben wahnsinnig? Ich denke, das Gesamtbild von ihnen allen ist es eher“, sagte sie leise und platzierte doch eine Hand erneut an seiner Brust, um ihn davon abzuhalten, weiter aufstehen zu wollen. „Du wirst mir nun den Gefallen tun und dich fünf Minuten wieder hinlegen und warten. Lass mich in der Zeit das Wunderwerk vollbringen und dann können wir immer noch weitere Pläne schmieden.“
      Kassandra ließ keinen Verhandlungsspielraum offen, als sie Zoras bestimmt wieder ins Bett drückte und während der Zeit nicht einmal die Berührung zu ihm unterbrach.

      Nach den fünf Minuten war Zoras tatsächlich sofort auf den Beinen. Er sah deutlich weniger schlimm aus, die Schwellung aus seinem Gesicht war praktisch fort und beim Handgelenk war nur noch ein dumpfer Schmerz geblieben. Die Schulter war wieder dort, wo sie sein sollte und die Abdrücke der Rüstung, wo sie eingedrückt worden war, war nur noch eine blasse Erinnerung.
      Umgehend hatten sich Kassandra und Zoras wieder auf die Straße begeben und stellten zu ihrer Überraschung fest, dass sich ein Pulk um das Heilerquartier gebildet hatte. Schaulustige und pöbelnde Menschen hatten sich versammelt und wurden teilweise gewaltsam von Soldaten mit brauner Farbe davon abgehalten, sich dem Gebäude weiter zu nähern. Als sie Zoras erblickten, artete das Geschrei neu aus.
      „Ich nehme an, du bekommst schneller eine Truppe zusammen als dir lieb ist“, flüsterte Kassandra, die durch die Menge blickte und etliche passende Gesichter fand, sich dann schließlich aber für denjenigen entschied, der am ehrbarsten aussah.
      Mit stolzem Gange näherte sich Kassandra der Ansammlung an Menschen und der ersten Reihe an Soldaten. Je näher sie kam, umso mehr wichen Leute zurück und auch die Soldaten traten wenigstens einen respektablen Schritt zurück. Kassandra hatte das Ziel ihrer Begierde jedoch fest im Blick und der Mann, den sie damit meinte, erstarrte.
      „Wie nennt man dich?“, stellte die Phönixin die Frage an einen Mann mittleren Alters, der zwar nicht die Farben der Stadtwache trug, aber trotzdem in etwas gekleidet war, das einer Uniform ähnelte.
      „H… Havas“, sagte der Mann, nachdem er sich geräuspert hatte und tatsächlich Stellung bezog.
      Kassandra lächelte. „Havas. Du siehst mir nach einem ehrbaren Mann aus. Warst du vorhin in der Arena?“
      „Natürlich! Als das Wort erklang, dass der Eviad gekommen sei und sich dem Rat stellen würde, sind wir gesammelt zur Arena gegangen.“ Er schlug die geballte Faust in die geöffnete Hand. „Niemand hat so lange gegen das Ratsmitglied bestanden.“
      „Dann wird es dich sicherlich doch bestürzen, wenn ich dir mitteile, dass der Rat uns keine Unterkunft angeboten hat.“ Kassandras Tonfall war beinahe lächerlich übertrieben ironisch, aber die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Etliche Beleidigungen fluteten herein, allesamt gegen den Rat gerichtet.
      Havas wirkte mindestens genauso sehr beleidigt. „Was für eine Dreistigkeit. Ihr solltet ein ordentliches Gemach beziehen können, aber wenn es Euch an Unterkunft noch fehlt, steht Euch mein Haus solange frei, bis ich etwas anderes habe auftreiben können.“ Er räusperte sich erneut. „Sofern es Euch denn beliebt.“
      Kassandra warf ihr dunkles Haar über ihre Schulter zurück und wandte sich Zoras zu, der die Unterhaltung mitverfolgen konnte. „Das obliegt wohl ihm zu entscheiden“, sagte sie salopp.
      Er ist zwar nicht der Garde angehörig, aber ein Feuerwächter. Sie kontrollieren Brände in der Stadt und genießen ein anderes Ansehen als das Militär. Ich denke, wir können über ihn Wachen generieren und wenn wir uns eine Weile bei ihm einquartieren stellen wir die Nähe zum Volk her.
    • Widerwillig ließ Zoras sich zurück ins Bett drücken, auch wenn sein Körper es ihm dankte. Dafür konnte er die weiteren fünf Minuten nutzen, um aus dem verbliebenen Schleier seiner Bewusstlosigkeit zu dringen und seinen Kopf anzustrengen. Wenn die Zuschauer noch immer von dem Duell angeheizt waren, bestand eine gute Chance, dass er die Stadt noch am heutigen Tag gegen den Rat zusammenrotten konnte. Durch reine Mundpropaganda könnten die Kuluarer sich soweit gegen den Palast richten, dass ihm gar keine Wahl gelassen wurde, als sich der Menge zu fügen.
      Es war wie damals, nur wesentlich schneller. Und hoffentlich auch mit einem gänzlich anderen Ausgang.
      Kassandra flickte ihn wieder soweit zusammen, dass er nach fünf Minuten tatsächlich aufstehen und sogar gehen konnte, auch wenn er sich noch immer schwer und ungelenkig fühlte. Er ließ sich Wasser bringen, das er sich kurz ins Gesicht spritzte und ging dann mit Kassandra nach draußen - nicht, ohne im Türrahmen einen Blick auf den verbundenen Esho zu werfen. Er war alleine hier, niemand da, der auf ihn aufpasste. Niemand würde sie davon abhalten, seine Kehle durchzuschneiden und Asterios Essenz zu zerstören. Ein göttliches Wesen weniger auf der Erde, ein Ratsmitglied weniger, das ihnen Schwierigkeiten bereiten konnte.
      Er betrachtete den bewusstlosen Mann einen Moment lang, dann ging er weiter nach draußen.
      Es hatte sich schon eine ganze Meute eingefunden, um vorbei an den Wachen und zu den Türen zu gelangen. Kaum, als sie geöffnet wurden, dröhnte ihnen ein Geschrei entgegen, das gut an den Lärm der Arena erinnerte. Zoras hatte Mühe damit, einzelne Begriffe oder gar Sätze herauszufiltern, denn alles kam durcheinander. Zeus' Name erhob sich an ein paar Stellen, aber es war viel zu chaotisch, um zu einem Choral zurückzufinden.
      Zoras testete seine Grenzen und hob die Hand, um zu winken. Der Lärm schwoll sogleich an.
      "Oh, ich bekomme sogar eine ganze Mannschaft zusammen", raunte er zurück, auch wenn sie sowieso therissisch sprachen. Er hielt weiterhin die Hand empor und winkte. Die Meute liebte es.
      Kassandra ging bereits nach vorne, um Kontakte zu knüpfen und Zoras setzte ihr in gebührendem Abstand nach. Er hielt sich aufrecht und straff, ganz wie man es von einem Eviad erwarten sollte, auch wenn seine Schultern sekündlich nach unten zogen und er nichts lieber getan hätte, als sich irgendwo hinzusetzen und noch einmal fünf Minuten damit zu verbringen, sich von Kassandra behandeln zu lassen. Er blieb aber aufrecht, bis die Phönixin einen Mann rekrutiert hatte, der wohl zur Feuerwacht gehörte. Im einen Augenblick sagte sie etwas zu ihm, im nächsten rückte ihre Stimme in seinen Gedanken nach. Er runzelte die Stirn, weil die Phönixin wohl dazwischen wechselte, als wäre es wie atmen, aber Zoras sich noch gänzlich nicht daran gewöhnt hatte. Er konzentrierte sich darauf, was davon sie in seinem Kopf und was sie wirklich ausgesprochen hatte und auf was er nun antworten sollte.
      "Du bist deinem Land sicher treu ergeben, stimmt's?"
      "Ja, richtig", bestätigte Havas schnell und nickte eifrig.
      "Leute wie du sollen ein Vorbild sein, dafür, was in Kuluar möglich ist. Führe uns und zeig uns, was einen treuen Kuluarer ausmacht."
      Havas schwoll gleich an unter der Ehre und schickte sich dann an, sie aus der Menge zu leiten. Kaum als sie die Begrenzung des Krankenhauses hinter sich hatten, drängten die Menschen gleich heran, so nah, wie Kassandras Präsenz es nur zuließ. Eine konstante Traube bildete sich um sie, die sie auf dem Weg begleitete und für Zoras' Geschmack ein wenig zu eng war. Eine Hand streifte ihm am Ellbogen, als sich jemand zu ihm ausstreckte, und er zuckte zusammen. Wäre Kassandra nicht gewesen, wäre das ganz anders ausgegangen.
      "Wir brauchen so schnell wie möglich Soldaten", murrte er, während er sich an sie hielt. Sie brauchten Soldaten und zwar eine Menge davon.

      Havas' Zuhause lag recht zentral, was ausschließlich seinem Berufsstand zu verdanken war. Es war nicht sehr groß oder geräumig, aber es war ein Platz in der Hauptstadt und dafür auch noch in einem mittelmäßigen Viertel. Havas hatte es dadurch schon besser als ein beträchtlicher Teil von ganz Kuluar.
      Havas hatte außerdem eine Frau und zwei Kinder, die ganz verschreckt dreinsahen, als der Vater mit einer ganzen Meute im Schlepptau nachhause kam. Er richtete ein paar hektische Worte an seine Frau, die gleich noch viel blasser dreinsah und Kassandra mit aufgesperrtem Mund anstarrte. Dann flüchtete sie nach drinnen und kam kaum zwei Minuten später mit gepackten Taschen wieder heraus.
      "Ich danke dir", richtete Zoras sich an den Mann. "Du kannst uns auch sicher weiter behilflich sein. Wir suchen nach den ehrlichsten Bürgern, die Kuluar zu bieten hat, die loyalsten ihres Landes, die an die Erfüllung der Prophezeiung glauben. Lass sie hierher kommen und uns, die wir keine gebürtigen Kuluarer sind, an ihrem Wissen und ihrer Kunde teilhaben."
    • Mittlerweile fühlte sich Kassandra zu einer Art Leibwache verkommen. Nachdem sie den Fehler begangen hatte und Zoras allein mit dem Rat hatte sprechen lassen, wollte sie ihn nicht mehr allein umherwandern wissen. Doch ihre Erfahrungen machten ihr einen Strich durch die Rechnung. Es würde nicht möglich sein, ständig in seinem Umfeld zu sein und der Schutz, der einmalige Schutz, den sie ohne sein Wissen über ihn gelegt hatte, würde selbst je nach Umstand nicht genügen. Sie war nicht mehr seine Geliebte, seine Göttin, die er auf Händen trug und für die er alles Mögliche in Bewegung setzte. Die Rollen hatten sich getauscht und er ein größeres Ziel bekommen. Auch ohne eine Essenz und ohne Zwang war sie sein lebendiges Schild und gewillt, jede freie Sekunde ihrer Zeit diesem Schutz zu widmen. Das merkte sie insbesondere während sie in der Traube zu Havas‘ Haus liefen, zahllose Auren und Absichten um sie herum. Jede einzelne von ihnen wurde sorgsam von Kassandra auf Feindseligkeit geprüft, wodurch sie nur halbherzig zuhörte, was Zoras ihr hin und wieder sagte. Jederzeit rechnete sie damit, dass es einen Angriff geben könnte, so subtil er auch ausfallen mochte. Diese ständig hohe Aufmerksamkeit würde irgendwann ihren Preis einfordern, dessen war sich die Phönixin bewusst als sie einmal kurz den Blick gen Himmel richtete und sich fragte, ob sie sich seit 500.000 Jahren doch nicht weiterentwickelt hatte.

      Vor Havas‘ Haus angekommen hielt Kassandra die Meute auf Abstand. Sie stand einfach nur da und betrachtete die Menschenmasse, während Zoras sich mit Havas und dessen Familie kurz unterhielt und sie gesehen hatte, wie entgeisterte die Ehefrau auf ihre Anwesenheit reagiert hatte. Es entstand eine Hektik, die Kassandra nicht ganz nachvollziehen konnte, doch der Sinn ergab sich, kaum erblickte sie die Taschen, die die Ehefrau mit sich nach draußen schleppte.
      „Haltet ein“, mischte sich Kassandra plötzlich dazwischen, Unverständnis in ihrem Gesicht. „Als ich nach einer Unterkunft fragte, sollte das nicht bedeuten, dass wir euch aus eurem Haus nötigen. Bleibt. Ich brauche lediglich einen Rückzugsort für den Eviad, nicht für mich.“
      Jetzt erschien Unglaube in den Gesichtern Havas‘ und seiner Familie. Irritiert suchten sie gegenseitig die Blicke des jeweils anderen, so als hätte Kassandra soeben eine unerfüllbare Aufgabe gestellt. Es dämmerte Kassandra viel zu spät, dass es sich schlichtweg nicht ziemte, einen potenziellen Herrscher samt Göttin in den eigenen vier Wänden zu beherbergen als seien sie Familienbesuch. Die sehr abgespeckte Reise und Lebensverhältnisse, die Kassandra und Zoras bis jetzt zu spüren bekamen, wirkte sich scheinbar doch auf ihre Wahrnehmung aus.
      Sofort korrigierte Kassandra ihren Gesichtsausdruck samt Haltung. „Oh, ich vergaß, wie man es hier handhabt. Aus den Ländern, aus denen ich stamme, gibt es ein solches Hierarchiesystem nicht.“ Eine glatte Lüge, aber das mussten die Menschen ja nicht wissen. „Dann nehmen wir dankend an und reduzieren unseren Aufenthalt auf das Nötigste. Ein Eviad sollte sowieso in seinem Palast residieren und nicht hier.“
      Scheinbar kamen die Leute damit besser zurecht, denn die Gesichter glätteten sind und wirkten zufriedener. Havas nickte Zoras zu, unterhielt sich noch mit seiner Frau und knuffte seine beiden Kinder. Dann verabschiedete er sich und quetschte sich durch die Menge hindurch, um scheinbar Menschen aufzutreiben, nach denen Zoras verlangt hatte.
      Kassandra sah ihnen einen Augenblick lang nach, dann bedeutete sie Zoras, das Haus zu betreten und folgte ihm auf dem Fuße. Sie schloss die Tür hinter sich, doch die Stimmen der Leute vor dem Haus waren noch immer deutlich zu hören. Immerhin waren sie hier nicht einer ständigen Beobachtung ausgesetzt.
      „Setz dich. Die Menge an Menschen setzt dir doch noch zu“, sagte Kassandra und ließ den Blick durch die doch sehr rustikale Einrichtung schweifen. „Du hast recht mit den Soldaten. Wir sollten warten bis wir einen gewissen Stamm beisammenhaben. Man lässt Menschen dich eher begleiten als mich. Zumindest gehe ich davon aus, dass der Rat jede Möglichkeit nutzen wird, um uns nicht zusammen zu lassen.“
    • Zu aller Überraschung hielt Kassandra die kleine Familie auf, die gleich in Schrecken darüber verfiel, mit dem potentiellen Eviad auch noch das Haus zu teilen. Sie starrte die Phönixin regelrecht entsetzt an, bis Zoras sich dazu entschloss, lieber keinen Skandal hier ausbrechen zu lassen. Ehrlicherweise wollte er auch gar nicht mehr sozialen Kontakt aufbauen wie nötig.
      Bewusst versuchte er an ihre Aurafarben zu denken.
      Das sind einfache Leute. Überfordere sie nicht.
      Daraufhin wechselte Kassandra gleich ihre Meinung und die Erleichterung stand der armen Frau ins Gesicht geschrieben. Sie flüchteten gleich, um den beiden das Haus zu überlassen.
      Zoras trat ein, durchquerte den Flur und ließ sich bei der erstbesten Sitzgelegenheit nieder. Er atmete aus; der Lärm von draußen war jetzt deutlich gedämpft durch die Tür, aber er war noch zu hören, besonders durch die geschlossenen Fenster. Er erblickte eine Uhr und starrte ungläubig auf das Ziffernblatt.
      Es ist erst 4?
      Klar, sie waren um 11 in den Palast gekommen, er hatte dem Rat zugehört, eine Stunde Vorbereitungszeit, das Duell… aber für ihn fühlte es sich an, als wäre er schon seit Mitternacht auf den Beinen. Leise stöhnte er und ließ den Kopf nach hinten hängen. Was hätte er jetzt nicht für einen ruhigen Moment und ein Bett getan.
      Aber er hatte sich für den Weg des Eviads entschieden, der nun auch zu glücken drohte, und als solcher musste er durchhalten. Er musste ein Herrscher sein. Die Entscheidung war noch lange nicht gefallen und sie durften nicht ruhen, ehe er seinen Titel hatte.
      Nach einem Moment stand er also wieder auf, ging in die Küche und aß von einem Laib Brot. Er wollte eigentlich nur ein Stück nehmen, aber als ihn der Hunger packte, aß er alles davon. Dafür hinterließ er aber ein Silberstück, wobei er keine Ahnung hatte, wie viel Brot in dieser Stadt kosten mochte. Vermutlich zu viel.
      Daraufhin drehte er sich zu Kassandra um.
      Lass uns nochmal durchgehen, wie wir weiter vorgehen werden, bis sie eine Entscheidung zu treffen gedenken.

      Aber zu einer Entscheidung kam es noch lange nicht, denn als Esho im Krankenhaus erwachte, dauerte es nur eine weitere Minute, bis die Tür aufging und Oronia hereinspaziert kam. Die bleichgesichtigen Krankenschwestern traten gleich den Rückzug an, als die Nymphe mit herrischem Gang herangefegt kam.
      “Du siehst scheußlich aus. Richtig hässlich. So viele Verbände hattest du noch nie um.”
      Sie kam bei seinem Bett an, sah sich um und leerte ein Glas Wasser, das auf dem Beistelltisch stand, bevor sie sich ihm zuwandte.
      “Ich soll dir ausrichten, dass du dich gefälligst daran erinnern sollst, dass der tolle Eviad Regelbruch oder irgendetwas begannen hat. Ihr beide seit echt gleichzeitig ohnmächtig geworden, ich soll dir auch ausrichten, dass das eine dumme Sache war.”
      Sie ging ans Fenster und sah missmutig nach draußen.
      “Hier war wirklich alles voll mit Menschen - aber nicht wegen dir, wegen ihm. Es werden immer mehr als weniger. Schau mal, dieser kümmerliche Rest ist für dich da draußen.”
      Sie zeigte nach draußen, obwohl Esho es von seinem Winkel gar nicht sehen konnte.
      “Er hat sich in die Stadt zurückgezogen. Kaela sagt, wir müssen uns damit beeilen, ihn zu verweigern, bevor er noch die ganze Stadt gegen uns aufbringt.”
      Sie drehte sich wieder zu dem Verletzten um.
      “Lass dir also besser was einfallen. Was ist nur schief gelaufen? Du verlierst doch sonst nicht so haushoch?”

      Im Haus kam Havas tatsächlich bald mit einer Truppe Männer und Frauen zurück, die sich jetzt in seinem Wohnzimmer tummelten und Kassandra mit großen Augen aus der Nähe anstarrten, hauptsächlich andere Mitglieder der Feuerwacht. Für sie stand Zoras aufrecht und stramm wie ein General, während er jedes Gesicht musterte.
      Ihr steht alle hinter der Prophezeiung? Hinter dem, was Kuluar ausmacht? Denn offen gesagt bin ich kein Kuluarer, deswegen brauche ich eure Unterstützung. Helft mir, die Prophezeiung zu erfüllen, und ich will Kuluar ins Gleichgewicht bringen. Sagt, wo ist hier der nächst größere Platz?
    • Das Leben kehrte in Esho deutlich später wieder ein als in Zoras. Er hatte im Gegensatz zu dem Therisser auch keine heilende Göttin bei sich, sondern musste sich auf die Heilmacher verlassen, die hier ihr Bestes getan hatte, damit er nicht ins Gras biss.
      Und wie er nicht ins Gras gebissen hatte.
      Noch war er zu schwach, um sich aufzusetzen, aber die Decke anzusehen und langsam wieder zu Verstand zu kommen, war schon mal ein Anfang. Die Geräusche von Schritten waren unverkennbar, jedenfalls für ihn, wenn man wusste, dass nur diese lästige Nymphe wie auf leisen Sohlen gehen konnte. Sie krallte sich unverfroren sein Wasserglas, was ihn jedoch nicht weiter störte.
      „Ich weiß…“, brachte er leise hervor, aber sein Gesicht verzog sich bereits zu einer Grimasse. Was erst unverkennbar erschien, wandelte sich bald in eine Fratze und dann in ein Grinsen. Ein breites Grinsen, das die trüben Augen zum Leuchten brachte. „Ich weiß, dass er die Regeln gebrochen hat. Seine Waffe war magisch. Sein Schwert ist ein Artefakt.“
      Und das war definitiv gegen die Regeln. Das hatte man ihm natürlich nicht gesteckt, und bis dato wusste auch niemand, dass die Klinge magischer Natur gewesen war.
      „Schert mich einen Dreck wie viele Menschen mir huldigen“, sagte er und begann ernsthaft damit, sich aufsetzen zu wollen. „Solltest du wissen, Waschweib. Das war ein Kampf wie schon lange nicht mehr. Hätte er sein scheiß Schwert nicht gehabt, wäre es gar kein Problem gewesen. Aber sei es drum.“
      Er zuckte, als er die Decke mit dem Arm der durchstoßenen Schulter zurückschlagen wollte, es aber nicht konnte. Noch immer stand das wilde Grinsen auf sein Gesicht geschrieben.
      „Wir werden ihn der mutwilligen Täuschung bezichtigen. Jemand, der so lange durch das Land reist wird unmöglich nicht wissen können, wie ein kuluarisches Duell abläuft. Konntest du nicht auch nützlich sein und so was wie heilen? Mach dich nützlich, damit ich besser hier rauskomme. Das ist doch bestimmt auch in Kaelas Absicht.“

      Kassandra hatte sich bewusst in eine Ecke des viel zu kleinen Raumes zurückgezogen, damit Zoras allein die Aufmerksamkeit erhaschen konnte. Natürlich brachte es nur mittelmäßig viel ein, wenn eine echte Göttin praktisch in greifbarer Nähe stand und sie alle einem optischen Urteil unterzog. Kassandra nahm sich die Zeit, die Aura eines jeden Einzelnen von ihnen gründlich auf niedere Absichten zu untersuchen. Ein jeder von ihnen bestand den Test, was sie Zoras mit einem einfachen Nicken symbolisierte.
      „Es gibt den kleinen Wasserplatz im nächsten Ring“, sagte einer der Männer, woraufhin ihm die Anderen zustimmten. „Ein Umschlagplatz für Trinkwasser, wird aber auch gerne von den Frauen frequentiert.“
      „Dann werden wir den Wasserplatz mit unserer Anwesenheit beehren“, beschloss Kassandra mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen während sie sich darauf einstellte, ein weiteres Mal wie eine Leibwache in Zoras‘ Nähe zu laufen und dafür zu sorgen, dass alle anderen schön auf Abstand blieben. Noch immer drangen Stimmen von draußen an ihre Ohren. Der Tumult war wohl noch nicht abgeebbt.
    • "Dann ist er disqualifiziert oder so. Duell verloren, weil Waffe magisch. Obwohl er dir trotzdem noch eine reingewürgt hat."
      Unbeeindruckt sah Oronia dabei zu, wie Esho sich schon Minuten nach seinem Erwachen auf die Ellbogen hochstemmte. Sie hätte ihm wohl gut sagen können, dass er so bleich war wie eine Leiche und kaum drei Sekunden auf den Beinen stehen könnte, aber stattdessen sah sie einfach nur zu, wie er gegen seinen sterblichen Körper ankämpfte. Ein Problem, das sie so niemals erfahren würde und auch gar nicht erfahren wollte.
      "Klar, schieb nur alles wieder auf sein scheiß Schwert. Du hast versagt, sei wenigstens ein Mann und steh dazu! Er hat dich aufgespießt wie einen Braten und alles, was du ihm mitgegeben hast, sind vielleicht ein paar Blessuren. Er ist schon bestimmt seit einer Stunde wieder dort draußen, während du hier liegst und schläfst! Beweg dich und richte, was du vermasselt hast!"
      Sie hätte ihm wohl auch durchaus helfen können. Aber er war nicht ihr Träger, also rührte Oronia sich auch nicht.
      "Mutwillige Täuschung - das könnte funktionieren. Ich gebe es weiter. Und du siehst zu, dass du zurück zum Palast kommst. Wenn du unbedingt geheilt werden willst, hättest du dir eben einen anderen Champion suchen sollen als das Rindvieh."
      Damit stolzierte Oronia auch wieder heraus, um im nächsten Wassertrog schon zu verschwinden.

      Inmitten der Stadt hatten sie alle einen beachtlichen Marsch unternommen, der von jetzt knapp 200 Leuten begleitet wurde. Zoras hatte sich schon fast wie ein König zum Platz eskortieren lassen und bezog nun dort auf dem Brunnen selbst Stellung, Kassandra direkt unter ihm. Die Männer der Feuerwacht waren kaum ausgebildet dazu, eine wirkliche Eskorte dazustellen, aber Kassandras Präsenz alleine sorgte schon dafür, dass die meisten auf Abstand blieben, aber diese Präsenz erstrahlte sich eben durch die menschliche Eskorte. Sie wirkten alle auch ausgebildet und stolz, als sie um Zoras herum Stellung bezogen.
      Der hatte durch Kassandras Hilfe eine Rede auf die Beine gestellt, um noch mehr Kuluarer um sich herum zu sammeln. Je mehr Leute er hatte, desto größer wurde das Schild, das sie um sich aufbauten, und desto schwieriger wurde es, es mit abwehrenden Bezichtigungen zu durchbrechen.
      "Verehrte Kuluarer! Höret von der Prophezeiung des Eviads! Wisset, dass er heute, hier, vor euch steht, geschaffen um zu regieren, erstanden um Gleichgewicht zu bringen! Die Götter haben ihn vorhergesehen und nun ist er gekommen, um dem Warten ein Ende zu setzen! Ich bin gekommen, um Kuluar in die Zukunft zu führen! Das Duell hat meine Würdigkeit bewiesen, doch wäre es hier vollbracht, so könnte ich bereits von den Toren des Palastes zu euch sprechen! Der Rat enthält seine Entscheidung, doch der Rat kann sie auch nicht treffen! Die Götter haben sie schon längst für uns geschlossen!"
      Viel zustimmendes Geschrei umbrandete ihn. Soldaten waren auch bereits hier, aber es gab kein Chaos, keinen Aufstand, nur das äußerst zweischneidige Drama um den Eviad.
      "Die Götter wählen den Eviad! Die Götter bestimmen, wer Kuluars Herrscher würdig ist! Der Rat ist nicht minder ein Instrument, um ihren Willen zu verlauten, doch hat er noch nicht begriffen, wie der Wille aussieht! Wir wissen es! Alle, die hier stehen, wissen es!"
      Er machte seine rhethorischen Pausen, um das Geschrei zu empfangen. Unter ihm stachelte Kassandras Präsenz die Leute nur noch mehr an.
      "Kuluar verdient einen Eviad! Die Bewohner Kuluars verdienen einen Eviad! Helft, den Willen der Götter zu verlauten, um den Rat auf die richtige Spur zu führen!"
      Mehr Menschen sammelten sich. Mehr Soldaten sammelten sich. Zoras predigte, als halte er eine Rede vor einer Schlacht, einzig und allein gestützt durch die Anwesenheit seiner Phönixin. Er war schon lange kein Redner mehr, aber alte Angewohnheiten kamen wieder an die Oberfläche, derer er sich einfach nur bedienen musste. Das hier war nichts anderes als ein Aufstand. Er war schon damals Aufstandsanführer gewesen und er würde es wieder werden. Vielleicht war es das ja, was ihm im Blute lag.
      Er redete sich die Stimme wund, als noch mehr Soldaten aufkreuzten und schließlich ein ganzes Battallion aufmarschierte. Es wirkte deshalb so groß, weil es die Straßen verstopfte und die Menschenmassen zurückdrängte, und wieder waren sämtliche Farben vertreten. Nur der vorderste, ein Mann von einem Rang, den Zoras hier nicht benennen konnte, trug grüne Abzeichen. Ungeachtet des Geschreis des ehemaligen Rebellen und der umstehenden Gaffer, rollte dieser Mann eine Schriftrolle aus und begann zu lesen.
      "Zoras Luor, Schwurpartner der Phönixin Kassandra, das Duell wurde für ungültig erklärt. Ihr seid", aufgebrachte Rufe mussten ihn brüllen lassen, damit er verstanden wurde, "wegen magischer Einmischung disqualifiziert! Fortan werdet Ihr bezichtigt", einige Soldaten mussten ausschwärmen, um aufkommenden Trubel zu unterdrücken, "Volkshetzerei zu betreiben und durch falsche Aussagen zu täuschen und zu manipulieren! Ihr seid des Eviads unwürdig und werdet durch arglistige Hetzerei", er musste noch lauter schreien, mittlerweile dröhnte der ganze Platz, "zur Verbannung verurteilt!"
      Damit ließ der ranghöchste seine Schriftrolle fallen und in einem regelrechten Ansturm von wütenden, aufgebrachten Kuluarern, marschierten sie vorwärts.
    • Eigentlich war der Brunnen dem nicht gerecht, was Kassandra und Zoras auf dem Platz abzuhalten gedachten. Aber es war besser als nichts und ein so zentraler Punkt ließ sich besser halten als ein unübersichtlicher Ort. Hier konnte sie Zoras schön auf dem Brunnen platzieren und sich selbst auf dem steinernen Bassin setzen, die Beine überschlagen und die Hände im Schoß gefaltet, während es so aussah, als wäre sie selbst zu einer Staute geworden.
      Nur ihre Augen zeugten davon, dass sie doch noch lebendig war. Sie ließ die roten Iren über die Menge schweigen und markierte gedanklich die Stellen, wo sich vermehrt Soldaten sammelten. Was anfangs nur vereinzelte Männer waren, wuchs allmählich zu kleinen Truppen heran. Logisch, wenn man bedachte, dass der Rat ungewollte Versammlungen unterbinden wollte.
      Indes fühlte sich Kassandra zurückversetzt an den Tag der Schlacht vor vier Jahren. Sie musste Zoras nicht ansehen, um sich das Bild auszumalen, wie er dort oben stand und seine Reden schwang. Wie er das Volk manipulierte oder eher verzauberte, in seinen Bann zog und zu seinem verlängerten Arm machte. Damals stand er in seiner dunklen Rüstung, geerbt von seinen Ahnen, auf seinem Hengst vor seinem Heer. Die Haare hatte er sehr kurz getragen, die Falten waren deutlich weniger und sein Bart ordentlich gepflegt und getrimmt.
      Nun stand hinter ihr noch immer die gleiche Person, und doch jemand anderes. Die Haare waren länger geworden, der Bart verschwunden, das Gesicht gealtert. Die Rüstung war verschwunden, der Hengst verloren, eine ganze Geschichte im Staub verschollen. Die einzige Konstante saß zu seinen Füßen auf dem Stein, unerbittlich, unerschütterlich und bildete gleichzeitig sein Leuchtfeuer und den Feuerwall.
      Irgendwann übernahmen die Soldaten die Oberhand der Masse. Immer mehr Rüstungen blitzten in der Menge auf, immer mehr Geklapper mischte sich unter das Geschrei bis Kassandra irgendwann nicht mehr ganz so entspannt auf dem Beckenrand saß, sondern sich merklich weiter aufrichtete. Sofort hatte sie den einen Mann erspäht, der sich mit seinen Abzeichen abhob und mit einer Schriftrolle durch die Menge kämpfte. Eine Kundgabe?
      Je mehr er von der Schrift vorlas, desto lauter wurde das Umfeld. Menschen begannen um den Kundgeber einzurücken, begehrten gegen die Soldaten auf, die einen Schutzwall gebildet hatten. Ein Gerangel und Geschubse entbrannte, während sogar Zoras aufhörte zu sprechen und vermutlich wie Kassandra ebenfalls überlegte, was nun der klügste Schachzug wäre. Niemand hatte ihnen vorher gesagt, dass Amartius nicht zugelassen war. Natürlich nicht, man wollte sich ein Hintertürchen offenlassen für genau solche Fälle. Falls der Hochstapler doch gewann und man sich nicht anders zu helfen wusste. Als das Wort der Verbannung erklang, hielt Kassandra ein amüsiertes Auflachen nicht zurück. Verbannen wollten sie ihn. Aus einer Stadt, in der ein Großteil der Menschen ihn bereits auf Händen tragen würde.
      Noch immer saß Kassandra an ihrem Platz, als eine ganze Welle von Soldaten den Kreis enger um den Brunnen zog, ganz offensichtlich gewaltbereit, sollte Zoras nicht freiwillig weichen. Es waren nicht nur braune Soldaten, sondern alle Farben bunt gemischt. Ein gemeinsamer Entschluss also. Natürlich. Indes wog Kassandra ihre Optionen ab, von denen es mehr als genug gab. Ihre Finger zuckten, als sie daran dachte, wie sie sich einfach mit ihrer Rüstung und der Hellebarde in die Soldaten werfen und sie mit ihren eigenen Waffen schlagen konnte. Sie könnte dann diesem urtümlichen Drang, dieser wilden Lust in ihr, nachgeben und somit den Standpunkt verdeutlichen. Aber das würde Zoras ungeschützt lassen, er stand immerhin am Wasser, wo diese Nymphe einfach erscheinen könnte, wenn Kassandra sie nicht aktiv davon abhielt. Außerdem wäre es das reinste Massaker für die Bürger, die alles mitansehen würden. Also entschied sich Kassandra dagegen und wählte den anderen, beeindruckenderen Plan.
      Sie bewegte sich noch immer nicht, als der Schein um sie herum heller wurde und Feuer zu ihren Füßen ausbrach. Es loderte nur um sie herum, wuchs, und verschlang die Phönixin beinahe vollständig. Aus den Flammen lösten sich einzelne Zungen, die weg von ihr strebten und sich in der Luft wandelten. Das Feuer bekam eine Form, es wuchsen ihm Flügel und die Flammen verwandelten sich in kleine Phönixe aus purem, roten Feuer, die im Umkreis von gut zwanzig Metern um den Brunnen herum flogen. Sie flogen einzeln und nicht in einem Schwarm bis gut vierzig Vögel, so klein wie Krähen, die Luft bevölkerten.
      Die Soldaten ließen sich zuerst nicht davon irritieren. Sie rückten näher heran und als der Erste eine unsichtbare Grenze übertrat, kreischte ein Vogel auf und raste auf den Soldaten zu. Wie ein Geschoss schlug der Vogel in dem Soldaten ein, zerplatze in Flammenzungen und ergoss sich über den kompletten Soldaten. Binnen Sekunden stand der ganze Mann in Flammen, seine Rüstung begann langsam unter der enormen Hitze zu glühen. Er schrie und warf sich auf den Boden, seine direkten Nachbarn wichen zurück und der Vorstoß kam zum Halten. Respekt vor den Vögeln, die sinnlich ihre Kreise zogen, wallte auf.
      „Wir gehen, wenn wir das wünschen“, gab Kassandra den Soldaten zu wissen.
    • Die Nachricht der Entscheidung kam gleichermaßen überraschend und vollkommen vorhersehbar. Natürlich gab es irgendein Hinterloch, in das der Rat gegriffen hatte, um das Unentschieden zu seinen Gunsten zu wenden. Etwas anderes hatten sie gar nicht erwartet, das war auch der Grund, weshalb sie sich überhaupt noch immer diese viele Mühe machten, mehr Leute von Eviad zu überzeugen. Für das, was der Rat auf sie losließ, brauchten sie einen Schild.
      Dabei hätte Zoras es sich vermutlich denken können, dass Magie - in welcher Form auch immer - gänzlich unzulässig war. Der Knackpunkt war allerdings der, dass es gar nicht zu einem Unentschieden gekommen wäre, hätte es Amartius nicht gegeben. Das Artefakt alleine hatte dafür gesorgt, dass Zoras noch am Leben war. Schon wieder.
      Jetzt mussten sie also dafür sorgen, dass das Schutzschild stark genug war.
      "Die Prophezeiung wurde erfüllt, das Duell nicht verloren! Wie viele Antworten braucht der Rat noch, um von der Existenz des Eviads überzeugt zu werden?"
      Er stachelte die Leute um ihn herum weiter an, während schon der Lärm um die Soldaten entbrandete. Mittlerweile drohte die ganze Sache aus den Rudern zu laufen, was gleichermaßen zu ihrem Vorteil und Nachteil sein könnte. Nachteil sicherlich, weil man ihn an den Kopf werfen könnte, einen Aufstand anzuzetteln.
      Was Zoras schließlich gerade auch ein bisschen tat.
      Zu seinen Füßen begann Kassandra mit einem Mal aufzuleuchten. Zoras fühlte, wie die Magie sich um sie herum entfaltete und in Form von rotem Feuer ausbrach, das sich von ihren Füßen aus nach oben kämpfte. Die Flammen waren warm, heiß sogar, je näher sie ihm kamen, aber die Hitze überschritt niemals die Grenze zum Schmerz. Sie stieg nur weiter an und bald war das Feuer hoch genug, um die Phönixin langsam zu überragen. Flügel bildeten sich aus den zuckenden Flammenzungen, bis sich erst ein Vogel, dann noch einer und noch einer, bis schließlich ein ganzer Schwarm entstand, aus dem Feuer löste. In einer beeindruckenden Symbiose aus zerstörerischen Flammen und vogelartigen Formen, stoben die Feuergebilde in die Luft und patrouillierten den Himmel über ihnen. Das ganze hätte wohl einen faszinierenden, beeindruckenden Anblick geben können, wenn unter ihnen kein solches Chaos entbrandet wäre. Viele der Leute deuteten nach oben, um auf die Flammengeschöpfe aufmerksam zu machen, aber genauso viele liefen schreiend vor ihnen weg, als würden sie sie persönlich in Brand stecken.
      Und dann geschah es auch. Zoras wusste nicht woher, aber als ein Soldat zielstrebig näher kam, löste sich plötzlich einer der kleinen Phönixe, stieß hinab und warf sich direkt in seine Brust. Der Mann fing schlagartig Feuer und warf sich schreiend auf den Boden. Das Wasser aus dem Brunnen hätte ihm sicher gleich geholfen, aber gleichermaßen Zivilisten und Soldaten wichen vor den wütenden Flammen zurück. Was vor einer Sekunde vielleicht noch ein nettes Schauspiel gewesen war, wandelte sich in eine albtraumhafte Gefahr von oben.
      Befehle wurden gebrüllt, als die Mannschaft sich neu formierte. Plötzlich wurden die Kuluarer zielgerichtet zusammengedrängt und zur Not mit der Waffe verscheucht, hauptsache, man konnte einigermaßen Platz zwischen Eviad und Soldaten schaffen. Plötzlich herrschte eine ganz andere Art von Geschäftigkeit, als hätten sich die Soldaten wortlos verständigt.
      Plötzlich ballten sich die Auren der Champions im Palast.
      Sie mussten zu jeder Zeit auf Kassandras Aura geachtet haben, denn es verging kaum eine Sekunde, da griffen fünf Auren mit einer gezielten Macht zu ihr aus, als hätten sie nur darauf gewartet. Gleichermaßen setzten sich drei dieser Auren in Bewegung: Die von Asterios war schnell. Der Champion rannte vermutlich mit der Zielstrebigkeit eines Bullen und ließ sich auch nicht von einfachen Menschenmassen aufhalten. Die nächste Aura war langsamer, aber noch immer mit einer konstant hohen Geschwindigkeit: Halmyn, der für drei Schritte nur einen einzelnen benötigte. Und die letzte, Mirdole, strebte einen ganz anderen Weg an, auf die andere Seite des Platzes zu.
      Dionysus' Aura rührte sich nicht, aber seine war auch am stärksten. Sie schien vom Palast her zu erstrahlen, als hätte er eine Sonne auf Erden gebracht. Sie wuchs an und wuchs an, die weinroten Schlieren seiner Aura, die sich bis in die Straßen ergossen und den Himmel violett zu färben schienen.
      Oronias Aura erstrahlte von überall um sie herum. Sie sammelte sich so dicht an Kassandras Präsenz, wie sie es schaffte und drang mit jedem Millimeter, den Kassandras Aura unter den gemeinsamen fünf zurückwich, weiter vor. Natürlich war ihr Ziel der Brunnen in Zoras' Rücken, was auch nicht allzu verwundernswert war. Doch ob sie nur hervorsteigen oder das Wasser in ihren Dienst stellen würde, das ließ sich nicht erahnen.
      Auf dem Platz brüllte der ranghöchste.
      "Ergebt Euch! Verschließt eure Magie und lasst Gerechtigkeit richten!"
      "Ich richte Gerechtigkeit den Arsch!", brüllte irgendein Zivilist zurück und erntete euphorische Rufe. Sein rebellischer Charakter wurde mit Waffen und Rüstungen begegnet.
      "Eviad ist Gerechtigkeit!", schrie Zoras selbst. Fast sofort wurde sein Spruch in die Reihen aufgenommen, aber es war fraglich, ob es genug wäre. Sie konnten den Platz nicht mehr wechseln, um noch mehr Leute zu rekrutieren. Die Soldaten hatten nun alles umzingelt; das, was sie hatten, musste an Schutzschild reichen, um ihn vor dem Rat zu beschützen. Das und Kassandra.
    • In dem Moment, als der erste Miniphönix in einen der Soldaten einschlug, rechnete Kassandra mit dem Aufbegehren der anderen Champions. Dass sie erneut ihre geballte Macht gegen sie einsetzten und versuchten, sie zurückzudrängen, quittierte sie lediglich mit einem bitteren Lächeln. Zoras stand noch immer in ihrem Rücken und rief seine Parolen. Er konnte schließlich nicht wissen, dass die gesammelte Kampfkraft gerade gegen sie aufgefahren wurde. Die Hauptgefahr ging nicht mehr von den Soldaten aus, die um sie herum standen, sondern von dem, was sich auf sie zu bewegte.
      Jetzt erhob sich Kassandra doch. Ihre Miniphönixe versengten noch immer diejenigen, die es wagten, ihnen zu nah zu kommen, doch Zivilisten verschonte sie. Hier und da schaffte sie es sogar, Übergriffe der Miliz auf einzelne Bürger so zu unterbinden, aber das war mehr Zufall als alles andere. Wenn sowohl der Zyklop als auch der Minotaur zeitgleich angriffen, musste sie sich zwei Gegnern auf einmal stellen. Da wäre es am Klügsten, die schwächste Präsenz unter ihnen als erstes kampfunfähig zu machen: Die Nymphe.
      Kassandra wirbelte herum, fasste Zoras an seinem Arm und riss ihn vom Brunnen weg. Dann explodierte sie allen möglichen Rottönen, als sie ihre Gestalt beinahe verlor und selbst aussah wie ein Feuerelementar. Sie leitete ihre Magie ungezügelt in den Brunnen, das Wasser verpuffte sofort beim Kontakt mit dem Feuer, das viel zu heiß für die Erde war. Das Feuer fraß das Wasser regelrecht auf, folgte ihm hinunter in die Erde, wo immer mehr Dampf und Druck entstanden. Mit einem ohrenbetäubenden Knall sprengte Kassandra den Brunnen, sodass es Gesteinsbrocken regnete und den Platz in ein einziges Nebelmeer tauchte.
      „Wenn die Gorgone kommt, siehst du ihr nicht ins Gesicht, verstanden?“, wies sie Zoras an, den sie nun wieder losließ und dank seiner Aura nicht mehr so schnell im Nebel verlor. „Du hast deutlich schnellere Reflexe als im Kampf gegen Esho, vergiss das nicht. Nutze das, und gehe direkten Zweikämpfen mit den anderen Champions aus dem Weg!“
      Der hellrote Schein, der Kassandra darstellte, erlosch langsam und an seine Stelle trat eine andere Farbe. Das Rot wurde von Schwarz verschluckt, als sich Platten um das wilde Feuer, dass die Phönixin darstellte, bildeten. Sie schlossen es weg, in sich hinein, so als befände sich unter der schweren Panzerung das Fegefeuer höchstpersönlich. Hier auf dem Platz würde sie nur dann in ihre wahre Gestalt wechseln, wenn ihr nichts anderes mehr übrigblieb. Bis dahin musste sie ihren Körper schützen, denn selbst wenn sie magisch allen Anwesenden überlegen war, wäre es fatal von dem Zyklopen zertreten zu werden. Also panzerte sich Kassandra in der nachtschwarzen Rüstung, das Gesicht hinter dem Visier verschanzt.
      Kassandras Arm beschrieb einen Halbkreis, mit dem sie einen Bogen und anschließend einen flammenden Pfeil beschwor, der fast die Größe eines Rammbocks hatte. Sie stellte ein Bein aus, bezog Stellung und legte im tiefsten Nebel den Pfeil an die Sehne und spannte ihn. Zwei, drei Sekunden vergingen, dann justierte sie ihren Winkel nach oben und feuerten den Pfeil ab.
      Von ihrer Position aus hatte sie direkte Sichtlinie auf den Zyklopen, sofern der Nebel und die Entfernung nicht wäre. Ihr Pfeil beschrieb einen hohen Bogen, flog wie eine Sternschnuppe über die Dächer hinweg gnadenlos auf sein Ziel zu.
      Sie wollten es mit Gewalt unterbinden? Das sollten sie erst einmal versuchen.
    • Lange dauerte es nicht, bis ein regelrechter Bürgerkrieg auf dem Platz ausbrach. Zivilisten drängten sich gegen die Soldaten, wollten sich den Platz zurücknehmen, den sie vorhin eingenommen hatten, und Soldaten kämpften um Kontrolle. Es schien keinen Unterschied zu machen, welche Farbe sie trugen, es stand einzig und allein Uniform gegen Nicht-Uniform. Bald war es laut genug, dass auch Zoras sich seine Rufe sparen konnte. Niemand achtete mehr großartig auf ihn bei dem Gerangel.
      Kassandra ergriff ihn unerwartet in einem Moment der Unachtsamkeit und riss ihn gewaltsam vom Brunnen fort. Zoras ließ sich in angewiesene Richtung abdrängen, da explodierte die Phönixin in noch viel größerem Rot, ein weiterer Schwall an Magie, der ihm selbst durch den Körper jagte. Im Brunnen begann es fast augenblicklich zu zischen, das viele Wasser kochte binnen Sekunden und verdampfte in riesigen Nebelschwaden. Der Brunnen lag brach, bevor er auch noch explodierte.
      Kein Mensch konnte die Nymphe schreien hören, die Präsenz im tiefsten Inneren des Wasserkanals, die sich rechtzeitig vor der sengenden Hitze von oben zurückzuziehen versuchte. Die Phönixin fügte ihr kein direktes Leid zu, doch die Nymphe war Wasser und Wasser war die Nymphe.
      Sie schrie über das Verdampfen ihres Elements hinweg und ihre Aura erbebte.
      Über ihr wurde Zoras jetzt erst hellhörig. Er begriff erst, was Kassandra getan hatte, als sie die Gorgone erwähnte.
      Das sagst du so leicht!
      Er zog Amartius. Der Nebel um sie herum waberte auf die Gesamtheit des Platzes hinaus. Feine Wassertropfen setzten sich auf der Länge der schwarzen Klinge ab.
      Auch Kassandra gab jetzt ihre unabhängige Haltung auf und ließ die beeindruckende, majestätische Rüstung erscheinen, die sich um ihren Körper schloss. Binnen Sekunden war die Phönixin zu einer gesichtslosen Kriegerin geworden, mit Bogen, Pfeil und Rüstung, die nicht von dieser Welt stammten. Das Schwarz ihrer Platten spiegelte sich in demselben Schwarz von Amartius wider. Sie nahm Haltung an, spannte den Bogen und schoss ihren Pfeil in den Himmel hinauf.
      Der Minotaure war der erste, der den Platz stürmte. Seine Hörner ergriffen sowohl Uniform als auch Zivilist, ein Umstand, der sämtliche Menschen in einer Einheit von ihm ab brachten. Auch die Gorgone tauchte auf, in erhabener Haltung, den Kopf voller zischender Schlangen hoch erhoben. Kaum betrat sie den Platz, begannen die Tiere ihr aus dem Nest zu fallen, klatschten auf den Boden und zogen dann in zischenden Linien auf die Massen zu. Das Geräusch war unwirklich, das stetige Zischen im Hintergrund, das nur noch weiter anschwoll. Auch die Gorgone machte keinen Unterschied unter den Menschen, aber ihr gingen sie nicht nur aus dem Weg, sie drehten ihr schlichtweg den Rücken zu. Der Anblick war unwirklich, geradezu grotesk, der Champion mit dem Schlangenhaar, vor dem sich alle wegdrehten, als würde er gar nicht erst existieren. Als wäre sie nicht mehr als eine Erscheinung.
      Wie gefordert, sah Zoras ihr nicht in die Augen. Aber er hatte das dringende, ziehende Bedürfnis, es zu tun.
      Der Zyklop kam mit einer kurzen Verzögerung. Der Pfeil hatte ihm den Weg abgeschnitten - selbstverständlich war er nicht unumgehbar, doch der Riese hatte sich davon aufhalten lassen. Er war stehengeblieben. Er hatte das brennende Gebilde betrachtet. Er hatte gewartet, dann war er erst mit langsamen, großen Schritten weitergegangen.
      Langsamer als zuvor.
      Doch nun war auch er da und füllte die Lücke, die der Minotaure in seiner Schneise bereits hinterließ.
      Oronia kam nicht heran. Dionysus bewegte sich nicht. Aber das war irrelevant, denn drei Champions waren schon genug, um damit umzugehen.
      Zoras gefiel die ganze Sache überhaupt nicht, denn wenngleich er auf Kassandras Einschätzung vertraute, die sich noch immer an diesem Platz aufhielt, riet ihm doch seine Erfahrung als Kriegsführer etwas anderes. Das hier konnte zu schnell in die falsche Richtung ausarten. Der entstandene Aufstand war ein gebrechliches Konstrukt, das unter dem Druck der Champions jederzeit nachgeben könnte.
      Er hatte nicht das Bedürfnis, zu kämpfen. Er wollte keine Champions niederringen. Hier ging es nicht um die Zurschaustellung von Stärke, hier ging es um die Demonstration von Macht. Wer saß am längeren Hebel, welcher Seite würde die Öffentlichkeit sich zuwenden. Tyrannei konnte nicht mit Tyrannei bekämpft werden.
      Mit Amartius hielt er sich das Gedränge auf Abstand, aber die Champions rückten viel zu schnell vor. Schließlich gab es auch niemanden, der sich ihnen in den Weg stellen würde.
      Die Gorgone beschwörte einen langen Speer, den sie neben sich aus der Luft griff. Der Minotaure schnaubte sein kampflustiges Schnauben. Der Zyklop starrte.
      Zoras wirbelte zu Kassandra herum.
      Nach oben!
      Er deutete in den Himmel hinauf, die einzige Rettung vor einer Katastrophe, die er hier kommen sah. Keiner der Champions beherrschte die Luft, sie waren alle an den Boden gebunden.
      Wir machen uns unantastbar!
    • In dem dichten Nebel sah man buchstäblich rein gar nichts. Selbst Kassandra konnte sich nicht auf ihre Sicht verlassen, sondern agierte danach, wo sie Auren und Lebensenergie verspürte. So wusste sie auch, wann Asterios auf dem Platz eintraf und wie er Menschen zu allen Seiten von sich warf. Doch er stürmte nicht weiter blind auf das Zentrum des Nebels zu, wie vielleicht angenommen. Er bremste, taktierte das Zentrum und wischte immer wieder Menschen von sich, wenn sie zu nahekamen. Anders war es bei der Gorgonin, die sich allein durch ihre Anwesenheit den nötigen Raum und Diskretion verschaffte.
      Hinter Kassandra wurde Zoras unruhig. Das bemerkte de Phönixin ohne Schwierigkeiten, während sie die Lage überprüfte. Gegen drei mindere Champions kam sie an, die konnte sie bekämpfen, wenn sie zuerst die Beiden mit Magie ausschaltete, die dafür empfänglich waren. Den Dritten müsste sie dann klassisch bezwingen, aber all das war definitiv machbar. Und erst recht, wenn sie in ihre wahre Gestalt wechselte. Mit einem ausladenden Armwisch löste Kassandra den Nebel um sie herum auf, damit sie auf den Vorteil der Sicht für Zoras vertrauen konnte. Ihr sprang sofort der Speer ins Blickfeld, den die Gorgonin beschwor. Um sie herum, hinter der Linie der Champions, herrschte noch immer heilloses Chaos. Noch mehr Menschen, die sich nicht primär für die Kundgebung interessiert hatten oder erst später dazugekommen waren, mischten sich in den Pulk mit ein, um gegen die Miliz aufzubegehren. Der gesamte Platz hörte sich an wie ein einziges Schlachtfeld, als die Phönixin die Stimme ihres Schwurpartners im Rücken hörte. Ihre feurigen Augen, die zwischen dem Visier hervorleuchteten, überflogen kurz die Gesamtsituation. Zoras wollte deeskalieren, ganz ohne Gewalt und das Element nutzen, was ihnen als Vorteil gedachte.
      Kassandra blinzelte, wartete einen Augenblick lang, als wöge sie Optionen ab. Dann ließ sie ihre Hellebarde los, die sich in Luft auflöste, als sie scheinbar entschieden hatte, was zu tun war.
      Schlagartig explodierte Hitze über der gesamten Stadt, als Kassandra sich von ihrer menschlichen Erscheinung trennte. Das Schwarz ihrer Rüstung löste sich auf, als es in einem gigantischen schwarzen Feuerball aufging. Die Hitze direkt am Zentrum war so stark, dass alle drei anderen Champions zurückweichen mussten und der Stein des ehemaligen Brunnens zu schmelzen begann. Das Feuer verschluckte aus Zoras, der nicht mehr zu erkennen war. Direkt um seinen Körper herum loderten keine schwarzen Flammen, sondern ein dünner, heller Flammenschein umgab ihn und bewahrte seinen Körper vor dem Kontakt mit dem befleckten Feuer. Aus dem Flammenball schlugen zwei riesige Schwingen hervor, kurz bevor sich der schlanke, grazile Hals eines schwarzen Phönix mit stechendroten Augen aus dem Inferno emporstreckte.
      Egal was passiert – schau der Gorgonin niemals ins Gesicht, Zoras.
      Die Menschen um sie herum brachen in Panik aus und selbst die Soldaten vergaßen ihr Training bei dem Anblick einer echten Gottheit auf Erden. Sie stoben in sämtliche Richtungen auseinander, alle in dem Versuch so schnell es nur ging die Flucht zu ergreifen.
      Mit einem hohen Schrei schlug Kassandra mit den Flügeln und hob vom Boden ab. Noch während der Bewegung packte eine ihrer Krallen Zoras mit erstaunlicher Zärtlichkeit, als sie sich immer weiter in den Himmel erhob. Kräftige, ausladende Flügelschläge erzeugten Windböen auf dem Boden, die Trümmer und Staub mit sich trugen. Kassandra hatte den Hals lang ausgestreckt, immer gen Himmel gerichtet, zu dem sie weiter aufstiegen.
      Bis ein Ruck durch den massigen Körper der Phönixin ging und sie Schlagseite bekamen. Kein Schrei entkam dem kräftigen Schnabel, als sie nicht mehr weiter an Höhe gewann, sondern das Schlagen mit den Flügeln einseitig einstellte. Der Speer, der satt das Schultergelenk des rechten Flügels getroffen hatte, hielt sie davon ab und ließ den gewonnenen Abstand zum Boden schrumpfen. Sie stürzten ab.
      Kassandra fing die unsanfte Landung mit ihrer gesunden Seite ab, weil sie nicht mit den Krallen aufsetzen konnte, ohne Zoras zu zerquetschen. Den hatte sie nicht losgelassen, sondern erst, nachdem sie mit einem Beben auf dem Boden aufgekommen waren. Erst da gab sie ihn frei, unter ihrem Körper zwischen ihren beiden Beinen, den verletzten Flügel ausgeklappt, sodass die Schwungfedern über dem Boden ausgefächert waren. Den anderen Flügel hatte sie halb angelegt der Balance wegen, während sie die Gorgonin mit ihren raubvogelartigen Augen fest anstierte. Die Menschen um sie herum hatten ausgehört zu schreien, als der massive Phönixin vom Himmel geholt wurde und nun wieder auf der Erde fußte wie sie alle. Vielleicht hatten sie auch deswegen aufgehört in Panik auszubrechen, weil sich eine dunkelrote kleine Lache unter der Stelle gebildet hatte, wo der Speer im Phönix steckte. Mit einem Fauchen, das sich nicht anhörte, als würde ein Vogel solche Geräusche von sich geben, zog Kassandra mit ihrem Schnabel den Speer heraus, der sich während des Wegwerfens auflöste und zu seiner Besitzerin zurückkehren würde. Das entstandene Loch klaffte gut sichtbar für alle, während ein stetiger roter Fluss die Lache auf dem Boden langsam in einen kleinen See verwandeln würde.
    • Kassandra wog Zoras’ Vorschlag noch einen Moment ab, dann fügte sie sich - gerade noch rechtzeitig, denn mit dem verfliegenden Nebel konnte Zoras schon erkennen, dass die anderen Champions tatsächlich schon auf dem Platz eingetroffen waren. Gleich würde hier ein Kampf in einer Ausmaße losbrechen, die kein Mensch mehr unter Kontrolle haben würde.
      Wie in einer weiteren Explosion löste die Phönixin sich in einem weiteren Feuerschwall auf, der mit einer Macht einherging, für die die sterbliche Welt nicht geschaffen war. Zoras zog in einem instinktiven Verlangen den Kopf ein, als die Hitze um ihn herum in die Höhe schoss, grenzwertig hoch, sodass auch er sich fragte, ob es nicht eine Grenze gab, ab der auch er nicht mehr unverletzt bleiben würde. Das Rauschen, das ihn umgab und einzig und allein von der Stärke der Flammen erzeugt wurde, vergrub ihn unter sich.
      Aber er blieb unversehrt. Kassandras Flammen schützten ihn auch jetzt, schlangen sich um seinen Leib und bildeten einen Wall zu den viel heißeren, verzehrenden, schwarzen Flammen. Sie bewahrten ihn in dem Strudel aus Hitze. Ein kleiner Lichtblick in der verschlingenden Dunkelheit.
      Er sah nicht viel in dem Tosen, aber er konnte es hören, das ferne Rascheln von Gefieder, als die Phönixin aus ihren Flammen geboren wurde. Der gewaltige Leib des Vogels wuchs in die Höhe, verdrängte mit seinem Aufstieg die Flammen um ihn, füllte den Platz mit seiner ansteigenden Präsenz. Schreie erklangen, panischer Aufruhr bei dem Anwachsen der entfesselten Göttin. Mit einem Mal war es nicht mehr relevant, dass sie auf der gerechten Seite stehen mochte. Feuer war zerstörerisch und vernichtete alles, was sich ihm in den Weg stellte.
      Kassandra ermahnte ihn in seinem Kopf ein weiteres Mal und Zoras musste dem Drang widerstehen, jetzt erst recht in die Richtung der Gorgone zu sehen.
      Die Phönixin setzte sich mit einem schallenden Kreischen vom Boden ab und wenn Zoras geglaubt hatte, dass er sich wieder auf ihren Rücken schwingen könnte wie schon in Asvoß, hatte er sich mächtig geirrt. Bevor er auch nur in Betracht ziehen konnte, etwa nach einer Schwinge zu greifen, schloss sich schon eine erstaunlich zärtliche Kralle um seinen Körper, riss ihn aber längst nicht mehr so zärtlich von den Füßen. In seiner Überraschung verlor er glatt Amartius, aber die Klinge war noch längst nicht richtig auf dem Boden angekommen, da hatte sie sich schon aufgelöst, um sich in ihrem Heft wiederzubilden. Zoras griff dabei ganz hektisch nach Kassandras gigantischen Krallen, um wenigstens das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass er sich irgendwo festhielt und nicht einfach ihrer Barmherzigkeit ausgeliefert war. Sein Magen sackte nach unten, als sie einen weiteren Schwung nach oben unternahmen, weg von dem mittlerweile brennenden Platz.
      Götterverflucht, Kassandra!
      Ehrlicherweise hatte er sich den abrupten Abgang angenehmer vorgestellt. Zu verwöhnt davon, in Asvoß bis auf Kassandras Nacken geklettert zu sein, hatte er keinen Augenblick daran verschwendet zu überlegen, dass ihnen hier die Zeit nicht reichen könnte.
      Allein schon wegen der Gorgone vermied er es, nach unten zu blicken, weshalb er aber auch die blitzende Waffe nicht kommen sah, die mit einem Mal an ihm vorbeirauschte und durch die Luft schnitt. Er zuckte zusammen - und dann zuckte Kassandra zusammen. Ihr ganzer Leib wurde wie durchgeschüttelt und ihr Aufstieg fand ein jähes Ende. Wo sie soeben noch einen gewaltigen Satz durch die Luft hingelegt hatten, fielen sie mit einem Schlag zurück, die Phönixin in einer merkwürdigen Seitenlage, die Zoras keineswegs verstand, außer der Tatsache, dass sie damit wieder dem Boden näherkamen - und mit was für einer Geschwindigkeit. Sein Magen wölbte sich urplötzlich wieder in die andere Richtung und er schickte eine Reihe von sich überschlagende Fragen an Kassandra, von denen vermutlich keine einzige richtig oder vollständig ankam. Sie stürzten ab. Der Schock darüber war größer als die Furcht davor, was sie am Boden erwarten würde.
      Der Aufprall war keinesfalls angenehm, auch wenn die Göttin merklich ihren Schützling zu bewahren versuchte. Es gab immerhin einfach ein gewisses Grad an Unannehmlichkeit, das damit einherging, mit einem übergroßen Phönix auf dem Boden aufzuschlagen. Zoras brach sich keine Knochen, wurde von keinen mannshohen Klauen zerquetscht oder gar von dem Gewicht der ganzen Göttin, aber er wurde gegen seinen fleischlichen Käfig geworfen und durchgeschüttelt. Als sie ihn einen Moment später auf den Boden entließ, fiel er erstmal auf die Knie und rappelte sich von dort wieder auf.
      Kassandra war getroffen worden. Der Speer der Gorgone steckte so tief in ihrer Schulter, dass er es fast bis zur anderen Seite heraus geschafft hätte. Dunkelrotes, normales, menschliches Blut ergoss sich auf das Federkleid und auf den Boden hinab, als sie die Waffe mit ihrem Schnabel packte und mit einem Ruck rausriss. Sie hatte sie kaum losgelassen, da löste sich die lange Stange schon auf und bildete sich in der ausgestreckten Hand des Champions wieder.
      Alle drei Champions waren näher herangekommen. Die Gorgone stand direkt vor ihnen, den Speer bereits neu ausgerichtet, ihren steinernen, unmenschlichen Blick auf die Phönixin gerichtet. Asterios hatte sich strategisch am besten positioniert: Direkt auf der Seite des verletzten Flügels, weit genug entfernt, um noch einen satten Ansturm hinzulegen. Halmyn stand auf der anderen Seite, ohne Waffe und ohne den Anschein zu machen, sich kämpferisch beteiligen zu wollen. Doch genauso wenig rührte er sich vom Fleck, der riesige, füllige Zyklop, der die Ausgänge des Platzes versperrte.
      Es war klar, dass sie in ihrer Gemeinschaft Kassandra einzukesseln versuchten.
      Und sie blutete, ihr Flügel war verletzt. Eine Göttin konnte doch nicht verbluten - oder? Selbst nicht von einer Championwaffe?
      Geht es dir gut?!
      Eine dumme Frage angesichts der Lage, aber Zoras brauchte eine Antwort, eine richtige. Er musste einschätzen können, wie sie von hier zu verfahren hatten.
      Die Gorgone hob den Speer an, bereit zum Wurf. Zoras starrte auf ihre Brust, verfolgte lediglich die Bewegung, auch wenn es ihn fast schon schmerzhaft danach juckte, nur ein winziges Bisschen höher zu sehen. Asterios stampfte schnaubend mit einem Huf auf. Halmyn stand unbewegt.
      Sie würden sie nicht wirklich umbringen. Sie konnten sie nicht umbringen. Sie hatte einen gebrochenen Flügel und machte keinerlei Anstalten, nach einem von ihnen auszugreifen. In ihrer tierischen Form hatte sie nicht einmal mehr ihre Waffe.
      Die Gorgone zielte. Asterios senkte den Kopf. Halmyn starrte.
      Zoras riss Amartius hervor.
      Ich würde das nicht tun!
      Vielleicht hörte keiner auf ihn, das war schon gut möglich. Vielleicht kam er sich auch waghalsig vor, verborgen unter Kassandras Leib, geschützt von ihren aufgefächerten Flügeln. Kassandra würde für ihn sterben. Sie würde alle Speerhiebe abfangen, um ihn unter sich zu beschützen. Sie würde ihren Körper über ihm falten, bevor sie zuließ, dass die Champions ihn erreichten.
      Ein Stein flog durch die Luft und traf die Gorgone am Hinterkopf. Ein Dutzend Schlangen zischten auf und der Champion riss den Kopf herum.
      Ein Mann aus der Menge der Geflüchteten, die das Geschehen aus sicherer Entfernung zu beobachten versuchte hatten, brüllte: “Gerechtigkeit für Eviad!”
      Noch ein Stein flog. Es waren die Trümmerteile eines zerstörten Brunnens, die vom Abflug der Phönixin durch die Gegend geschleudert worden waren und jetzt als Geschosse dienten. Der zweite Stein traf Asterios am Fuß, der dritte Stein Halmyn an der Hüfte. Der Zyklop wandte träge den Kopf.
      Viele der Kuluarer waren geblieben. Genauso viele waren sicherlich vor dem Chaos geflohen, aber noch immer waren die Straßen und Gassen um den Platz herum vollgestopft mit Zivilisten, die teilweise wieder heranzudrängen versuchten - und die nun das Bild einer verletzten Phönixin vor sich hatten, die sich schützend über ihren Schwurpartner kauerte im Angesicht der drei lauernden Champions.
      Die durch keinen Träger gebunden war. Die aus freiwilligen Stücken wählte, diesen einen Sterblichen zu schützen. Diesen einen Sterblichen, den Gebrandmarkten, der vor aller Augen die Tore des Himmels erblickt, aber nicht geöffnet hatte. Der ein Mensch war, aber keine Krone trug. Der selbst jetzt, im Angesicht der unüberwindbaren Gefahr der Champions, die Göttin mit Worten zu schützen versuchte, so wie sie ihn mit ihrem Körper schützte. Der im eigenen Namen, aber nicht für sich selbst handelte.
      Der einzig wahre König von Kuala hieß Eviad.
      “Die Götter haben gewählt!”, kreischte ein anderer, als noch mehr Steine flogen. Die Miliz versuchte eingreifen, aber die vordersten Reihen bildeten eine fast undurchdringbare Wand in den beengten Straßen, während die hinteren Reihen ungestört werfen konnten. Es erhob sich fast schon eine militärische Struktur, mit welchem Schema sie vorgingen.
      “Kuluar hat einen König!”
      Vor Anspannung blieb Zoras die Luft weg. Noch immer war die Gefahr nicht annähernd vorüber, aber die Champions schienen geistesgegenwärtig genug zu sein um zu begreifen, dass sie eine unwiderrufliche Revolte hervorrufen würden, wenn sie nun den verletzten und sicherlich nicht angriffswilligen Vogel einfach zur Strecke bringen würden. Mehr noch als das, es wurde ihnen ja schon übel genommen, überhaupt auf diesem Platz zu sein, wie die Steine unmissverständlich klar machten. Alle drei rührten sich nicht. Jeder begriff, dass ihre Entscheidung hier fallen würde, allein aufgrund ihres Handelns vor sämtlich versammelten Kuluarern.
    • Kassandra wirkte zwar verletzt, aber nicht weniger wie eine einzige Bastion, die über einem einfachen Menschen aufragte und sicherlich nicht einen Schritt weichen würde. Stattdessen fixierte sie die Gorgone direkt vor ihr, die den Speer wieder neu ausrichtete und sich vorbereitete, ihn ein weiteres Mal zu schleudern. Asterios stand zu ihrer Seite, taktisch klug platziert, aber nicht wissend, welch kapitaler Fehler ihnen allen zu unterlaufen schien.
      Der riesige Vogel reagierte nicht auf Zoras‘ Kontaktversuch, doch sie hatte ihn durchaus vernommen. Sie schirmte sich gegen seine Gedanken anschließend ab, damit er nichts davon erfuhr, was sie dachte oder beabsichtigte. Wissen war gefährlich und seine Sorge um sie war bereits so schon für sämtliche Parteien zu spüren und zu sehen. Also schob Kassandra eine ihrer Klauen vor Zoras und schob ihn weiter aus dem Blickfeld der Gorgone heraus, weiter unter sich zurück. Langsam hob sie ihren Kopf immer höher, für das umstehende Volk musste es so aussehen, als würde sie absichtlich ihre Brust dem Speer präsentieren.
      Vielleicht war es das gewesen, was es gebraucht hatte. Oder Zoras‘ Ausruf, der unter dem Körper des Phönix beinahe nicht mehr zu sehen war. Am Ende würde niemand sicher sagen können, was es gewesen war, um den Ersten dazu zu bewegen, einen Stein nach den Champions zu werfen. Immer mehr Bürger schlossen sich demjenigen an, der sich eindeutig für Zoras, für den Eviad, ausgesprochen hatte. Zwangsläufig mussten die Champions den Fokus ihrer Aufmerksamkeit verlagern.
      Wäre Kassandra in ihrer menschlichen Gestalt wäre das siegessichere Grinsen nicht zu leugnen. Doch als Phönix sah man in ihren Augen lediglich das Feuer des Widerstrebens brennen. Der Pulk an Steinewerfern formierte sich, um sich gegen die Infanterie durchzusetzen. Offensichtlich gab es einen gedanklichen Austausch zwischen den Champions und ihren Trägern, denn niemand von ihnen ging weiter auf Konfrontationskurs. Irgendwann stieß Asterios sogar ein angefressenes Schnauben aus, als er seine Streitaxt senkte und anfing, nach den Steinen zu schlagen, die auch ihm galten.
      Es stellte sich eine Art Waffenstillstand ein, als die Fronten stumm neu verhandelt wurden. Die Steine flogen weiter, die Champions bewegten sich weder vor noch zurück und auch Kassandra hielt ihre Stellung. Irgendwann schien ein neues Kommando zu den Champions durchgedrungen zu sein, denn sie ließen ihre Waffen sinken und deklarierten damit ein Ende der Auseinandersetzung. Asterios wandte sich als Erster ab und trieb die Menschen dort auseinander, wo die Straße zum Palast führte.
      Man ließ sie dort einkehren.
      Sie gewähren uns Eintritt im Palast. Dieses Mal uns beiden.
      Mit der ersten Kontaktaufnahme seit Minuten spürte Kassandra Zoras‘ unvergleichliche Anspannung. Die Sorge, die ihn wie ein schweres Tuch einhüllte und ihm das Atmen schwer machte. Sie spürte Amartius in seinem Griff und erneut fiel ihr auf, dass ihr Sohn ausgerechnet eine Waffe gewählt hatte. Langsam dämmerte ihr jedoch, wieso.
      Deshalb trat auch Kassandra den Rückzug an. Sie ging in schwarzen Flammen auf, die abermals Zoras völlig ungerührt zurückließen. Das Blut am Boden begann zu brodeln, zu zischen und schließlich zu verdampfen, bis nur noch schwarze Krusten am Boden zurückblieben. Schon wenige Sekunden später war die zierliche Kassandra wieder zurück, ihre Schulter aber noch immer mit einem klaffenden Loch versehen, auf das sie ihre Hand platzierte. Ihre Miene war unergründlich als sie sich ihrem Schwurpartner zuwandte und in die Richtung des Minotauren nickte. Unter ihrer Hand schloss sich das Loch bereits wieder, nur sah das niemand aus der Bevölkerung mehr. Sie hatten nicht aufgehört, mit Steinen zu werfen, so als wollten sie ihre Absichten nur noch weiter untermalen.
      Nun konnte der Rat ihnen beiden den Zutritt nicht länger verwehren. „Alles in Ordnung. Richte den Blick nach vorn und zeig dich nicht getroffen von dem, was du soeben noch sahst.“
    • Mehrere Minuten, so wie es schien, bewegte sich auf dem Platz gar nichts. Die Wurfgeschosse des Pulks trieben dazu, den Zusammenstoß aufzulösen, aber sicher hatten die Champions andere Pläne, als gerade jetzt, nachdem sie der Phönixin schon die vermeintliche Flucht vereitelt hatten, einfach die Waffen niederzulegen. Aber genau das wäre der Fall, wenn sie sich um den beginnenden Aufstand kümmern würden. Sie konnten nicht beide Angelegenheiten auf einmal abhandeln.
      Keiner der anwesenden Götter reagierte auf Zoras’ Kommunikation, Kassandra nicht auf seine mentale, die Champions nicht auf seine verbale. Unter dem aufbrausenden Sturm des Volkes waren sie alle wie zu einer grotesken Statue erstarrt, die diesen Platz ausfüllte. Nur Zoras, der sich so weit unter Kassandras Körper ungerecht geschützt fühlte, schien die Spannung lösen zu wollen. Es juckte ihn schon in den Fingern, Amartius zu schwingen und seiner verletzten Phönixin zur Seite zu stehen. Wieso antwortete sie ihm nur nicht?
      Schließlich war Asterios der erste, der ein animalisches Schnauben von sich gab und seine Waffe anderweitig verwendete. Die Gorgone war noch immer dabei, Kassandra mit einer ungebändigten Kraft in die Augen zu starren, die jedes andere Wesen sicherlich schon längst in harten Stein verwandelt hätte. Die Phönixin wich diesem Blick auch nicht aus, sie ließ sich von ihm einfangen und neutralisierte ihn nur mit natürlicher Leichtigkeit.
      Halmyn starrte.
      Als auch die Gorgone ihren bedrohlichen Speer sinken ließ, verschwand etwas von der Anspannung, die hier die Luft schwer und zu dick zum Atmen gemacht hatte. Eine Entscheidung war getroffen worden, die sich ihnen allen zwar noch entzog, aber in ihrem Resultat eindeutig war. Ein temporäres Aussetzen ihrer Gegenüberstellung, vermutlich zum Zwecke, die derzeitige Situation zu deeskalieren. Würden sie etwas anderes unternehmen, spielten sie nur Zoras in die Hände mit seinem Aufstand.
      So taten sie es aber auch.
      Er erlaubte sich, sich ein wenig zu entspannen, als Asterios sich schon abwandte, um zielgerichtet auf den Palast zuzusteuern. In seiner temporären Erleichterung schwand die eiserne Kontrolle, unter der er sich gehalten hatte, nur um ein Müh, aber es reichte, dass sein Blick plötzlich nach oben zuckte, als die Gorgone ihren Speer an die Seite nahm. Es war kaum der Bruchteil einer Sekunde, kaum mehr als das Zucken eines Muskels, um dem Drang, der seit des Aufeinandertreffens auf seinen Schultern lag, etwas zu erleichtern. Ein Reflex, schneller, als das Gehirn reagieren konnte. Aber eine Bewegung nichtsdestotrotz.
      Er sah nach oben. Er sah auf ihr Kinn, ihre Wange, ihre Nase. Und just in dem Moment, in dem sich ihre Blicke getroffen hätten, schob sich Kassandras Flügel über sein Sichtfeld.
      Ihre Stimme hallte in seinem Kopf wieder, ungewohnt aber doch nicht unwillkommen und er atmete selbst erleichtert auf, während er Amartius in sein Heft zurückbeförderte. Erleichtert über die Neuigkeit, aber auch darüber, nicht doch in letzter Sekunde einen Fehler begangen zu haben. Seine Nackenhaare standen zu Berge und es kribbelte ihm trotzdem am ganzen Körper, dabei hatte er die Gorgone nicht direkt angesehen.
      Wie schon vorhin ging die Phönixin in schwarzen Flammen auf, schützte Zoras mit ihren roten, und tauchte in ihrer menschlichen Gestalt neben ihm auf. Die Rufe und Schreie waren noch immer laut, der Andrang unverändert, aber jetzt ging es ein bisschen zurück. Man musste wohl erkannt haben, dass sich hier so etwas wie ein Waffenstand zutrug. Man musste auch einsehen müssen, dass der eigene Aufruhr jetzt langsam zum Verhängnis werden konnte.
      Zoras interessierte sich aber schon nicht mehr für die Meute, sein Blick lag auf Kassandra, in deren Schulter ein großes, sauberes Loch prangte. Der Ansatz eines Knochens war zu sehen, außerdem Blut, das zuvor schon vom Boden wieder verschwunden war, aber natürlich war es nichts lebensgefährliches für die Göttin. Er wusste nicht einmal, ob sie den Schmerz als solchen wahrnahm, aber das änderte alles nichts daran, dass er eine unglaubliche Fürsorge darüber verspürte, sich um sie kümmern zu wollen. Es war völlig irrational zu denken, sie könnte seine Hilfe annehmen, wenn sie sie doch nicht brauchte, aber er wollte sie ihr trotzdem anbieten. Er wollte das Schwert für sie gegen andere erheben, wie er es schon einmal getan hatte.
      Er sah dabei zu, wie das Loch sich unter ihrer Hand schloss, bevor er sich erst in Bewegung setzte und dem Minotauren folgte. Einen letzten Blick warf er noch auf die versammelten Kuluarer zurück, dann ging er zielgerichteten Schrittes hinter dem Champion her. Allerdings blieb er dicht bei Kassandra und legte ihr eine Hand auf den unteren Rücken, eine Geste, die man auch von hinten sehen konnte, denn die Gorgone folgte mit grimmgem Blick direkt nach ihnen und Halmyn bildete mit etwas Abstand das Schlusslicht. Dessen Körper schützte sie vor den Geschossen und er gab auch keine Regung von sich, wenn die vielen Steine seinen Körper trafen.
      Von drei Champions eskortiert, zogen sie diesmal zu zweit im Palast ein.

      Beim ersten Mal im Angesicht des Rates hatte Zoras sich noch als den gegeben, was er darstellen musste: Einen ehrfürchtigen, untergebenen, aber überzeugten Anwerber, der sich hier ganz ohne Widerworte dem Urteil des Rats zu stellen hatte. Diesmal hatte sich das Blatt aber gewendet und aus dem wortkargen Anwerber war ein drohender Aufstandsanführer geworden, der seine Verbündeten direkt hinter den Mauern des Palastes hatte. Er stand mit den Armen vor der Brust verschränkt und blickte auf den Rat nieder, an seiner Seite wartete die erhabene Kassandra, die ein eindeutiges Statement lieferte. Vorhin war der Mittelpunkt des Raumes noch der Tisch gewesen, jetzt hatte er sich nach vorne in Richtung Tür verlegt, dort, wo der eigentlich Angeklagte jetzt stand.
      Die Sonne war mittlerweile untergegangen und tauchte niemanden mehr in strahlendes Licht. Hinter den Fenstern war es dunkel und auch im Saal selbst war es dämmrig gehalten.
      Keiner sagte ein Wort. Für viele anstrengende, anhaltende Sekunden wurden Dialoge über Blicke und Gedanken geführt, die niemals den Weg nach draußen fanden. Verschiedenste Ausdrücke spiegelten sich in den Gesichtern der Anwesenden wieder, manche dauerhaft wechselnd, andere langwierig anhaltend. Seit beide hereingekommen waren, hatte man sie noch nicht angesprochen.
      Schließlich lehnte die ältere Frau sich ein Stück nach vorne und schien sich der unliebsamen Aufgabe zuzuwenden, diese Stille zu durchbrechen.
      “Wir legen Euch nahe, zum Wohle von Kuluar und dessen Einwohner, auf die Prophezeiung zu verzichten und von dannen zu ziehen.”
      Ach. Das war natürlich eine sehr nette Formulierung für eine Verbannung, das musste Zoras ihnen schon lassen. Er musste ihnen auch zugestehen, dass sie es wagten, eine solche Aussage direkt gegenüber der Phönixin zu machen.
      “Ihr werdet sicher bemerkt haben, was für Unruhen Ihr mit Eurer Anwesenheit auslöst. Das Volk begehrt gegen Euch auf, es wird Euch in Stücke reißen, wenn Ihr es soweit kommen lasst. Davor wird es kein Entkommen geben.”
      Ich weiß, weshalb das Volk unruhig ist und das ist es nicht, weil es mich nicht haben möchte. Wir haben ein Jahr lang damit verbracht, ganz Kuluar kennenzulernen. Das, was dort draußen geschieht, ist erst der Anfang, wenn Kassandra und ich es zulassen. Es kann noch bis zu den Pforten des Palastes vordringen.
      Die ältere Frau warf die Hände kurz in die Luft, lehnte sich zurück und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Ihr Blick ging in die Runde.
      “Ich hab’s versucht.”
      “Droht Ihr uns?”, grollte der älteste von ihnen. Zoras sah auch ihm ungerührt in die Augen.
      Habe ich einen Grund zu drohen?
      Der Alte verstand nicht, was Zoras wirklich meinte.
      “Niemals. Ihr solltet es gar nicht erst versuchen.”
      “Das Duell ist ungültig”, mischte sich die Frau wieder ein. “Magie ist ausdrücklich verboten. Zweite Duellregel.”
      Dann hätte mich wohl jemand rechtzeitig disqualifizieren müssen und nicht erst, als wir beide schon kampfunfähig geworden waren, nicht wahr? Dann muss wohl auch jemand diesen Leuten dort draußen erklären, dass irgendwo zwischen den Zeilen der Prophezeiung geschrieben steht, dass ein Duell aussagekräftig ist.
      “Ihr hättet das Duell ablehnen können, wenn es nicht aussagekräftig ist”, giftete die Frau. Neben ihr hatte die Gorgone wieder angefangen, ein unterbrochenes Blickduell zwischen ihr und Kassandra wieder aufzunehmen.
      Ich glaube mich zu erinnern, dass mir keine Wahl geboten wurde. Ich glaube auch, dass gar nicht damit gerechnet wurde, dass ich es überleben würde.
      Sein Blick traf auf Esho, der hier unlängst auch schon eingetroffen war - wesentlich lädierter als Zoras. Bis auf die Erschöpfung konnte man dem würdigen Eviad wohl nicht anmerken, dass er vor einigen Stunden ein Duell gefochten hatte. Bei dem Ratsmitglied sah das anders aus.
      “Verdreht nicht die Tatsachen! Ihr hattet gutes Recht, ein Duell zu verweigern!”
      Dann hatte ich es eben. Das macht nun auch keinen Unterschied.
      “Ihr seid des Eviads nicht würdig!”
      Das sieht Kuluar dort draußen anders.
      “Wenn Ihr gleich geht, werden wir Euch unser Wort geben, Euch bis zur Grenze unbehelligt zu lassen!”
      Dagegen erhebe ich nun mein Recht, abzulehnen.
      “Sowas habt Ihr nicht!”
      Dann konnte ich das Duell nun doch nicht ablehnen?
      Die Frau wollte noch etwas sagen, aber Halmyns Träger kam ihr zuvor:
      “Wir wollen Euch nicht krönen. Es ist uns ganz egal, was dort draußen passiert. Ein Aufstand lässt sich gleich wieder niederschlagen.”
      Zoras nickte. Eine derartige Aussage traf auf den gänzlich falschen.
      Lasst mich Euch ganz genau erzählen, was dort draußen geschehen wird, wenn ich keine Krone erlange.
      Irgendjemand stöhnte theatralisch, Dionysus grinste breit und machte es sich in seinem Stuhl bequem, als warte er auf eine Geschichte.
      Die Leute sind jetzt schon aufgebracht, weil sie eine Entscheidung verlangen. Ihr werdet sie ihnen geben müssen, denn ganz unabhängig davon, was mit mir geschieht, muss das Volk eine starke Regierung haben, die es führt. Enthaltet ihr diese Entscheidung, fördert ihr Unsicherheiten und Unruhen und provoziert, dass man anfängt, gegen euch zu hetzen. Man wird behaupten, dass ihr nicht stark genug seid, über die Zukunft Kuluars zu entscheiden und man wird kein Gegenargument dafür finden. Ihr seid es nicht, das offenbart ihr mit einer ungetroffenen Entscheidung. Man wird gegen euch hetzen und es wird blutig werden. Ein Bürgerkrieg ist immer blutig.
      Offenbart ihr dagegen eure Entscheidung, mich als Eviad abzulehnen, werden sich viele fragen, was denn nun der richtige, einzig würdige Eviad mitbringen muss, um anerkannt zu werden. Sie wissen alle, dass ich die Prophezeiung erfüllt habe und dass ich sogar ein Unentschieden im Duell errungen habe gegen einen Kontrahenten, dessen Champion ihm ungeahnte Kräfte verleiht. Sie haben gesehen, dass ich das Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde bilden könnte und dass es keine Argumente gibt, mich nicht als würdig zu erachten. Sie werden Fragen stellen. Ihr werdet Antworten liefern müssen und wie werden die aussehen? Womöglich, dass ich eine Gefahr für ganz Kuluar darstelle? Oder Kassandra, die ungezähmte Phönixin, gedroht hat, das Land in Asche untergehen zu lassen? Erzählt das auch all jenen, für die wir ohne eine Gegenleistung gearbeitet haben, mit denen wir unser Hab und Gut geteilt haben, für die wir Zeit und Geld geopfert haben, ohne jemals böse Absichten zu offenbaren. Sie werden euch nicht glauben. Es wird zum selben Ausgang wie schon bei der ersten Variante kommen.
      Der Rat schwieg.
      Nehmen wir nun aber durch ein Wunder an, ihr könntet euer eigenes Volk so weit manipulieren, dass es euch selbst dafür Glauben schenken könnte. Ihr müsstet uns umbringen, denn andernfalls müsstet ihr riskieren, dass wir zurückkommen und die Lüge aufdecken. Denkt ihr, es wirft ein gutes Licht auf euch, eine Phönixin umzubringen, die Göttin des Lebens und aller Seelen? Was werden eure Oppositionen dazu sagen - eine Schwäche vielleicht? Eine Angst? Ein wunder Punkt, den ihr damit offenbart? Ihr müsstet es schnell tun, denn wir könnten natürlich fliehen. 10 gegen zwei, die sich nicht wehren. Wie wollt ihr das vor aller Augen verheimlichen? Zeugen verfolgen und umbringen? Es so aussehen lassen, als wäre eine einzelne Göttin lebensmüde genug, es mit fünf so tollen Champions aufzunehmen?
      Der Reihe nach blickte er in ihre Gesichter. Der Reihe nach kamen ihm Blicke aller Art entgegen, von denen er sich ein paar erhofft hatte. Als er kurz schwieg, warf sich ihm keiner ins Wort.
      Ich denke, mittlerweile könnt ihr euch den Ausgang vielleicht denken. Es wird Unruhen geben, die Menschen werden Fragen stellen. Ihr werdet ihnen keine vernünftigen Antworten geben können, sie werden sich unter verdeckter Hand gegen euch auflehnen. Aufstände werden sich bilden, nicht nur in dieser Stadt, in ganz Kuluar, auf dem Land, an der Küste. Es wird den Handel beeinflussen; sicher seid ihr von einigen Knotenpunkten abhängig - Paspatera zum Beispiel. Das wird auch den Aufständischen bewusst sein. Sie werden keine direkte Konfrontation suchen, dafür sind sie gar nicht stark genug, das wissen sie, stattdessen werden sie eure Infrastruktur lahmlegen. Sie werden Lager plündern und Händler ausrauben, sie werden Waren schmuggeln und Grenzen unsicher machen. Was halten wohl die umliegenden Länder davon, wenn sie mitbekommen, dass hier Unruhen stattfinden? Werden sie einfach darauf warten, wie die Sache ausgeht, oder werden sie versuchen, ein Stück des Kuchens zu erhaschen? Was ist mit euren eigenen Soldaten, die hier ein und ausgehen, werdet ihr sie aus dem Palast verbannen oder riskieren, dass einer von ihnen ein Attentat plant? Was wird nur geschehen, wenn einer von euch Trägern verstirbt und seine Essenz in andere Hände gerät? Wie gut wird der Rat dann noch zusammenhalten?
      Zoras ging einen Schritt nach vorne und stützte sich in einer lauernden Haltung auf dem Tisch ab.
      Ich weiß es so genau, weil ich einen Aufstand gegen eine Regierung geführt habe.
      Seine Stimme war etwas dunkler, bewusst bedrohlicher.
      Ich weiß ganz genau, was hier geschehen muss, um das Volk gegen euch aufzuhetzen. Ich weiß auch, wie unmöglich es sein wird, es wieder unter Kontrolle zu bekommen, nicht ohne einen drastischen Wechsel in der Führungsebene. Ihr könnt uns beide umbringen, aber ihr könnt nicht euer Volk umbringen, ohne euch dabei selbst das Messer an die Kehle zu halten. Dafür haben wir beide in dem vergangenen Jahr gesorgt.
      Wieder eine Pause, in der er jeden einzelnen anstarrte. Dionysus kicherte erheitert vor sich hin, die ältere Frau und die Gorgone traktierten ihn mit demselben giftigen Blick, die Nymphe sah genervt drein. Halmyns Träger trug deutliche Falten auf der Stirn.
      Also: Wie lautet eure Entscheidung?
      Weitere Stille, dann die ältere Frau grimmig: “Wir werden unsere Entscheidung morgen verkünden.”
      Nein, das werdet ihr nicht. Ihr werdet noch in dieser Stunde vor die Tür gehen und Kuluar von seinen Unruhen befreien. Ein für allemal.
      “Wir können nicht einfach so eine derartig wichtige Entscheidung fällen.”
      Das könnt ihr sehr wohl, denn andernfalls werden wir wieder nach draußen gehen und Kuluar in einem Feuer brennen lassen, das kein Gott der Welt schaffen und damit auch von keinem gelöscht werden kann. Nicht einmal von den sechs versammelten hier. Und ja, das war eine Drohung.
      Wieder Stille, dann schließlich:
      “Die Krönung wird in ein paar Tagen stattfinden.”
      Blicke wurden getauscht, dann schließlich erhob Halmyn sich. Ganz eindeutig war er das Sprachrohr des Rates, so oft, wie er nun schon mit seiner donnernden Stimme zu den Kuluarern gesprochen hatte.
      Zoras wurde von einer schwindelerregenden Erleichterung gepackt, als er sich aufrichtete.
      Wir residieren in einem Stadthaus bis dahin. Ich verlange, über sämtliche Geschehnisse in Kenntnis gesetzt zu werden. Verlasst euch darauf, dass ich genau wissen werde, wie eine kuluarische Krönung vonstatten gehen muss. Denkt nicht, ihr könntet meine Unwissenheit noch einmal zu eurem Vorteil nutzen.
    • Kassandras Miene war unergründlich seit dem Augenblick, als die steinernen Wände des Palastes sie und Zoras verschluckt hatten. Die Hand hatte sie nach dem Eintreten gesenkt, von dem Loch und der Wunde war rein gar nichts mehr zu sehen. Sie sah aus, wie immer. Beiläufig hatte sie die Gänge und auch den Saal überflogen und nach potenziellen Gefahren abgesucht, doch bis auf die anwesenden Champions war hier nichts, was ihr gefährlich werden könnte. Kassandra hatte sich schließlich neben Zoras positioniert, würdigte der Halbrunde des Rates nur eines abschätzigen Blickes. Die riesigen Fenster im Hintergrund warfen während des Tages ein bedeutsames Licht auf die zehn Stühle, aber jetzt bei Dämmerung hatte sich das Verhältnis verschoben. Die Menschen hier, auch der lädierte Esho, waren ihr herzlichst egal. Viel interessanter war Dionysus, der sich offensichtlich köstlich über das Geschwafel der Menschen amüsierte und solange nichts tat, wie er seine Unterhaltung fand. Am Ende verfiel Kassandra mit der Gorgone wieder in ein Blickduell; Sollte sie es wagen, Zoras auch nur einmal schief anzugucken, würde sie ihr mit Freuden jede Schlange einzeln ausreißen.
      Als man auf das Duell zu sprechen kam, rechnete Kassandra felsenfest damit, dass sich Esho wieder einschalten würde. Doch er verhielt sich ruhig, sodass Kassandra ein bisschen tiefgreifender nach seiner Aura fischen musste. Wenig später hatte sie festgestellt, dass das Ratsmitglied stärker angegriffen war als erwartet. Niemand hatte ihn geheilt, und dass obwohl sie fähige Champions unter sich hatten. Also gab es in der Tat Dispute unter den Mitgliedern, wie sie bereits erwartet hatte. Dass allerdings ein so offensichtliches Zeichen der Schwäche so belassen wurde, erachtete sie als grob fahrlässig.
      „Es war nicht bekannt, dass das Schwert magischer Natur entspringt. Außerdem unterbricht man ein laufendes Duell wegen sowas nicht. Respekt gegenüber den Kämpfenden“, sagte Esho zwischen den Zeilen hinweg, aber niemand schien ihm wirklich Gehör zu schenken. Seine Stimme klang nicht mehr so kräftig und laut wie noch am Tage, weshalb er sich damit zufriedengeben musste, dass ihm niemand zuhörte und er stattdessen die Phönixin weiterhin musterte.
      Ebenso mischte sich Kassandra nicht ein. Einzig und allein ein dezentes Lächeln umspielte ihre Lippen, als Zoras den Aufstandsführer auspackte, den er offensichtlich gut in seinem Inneren wegsortiert hatte. Prompt fühlte sie sich zurückversetzt nach Theriss, als sie versucht hatten, Verbündete zu generieren und die Aufmüpfigen niedergerungen hatten. Ein kleiner Erinnerungssplitter, den sie fest an sich drückte und nicht loslassen würde wie einst den kleinen Kolibri an ihrer Brust.
      Er gewann das Schweigen für sich. Menschen schwiegen, wenn ihnen die Argumente ausgingen oder sie in ihrer Meinung unumstößlich eingefahren waren. Nach einem flüchtigen Blick wusste Kassandra, dass dem Rat die Hände gebunden waren. Denn durch Zoras‘ Worte wurden ihnen sämtliche Pfade aufgezeigt, die sie bestreiten könnten, aber am Ende allesamt am gleichen Ziel ankommen würden. Schließlich fiel der eine Satz, auf den Zoras und Kassandra so lange gewartet hatten und die Erleichterung, die Zoras durchflutete, wehte der Phönixin wie eine Frühlingsbrise entgegen.
      „Ich wünsche, dass sich die Champions dem Stadthaus nur auf einen Umkreis von 300 Metern nähern. Soll Kunde zu uns getragen werden, setzt ihr entsprechendes menschliches Fußvolk ein oder kommt eigenständig zu uns. Ihr werdet den Eigentümern des Stadthauses, deren Verwandten und Freunden kein Leid androhen oder sie etwaige Konsequenzen spüren lassen“, fügte Kassandra noch hinzu, um einfach nur die Unbeteiligten aus dem Weg zu räumen. Sie sollten nicht in Machenschaften gezogen werden, wogegen sie keinerlei Macht hatten. Außerdem musste sie dafür sorgen, dass nicht jederzeit diese vermaledeite Nymphe bei ihnen spionierte oder ein Zyklop damit drohte, mit Findlingen das Haus einzuwerfen.