Salvation's Sacrifice [Asuna & Codren]

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    • Der Weg zu Santras Anwesen stellte sich als ungewohnt ruhig heraus, was Zoras erst begriff, als sie das unscheinbare Haus erreicht hatten und diesmal kein Zavion darauf wartete, sie daran zu erinnern, dass Kassandra hier nicht gerne gesehen war. Der überaus loyale, tüchtige Kommandant musste sich anderen, ernsthafteren Aufgaben gewidmet haben, was aber wahrscheinlich eher bedeutete, dass er wieder am Tor Wache halten durfte. Für ihn war aber auch keine Vertretung eingesetzt worden und so gab es keinen einzigen Widerstand daran, Santras' Haus einfach zu betreten.
      Mit dem Wissen, was es nun wirklich mit dem Stadtherrn und Kassandra auf sich hatte, kam Zoras das Haus gleich viel erdrückender vor. Die Empfindung, über die Türschwelle in eine andere Welt einzutreten, wiederholte sich jetzt mit der Erkenntnis, welche Welt es wohl sein mochte. Was er an der Innenausstattung am Vortag noch irritierend und irreführend empfunden hatte, kam ihm jetzt schlichtweg fremdländisch vor. Er fühlte sich als Eindringling in einer Kultur, die er sich noch nicht einmal aneignen wollte.
      Santras wirkte gänzlich unverändert zum Vortag. Keine vertieften Falten, keine Augenringe oder gar merkwürdiges Verhalten ließen darauf schließen, dass Kassandras Treffen seine Welt auf den Kopf gestellt hatte. Er wirkte höchst normal, so wie er den Tisch zu etwas eindeckte, was wohl ein ausgiebiges Frühstück unter Bekannten darstellen könnte.
      Nur Kassandra lächelte, als sie ihn sah. Das war neu und gefiel Zoras nicht unbedingt, aber er wollte nicht kleinlich sein. Er würde nicht damit anfangen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wen Kassandra alles anlächelte.
      Sie setzten sich, wobei Santras wohl beide gleichermaßen überraschte, indem er den Söldner zuerst bediente. Der hatte ihn noch nicht einmal gegrüßt, so wie andersherum auch nicht; trotzdem schien der Stadtherr darüber zu stehen. Dann musste er sich durchaus Gedanken gemacht haben, anders wäre nicht zu erklären, dass er es jetzt als notwendig empfand, sich bei Kassandras Schwurpartner zu entschuldigen.
      "Es gibt nichts, wofür Ihr Euch zu entschuldigen bräuchtet. Kassandras Präsenz kann... überwältigend sein."
      Er warf der Schuldigen einen Blick zu.
      "Wenn, dann bin ich es, der sich entschuldigen muss. Die Offenbarung der gestrigen Ereignisse war, gelinde gesagt, eine Überraschung, auf die ich nicht vorbereitet gewesen war. Keiner von uns, eigentlich. Bitte, fühlt Euch nicht von meiner Anwesenheit eingeschränkt."
      Diesmal bat er nicht an, draußen zu warten. Er betete nur im Stillen zu der einzig anwesenden Göttin im Raum, dass sie ihre Nähe mit Santras auf ein höfliches Maß beschränken würde, damit er nicht wieder Zeuge von einer Szene wie gestern wurde.
      Sie machte aber auch keine Anstalten, die Annäherungen zu wiederholen, und stellte stattdessen eine Frage, deren Ursprung Zoras verschleiert blieb. Vielleicht wollte sie damit ergründen, ob Santras - jetzt zum Teilen auch Shukran - ähnliche Zweifel gehegt hatte, nachdem er gestern nicht nur zu Teilen seiner Seele gefunden hatte, sondern auch noch erkennen haben musste, dass die Liebe seines Lebens sich unwiderruflich an einen anderen gebunden hatte. Darüber hatte Zoras noch nicht nachgedacht, musste aber unweigerlich jetzt daran denken. Auch Santras könnte seine Zweifel herangezogen haben, die sich gegen Zoras wenden würde, was definitiv nicht im Sinne ihrer Unternehmung stand. War es das, woran Kassandra interessiert war?
      Der Stadtherr wusste aber, wie er die Frage umschiffte, ohne ihnen den Hauch einer Antwort zu präsentieren. Die Phönixin mochte es wohl durch seine Aura wissen, Zoras aber nicht. Was spürte er, wenn er Zoras ansah? Und im Gegenzug, was spürte Zoras, wenn er ihn ansah? Hätte Kassandra ihn das gefragt, hätte er sie womöglich gebeten, es aus seiner Aura herauszulesen und sie beide gleichermaßen damit aufzuklären.
      Er nahm die Tasse zur Hand und roch daran, auch wenn er schon wusste, dass der Inhalt es ihm nicht sehr antun würde. Seine Geschmacksnerven hatten sich die letzten Jahre auf einfaches, billiges Met eingestellt oder ähnliche alkoholische Getränke, die seinen Geldbeutel nicht aussaugten. Tee war ein Luxus, den er sich nicht zu leisten gewillt war. Wofür auch? Jetzt wäre ihm sogar fast Wasser lieber gewesen, aber für Kassandra nahm er einen Schluck und ließ sich den Geschmack nach Kräutern im Mund vergehen. Für ihn schmeckte es nach Medizin, dabei hatte er in seiner Heimat durchaus auch manchmal Tee getrunken. Er hatte sich wohl in den vergangenen Jahren auf mehr Weisen verändert, als ihm lieb war.
      Ebenso war das Frühstück zwar reichlich, aber das einzige, wonach Zoras gegriffen hätte, fehlte. Warmes, noch dampfendes Brot erwartete ihn, genauso wie allerlei Gemüse und sogar ein ganzer Korb voll richtiger Hühnereier, aber ihm wäre eher nach etwas gewesen, das ihn auch auf längere Zeit satt stellte. Diese ganzen Sachen hier hätte er viel zu schnell wieder verdaut und würde in ein paar Stunden wieder hungrig sein.
      Es war nicht so, dass er dann nicht etwas zu essen hätte, es war nur so, dass er es anders gewöhnt war und manche Gewohnheiten bekam man nur sehr schwer wieder los.
      Experimentiell nahm er sich daher eine Scheibe Brot mit Gemüse und zwang sich dazu, so langsam und bedächtig zu essen, wie er es früher immer getan hatte. Genießen, nicht schlingen. Jetzt kam es ihm albern vor, seine Bedürfnisse aufgrund von Höflichkeiten hintenan zu stellen.
      Zum Glück erbarmte sich Santras seiner und sprach ihr Vorhaben an, wodurch Zoras vom Essen innehalten konnte. Er hatte fest damit gerechnet, dass er und Kassandra wieder in Gespräche über eine Zeit verfielen, die Zoras mehr als fremd war, aber das schien wohl nicht der Fall zu sein. Der Mann hatte wohl über Nacht wirklich mehr verarbeitet, als man ihm ansehen mochte.
      "Die einzige Hilfe, die Ihr uns anbieten könnt, besteht darin, überzeugt zu sein. Wir möchten Euch in keine Kriege und keine Konflikte ziehen, wenn es das ist, was Euch Sorgen bereitet. Der Grund, weshalb wir uns die Mühe machten hierherzukommen, besteht darin, das Volk von uns zu überzeugen. Der Rat ist lediglich ein Hindernis, er ist aber nicht der Schlüssel zum Erfolg. Er wird uns nicht krönen, solange wir dort nur zu zweit auftauchen, aber wenn wir ein ganzes Land hinter uns stehen haben, wird auch er sich gezwungen sehen."
      Er verschränkte die Hände auf dem Tisch.
      "Was Ihr also tun könnt, ist Eurem gewöhnlichen Alltag nachzugehen, so wie sonst auch, und dabei Eure Meinung dazu zu verbreiten, dass es einen neuen Eviad geben könnte. Es geht nicht darum, ob er wirklich würdig ist oder Aussichten auf den Thron hat, sondern ganz allein, dass Ihr an seinen Erfolg glaubt. Die Leute in Paspatera schauen mehr zu Euch auf als zu den Champions, weil die Champions weiter weg sind als ihr. So könnt Ihr uns wahrlich helfen."
    • Tashkanüsse.
      Santras hatte eine ganze Schale voll Tashkanüsse direkt vor ihr drapiert, sodass Kassandra mit einer Spur Ehrfurcht die Schale in die Hände nahm. Ihre roten Augen besahen sich jeder einzelnen Nuss, die sie erblicken konnte, ehe sie kaum merklich den Kopf schüttelte und schmallippig lächelte. Das hier waren Nüsse, die aus dem Süden stammten und jenen ähnelten, die sie damals in Nuliubda kultiviert hatten. Wie zum Teufel war Santras an solche Nüsse gekommen und hatte sie wohlwissend vor ihr drapiert?
      Ihr Blick glitt über den Tisch. Erst jetzt fiel ihr auf, mit welchen Speisen er eingedeckt worden war und was genau fehlte. Das völlige Fehlen von Fleisch basierte auf die vegetarische Ernährung der Nuliubdaner. Schon vorher war ihr aufgefallen, dass Santras Züge eben jener Kultur pflegte, man musste sich nur das ganze Anwesen mit seiner Einrichtung ansehen. Allerdings hätte sie angenommen, dass das Gedächtnis nicht so viel Einfluss hatte und dadurch Santras‘ Präferenzen beeinflusste. Allerdings sollte es sie nicht wundern, schließlich hatte er Kassandra und Zoras sogar barfuß empfangen. Ebenfalls eine Angewohnheit aus alten Zeiten. Damals hatten kaum Menschen Schuhe getragen, weil der Sand jegliches Schuhwerk effektiv vernichtet hatte. Sandalen waren das einzige gewesen, und die konnte Santras wohl hier nicht so einfach auftreiben.
      „Sie sehen zu mir auf, weil ich kein Gott bin. Ich bin einer von ihnen, gehe auf ihre Bedürfnisse ein und erhebe mich nicht über sie“, sagte Santras, der seinen Tee gekonnt in einer Hand schwenkte, ohne etwas dabei zu verschütten. „Wieso, glaubt Ihr, sind in dieser Stadt kaum Soldaten stationiert oder schäbiges Fußvolk? Durch die Mauern ist die Stadt ein geschlossener Kreis und dabei behalte ich sie auch. Es wird nicht expandiert, denn mit der wachsenden Größe steigt auch die Zahl der Menschen und der Unruhen. So, wie es aktuell ist, ist das Gleichgewicht gewahrt. Gib jedem Menschen die gleiche Voraussetzung und es wird sich kein Mangel zeigen.“
      Kassandra sah Santras eindringlich an. Dieses Thema erinnerte sie massiv an eine sehr, sehr weit zurückliegende Unterhaltung mit Shukran. Sie hatten sich damals ebenfalls über die Missstände unterhalten, als sie eines Tages durch die Stadt spaziert sind und Kassandra das Elend von Sklaven und Hungernden aus direkter Nähe zu sehen bekommen hatte. Er hatte ihr damals erklärt, wie es dazu kam und dass eine Stadt, in der dies nicht vorkam, einer Utopie entsprach.
      Santras hatte diese Utopie irgendwie verfolgt und scheinbar erschaffen. Es war ein fragiles Konstrukt und nur eine Frage der Zeit bis es wackelte und in sich zusammenbrach. Er hatte Dinge getan, über die sie vor Äonen gesprochen hatten, zeigte Züge einer Person, die er nicht sein durfte und sah sie nun mit Augen an, denen eine Zuneigung innewohnte, die dem Mann eigentlich hätte fremd sein müssen.
      Das Herz der Phönixin wurde schwer und ihr Gesicht war nicht mehr so entspannt wie zuvor. Es kräuselte sich auf ihrer Stirn, unterschwellig zuckten Muskel in ihrem Gesicht und abermals vergaß sie, die Atmung vorzutäuschen. Zoras hatte recht gehabt. Sie hatte damals keine Zeit bekommen, um Shukrans Verlust zu betrauern und hatte sich nie damit auseinandergesetzt, um es endgültig abzuschließen. Den Fluch, den sie um ihre beiden Seelen gewunden hatte, sprang ihr plötzlich regelrecht ins Gesicht. Ihre Augen weiteten sich leicht, als sie ihre Magie nicht mehr verhüllte, sondern intensiv Santras‘ Aura las.
      „Wir hatten eine Abmachung. Ich darf mit Kassandra sprechen und Ihr bekommt meine Unterstützung. Das bleibt dabei und wenn Ihr nur wünscht, dass ich kundtue, dass ich an Euch festhalte, werde ich es tun“, verkündete Santras und trank von seinem Tee, eher er inmitten seiner Bewegung erstarrte. Sein Blick zuckte zu Kassandra, die ihn ebenso intensiv anblickte.
      Eine Stille breitete sich im Raum aus und es wirkte so, als wären auch draußen sämtliche Geräusche gestorben. Als existiere die Zeit nur noch in diesem Raum, diesem Gebäude, und drehte sich einzig und allein um die drei Anwesenden. Ganz langsam und bedacht setzte Santras seine Tasse ab, sichtlich darum bemüht, zu schnelle Bewegungen zu vermeiden. Als wüsste er, dass er sich nun nur noch in Maßen bewegen durfte.
      In dem Moment fiel Kassandras Verhüllung vollständig. Magie ergoss sich von ihr in sämtliche Richtungen und schien den Raum zu fluten. Selbst Santras, der nur ein Mensch war, spürte die Magie und hob erschrocken die Beine an, um der unsichtbaren Flut an Wärme zu entkommen. Währenddessen saß Kassandra unverändert an ihrem Platz, außer dass sich ihre Hände auf die Armlehnen gelegt hatten. Ihr Blick ruhte auf Santras, dann schwenkte sie ihn zu ihrem Schwurpartner.
      Ihre Augen hatten sich vollständig in das Götterwesen verwandelt, das sie war. Sie strahlten in einem sagenhaften Licht, wie tiefrote Rubine, die zum Leben erwacht waren. In ihnen tanzte das Feuer, das einst schon in ihrem Amulett gelebt hatte, und eine stumme Bitte lag in ihnen vergraben.
      „Du hattest recht. Ich will abschließen“, sagte sie zu ihm ehe sie in einer geschmeidigen Bewegung aufstand.
      Noch während eben jener Bewegung flirrte ihre gesamte Erscheinung. Die Kleidung, die sie des Morgens gewählt hatte, löste sich auf und einen Moment lang war sie wie unscharf unverhüllt. Einen Augenblick später hatte die Magie ihre Arbeit getan und sie in ein neues Gewand gehüllt. Hauchdünne, halbtransparente Stoffbahnen waren nur um ihre Hüfte und ihre Brust gelegt und wurden von einem Wind bewegt, der nicht da war. Ihr flacher Bauch war frei, ebenso wie ihre langen Arme und Beine, die an den Gelenken mit glitzernden Reifen aus Edelmetall behängt waren. Ihre schwarzen Haare waren nach hinten gebunden und fielen in weichen Wellen über ihren Rücken. Zeitgleich hatte der gesamte Raum, der bis zur Decke mit Magie gefüllt worden war, zu flimmern begonnen. Der Tisch begann sich mit all seinen Speisen aufzulösen, die Wände brachen weg und die Decke auf. In der Realität hatte Kassandra einen Vorhang über das Anwesen geworfen, der Sterbliche davon abhielt, sich zu nähern. Doch hier drinnen veränderte Kassandra mit ihrer Magie alles und verlieh der Realität einen neuen Eindruck.

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      Das Esszimmer war nicht mehr. Eine urtümlich, alt wirkende Musik hatte eingesetzt und sämtliche Geräusche, die für eine Stadt üblich waren, einfach verschlungen. Die Temperatur hier war deutlich heißer und erklärte, warum Kassandra praktisch nichts mehr trug. Die Luft war staubtrocken und während sich das Flimmern auflöste, bekam der Ort eine neue Form.
      Sie befanden sich in einem riesigen Raum, dessen Wände aus Lehm oder Kalkstein zu bestehen schien. Die Decke war in Kuppelform ausgeholt, in dessen Mitte klaffte ein Loch und ließ die Sonne hinein. Sie fiel ins Zentrum des Raums, wo ein Podest aus eben jenem Stein geschlagen worden war. Kreisrund gingen niedrigere Stufen ab, die von kreisrunden Linien gespickt waren. Kunstvoll gestaltete Säulen hielten die Decke dort, wo sie war, und an den Wänden waren Teppiche ausgehangen, die jenen aus dem Eingangsbereich von Santras‘ Haus zum Verwechseln ähnlich sahen.
      Santras stand unweit von Kassandra und schien seinen Augen nicht zu trauen. Mit einem nicht zu deutenden Ausdruck im Gesicht sah er sich um ehe sein Blick am Podest hängen blieb, auf das Kassandra mittlerweile zu ging. Nein, Kassandra ging nicht. Sie schritt erhaben, wie es eben nur Götter konnten, auf eben jenes Podest zu. Auch ihre Füße waren nackt, als sie die Stufen emporstieg und einen Fuß auf das Podest in der Mitte setzte, dann einen zweiten. Sie streckte die Arme zu den Seiten aus, als würde sie etwas empfangen wollen, und dreht sich den beiden Männern zu. Ohne die Hände zu senken ging Kassandra in die Knie und setzte sich, sodass es aussah, als würde sie das Licht anbeten, das von oben herab genau auf sie schien. Jetzt wurde klar, dass das kein einfaches Podest war.
      Es war ein Altar. Kassandras Altar.
      Das schien Santras auch schlagartig zu erkennen, denn er senkte andächtig den Kopf und näherte sich dem Altar. Er sagte kein Wort, bewegte sich ehrfürchtig und langsam, als er die erste von drei Stufen betrat und sich auf die Knie fallen ließ. Kassandra ließ daraufhin die Arme sinken und richtete ihren noch immer flammenden Blick auf den knieenden Mann in einer Entfernung vor sich. Kaum lagen ihre Hände in ihrem Schoß, floss flüssiges Feuer aus ihrem Leib und wurde von den kreisrunden Linien, die eingeritzte Rinnen waren, aufgefangen. Das Feuer folgte der Form, schloss einen Kreis und glitt eine Stufe tiefer, bis sämtliche Kreise geschlossen waren. Der letzte Kreis schloss sich unter Santras, der sichtlich erschauderte, und den Kopf hob. In seinen Augen lag früher vielleicht einmal Furcht, jetzt war es nur noch Anbetung, die in seinem Blick ruhte. Mit jeder Sekunde, die er sich in seinem alten Leben befand, verlor er den Bezug zu der Person, die er eigentlich war, und wurde mehr zu dem, dessen Erinnerungen er barg.
      „Du bist so unglaublich schön“, flüsterte Santras, der es sich nicht mehr traute, lauter zu sprechen. „Wie konnte ich diesen Anblick nur jemals vergessen?“
      Kassandras Augen, die bis jetzt erhaben und unnahbar gewirkt hatten, wurden zugänglicher. Noch immer brannten sie, die ungefilterte Form dessen, was sie ausmachte. Jedes Partikelchen in der Luft war ihr gehörig und das Wissen hob sie über alles andere hinaus. „Wie viele Zyklen bist du durchlaufen, bis du wieder an diesem Punkt stehst? Wie oft hast du einem Gefühl gefolgt, hast diesen Zug gespürt, der dich nie losgelassen hat?“
      Ihre Stimme klang so voll und unweltlich wie selten zuvor. Der Raum warf ihre Stimme perfekt zurück, sodass es klang, als käme er von überall und nirgends. Das berührte auch Santras, der erneut erschauderte, seinen Blick jedoch nicht von der Phönixin lösen konnte. Nur Kassandra wusste, dass es nicht nur daran lag, dass er sich an ihr nicht sattsehen konnte. Sie wusste, dass sich seine Seele unterbewusst dagegen sperrte zu akzeptieren, dass dies nicht nur der Ort war, an dem sie sich getroffen hatten.
      „Wie haben sich unsere Wege getrennt? Wie bin ich… damals gegangen?“, fragte er und am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass er seine Frage bereuen würde.
      Stattdessen erhob sich Kassandra und setzte in langsamer Anmut die Füße vom Podest. „Ich habe dich nicht bis ans Ende deines Lebens begleiten können.“ Sie näherte sich Santras, wobei sie am Rande ihres Sichtfeldes im Halbschatten einer Säule Zoras stehen sehen konnte. Gedanklich entschuldigte sie sich bereits bei ihm für das, was er sehen musste. Aber er musste es erleben. Er musste sehen, wie sich ein Gott von einem Sterblichen verabschiedete, damit er es verstand. „Als ich fort war, hat man dir ein Ende gesetzt. Man hat dir gewaltsam das entrissen, was ich nur dir allein geschenkt habe. Man hat dein Herz zum Stoppen gebracht, um meines an sich nehmen zu können.“ Sie nahm die nächste Stufe und überquerte eine glühende Linie. „Sie haben dich hier auf dem Altar getötet. Sie kamen als Gruppe und rammten dir einen Speer durch den Rücken, wodurch du verblutet bist. Dann nahmen sie mein Herz von dir.“ Die letzte Stufe war geschafft und sie stand vor Santras, der nicht bleich geworden war, wie es jemand werden müsste, dem erzählt wurde, wie er gestorben war. Er blickte nur zu der Göttin auf, wie hypnotisiert. „Ich spürte die Gefahr, ich flog zu dir zurück. Doch inmitten des Fluges spürte ich den Schmerz. Die Kälte. Die Angst. Und dann löste sich meine Gestalt auf und ich fiel aus dem Himmel.“
      Seine Lippen bebten, was Zoras natürlich nicht sah. Er sah lediglich seine Kassandra, die andersweltlich blickte und nur Augen für einen anderen Mann hatte. In ihren Zügen stand nicht einmal Schmerz, als sie zweifellos an eine schmerzhafte Erinnerung zurückdachte und ihr Wort verlieh.
      „Ich bin den Weg hierhergelaufen. Durch die Straßen Nuliubdas, wo mich die Menschen nicht mehr mieden, weil ich nicht mehr wie ein Gott für sie strahlte. Ich kam hierher, weil dies der letzte Ort war, wo ich dir gespürt hatte. Dann fand ich dich, auf dem Altar, niedergestreckt und kalt wie der Stein in der Nacht. Ich sah die Wunde, spürte das Fehlen deiner Aura. Ich wusste, dass du gestorben warst während ich fort war und als ich zu dir kommen wollte, rissen sie mich zurück und zwangen mich, von hier fortzugehen. Ich musste mich vergewissern, dass du wirklich gestorben warst. Dass es vorbei war. Stattdessen legte mich meine Naivität in Ketten und ließ mich Jahrtausende der Qual erleiden.“
      Die letzten Worte verhallten in der Halle. Niemand sprach ein Wort, nur die Musik schien noch immer aus den Fugen der Steinwände hervor zu quellen. Leise, subtil, einzig und allein aus Kassandras Erinnerung entsprungen. Wie alles, was sie hier sehen und fühlen konnten.
      „Ich bin hier, Munasqa“, flüsterte Santras und sah mit glasigen Augen, die voller Verlangen waren, zu der Phönixin auf. „Für dich bin ich dem Zyklus entstiegen.“
      Kassandras Augenbrauen zuckten. Dann ging sie vor ihm in die Hocke und musterte einfach nur sein Gesicht. Die Augen, die eine andere Farbe besaßen, aber den gleichen Ausdruck wie ein anderes Paar besaßen. „Ich weiß. Das ist meine Schuld.“
      Santras‘ Ausdruck wechselte in die Irritation. Kassandra traf keine Schuld. Sie hatte sich schließlich nicht dazu entschlossen, ihn dazu zu zwingen, immer und immer wieder neu auf Erden geboren zu werden. Es war ja nicht so als….
      Sie legte ihm die Hände an die Wangen. Liebevoll und mit einer Spur Trauer versehen, die so gegensätzlich war, dass sie nicht gleichzeitig hätten auftreten dürften. „Es ist meine Schuld. Und ich bezwecke, es wieder gut zu machen. Ich lasse dich gehen, Shukran. Du darfst gehen.“ Ihre Hände umhüllten sich mit dem gleißend hellen Feuer, das so unüblich zu ihren schwarzen Flammen waren. Sie sprangen auf Santras‘ Gesicht über, der versuchte, sich in Schrecken von Kassandra zu lösen, doch sie hielt ihn allein mit ihrer Präsenz davon ab, zu weichen. Die Trauer schlug in Qual um, als sie die Gegenwehr sah. Santras begann leise zu stöhnen, als die Flammen in seine Haut einsanken und er die Augen schließen musste. Dann lehnte sich Kassandra vor bis nur noch Zentimeter ihre Lippen von seinem Gesicht trennten.
      „Sei frei“, hauchte sie und gab Santras einen Kuss auf die Stirn.
      In dem Moment zerbrach etwas. Etwas riss, wie ein Kettenglied, das scheppernd zu Boden fiel, und Santras‘ Leib erzitterte. Ein unheimlich starker Puls ging von ihnen beiden aus, der wie eine Welle durch den Raum ging, an den Wänden empor wog und sich dann auflöste. Die gesamte Illusion erzitterte unter der geballten Magie, die sich entladen hatte. Noch immer hielt Kassandra sein Gesicht fest in ihrem Griff, als sie ihre Stirn an seine in altbekannter Geste legte.
      „Danke, dass du für mich zurückgekommen bist. Danke für die Zeit, die du mir geschenkt hast. Es tut mir leid, dass du wegen mir zu früh hast sterben müssen. Ab jetzt bist du frei. Ab jetzt lebe, wie du es wünschst. Ohne Fluch und Zwang“, flüsterte sie ihm zu und entfernte sich von ihm, um ihm ein Lächeln zu schenken. Ihre Augen glitzerten von Feuchtigkeit als ihr Blick über seine Schulter zu der Gestalt wanderte, die unauffällig hinten im Schatten stand.
      Dann erzitterte die Illusion einmal. Zweimal. Die Musik verklang und die Umrisse begannen sich aufzulösen. Die Temperatur fiel rapide ab, genauso wie Kassandras Hände an Santras‘ Wangen. Erschöpft fielen sie zu Boden, ihr gesamter Körper folgte, als ihr die Augen zu fielen und er sie in seine Arme schloss, bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte. Die Realität forderte ihre Daseinsberechtigugn zurück mit aller Macht und riss scheinbar an den Körpern der beiden Menschen.
      Und dann hatte sich der Speiseraum von Santras‘ Anwesen schlagartig wiederhergestellt. Santras saß auf dem Boden am anderen Ende des Raumes, eine schlaffe Kassandra in den Armen. Zoras stand am anderen Ende, unweit des Tisches mit den Speisen, die immer noch warm waren. Santras atmete stoßartig und krampfhaft, während er mit aller Sanftheit die zierliche Frau in seinen Armen wiegte. Stumme Tränen rannen dem Mann über die Wangen, doch sein Gesicht war nicht von schmerz verzogen. Dankbarkeit und Erleichterung flimmerten in seinen Augen als er zu Zoras hinüber sah und nicht wusste, was er sagen sollte.
    • Die Höflichkeit alleine war es, die Zoras davon abhielt, Santras auf die offensichtliche Schwachstelle seiner aufblühenden Stadt hinzuweisen, von der er gerade so schwärmte. Es musste dem Mann selbst bewusst sein, dass sein so schön geschlossener Kreis lediglich ein Symbol war, nichts, was einen Champion ernsthaft aufgehalten hätte. Aber ging es nicht genau darum, um das Symbol, das sie hier alle zu vermitteln versuchten? Santras mit seiner gottlosen Stadt, Zoras mit einem Titel, den er nicht bekommen würde, wenn die Leute nicht schon vorher daran glaubten. Es ging gar nicht darum, ob Zoras tatsächlich den Champions standhalten würde, was man sich von einem Eviad wohl wünschen könnte, genausowenig wie es darum ging, ob eine Steinmauer wirklich einen solchen Champion aufhalten konnte. Aber es ging darum, dass die Leute sich hinter Mauer - und Titel - verstecken konnten, dass es eine Front gab, die dem Rat geboten wurde, auch wenn sie rein metaphorisch existierte. Mit seiner Lebensweise bewies Santras, was Zoras die letzten Monate zu vermitteln versuchte: Die Macht lag im Volk alleine. Es war nicht der Herrscher, der die Zukunft des Landes bestimmte, sondern all jene, die dort lebten.
      Entsprechend lächelte er höflich auf die Aussage und sah knapp zu Kassandra hinüber, die sich eine Schüssel Nüsse in die Hand genommen hatte und sie mit einem leichten Lächeln begutachtete. Die Geste erinnerte ihn schlagartig an die Vorliebe der Phönixin und war so simpel, so häuslich, dass es ihm die Brust erwärmte. Er sollte niemals wieder vergessen, wie leicht seine Göttin manchmal zu beglücken war.
      Wieder seine Aufmerksamkeit auf Santras richtend, konnte er die gewisse Erleichterung nicht unterdrücken, als er ihm ganz offiziell seine Unterstützung bestätigte. Damit hatten sie nun ein Problem weniger.
      "Das ist mein ganzer Wunsch. Ich danke Euch für die Großzügigkeit, die Ihr..."
      Zoras verstummte, als der Raum mit einem Schlag heller wurde - nicht hell an sich, aber wie von einer weiteren Lichtquelle erleuchtet. Gleichermaßen zog eine Wärme in ihm ein, die ihm alles andere als unbekannt war. Unvermittelt sah er zur Quelle dessen hinüber.
      Kassandra hatte das Interesse an ihren Nüssen verloren und starrte Santras jetzt mit einer Intensität an, als versuche sie, sich mit der Macht ihres Blickes durch seine Seele zu fressen. Dabei musste sie etwas getan haben, denn wie auch schon im Gasthaus in Espiahafen glaubte Zoras den Ansatz einer Aura zu erkennen, ein Leuchten und Glühen, das von ihrer Gestalt ausging. Er wusste, dass dort viel mehr dahinter stecken musste, aber seinen menschlichen Augen schien nicht mehr gewährt als das Licht und die unmittelbare Wärme, die davon ausging. Mit dem Ansatz von Verwirrung, was Kassandra nun getan hatte, oder noch vorhatte zu tun, wandte er sich wieder Santras zu.
      "... mir entgegen bringt."
      Einen Moment lang geriet er in die völlig surreale Situation, sich Kassandras Licht aus dem Augenwinkel nur allzu bewusst zu sein, während Santras scheins gar nichts bemerkte. Dann aber, als hätte dieser Gedanke ihn plötzlich auch angesteckt, hielt der Stadtherr beim Trinken inne und starrte mit geweiteten Augen zu der Phönixin hinüber.
      Stille kehrte ein, aber nicht auf natürlichem Weg, sondern viel eher, als würde Kassandras anwachsende Präsenz genug sein, um solch weltliche Dinge wie Geräusche nach und nach heraus zu drängen. Keiner der drei wagte sie zu durchbrechen, die Menschen sicher aus anderen Beweggründen als die Göttin. Zoras fragte sich bereits, ob Santras sehen konnte, was dort um Kassandras Gestalt glühte, als sie mit einem Mal auch die letzten Schranken ihres Seins aufhob und ihre Aura in den ganzen Raum erstrahlte. Die Wärme kam in einer Welle, die über Zoras hinwegspülte und in seinem gesamten Körper kribbelte, kein unangenehmes, aber doch ungewohntes Gefühl, wenn man Santras' Reaktion neben ihm verglich. Auch für Zoras war es etwas Neues, Kassandras Macht gegenüberzustehen und nicht von ihrer schieren Präsenz in die Knie gezwungen zu werden, aber er kannte doch die vertraute Wärme, er kannte das Gefühl ihrer Göttlichkeit, die sie ihm schon in mehr als einer Form offenbart hatte. Anders musste sich der Mann neben ihm fühlen.
      Etwas gänzlich Neues war dafür die Gänsehaut, die ihm über den Körper schoss und das Kribbeln zu einem Schauer intensivierte, der ihn erzittern ließ. Die Wärme stieg ihm zu Kopf, bis in seine Fingerspitzen und setzte sich dort fest, wie ein ewig währender Schleier, der sich um seinen Körper wickelte. Aber anstatt sich davon beengt zu fühlen, was Zoras gerne tat, wenn die Kleidung um seinen Körper zu straff saß und den Eindruck von etwas anderem vermittelte, fühlte er sich hiervon ausschließlich... beruhigt. Als hätte er sich an einen sicheren Ort zurückgezogen, der ausschließlich von Zoras' eigenhändig ausgewählten Männern bewacht wurde. Als wäre er irgendwo auf der Welt, wo ihm nichts etwas anhaben könnte.
      Ein bisschen war es so, als wäre es die steinerne Ecke seiner Gefängniszelle, in der er Schutz gesucht hatte. Nur bekam er ihn hier auch.
      Kassandra beobachtete den Mann, wie er auf ihre Göttlichkeit reagierte, danach schwenkte ihr Blick zu Zoras hinüber, ihre Augen eine menschliche Form dessen, was er bei der gewaltigen, schwarzen Phönixin bereits gesehen hatte. Sie waren tiefrot, stechend und glühend, in ihrem Inneren jetzt gut sichtbar dasselbe Feuer, dessen Geist er kannte, dasselbe Flammenmeer dessen, was in ihren Augen getanzt hatte, wann immer die Phönixin leidenschaftlich gewesen war. Aber jetzt war es mit einer Intensität vorhanden, die daran zweifeln ließ, ob die Flammen nicht alleine für die Wärme verantwortlich waren, die sich um sie herum ausbreitete. Ihre Augen lebten und ihr Blick tanzte einen Tanz, mit dem er Zoras gänzlich für sich beanspruchen konnte. Von überwältigender Ehrfurcht, vor großer Faszination und tiefster Liebe, die er für diese eine Göttin empfand, sog er stumm die Luft ein.
      Danach stand sie auf und verkündete, vielleicht nur für Zoras, vielleicht auch für alle in diesem Raum, dass sie abzuschließen gedachte. Das war es, wofür sie ihre Göttlichkeit wohl entfaltet hatte.
      Stumm nickte er ihr zu, sorglos darüber, wie die Phönixin dieses Abschließen wohl geplant hatte. Mit dieser Wärme im Körper war es ihm beinahe unmöglich, nicht daran zu glauben, dass alles genau richtig war, dass er sich um nichts Gedanken machen müsste. Es war schon fast tröstlich, wie sich augenblicklich seine Schultern entspannten, als wäre er davor ständig auf der Hut gewesen vor allem und jedem. Vielleicht war es ja auch so. Vielleicht hatte Zoras in den letzten Jahren verlernt, was Sicherheit tatsächlich bedeutete.
      Kaum einen Moment später flirrte Kassandra, hob ihre eigene Gestalt auf und die kuluarischen Gewänder wurden von etwas ersetzt, das Zoras bestenfalls als zu freizügig beschrieben hätte. Es war nicht mehr als ein bisschen Stoff und einige Armbänder, die an ihren Handgelenken auftauchten, nichts, was sich auch nur ansatzweise als Kleidung beschreiben ließ. Mit ihr veränderte sich aber auch der Raum mit demselben Flirren und es brauchte nur die wenigen Sekunden des Übergangs, bis Zoras zu begreifen glaubte, was genau er dort vor sich sah.

      Die Wände des Zimmers verwandelten sich in hohe, primitiv wirkende Gebilde, die an der Decke zusammen zu fließen schienen und ein Loch für die Sonne übrig ließen, die mit einer ungeahnten Stärke ihr Licht erstrahlen ließ. Direkt unter der Öffnung hob sich ein Steinblock aus dem Boden heraus, fast unscheinbar in seinem Muster, würde die Sonne ihn nicht mit einer Kraft erhellen, die an Feuer erinnern mochte. Generell waren sämtliche Muster, die sich hier auf den Stufen, dem Boden, den Säulen und an den Wänden wiederfanden, anmutend fließende Linien, die Zoras schon einmal zu sehen geglaubt hatte. Erst, als ihm die Behänge an den Wänden direkt auffielen, erinnerte er sich an Santras’ eigenartige Einrichtung.
      Die Illusion war so viel umfassender als das, was Areti zustande gebracht hatte, als sie Kassandra dargestellt hatte, sodass es Zoras für einen Moment leicht schwindelig war. Die Luft war hier staubig trocken und barg den Geruch von altem, viel zu altem Stein, die Sonne war stark genug, dass er selbst im Schatten zu schwitzen begonnen hätte. Hätte er nicht aufgepasst und genau gesehen, wie Kassandra erst sich selbst und dann alles um sie herum veränderte, hätte er meinen können, sie habe alle miteinander einfach an einen Ort versetzt. Doch selbst mit dem richtigen Wissen, konnte er sich nicht ausmalen, dass sie nicht wirklich hier, sondern immernoch in Santras’ Esszimmer sein sollten.
      Besagter Mann starrte selbst vor überlaufender Verblüffung, allerdings aus anderen Gründen als Zoras. Ihm musste dieser Ort hier bekannt sein, so wie sein Blick sich an dem Steinblock aufhing und dann gleich zu Kassandra huschte, die wie selbstverständlich die Stufen erklomm. Ihre hoch aufragende Gestalt erhob den unwirklichen Anschein, als würde sie keine einfachen Steinstufen erklimmen, sondern als wäre dieser Ort dazu gedacht, Kassandra - und Kassandra alleine - bis zur Sonne zu führen. Auch wenn sie deutlich ging, schien sie doch zu schweben und es hätte Zoras bei diesem Anblick überhaupt nicht mehr überrascht, wenn sie auf die weltliche Bindung der Steinstufen verzichtet hätte und einfach darüber hinaus weiter nach oben gestiegen wäre, weiter und weiter, bis sie hoch genug war, um sich selbst von der Sonne erstrahlen zu lassen.
      Aber sie blieb unten, trat an den Steinblock heran und ließ sich dann mit zeremonieller Langsamkeit auf die Knie sinken, als würde sie gleich das Licht anbeten.
      ... Nein, diese Vermutung war nicht richtig. Zoras’ Augen wurden groß, als er zu seiner Phönixin aufsah, die sich im Licht baden ließ, die auf eine Weise erstrahlte, die seine Erinnerung an eine sonnende Kassandra auf einem Zaunpflahl gänzlich in den Schatten stellte. Es war nicht das Licht, das sie anbetete, vor dem sie hier auf die Knie ging, sie selbst war das Licht, das sich von allen anbeten ließ, die am Fuß dieses Podests im Schatten standen. Es war seine Kassandra, die den Steinblock davon ablöste, die Sonne aufzunehmen und in gleicher Intensität zurückzugeben. Sie war jetzt die neue Sonne, das neue Strahlen, das dem ganzen Raum eine einzigartige Note verlieh. Das hier war Kassandras Altar, eigens für die Phönixin und niemand anderen sonst geschaffen.
      Der Anblick war unwirklich. Er ließ Zoras im Staunen zurück, während Santras an seiner Seite wohl ähnlich schnell auf die gleiche Entdeckung kam. Nur begriff er gleich, was zu tun war; andächtig senkte er den Kopf und trat auf das Podest und die erhellte Kassandra zu, die ihn mit ausdrucksloser Miene beobachtete. In einem Ritual, das älter war als so manche Kontinente, ließ er sich auf die erste Stufe sinken, bevor die Phönixin ihre Arme sinken ließ. Flüssiges Feuer drang aus ihr hervor, ergoss sich auf den Boden und in die Rillen, die scheins eigenständig dafür gemacht waren, und floss die Stufen hinab. Jetzt kam das Licht von oben, es kam von unten und Kassandra, die alleinige Herrscherin dieses Lichts, saß mittendrin, badete darin, dass die Sonne sich von ihr einfangen ließ. Sie wurde selbst zur Sonne, das hier war die Verkörperung dessen, was Zoras in Luor in seinen Ansätzen gesehen und so verehrt hatte.
      Leise sprach Santras zu ihr und der Söldner, der noch immer wie angewurzelt im Hintergrund stand, fragte sich doch plötzlich, ob er nicht auch nach vorne gehen und Kassandra anbeten sollte. Es war die einzig richtige Schlussfolgerung in einer derartigen Szenerie, aber gleichermaßen war es nicht seine Kulisse, auch nicht seine Kultur, sein Land oder sein Jahrhundert, ja es war noch nicht einmal seine Göttin. Es war Kassandra, die Sonne und das Feuer und das Leben und das würde er nicht für sich beanspruchen. Nein, diese Illusion galt Santras und der Göttin ganz alleine, Zoras wurde nur die Ehre zuteil, als Zuschauer dabei sein zu dürfen.
      Selbst Kassandras Stimme war hier anders, als sie auf Santras antwortete, voller und umfangreich und gleichzeitig in allen Ecken des Raumes. Unmittelbar schoss eine Gänsehaut über seinen Rücken, als ihre kräftige Stimme selbst durch Zoras' Knochen vibrierte, so fernab von allem, was er bisher erlebt hatte. Das hier war der Göttin, der wirklichen, entfaltenen Göttin Kassandra, so nahe wie er nur kommen konnte. Das hier entsprach ihrer Erscheinung im Olymp, das hier war alles, was die sterbliche Welt von der Perfektion der Phönixin wiedergeben konnte. Das hier war Kassandra.
      Von seiner eigenen Ehrfurcht überwältigt, stand Zoras unbewegt, als die Phönixin auch wieder aufstand und zu Santras hinunter trat. Was für eine unfassbare Ehre es sein musste, dass die Göttin für einen Sterblichen den Weg zurück hinab, wieder weiter weg von der Sonne unternahm. Auch das war etwas, das er jetzt erst begriff, Santras aber schon lange wissen musste. Er musste einfach wissen, dass diese paar läppischen Stufen längst nicht alles war, was Kassandra nur für ihn auf sich genommen hatte. Dass dahinter so viel mehr steckte.
      So wie sie auch für Zoras weitaus mehr getan hatte, als ihn lediglich mit ihrer Anwesenheit zu ehren.
      Er versuchte, nicht allzu sehr in diesen Gedanken zu verschwinden, zu groß war die Faszination über diesen Ort und die Neugier über das Gespräch. Dafür durfte er nun in größerer Detailliertheit erfahren, wie es sich tatsächlich zugetragen hatte, dass Shukran gestorben und Kassandra in die Sklaverei eingekehrt war. Selbstverständlich war das Geschehen weitaus schlimmer gewesen als die bloße Nacherzählung. Was Kassandra aber auch verschwieg, waren ihre eigenen Gedanken dabei. Shukran musste Angst gehabt haben, als er in den letzten Momenten seines Sterbens allein dem Tod ins Auge hatte sehen müssen, aber was war mit Kassandra? Was war in dem Moment, als sie aus dem Himmel gefallen war? Sie musste gewusst haben, was es bedeutete, plötzlich nicht mehr fliegen zu können, aber wie war es für sie? Hatte sie geahnt, dass sie mehrere hunderttausend Jahre in diesem Zustand verbringen würde? Hatte sie Angst gehabt?
      Kassandra war jetzt Santras noch näher, nah genug, dass er sie hätte berühren können. Noch immer war der Mann völlig von ihr in Bann gezogen und noch immer rührte Zoras sich nicht, um den Moment nicht zu zerstören. In einer fast vertrauten Geste kniete Kassandra sich jetzt zu dem Mann hinab und legte die Hände an sein Gesicht. Ihr feuernder Blick war unlängst weicher geworden, greifbarer sogar, wenngleich er immernoch mit ihrer Göttlichkeit glühte. Die Sonne traf sie auch dort unten noch, aber längst nicht mehr so vollkommen wie weiter oben. Dort unten, bei Santras, war die Göttin den Sterblichen näher als ihrem eigenen Ursprung.
      Keiner der beiden Männer wusste wohl so recht, was Kassandra meinte, geschweige denn was sie im Begriff war zu tun, aber so, wie es aussah, war es nichts angenehmes. Eigentlich hatte es sogar deutlich den Anschein, als wäre sie im Begriff, Santras am lebendigen Leib zu verbrennen, so wie die Flammen plötzlich auf sein Gesicht übergriffen und sich dort durch seine Haut fraßen. Der Mann stöhnte sogar, auch wenn man von einem Brandopfer wohl eine andere Lautstärke erwartet hätte. Angespannt beobachtete Zoras sie weiter, versuchte zu begreifen, was hier vonstatten ging. Kassandra griff auf Santras’ Seele zu, soviel glaubte er zu verstehen. Sie veränderte sie.
      Dann, mit einem Kuss, der bereits am gestrigen Abend hätte fällig sein sollen, ging eine Druckwelle von den beiden aus, die bis in Zoras’ Knochenmark vibrierte. Erstaunlicherweise blieb seine Kleidung unberührt, aber in seinem Inneren, besonders in seinem Kopf, konnte er spüren, was um sie herum auch die Illusion zum Zittern brachte. Kassandra hatte Santras erlöst, was auch immer das heißen mochte. Zoras wusste in dem Augenblick nur, dass es so war.
      Der Moment war in kürzester Zeit vorüber, auch wenn er sich sicher war, dass es für Santras viel länger gewirkt haben musste. Die Phönixin entfernte sich und nur in ihren Augen stand geschrieben, was sie dieser Aufwand selbst gekostet hatte.
      Ihrer beider Blicke trafen sich und wenngleich Zoras sich noch immer nicht von der Stelle bewegte, einer Statue gleich, fing er doch ihren Blick auf und gab ihn ungetrübt zurück. Er ließ die Phönixin wissen, dass er hier war und hier bleiben würde. Das hier war keine Situation wie noch am Abend zuvor, als er sich nicht sicher gewesen war, ob er nicht vielleicht störte. Dieses Mal hatte er seinen rechtmäßigen Platz, wenngleich er jetzt auch nur in den Schatten, im Hintergrund sein mochte.
      Daraufhin begann die Luft wieder zu flirren und der Raum löste sich um ein neues auf. Gleichzeitig strauchelte Kassandra und fiel, nur um von Santras gleich aufgefangen zu werden. Ein Stich der Besorgnis durchfuhr Zoras, der die Phönixin erschlaffen sehen konnte, aber er kämpfte die aufkommende Sorge zurück. Sie hätte ihn eingeweiht, wenn sie Hilfe benötigt hätte. Sie würde es ihm vermitteln, wenn sie ihn brauchte. Er tippte viel eher darauf, dass es auch für Kassandra nicht leicht sein musste, ein Erlebnis von vor einer halben Million Jahren aufzubereiten. Die Tränen in ihrem feurigen Blick waren genug Anzeichen dafür gewesen.
      Santras’ Anwesen tauchte nach und nach um sie herum wieder auf und damit auch die Kühle von Kuluar, die Einzug fand. Santras kniete jetzt neben der Wand, die Phönixin in seinen Armen, den Oberkörper über sie gekrümmt. Er wiegte sie sanft, während er selbst wohl am Rande eines Zusammenbruchs stehen mochte. Zoras konnte nicht wirklich nachempfinden, was ihm jetzt durch den Kopf ging, aber er konnte sehen, dass auch dem Mann die Tränen hinab flossen.
      Er bewegte sich leicht, da schien auch der andere sich an seine Anwesenheit zu erinnern und sah zu ihm hinüber. Langsam kam Zoras auf ihn zu, die grobschlächtigen Stiefel viel zu laut, selbst auf dem Teppich, nach der atmosphärischen Stille des Altars. Bedächtig kam er, genauso stumm, wie auch der andere ihn anstarrte, und ging schließlich vor Santras und Kassandra in die Hocke. Er sah den Mann an, bis er sich hingehockt hatte und dann erst auf Kassandra hinabsah. Vielleicht wäre jetzt der Moment gekommen, um die Phönixin zurück an sich zu nehmen, sie aus den Armen des Fremden zu befreien, aber Zoras unternahm nichts dergleichen. Er ließ sie im Schoß des Erben ihres Geliebten, streckte aber die Hand nach ihr aus und strich ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht. Kassandra schmiegte sich fast an Santras Brust, auch das war etwas, das ihn unerwartet unbetroffen ließ. Er hatte in den letzten Minuten einiges verstanden, was ihn an manch anderen Dingen loslassen ließen.
      Okay?”, fragte er leise, eine Frage, die gleich alle Fragen beinhaltete. Hatte sie geschafft, was sie tun wollte? War es ihr gelungen, abzuschließen? Ging es ihr damit gut? War es okay?
      Dann sah er auch wieder zu Santras hoch und in Anbetracht ihrer merkwürdigen Verbindung, die sie jetzt durch dieses einschneidende Erlebnis hatten, fragte er auch ihn:
      Okay?
      Wenngleich diese letzte Frage zum größten Teil mitfühlender Natur war.
    • Santras hatte nur einen Augenblick lang Augen für Zoras. Dann lag sie wieder einzig und allein auf der Frau in seinen Armen, deren Kopf er an seine Brust gelegt hatte und die völlig regungslos da lag. Wüsste er nicht, dass sie eine Gottheit war, etwas Übermenschliches, dann hätte ihm Sorge bereitet, wie sich ihre Brust nicht hob und senkte, wie kein Atem aus ihrer Nase drang. Aber so war er völlig befreit von jener Sorge und konnte die Kälte, die sich als eine ganz spezielle Form der Einsamkeit manifestierte, nicht mehr ignorieren. Kassandra hatte das unsichtbare Band, das sie beide über die Leben hinweg verbunden hatte, durchtrennt. Mit nur einem einzigen Schlag war der Drang, die Sehnsucht, die Not, sie zu finden, wie weggeblasen und machte Platz für etwas Neues. Seine Seele war frei von etwas, was er gar nicht gewusst hatte.
      Die Schritte, mit denen Zoras auf Santras und Kassandra zukam, waren regelrecht ohrenbetäubend. Als er sich vor den beiden hinhockte, drückte Santras die Phönixin schützend enger an sich. Zertrenntes Band hin oder her – er konnte nicht leugnen, was sie in der kurzen Zeit, die sie in seinem Leben nun war, mit ihm angestellt hatte. Er kannte sie nicht, bei Weitem nicht so gut wie Zoras es tat, aber die Faszination, diese gewisse Hingabe, war gegeben. Wenn er gekonnt hätte, würde er sie bei sich behalten, einfach nur, um noch mehr Zeit mit diesem Wesen zu verbringen, das nicht von dieser Erde stammte. Dass er dabei genau die gleichen Grundgedanken wie einst Shukran hegte, ahnte er nicht.
      Santras versteifte sich, kaum hatte Zoras seine Hand nach Kassandra ausgestreckt. In dem Wissen, dass es nicht sein Recht war, ihn davon abzuhalten, ließ er den Mann gewähren und sah dabei zu, wie er ihr verirrte Strähnen aus dem weichen Gesicht strich. Die Zärtlichkeit, mit der er es tat, ließ den Stadtherren einen stockenden Atemzug nehmen. Bis zu diesem Moment hatte er nie ein Problem darin gesehen, wenn sie an der Seite eines Anderen gegangen war, doch jetzt schien es so, als sei es anders. Er wollte nicht, dass jemand anderes sie berührte. Es wurde ein einziges Wort in einer Sprache gesprochen, das nicht Santras galt, jedoch verblieb Kassandra völlig regungslos. Erst danach richtete Zoras das Wort an ihn und der Stattherr musste sich räuspern, um seine Stimme wiederzufinden.
      „Ja“, antwortete er mit kratziger Stimme, „sie hat… mich verlassen. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll.“
      Für ihn war dieses urvertraute Gefühl, die Phönixin zu kennen, kaum noch vorhanden. Anhand dessen, was geschehen war, würde er nicht vergessen können, wer sie war. Dass sie Nüsse so sehr liebte, dass sie das Wiegenlied einer unbekannten Person kannte, was er fehlerfrei hatte mitsingen können. Wie sie in der Sonne völlig neu aufging und dass das Feuer in ihren Augen einen Funken in ihm erweckte, der so kraftvoll war, dass er selbst Mauern einreißen können würde. Mehr Worte fand er nicht, sie saßen noch ein paar Minuten einfach so da. Irgendwann, als Kassandra noch immer nicht erwachte, rappelte er sich auf und hob sie auf seine Arme, nicht gewillt, sie an Zoras abzugeben. Solange wie er sie haben konnte, würde er sie auch nehmen. So ging das Dreiergespann in eines der Gästezimmer, dessen Einrichtung dem Stil in der Eingangshalle folgte. Kassandra ging in dem ausladenden Bett beinahe unter. Seufzend ließ sich Santras in einem der Sessel nieder, die in der Ecke des Raumes aufgestellt worden waren. Zoras wählte den zweiten, und als sich Santras sicher war, dass auch die dunklen Tränenspuren in seinem Gesicht verschwunden waren, fühlte er sich weniger fremd sich selbst gegenüber wie noch Minuten zuvor.
      „In keiner Sekunde, in der ich sie mit Euch habe gehen sehen, war sie so wie damals. Sie ist verändert, absolut logisch, wenn unsere Erinnerungen so unendlich lange zurückliegen. Aber ich verstehe nicht ganz, wieso sie noch hier ist. Ich nehme an, Ihr habt ihr ihre Essenz zurückgegeben, oder? Soweit ich das einschätzen kann, sind Menschen ein furchtbares Volk, das sie nicht daran hindern sollte, wieder in den Himmel zu steigen. Wie habt ihr euch denn gefunden?“
    • Selbst mit seiner zaghaften Berührung, regte Kassandra sich noch immer nicht. Ihre Augen blieben geschlossen, ihr Körper erschlafft in den Armen des Stadtherren, der keinerlei Anstalten machte, sie in irgendeiner Weise loszulassen. Zoras runzelte die Stirn, denn wenngleich er wusste, dass schon alles in Ordnung sei und er sich keine Sorgen um eine Göttin machen sollte, konnte er die Besorgnis wegen Kassandras Reglosigkeit nicht ganz unterdrücken. Am liebsten hätte er auch gleich noch ihre Stirn befühlt, aber nachdem Santras so gewirkt hatte, als wolle er ihm gleich die Hand abbeißen, als er sie auch nur zu ihr ausgestreckt hatte, ließ er es bleiben. Er begutachtete ihr bleiches Gesicht jedoch eindringlich, bevor er sich an den anderen Mann wandte.
      Die Tränen schienen für den Moment versiegt, aber es war deutlich, dass Santras sich noch nicht von diesem Moment erholt hatte. Das wäre auch verwunderlich gewesen; selbst, wenn Zoras noch nicht ganz begreifen konnte, was dort wirklich vor sich gegangen war, wusste er doch, dass es einen grundlegenden Eingriff in Santras' Leben bedeutet hatte. Der Mann, den Zoras am gestrigen Tag noch kennengelernt hatte, gab es nicht mehr. Er war augenscheinlich mit dem Schnippen zweier Finger einfach verschwunden.
      "Es wird für das beste gewesen sein. Kassandra wird es wissen."
      Ob Santras ihm das glaubte, ließ er sich nicht anmerken.
      Sie saßen noch einen weiteren Moment stillschweigend beieinander, in der Erwartung, dass die Phönixin sich wieder erholen könnte, aber als nichts dergleichen geschah, stemmte Santras sich schließlich hoch. Zoras wäre ihm ja zur Hilfe gekommen, um ihm die Last abzunehmen, aber die ruckartigen Bewegungen des Mannes machten recht deutlich, dass er für eine Trennung noch nicht bereit war. Da musste der Söldner sich damit begnügen, daneben herzulaufen, während der Stadtherr Kassandra in eines seiner Gästezimmer brachte und sie fast liebevoll auf dem Bett platzierte. Immerhin bestand er nicht darauf, direkt bei ihr zu bleiben, sondern ging dann zu einem nahen Sessel hinüber, in den er sich sinken ließ. Wortlos tat Zoras es ihm nach, nachdem auch er nicht wie ein Wachhund bei Kassandra sitzen wollte.
      "Versteht Ihr nicht, weshalb sie nicht längst in den Olymp zurückgekehrt ist? Oder weshalb sie noch immer an meiner Seite ist? Das sind nämlich zwei sehr unterschiedliche Gründe, von denen Kassandra Euch den einen selbst mitteilen sollte."
      Er betrachtete die Phönixin in dem viel zu großen Bett. Es lud ihn fast dazu ein, sich zu ihr zu legen und sie in seine schützenden Arme zu nehmen, aber er blieb unbewegt bei Santras sitzen.
      "Der andere Grund ist der, dass uns der Schwur zusammenbindet. Ich halte sie aber nicht davon ab, sich in die Lüfte zu schwingen und fortzufliegen. Kassandra setzt sich höchst freiwillig auf ein Pferd und reitet neben mir her. Sie wird bei mir bleiben, bis ich meine Aufgabe erfüllt habe oder bis ich sterben werde, was auch immer zuerst kommen wird."
      Sein Blick glitt zu Santras hinüber, dann wieder weg.
      "Ich möchte glauben, dass die Moiren uns zusammengeführt haben. Die Wahrheit ist nicht ganz so gut verträglich, aber ich will sie Euch dennoch erzählen. Wir haben einen Sohn gezeugt... unter besonderen Umständen. Er hat mich gefunden und mir gesagt, wo Kassandra sich aufhält. Wir sind zusammen zu ihr gereist, aber er hat es nicht geschafft. Er ist gestorben, bevor wir zusammengefunden haben."
      Zoras war frei von jeglichen Gefühlsregungen, die mit der Erinnerung einhergingen. Das war nichts, was er mit dem Stadtherren geteilt hätte, geschweige denn mit irgendjemand anderem; ein Kindesverlust war wohl dramatisch genug, um ihn nicht weiter ausschmücken zu müssen.
      "Sie hätte alleine nicht von dem Ort ausbrechen können, an dem sie sich aufgehalten hat. Das ist in den letzten hunderttausend Jahren sicher öfter passiert, als Ihr oder Ich es sich ausmalen kann. Alleine deswegen sollte es uns nicht wundern, dass sie anders ist als damals. Aber trotzdem ist sie noch immer stark. Ungebrochen. Sie ist am längsten von ihnen hier und hält noch immer durch."
      Er sah zu Santras.
      "Das sollte sich auch nicht ändern. Niemals."
    • „Ich kann sehr gut nachvollziehen, warum sie Eure Seite nicht verlassen hat.“
      In den Worten des Stadtherren war eine Mischung aus Melancholie und Neid zu hören. Er selbst war zwar nie in der Situation gewesen, von einer Göttin geliebt worden zu sein, aber seine Erinnerungen von Shukran hatten ihm gezeigt, wie es sein konnte. Wie es sich anfühlte, wenn ein Gott aus den Himmeln herabstieg und sich wissentlich an die Seite eines Menschen begab. Wenn sie nun Zoras dazu auserkoren hatte, dann würde es sehr gute Gründe geben. Denn Phönixe sahen die wahre Natur der Menschen besser als die meisten anderen Gottheiten.
      „Sie war schon damals jener Charakter, der alles bis zum Schluss miterleben wollte“, sagte er leise und nachdenklich. Die Worte, die sie an ihn gerichtet hatte während der Illusion, waren dafür eindeutig genug gewesen. Sie war damals nicht darüber hinweggekommen, dass sie seinen – Shukrans – Tod nicht mitansehen konnte. Selbstverständlich würde sie es bei Zoras genauso tun wollen, wenn sie ihn an ihrer Seite gestellt hatte. Jedoch wusste Santras, dass es nicht nur allein der Schwur war, der sie an ihn band. Schwur hin oder her; Kassandra konnte selbst im Götterhimmel sein und noch immer mit ihm verbunden sein. Örtlich waren sie nicht zusammen gezwungen.
      Beinahe versonnen betrachtete Santras Kassandras entspannte Gesichtszüge. Wie gern wäre er an Zoras‘ Stelle. Wie gern wäre er schneller da gewesen und hätte sie an sich gebunden. Er war sich sicher, dass er es spielend leicht geschafft hätte, ihr Herz zu gewinnen, ob nun wiedergeborener Shukran oder nicht. Alles, was in seinem Wesen lag, hätte er für diese Göttin gegeben. Und als er zu Zoras hinübersah, wusste er, dass es diesem Mann nicht anders erging. Allerdings wurde das dunkelhäutige Gesicht leicht starr, als Zoras von einem Kind sprach.
      Zu keiner einzigen Sekunde stand dies zwischen Shukran und Kassandra im Raum. Bei dem Gedanken daran wand sich etwas tief in Santras. Das war nicht richtig. Kassandra hätte niemals eine Kreatur gebären dürfen, die nicht rein göttlicher Natur entsprang. Das hatte sie niemals gewollt, wieso war es dann zwischen ihnen…
      „Besondere Umstände?“, raunte er und seine Finger zuckten auf den Armlehnen des Sessels, wo er seine Arme abgelegt hatte. „Was für besondere Umstände sollen das gewesen sein? Ich weiß nicht, wie sehr sie sich über die Jahre verändert hat, aber es stand nie in ihrem Sinne, ein Mischwesen zu erzeugen. So sehr war sie nie den Sterblichen angegliedert, auch nicht während ihrer Zeit mit Shukran. Selbst als Halbgott sind sie uns überlegen, wie kann denn dann ein Kind einfach sterben?“
      Santras kannte die Geschichte nicht. Er kannte auch nicht die Beziehungen, die in dieser Dynamik herrschte oder was Telandir damit zu tun gehabt hatte. Er wusste nicht um Lokis Machenschaften, sondern stützte sich auf die Erinnerungen eines Toten. „Es tut mir leid, dass Ihr Euren Sohn verloren habt, aber was im Himmel ist bitte geschehen, damit Kassandra einen Sohn gebärt, ihn aussendet und er schließlich unter Euren Augen sein Leben lässt?“
      Sein Blick ruhte auf Zoras‘ Gesicht. Dieser Mann zeigte gerade erstaunlich wenig an Emotion in seinen Zügen, was er entweder gelernt haben musste oder es ging ihm einfach nicht so nah. Letzteres konnte es nicht sein, denn dann wäre er nicht von Kassandra auserwählt worden. Also lag der Zwischenfall wohl noch nicht sonderlich lange zurück, sodass er noch immer nicht hatte abschließen können. Nachdenklich rutschte Santras‘ Blick ab bis er kurz die Hand des Therissers streifte, die ebenfalls auf einer Lehne lag. Er hatte ein Zeichen auf dem Handrücken gehabt, das hatte er genau im Gasthaus gesehen. Wenn es von seinem Sohn stammte und dieser tot war, dann…
      Seine hellgrauen Augen zuckten wieder hoch. „Er hat sich geopfert“, flüsterte Santras, nun mit echtem Schock in der Stimme. „Er hat Euch etwas geschenkt bevor er ging, richtig? Das ist…“ Er fuhr sich mit einer Hand über seinen Mund und sah zurück zu Kassandra. „Wie hat sie… wie hat Kassandra das aufgefasst?
    • Zoras sah Santras ganz offen ins Gesicht, aber das half ihm auch nicht mehr, um aus dem Mann schlau zu werden. Selbst nachdem er ihn einen Tag lang kannte, konnte er schon den Unterschied erkennen, den sein früheres Ich zu dem heutigen ausmachte, aber das sagte ihm nur etwas darüber, wie Santras zu Kassandra stand - nicht, was er von Zoras halten mochte. Zoras hatte es soeben weggesteckt, dass der Mann Kassandra getragen hatte und sich so offen um sie sorgte, aber galt das auch andersrum? Könnte der Mann irgendwann zu dem Entschluss kommen, dass nicht Zoras derjenige sein sollte, dem Kassandra ihre Hand reichte?
      Das war es, was Zoras zu ergründen versuchte, während der andere sich ganz offensichtlich von dem wohl prägnantesten Teil seiner kleinen Erzählung überraschen ließ. Seine Finger zuckten und der Söldner fragte sich, wohin diese Bewegung wohl hätte führen sollen, hinauf in sein Haar? In sein Gesicht? Hinab zu seinem Gürtel? Obwohl er ja gar keinen trug. Ein reiner Reflexgedanke, den Zoras wieder wegwerfen konnte.
      Dafür blieb seine Miene neutral, während er sich dem Blick des anderen stellte. Hätte irgendjemand anderes diese Fragen gestellt, hätte derjenige seine Antworten in Zoras' Schweigen erhalten, das er in den letzten Jahren mit all seinen Bekannten geteilt hatte. Der einzige Grund, weshalb Santras keine solche Antwort erhielt, war der, dass Zoras sich durchaus bewusst war, einen Stadtherrn nicht einfach anschweigen zu können. Erst recht nicht, wenn das ihre Beziehung schaden würde.
      "Bei allem Respekt, ich wüsste nicht, welche Information Ihr aus meiner Erzählung zu erhalten erhofft. Unser Sohn ist in einer Tragödie gestorben, die man hätte abwenden können. Das ist alles, was Ihr darüber wissen müsst."
      Eine Sache ließ Zoras aber nicht gleichgültig bleiben; er kniff die Augen ein wenig zusammen, sein Blick, mit dem er Santras betrachtete, wurde schärfer.
      "Um nur eine Sache klarzustellen: Ich habe nicht tatenlos dabei zugesehen, während er "unter meinen Augen" sein Leben lässt. Ich finde diese Formulierung geschmacklos. Es wäre doch schlimmer gewesen, wenn ich nicht dabei gewesen wäre, meint Ihr nicht?"
      Er sah wieder weg, bevor er noch eine weitere Reaktion auf dem Gesicht des Mannes gesehen hätte. Es war gut gewesen, dass er sich von der Geschichte distanziert hatte, es war aber nicht gut, dass er sich schließlich doch auf einen Teil eingelassen hatte. Er wollte nicht mit Santras darüber reden. Er wollte eigentlich mit niemandem über eine Sache reden, die ihn und Kassandra alleine etwas betraf.
      Ein kurzer Moment der Ruhe war ihm vergönnt, dann machte der Stadtherr eine scharfsinnige Beobachtung, die Zoras viel zu scharfsinnig war. Er mochte das nicht. Er wollte sich nicht so fühlen, als könne der Mann seine Narben öffnen und einfach sehen, was darunter lag, ohne ihn vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Zoras wollte diese Verbundenheit nicht mit ihm.
      "Hat er", erwiderte er daher kühl, ohne den Blickkontakt noch einmal aufzubauen. Stattdessen betrachtete er Kassandras Gestalt im Bett. "Wenn Ihr es wissen wollt, wenn Ihr es wirklich wissen wollt, dann soll sie es Euch selbst sagen. Ich für meinen Teil denke, dass sie um ihren einzigen Sohn getrauert hat, wie eine Mutter nur trauern kann. Auf ihre Weise."
      Er stand auf. Dieses Gespräch war für ihn vorbei, nicht zuletzt, weil er keine weiteren Fragen mehr zulassen wollte. Er unterhielt sich mit Santras, er diskutierte über seine Ziele, über die Zukunft des Landes, über Pespetaria und selbst über Kassandra, er beantwortete ihm, was auch immer er wissen wollte, aber er würde diesem Mann nichts davon erzählen, dass auch Zoras um seinen Sohn getrauert hatte, wie ein Vater nur trauern konnte, dem von den Göttern nur dieses einzige Kind geschenkt worden war. Er würde von Zoras nicht erfahren, dass er seinen Sohn in eine Waffe hatte umtauschen müssen, weil er ein Halbgott gewesen war. Er würde nicht von ihm erfahren, dass sein Sohn auf seinem Handrücken prangte.
      Er ging zum Bett hinüber, zur noch immer besinnungslosen Kassandra und setzte sich dort auf den Bettrand. Er beugte sich leicht über sie, berührte ihre Stirn und strich über ihre Wange. Santras strafte er für seine zu persönlichen Fragen mit Schweigen.
    • Sein Sohn war bei einer Tragödie gestorben, die man hätte abwenden können. Wir schrecklich musste es gewesen sein, sich dieser Gewissheit zu stellen und es womöglich erst im Anschluss als genau das, nämlich vermeidbar, zu akzeptieren? Hatte Zoras es überhaupt akzeptiert oder war es nur eine Rechtfertigung? Wie stand Kassandra dem gegenüber? Was fühlte ein Wesen über den Verlust ihres eigenen Fleisches und Blutes? Es gab nichts, was Santras darauf hätte sagen können, das auch nur in der entferntesten Art und Weise zu dem Gespräch beigetragen hätte. Also schwieg er, fragte nicht weiter nach, sondern hielt sich viel eher daran auf, wie sich die Schärfe in Zoras‘ Augen zurückkämpfte. Daraufhin konnte Santras endlich nicken.
      „Für tatenlos habe ich Euch nicht eingeschätzt. Verzeiht meine Wortwahl, ich war lediglich überrascht über den Umstand, dass Kassandra Nachkommen hat. Bisweilen halte ich Euch nicht für jemanden, der passiv mitansieht, wie sein eigen Fleisch und Blut stirbt. So, wie Ihr für Kassandra einsteht, werdet Ihr es mit Sicherheit auch für Euren Sohn getan haben.“ Sein Blick ging weg von Zoras, als auch dieser den Blickkontakt brach, und hin zu Kassandra. „Ob es schlimmer ist, wenn man nicht dabei gewesen wäre… Das wäre wohl eine Frage, auf die Kassandra uns eine Antwort geben müsste.“
      Hatte jemals genug Zeit stattgefunden, damit diese Göttin den Verlust von Etwas verschmerzen konnte, was ihr zunächst fremd und dann unendlich geliebt gewesen war? Hatte sie gespürt, wie ihr Sohn seinen letzten Atemzug getan hatte oder war es ohne ihr Wissen vonstattengegangen? Fühlte es sich so an, als verlöre sie einen Teil ihrer Selbst in dem Prozess? Fragen über Fragen rauschten über Santras hinweg, der ohnehin mehr Fragen als Antworten zu sammeln schien. Unterdessen war seine Aufmerksamkeit zurück zu dem potenziellen Eviad gewandert, der sichtlich an Anspannung gewonnen hatte. Die Art, wie sich seine Schulterpartie versteifte und die kleinen Fältchen um seine Augen sich verdichteten, zeugte von herbem Missfallen. Zoras mied weiteren Blickkontakt, wich gezielt den viel zu scharfen, greifvogelartigen Augen seines Gastgebers aus. Die Bestätigung, die er kurz daraufhin aussprach, war so kalt und glatt wie eine Eisscholle. Stattdessen hielt er seinen Blick eisern auf das gerichtet, was das Leben dieses Mannes wohl am meisten füllte.
      Für eine Antwort bereit holte Santras gerade Luft, da war Zoras bereits aus seinem Sessel aufgestanden und hatte das Gespräch in diesem Thema beendet. Die Luft in seinem Brustkorb wurde modrig und er stieß sie durch seine Nase wieder aus. Ja, es ging seinem Gast offensichtlich mehr als nur nahe, sein Kind verloren zu haben. Die Umstände müssen furchtbaren Ausmaßes gewesen sein, dass selbst Kassandra davon gezeichnet worden war. Wie waren sie getrennt worden, wenn doch ein Kind unterwegs war? Wieso hatte sie sich entschlossen, gerade diesem Mann ein Kind zu gebären?
      Warum nicht Shukran?
      Noch während Santras in Gedanken versunken an der Sessellehne herum fingerte und nicht wirklich sehen wollte, wie Zoras Zärtlichkeiten an den Tag legte, schien Kassandra wieder zu erwachen. Kaum hatte Zoras ihre Stirn berührt und war zu ihrer Wange übergegangen, flogen urplötzlich ihre Lider auf. So, als hätte sie sie nur kurz absichtlich geschlossen gehabt. Ihre dunklen Augen richteten sich auf den Mann an ihrer Bettkante. Sie blinzelte. Einmal, zweimal. Dann richtete sie sich ohne Stocken oder ein Geräusch auf und musterte zuerst Zoras, dann sah sie zu Santras herüber, der sichtlich gerade saß, sobald er ihren Blick auf sich spürte. Eine unendlich lange Zeit betrachteten sich die Beiden einfach nur schweigend, dann wurde Kassandras forschender Gesichtsausdruck weich.
      „Wie ich sehe, hast du es besser weggesteckt als ich.“
      Santras‘ Gesicht verdunkelte sich kurz bevor er sich wieder deutlich erhellte. „Ich habe auch keine übermenschliche Magie wirken müssen, die über den Tod hinaus geht.“
      Kassandras Mundwinkel zuckten. „Du hast auch nicht die Seele eines Sterblichen an deine verflucht, auf dass sie sich ewig suchen wollen. Sei so gut und erfülle mir den Wunsch, dass du ab jetzt so lebst, wie du es wünschst. Ohne den Druck, nach mir zu suchen.“
      „Dann sei gewiss, dass du bis zu meinem letzten Atemzug jederzeit mit demjenigen aus alten Zeiten verkehren kannst. Es wird vorbei sein, wenn ich in den Zyklus einkehre. Dann wird es wieder so sein, wie es angedacht war.“ Er nickte ihr bedächtig zu.
      Kassandra fühlte sich seltsam ausgelaugt. Sie hatte gedacht, sie würde erleichtert sein oder so unendlich traurig, dass erst Wochen ins Land ziehen müssten, um wieder geerdet zu sein. Stattdessen machte sich ein hohles Gefühl in ihrer Brust breit, wann immer sie Santras betrachtete. Also ließ sie von ihm ab und lächelte Zoras zart, aber warm, an. „Jetzt haben wir Paspatera bekehrt. Ich denke, wir können weiterziehen.“
    • Zoras’ Finger hatten gerade erst Kassandras Wärme erfasst, da sprangen ihre Augen auf, als hätte sie gar nicht erst geschlafen. Überrascht zog er die Hand zurück; sie hatte doch nicht zugehört? Und absichtlich nichts gesagt?
      Ihr Blick richtete sich gezielt auf Zoras, dann richtete sie sich mit einer unmenschlichen Steifheit auf. Allgemein schien ihr ganzer Körper noch nicht begriffen zu haben, dass sie zurück in der sterblichen Welt war und als solche durchgehen sollte, so starr wie er war und so flüssig sie sich trotzdem bewegte. Sie atmete schon wieder nicht. Der Anblick konnte befremdlich sein, selbst dann, wenn man sich schon daran gewöhnt hätte.
      Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf den anderen Mann im Raum, der drauf und dran schien, aufzuspringen und seine frühere Nähe zu der Phönixin wiederherzustellen. Es mochte Zoras sein, der zwischen ihnen beiden saß und dieses Vorhaben quasi vereitelte. Es mochte auch etwas anderes sein.
      Beide verabschiedeten sich auf eine merkwürdige Weise, doch mehr als ein paar Worte schienen nicht vonnöten zu sein. Kassandra sah gleich wieder zu Zoras mit einem Ausdruck, den er viel lieber in ihrem Gesicht ausmachte als die Ausdruckslosigkeit, die sie sonst als ihre Maske trug. Er lächelte ein wenig, ganz klein, während er ihr in einer altbekannten Geste die Hand entgegen hielt. Es blieb bei Kassandra, sie zu nehmen und das tat sie auch. Sie tat es jedes Mal.
      Die Verabschiedung zwischen Zoras und Santras war zwar förmlich, aber doch angenehmer Natur. Zoras fühlte sich dem Mann noch immer auf eine Weise verbunden, die mit keinen Worten zu greifen gewesen wäre, und die jetzt dafür sorgte, dass sein Abschied fast freundlich ausfiel. Es war gut, dass Santras hier war und einen Verbündeten darstellte. Zoras vertraute darauf, dass ihnen das noch in die Hände spielen würde.
      Also kehrten sie Paspatera mit einem Erfolg den Rücken zu und richteten sich weiter landeinwärts. Von nun an würde der Ruf des Eviads ihnen wohl noch deutlicher vorauseilen.

      Nicht überall wurden sie zwar mit derartiger Ablehnung begrüßt wie in Paspatera, aber das hieß noch lange nicht, dass sie dafür willkommen waren. Je näher sie der Hauptstadt kamen, desto größer wurde der Argwohn - aber desto größer wurde auch die Verschleierung dessen. Es gab keine Städte, die so provokant wie Paspatera die Champions ausschlossen, aber dafür gab es umso mehr Orte, an denen die Gasthäuser mit einem Mal plötzlich völlig überbucht waren, wo es mit einem Mal kein Fleisch mehr gab, das sie hätten servieren können, in denen die Schneider plötzlich keine Stoffe mehr hatten. Eine Göttin war in der Stadt? Plötzlich hatte jeder etwas furchtbar wichtiges Zuhause zu tun und die Straßen waren wie leer gefegt. Es gab einen neuen Eviad-Bewerber, das war ja ganz schön, aber mit einer Göttin an seiner Seite? Eigentlich war man ja ganz zufrieden mit der jetzigen Regierung. Ja, eigentlich sehr sogar. Was kümmerte einen wohl ein Eviad, wenn es fünf starke, tolle Champions gab? Wieso etwas ändern, das doch funktionierte? Nein, es bestünde kein Bedarf an einem Eviad. Alles lief gut, so wie es war.
      Zoras unterhielt sich mit Kassandra darüber und sie beide kamen zu dem recht offensichtlichen Entschluss, dass das Einflussgebiet der Champions mittlerweile so stark war, dass sie es hier mit treuen Untergebenen zu tun hatten, die gar nicht daran dachten, den Staat umzuschmeißen. Im besten Fall war die Angst vor eben jenem zu groß, im schlimmsten waren sie der festen Überzeugung, dass die fünf Champions gut waren und gute Arbeit leisteten. Es konnte schließlich nicht jeder weit genug von ihnen weg sein, um seine eigene Meinung durchsetzen zu können.
      Und auch längst nicht alle ließen mit sich reden, wie Santras geredet hatte. Es gab Fragen, ja, es gab auch neugierige Annäherungen an Kassandra, aber der Ausgang der Gespräche hatte oft keinen Einfluss auf die Menschen. Ihre Meinungen saßen fest und die ließen sie sich nicht nehmen. Es mochte das letzte sein, was ihnen im Moment blieb.

      Eine Merkwürdigkeit gab es auch ganz ohne Menschen und Furcht vor dem Rat: Das Wasser hatte irgendwann eine Aura. Zoras mochte seinen Ohren kaum trauen, denn als Kassandra es ihm mitteilte, konnte er diese beiden Sachen kaum miteinander verknüpfen. Wasser sollte eine Aura haben? Das war doch Lebewesen vorbehalten. War Wasser ein Lebewesen? Und wieso plötzlich jetzt und nicht vorher?
      Aber Kassandra beharrte darauf und sie wies ihn auch noch darauf hin, dass es nicht einmal nur in dem Wasser war, das er zu trinken beabsichtigt hatte, es war auch im Met, das andere Leute ebenso trunken, es war im Bach, der durch die Stadt floss, es war im Badewasser, das ihnen aufs Zimmer gebracht wurde. Und nicht nur bei ihnen, es war überall in der Stadt, überall, wo es Wasser gab.
      Die Aura war nicht stark, aber sie war da. Sie war auf kein Gefäß beschränkt und sie vergiftete die Flüssigkeiten auch nicht. Sie war einfach nur da.
      Zoras versuchte daraufhin, etwas anderes als Wasser zu trinken, weil er den Gedanken nicht mochte, dass irgendeine Aura in seinen Körper drang - auch wenn Kassandra ihn deutlich darauf hinwies, dass Auren so nicht funktionierten - aber so einfach war das nicht. Jedes Getränk hatte Wasser zur Basis. Jedes Getränk hatte, sehr schwach, eine Aura.
      Die Aura wurde stärker, je näher sie der Hauptstadt kamen und bestätigte Kassandras Vermutung, dass das der Einfluss eines Champions sein musste, so wie auch Morpheus in einem gewissen Radius seinen Einfluss ausgeübt hatte. Zoras bekam davon schlechte Laune, denn er hatte keine Lust, sich von nun an um Wasser sorgen zu müssen. Er konnte ja schlecht darauf verzichten. Und was war die Alternative? Dass sie mit irgendeiner Aura in Berührung kamen?
      Neben ihnen schien es aber keiner zu wissen und interessierte sich auch nicht dafür. Die Aura-Sache war eine reine göttliche Sache.

      Entsprechend angespannt waren die Nerven, als sie eines Tages am Horizont eine Stadt erblickten, die sich so weit erstreckte, als wolle sie den ganzen Horizont ausfüllen. Wo sich die therissische Hauptstadt in die Höhe gestreckt hatte, von steinigen Hügeln und einem hohen Palast, lief die kuluarische Hauptstadt zu allen Seiten hin aus, wie eine Plage, die sich nach und nach fortpflanzte und sich weiter ausbreitete. Es gab hohe Punkte in der Stadt, und das war wohl notwendig, denn sonst, so glaubte Zoras, würde man sich in den Straßen und Gassen noch verlieren. Auch er war zum ersten Mal hier, denn er hatte über die Jahre befürchtet, dass die Miliz ihn fassen und als entlaufenen Sklaven einbuchten würde. Dementsprechend dumm wäre es gewesen, es ihnen auch noch zu erleichtern und ihnen in die Hände zu laufen.
      Auf den ersten Blick konnte er aber schon sagen, dass er die Stadt nicht mochte. Zu wenig Platz, zu viele Menschen, zu wenig Grünfläche. Hoffentlich boten die Ställe den Pferden etwas Abwechslung.
      Lass uns uns erst umsehen, bevor wir irgendetwas tun. Ich will noch einmal durchgehen, wie genau wir es anstellen, bevor wir zum Palast gehen. Das wird die Kuppel dahinten sein, oder?
      Er deutete auf die kreisförmige Erhebung am Horizont, die so aussah, als wäre sie ein Albtraum, um sie überhaupt zu erreichen. Zoras mochte sich noch gar nicht vorstellen, wie die Straßen dahin aussehen mochten.
    • Wie befürchtet war es nur eine Frage der Zeit gewesen. Der Übergang war fließend gewesen, aber jetzt spürten sie doch die Auswirkungen der Hauptstadt während ihrer Reise. Die doch recht einfache Arbeit und Mühe, die es Zoras und Kassandra in den Außenbezirken Kuluars gekostet hatte, sich einen Namen zu machen, wurde immer mehr hinfällig, je näher sie der Hauptstadt kamen. Was zunächst nur mit subtilen Änderungen begann, wurde alsbald zu offensichtlichen Ablehnungen und Versuchen, ihnen das Leben schwerer zu gestalten als notwendig. Während Kassandra keine Vorteile des menschlichen Lebens mehr bedurfte, ärgerte es sie doch umso mehr, dass sie Zoras verweigert wurden. Die Zimmer gestalteten sich als schwierig, sogar das Essen wurde künstlich limitiert, sodass es hin und wieder vorkam, dass sie sich der Natur bedienen mussten. Generell wurden die Aufgaben weniger, ihr Einkommen sank und schlussendlich konnten sie sich auch nicht mehr leisten, wie üblich in den Gasthäusern einzukehren. Ihr Leben und ihre Reise stellten sich abermals auf ein Neues um, und das konnte Kassandra auch nicht besser reden. Ihr war bewusst, dass die Menschen in der Regel den Weg des einfachen Lebens wählten, und das bedeutete, den Kopf einzuziehen und das zu tun, was man ihnen diktierte. Wenn man sich mit seinem kleinen Leben zufriedengab, dann sah man auch nicht das Problem in dem Rat der Champions und Träger, die das Land nach ihren Gunsten regierten. Am Ende hatten Zoras und Kassandra das Umland gewonnen, aber der hart eingesessene Kern blieb standhaft.

      Es war an einem Abend nach einer längeren Reise in einem Gasthaus, wo Kassandra eine interessante Entdeckung machte. Bislang hatten sie nicht in Erfahrung bringen können, welche Champions sie erwarteten, aber sie bekam eine Ahnung, als sie das Wasser begutachtete, das man ihnen an den Tisch gebracht hatte. Eine geraume Zeit über war ihr Empfinden gestört worden, etwas mischte sich in ihr Bewusstsein, träge und langsam und ungefährlich. Beinahe verschwörerisch und beruhigend zugleich. Es dauerte ein wenig ehe sie zielsicher bestimmen konnte, dass sämtliche Flüssigkeiten, die auf Wasser basierten, mit einer Aura versetzt waren. Eine Aura, die sie als Phönix sofort bemerkt hatte, die meisten anderen Lebewesen und auch Götter nicht unbedingt spürten. Zunächst schwieg sie über diese Erkenntnis, doch als sie feststellte, dass wirklich alles diese Aura aufwies, mal mehr, mal weniger stark, teilte sie es Zoras mit. Der selbstredend nicht wirklich erfreut auf diese Tatsache reagierte. Doch Auren waren nicht schädlich – anders wäre es mit Magie gewesen, aber die hätte sie sofort außer Kraft gesetzt und ihn gewarnt. So war es lediglich so, als träte sie mit jemanden ganz entfernt in Kontakt. Wie ein Handgruß durch dichten Nebel hindurch. Jedes Getränk, jeder Bach und manchmal sogar der Tau auf den Gräsern und Blättern am Morgen war damit versetzt. Mit einer Aura, die Kassandra zweifellos der Person zuordnen können würde, sobald sie sie sah. Und da sie sich immer weiter verstärkte, je näher die Hauptstadt heranrückte, umso deutlicher wurde es, dass einer der Champions hierfür verantwortlich war. Das ließ die Auswahl darüber, welches mythisches Wesen es sein konnte, deutlich kleiner werden. Problematisch war hierbei nur, dass der Einfluss so weit reichte. Dieser Champion war mit Sicherheit nicht frei, was bedeutete, dass die Verbindung zwischen ihm und seinem Träger sehr stark sein musste. Stark genug, um mit den anderen Vieren gemeinsam eine Gefahr darstellen zu können. Sofern sie alle wussten, wie man kämpfte.

      Die Hauptstadt war ein Monstrum. Sie war geschwürartig ausgeartet, in allen Himmelsrichtungen, und würde von oben ein schreckliches Bild abgeben. Was in Paspatera wohl geplant war, war hier Chaos gewichen aufgrund der Menschen, die immer weiter zugewandert waren. Es gab keine klaren Grenzen, keine Bauordnung, sodass die Bauten sich kreuz und quer aneinander reihten. Die reine Masse an Seelen und Auren, die hier versammelt waren, hätten Amartius vermutlich innerhalb weniger Sekunden völlig übermannt. Kassandra hingegen war es gewohnt und wäre beinahe nostalgisch geworden bei all dem Brimborium, den die Seelen veranstalteten.
      Hier fiel Kassandra erstmals auf, dass sie Schwächen in ihrer Vorsicht hatte. Sicher, Zoras war weniger leicht angreifbar durch Einflüsse von Göttern, aber das machte ihn nicht weniger verletzlich gegenüber ganz gewöhnlichen Menschen. Er trug zwar ihr Zeichen auf dem Rücken, aber die damit einhergehenden Fähigkeiten hatte sie ihm nur ganz kurz umrissen. Während sie sich der Stadt näherten wurde ihr klar, dass die größte Gefahr darin bestand, wenn sie getrennt werden würden. Bislang hatte sie niemand dazu gezwungen, sich bewusst für eine Weile zu trennen. Aber wenn das in dem Palast der Fall sein würde und er sich allein den Champions gegenüberstehen sehen würde, dann hatte er keine Chance. Er brauchte Mittel, um im Notfall reagieren zu können, die nicht nur auf eine bessere Reaktion und Amartius an seiner Hüfte fußte.
      „Ich stimme zu, wir sollten erst einmal einen Eindruck bekommen, wie die Stadt hier lebt und atmet“, stimmte Kassandra zu und folgte Zoras‘ Fingerzeig zu der Kuppel, die sich am Horizont abzeichnete. „Wir müssen schließlich nichts überstürzen. Außerdem ist mir da noch etwas aufgefallen. Wir sollten uns für den Fall wappnen, dass man uns trennen will. Du musst in der Lage sein, dich zu wehren und Wege zu kennen, um mit mir in Kontakt zu treten, selbst wenn ich physisch nicht da sein sollte. Wir hatten bisher noch keine Gelegenheit, uns mehr über den Schwur und die damit einher gehenden Fähigkeiten zu unterhalten. Vielleicht sollten wir das tun bevor wir den Rat aufsuchen.“
      Ihr Blick glitt abermals zu der Kuppel. Seit sie das erste Mal die Aura im Wasser wahrgenommen hatte, hielt sie sich vollständig bedeckt. Jedes Fitzelchen an Magie und Übermenschlichkeit hatte sie weggeschlossen, sodass sie nur noch wie eine gewöhnliche, wenn auch sehr ansehnliche Frau wirkte. Streckte sie ihre Aura aus und erfühlte, wo sich die Champions aufhielten, funktionierte das auch andersherum. Und noch war Kassandra nicht bereit, ihnen so offenkundig zu zeigen, dass sie bereits in der Hauptstadt angekommen waren.
    • Zweifelnd sah Zoras zu seiner Phönixin hinüber, die scheins unbeeindruckt den Tumor von einer Stadt in Augenschein nahm. Er hatte bisher fest darauf vertraut, dass sie dem Rat nur zu zweit unter die Augen treten würden. Etwas anderes war gar nicht realistisch; sollten sie Zoras für würdig befinden, würden sie wohl versuchen, ihn gleich zu eliminieren, damit sie sich den Machtwechsel nicht antun mussten. Wo wäre es da eine gute Idee, alleine mit ihnen zu sprechen?
      Gleichfalls war es genau deswegen notwendig, sich seiner Fähigkeiten bewusst zu werden. Zoras wusste es und trotzdem missfiel es ihm, von sich alleine auszugehen. Sie waren die ganzen vergangenen Monate beieinander gewesen, waren nicht eine Sekunde getrennt, hatten immer beieinander geschlafen. Er hatte sich schon wieder an Kassandras Anwesenheit gewöhnt, er war nicht bereit, diesen Luxus wieder aufzugeben. Erst recht nicht in Anbetracht eines wirklich kritischen Risikos.
      Missmutig brummte er also, bevor er zustimmte. So sehr er sich auf diese kommenden Tage vorbereitet hatte, so wenig gefiel es ihm jetzt in Anbetracht davon.
      Sie näherten sich mit dem weiteren Pulk an Reisenden den ersten Siedlungen, die so aussahen, als wären sie halbwegs standhaft, wenngleich man auch nicht recht wusste, wo sie anfangen sollten. Viele der reisenden Händler, oder auch Tagelöhnern, blieben bereits vor den ersten Baracken und Zelten stehen, um ihre eigenen, temporären Stände aufzubauen und ihre Waren herumzuschreien. Es war ein reiner unübersichtlicher Haufen von rücksichtslosen, drängenden Leuten, die sich längst nicht mehr an die Begrenzung der Straße hielten, sondern einfach überall waren. Zoras wusste gar nicht, wann sie die Stadt wirklich betreten hatten, er wusste nur, dass sie in eine treibende Menge herein gezogen wurden und von dort selbst weitersehen mussten, wohin sie gehen wollten. Es gab keine Ausschriebe, keine wirklichen Geschäfte, keine richtigen Gebäude. Alles war eng, arm, verwahrlost, brüchig. Die reichsten Leute in dieser Gegend konnten es sich leisten, ihr Zelt auf einem Holzboden aufzuschlagen.
      Ohne Pferde wären sie kaum durchgekommen, aber die Pferde waren auch ein Signal an sämtliche Banden, dass es hier etwas zu holen gäbe. An einer nahen Karawane konnten sie sehen, wie es richtig ging: Insgesamt sechs Reiter begleiteten einen einzigen Wagen, einzig und allein, um ein starkes Bild zu machen und die Leute davon abzuhalten, der Tür zu nahe zu kommen. Kassandra und Zoras hatten sowas nicht. Bettler drängten sich an sie heran, Tagelöhner griffen nach ihren Beinen, Kinder sprangen in ihren Weg. Manch einer versuchte, sich von einem ihrer Pferde absichtlich niedertrampeln zu lassen, um Kompensation zu verlangen oder sie lange genug zum Stehenbleiben zu bewegen. Zu ihrer geringen Erleichterung hielt Kassadra aber gar nichts von dieser Behandlung; Zoras ließ die Zügel locker, aufdass sie nach allem sich bewegenden schnappte, die Ohren fest angelegt. Alle paar Schritte trat sie nach hinten aus und tänzelte wiehernd zur Seite, schien sich aufprotzen zu wollen. Manch einer versuchte, eine solche Bewegung vorherzusehen, um Zoras besonders schnell am Bein zu ziehen, aber der Kavallerist ließ sich von solchen Kindertricks nicht beeindrucken. Zumeist trat er die Leute grob weg und fauchte sie auf therissisch an, was sich abgehackt und scharf für sie anhören musste. Manche ließen sich davon beeindrucken. Längst nicht alle.
      Es war der reinste Höllenritt, bis die Gegend sich nach und nach etwas lichtete und verwahrloste Zelte sich in kleine Hütten verwandelten, die ebenso dicht angebaut waren, Löcher in den Wänden hatten und als Dächer Planen besaßen. Die primitiven Wohnungsvisionen wandelten sich bald darauf in nicht mehr ganz so primitive Holzbauten und schließlich konnte man wohl sagen, dass man endlich einen Vorort der Hauptstadt erreicht hatte. Noch immer war es arm, noch immer war die Luft hier verpestet, noch immer belästigte man zwei einsame Reiter, aber es war erträglicher. Übersichtlicher.
      Und dann endlich kam ein Tor, das die Unterschicht von all jenen abtrennte, die gar keiner Schicht angehörten.
      Hier war mit Abstand am meisten los, hier sammelten sich Obdachlose und Händler und Anwohner, alle, um durch dasselbe Tor zu gelangen. Mehr als 100 Mann standen davor, dahinter und darüber, den Blick beständig auf die Menge gerichtet, dazu trainiert, Abweichungen sofort zu erkennen. Hier wurde keiner einfach so durchgelassen, hier wurde kein Aufstand geduldet, hier gab es keine Revolten. Entweder spuren oder von einem Pfeil getroffen werden. Bei der schieren Anzahl an Menschen fiel vermutlich gar nicht auf, wenn jede Minute einer erschossen wurde.
      Kassandra und Zoras reihten sich für ganze drei Stunden ein, bevor man sie nach ihrem Aufenthalt fragte. Sie sollten Papiere vorweisen, die sie nicht besaßen; Papiere, die entweder ihren Wohnsitz verifizierten oder ein Siegel für ihre Arbeit boten. Sie hatten keins von beidem, aber etwas anderes wurde nicht gestattet. Der Wachmann wollte auch nichts von einem Eviad hören. Er gab ihnen eine einzige Warnung dazu, dass sie abziehen sollten, während auf den Zinnen über dem Tor bereits die Armbrüste gespannt wurden. Sie gaben sich geschlagen und traten den Rückzug an.
      Zum Glück - oder eher ziemlich offensichtlich - waren sie nicht die einzigen, die sich unerlaubten Zutritt verschaffen wollten. Das Angebot für derartige Dienste war weit gefächert, denn dort draußen gab es keine Wachen, die es verhindert hätten. Die Frage war nur, welches sie nutzen konnten, ohne dass ihr Betrug auffallen würde.
      Als sie sich herumgefeilscht, herumdiskutiert und herumgestritten hatten, war die Sonne bereits untergegangen, aber es waren genügend Fackeln vorhanden, um den Vorplatz trotzdem noch taghell erscheinen zu lassen. Aus Ermangelung an genügend Geld, tauschte Zoras Amartius gegen Papiere ein. Es war kein gutes Gefühl und es widerte ihn an, als der Mann die einzigartige Waffe mit leuchtenden Augen ergriff. Aber sie waren schon fünf Stunden alleine bei diesem Tor, sie waren schon mehr als sieben Stunden in diesem Vorort und mehr als 12 Stunden unterwegs. Zoras war so erschöpft, ihm war alles recht. Er hatte die Schnauze voll von Menschen. Er tauschte Amartius ein und beeilte sich dann mit Kassandra, die Kontrolle zu passieren.
      Das Schwert bildete sich zurück in seinem Heft, als sie das Gatter hinter sich ließen. Zoras tätschelte in einer fast beruhigenden Geste den Griff.
      Entschuldige, Junge.
      Nach einem Moment küsste er auch das Mal auf seinem Handrücken.
      Hinter dem Tor gab es endlich Miliz und es gab richtige Häuser, richtige Straßen, richtige Wege, richtiger Menschenfluss. Hier war es noch immer voll und lärmend, selbst mitten in der Nacht, aber das war zu großen Teilen normal. Solche Mengen war Zoras gewohnt, nicht der Pöbel, der vor dem Tor auf sich selbst einschlug.
      Sie kamen in der billigsten, miesesten Absteige unter, die trotzdem noch viel für ihren Geldbeutel war und in der das Chaos weiterging. Ein Straßenjunge versuchte, ihnen Gold zu stehlen, während im Hintergrund eine Messerstecherei losbrach. Kassandra wurde mehrfach angepöbelt und bevor Zoras noch Amartius ziehen musste, retteten sie sich auf ihr Zimmer. Dabei war es kaum verwunderlich, dass das Schloss nicht funktionierte.
      Das Bett war zu klein für beide. Es hätte funktionieren können, aber dann wären sie zu dicht beieinander gelegen und obwohl Zoras es versuchte, verkraftete er es nicht. Er bestand darauf, Kassandra das Bett zu überlassen und die Göttin vernichtete seine Argumente damit, dass sie gar keinen Schlaf brauchte und er derjenige war, der erschöpft war. Tatsächlich war Zoras zu erledigt, um dagegen zu argumentieren. Er gab sich geschlagen und bezog das Bett.
      Die Matratze war dafür verwanzt, die Decke kratzig und das Kopfkissen stank. Zoras schlief, aber alles andere als angenehm.
    • Vor geraumer Zeit hätte Kassandra Orte wie diesen gemieden. Es war viel zu überfüllt, allein die pure Masse an Auren und Seelen war für unvorbereitete Götter wie ein Schlag ins Gesicht. Anhand der Zeit, die sie so lange auf der Erde verbracht hatte und von Hand zu Hand sowie Kontinent zu Kontinent gereicht worden war, weckte dieses Bild in Kassandra nichts anderes mehr als ein müdes Seufzen, dessen sie sich selbst gar nicht mehr wahrlich bewusst war. Sie war abgestumpft ohne es wirklich zu bemerken oder zu beweinen.
      Auf ihren Pferden hatten sie wenigstens den Luxus, über das Meer an Köpfen hinweg sehen zu können, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Dass sie dadurch zeitgleich wie ein Leuchtfeuer für das niedere Gesindel leuchteten, war selbstverständlich. Eigentlich hätte die Phönixin ab diesem Zeitpunkt ihre Tarnung aufgegeben, einfach nur, um das Pack von sich zu weisen. Sie hatten sie nicht anzufassen. Sie hatten sich nicht an sie zu wenden. Nichts, solange sie ihnen nicht den Auftrag dazu gab. Doch wegen ihres größeren Ziels konnte die Phönixin es nicht und musste ertragen, wie jeder andere Mensch behandelt zu werden. Ihre Miene war stoisch, wenn fremde Hände ihre Waden anfassten und manchmal auch darüber hinaus. Hin und wieder war sie geneigt, doch handgreiflich zu werden, aber schweren Herzens zügelte sie das Feuer, das in ihrem Herzen brannte. Ausmerzen hätte man dieses Geschwür an Stadt mit den Menschen, die hier viel zu viele waren. Das Leid, das sich unweigerlich an Orten wie diesen ansammelte, war ein ständiger Begleiter. Der Schmerz, Krankheiten, Hunger und Tod waren der ständige Begleiter, und es kostete sie Mühe, ihren Kern so zu verbarrikadieren, dass all das Leid nicht zu tief ging. Im Gegensatz zu Zoras schwieg Kassandra jedoch. Niemand hier war es wert, ihre Stimme zu hören. Das war das Einzige, was sie sich hier wirklich herausnahm.
      Schließlich änderte sich das Bild insofern, dass die Masse an Leibern sich lichtete. Befestigte Gebäude begannen, sich um die beiden Reiter zu säumen, obzwar der Zustand eben jener nicht unbedingt einladend wirkten. Löcher und Risse, die notdürftig oder gar nicht geflickt worden waren, zierten die Gebäude wie abstrakte Dekorationen. Je weiter sie ritten, umso mehr veränderte sich das Bild abermals und zeigte deutlich, dass die besser betagten Menschen näher am Palast wohnten. Die Löcher und Risse verschwanden, das Pack wurde seltener auf den Straßen gesehen.
      Wie in Paspatera gab es einen Vorplatz mit einer Kontrolle, die ihm Gegensatz zu der Handelsstadt hier wesentlich rigoroser ablief. Mit einem Blick nach oben zu den Zinnen zweier Wachtürme erspähte Kassandra Schützen. Keine Bogenschützen. Armbrustschützen. Mit Bolzen, die aus der Distanz selbst Rüstungen durchschlugen und vermutlich mittels eines Zeichens gelöst werden würden. Auch hier verspürte Kassandra die Aura, die wie ein feiner Nebel um fast alle Menschen hier waberte. Jeder hier war im Einflussbereich des Champions und das sah sie auf einem Blick. Was sie dafür auch ohne einen Blick mitbekam war, wie recht regelmäßig Lebenslichter einfach erloschen. Jedes Mal war es wie ein Stich, den sie in ihrer Seele spürte, wenn ein Leben beendet wurde und das dazugehörige Geräusch der sirrenden Bolzen drangen imaginär an ihr Ohr. Doch Kassandra sagte nichts und zeigte sich unberührt. Das war etwas, womit sie ihre gesamte Zeit hier auf Erden zugebracht hatte. Stattdessen hüllte sie sich weiterhin in Schweigen, mimte die hübsche Begleitung eines ausländischen Soldaten und ließ Zoras das Sprechen übernehmen. Dafür hatte sie ihre übermenschliche Aufmerksamkeit woanders. Wenn sich die Aura des Champions plötzlich verdichtete, wollte sie es früh genug bemerken.
      Als es bereits dunkel geworden war, sah Kassandra immer öfter mit besorgtem Ausdruck im Gesicht zu Zoras. Sie selbst merkte keine Erschöpfung mehr, der Mensch an ihrer Seite hingegen schon. Selbst die Pferde wirkten ermattet, was sie durchaus verstehen konnte, und sie spielte bereits mit dem Gedanken, sich doch mit ihrer bahnbrechenden Überzeugungskraft in ein ordentliches Gasthaus abzusetzen. Dafür mussten sie es erst einmal ansteuern können und Zoras tat das Einzige, was ihm wirklich übriggeblieben war: Er tauschte Amartius gegen die benötigten Papiere, damit sie endlich das Tor passieren konnten. Sie sah, wie es ihm nicht behagte, ihren Sohn abzugeben, doch Kassandra war die Ruhe selbst. Schließlich wusste sie, dass das Schwert auf magische Art und Weise immer wieder zu ihm zurückkehren würde. Und das tat Amartius auch. Noch während er sich materialisierte, schmunzelte Kassandra ein wenig. Fast war es so, als wären sie auf einem Familienausflug. Fast.
      Das Grenztor teilte die Stadt wirklich in weitere Distrikte auf. Hinter dem Tor begann eine gänzlich andere Welt, als sie auf Wachen trafen, das Gesindel kaum noch zu sehen war und die Häuser aus Stein statt brüchigem Holz erbaut worden waren. Der Lärmpegel war einer Stadt dieser Größe entsprechend laut, unabhängig von der Tageszeit. Doch während Kassandra nun wirklich ein ordentliches Gasthaus angesteuert hätte, suchte Zoras das nächste heraus, das immerhin bewohnbar aussah. Im Nachhinein bereute er seine Wahl vermutlich, denn der Dieb, der ihm das wenige Gold hatte stehlen wollen und die Männer, die seiner Phönixin ständig zu nahe rückten, waren mehr als nur ein kleines Ärgernis. Am Ende ergriffen sie die Flucht auf ihr Zimmer, das zu klein und zu schäbig war. Aber immerhin wurden sie hier nicht mehr ständig belästigt.
      Mit einem Fingerschnipp schmolz Kassandra kurzerhand das Schloss in der Tür. Was sich nicht schließen ließ war ohnehin schon defekt. Da war es sicherlich nicht schlecht, wenigstens den Zweck eines Schlosses wieder herzustellen: nämlich etwas zu verschließen.
      Seufzend warf sie Zoras einen Blick über ihre Schulter zu, als er ihr das Bett überlassen wollte. „Du vergisst, dass ich eigentlich weder schlafen, noch essen, noch atmen muss. Du brauchst die Erholung, nicht ich“, hatte sie ihm klar gemacht und machte absolut klar, dass dieser Fakt unumstößlich war. Selbstzufrieden betrachtete sie ihn dabei, wie er sich in das Bett begab und sie Stellung an dem winzigen Fenster bezog, das der einzige Luxus hier war. Als er irgendwann eingeschlafen war erbarmte sie sich und brannte wenigstens die Wanzen weg, die sich in dem Bett heimisch gemacht hatten.
      Am nächsten Morgen, noch bevor Zoras erwachte, war Kassandra aus dem Zimmer verschwunden. Sie war nach unten abgetaucht, vorbei an dem Schankraum hin zur Küche, wo sie sehr kurz und sehr deutlich machte, dass sie ein Tablett mit ordentlicher Mahlzeit verlangte. Es bedurfte ein wenig ihrer göttlichen Überzeugungskraft, ehe die pummelige Frau in der Küche sich anschickte und ein Tablett fertig machte. Im Zimmer zurückgekehrt stellte die Phönixin das Tablett neben dem Bett ab, wo es verlockend vor sich hin dampfte. Sie hatte das volle Programm verlangt; Fleischstreifen, ein Ei, Brot und Gemüse, das sie nicht kannte. Sie nahm am Bettrand Platz und betrachtete Zoras dabei, wie er durch ihr Gewicht langsam dem Reich der Träume entstieg.
      „Ich war so frei und habe dir wenigstens ein ordentliches Frühstück besorgt“, sagte sie leise.
    • Der einzige Lichtpunkt der Nacht bestand in Kassandra, die Zoras am Morgen mit dampfendem Frühstück weckte. Sie sah genauso aus, wie Zoras sie am Abend zuvor gesehen hatte, unverändert über die Nacht, während ihm selbst die Haare zu Berge standen und die Decke seinen Hals aufgescheuert hatte. Es war ein wirklicher Lichtblick, sie so unverändert zu sehen. Zoras stemmte sich hoch und schob den Arm um ihre Hüfte.
      Hmmm. Das muss teuer gewesen sein.
      Er schmunzelte leicht, beugte sich vor und küsste ihre Schulter.
      Ich danke dir trotzdem. Deine Fürsorge zu genießen ist ein wahrer Luxus.
      Danach wandte er sich dem Essen zu, dem nächsten Lichtblick. Vorerst auch der letzte.
      Sie verließen das Gasthaus auf ihrem ursprünglichen Weg der Kuppel entgegen. Noch immer waren die Straßen voll mit Kuluarern, die in alle Richtungen drängten, auf ihren eigenen Wegen durch das Labyrinth dieser Stadt. Könnte man die Kuppel nicht am Horizont in den Himmel ragen sehen, hätte man sich wohl verlaufen können. Dann wäre man irgendwo in diesem Geschwür verschwunden und hätte auch nie wieder herausgefunden.
      Zwei Stunden suchten sie sich also den Weg auf die Kuppel zu, durch ein Viertel, in dem sich gar nichts mehr änderte. Hier war es wie in jeder anderen Stadt, nur auf einer ganz anderen Skala. Die Unterschicht erstreckte sich weit, sehr viel weiter, als manche andere Orte überhaupt gingen. Paspatera hätte hier hineinpassen können und dabei war das nur die eine Seite der Kuppel. Zoras vermutete stark, dass es auf der anderen Seite des Horizonts ähnlich aussah.
      Das nächste Tor versperrte ihnen geradewegs die Sicht auf eben jene Kuppel. Es war nicht ganz so groß wie das erste, aber das hieß noch lange nicht, dass es klein war. Wieder ein Tor mit wieder einer Besatzung und wieder einer Abgrenzung, die die Unterschicht von all jenem teilte, was wohl danach kam. Der Menschenfluss war dafür hier nicht ganz so sehr stagniert und strömte deutlicher. Es war wohl nicht ganz so schwierig, weiter ins Innere vorzudringen, wenn man schon das erste Hindernis überquert hatte.
      Deswegen war es gleichermaßen überraschend und kein bisschen verwunderlich, dass ihre Papiere sie nur in das erste Tor gebracht hatten, aber nicht mehr hinter das zweite. Die Wache war ähnlich mies gelaunt wie auch ihr Kollege am Außentor, als sie die beiden abblitzen ließ. Hier wurde zwar längst nicht so oft auf Gewalt zugegriffen, aber es geschah doch häufig genug, dass die Androhung dessen wohl auch ehrlich gemeint war.
      Zoras wollte sich mit Kassandra gerade beraten, wie sie es von hier an handhaben sollten, als das Geräusch einer knallenden Peitsche ihn zusammenfahren ließ. Der Gedanke, den er bis soeben noch im Kopf gehabt hatte, war mit einem Mal wie weggefegt, als er den Kopf nach dem Geräusch herumriss und Kassadra bereits in die andere Richtung zerrte. Irrsinnigerweise glaubte er mit einem Schlag, man könne vielleicht Kassadra erkennen - schließlich war sie auch nur gestohlen. Ein Gedanke führte zum anderen und Zoras war schneller im Begriff, den Ort zu verlassen, als er über den Sinn dieser Handlung hätte nachdenken können.
      Zum Vorschein kam am anderen Ende der Straße eine wahre Kolonne an Wagen und Reitern. Es mochten insgesamt 10 Wägen mit 50 Pferden sein, die sich ihren Weg zum Tor herauf schlugen, flankiert von einer Eskorte, deren Reiter Peitschen in den Händen trugen und sie methodisch zu Boden knallen ließen. Wer nicht schnell genug zur Seite sprang, musste damit rechnen, einen Hieb an den Kopf zu bekommen. Wer sowieso nicht schnell genug vor den Pferden wegsprang, wurde eben über den Haufen geritten.
      Bei dem rabiaten Fortschreiten war es kaum verwunderlich, dass die Kolonne es viel schneller zum Tor schaffte, als Kassandra und Zoras auf ihren einzelnen Pferden. Auch hier wurde ihnen wieder vorgemacht, wie es wirklich ging - oder eher, wie es für die Oberschicht ging. Bei den prachtvollen Farben, die auf den Wägen glänzten, war es kaum verwunderlich, dass es jemand von Rang sein musste. Irgendjemand in einer höheren Position.
      Zoras war der erste, der ihnen aus dem Weg ging, denn das Knallen der Peitschen hallte in seinem ganzen Geist wieder und versetzte seinen Rücken in einen Phantomschmerz. Seine Handflächen brachen in Schweiß aus und er musste sich mit ganzer Konzentration dagegen halten, nicht zusammenzuzucken. Kassandra sah er nicht in die Augen, sie sollte ihn nicht so sehen. Steif saß er auf seiner Stute und bemühte sich, unbeteiligt zu wirken.
      Die Kolonne kam bei der Wache zum Stehen und der vorderste Reiter ritt heran, um sie auszuweisen. Das ganze dauerte kaum eine halbe Sekunde, dann wurde das Tor schon für die Gesellschaft geöffnet. Mit weiterem Peitschenknallen setzte sich die Mannschaft in Bewegung.
      Während Zoras noch ganz damit beschäftigt war, sein Gesicht nicht in einer Panikattacke zu verlieren, ausgelöst von einem einfachen Geräusch, war Kassandra geistesanwesend genug, um die Gelegenheit zu erkennen. Sie lotste ihn kommentarlos mit sich, nutzte den gewaltigen Auftritt der Kolonne aus und brachte sie im Schatten der Reiter durch das Tor hindurch. Zoras wusste nicht, wie sie es angestellt hatte und er fragte auch nicht danach. Wenn es eine ihrer göttlichen Fähigkeiten gewesen wäre, wäre es ihm auch recht gewesen.
      Hinter dem Tor war die Straße plötzlich besser. Die Häuser waren breiter, die Dächer höher und es gab zum ersten Mal so etwas wie eine richtige Hauptstraße. Richtige Geschäfte mit normalen Waren reihten sich hier und versprachen einen Weg zu einem richtigen Markt. Das hier kam schon viel eher einer gewöhnlichen Stadt in Theriss gleich. Arbeiter und Familien, die hier in bescheidenen Verhältnissen lebten. Nichts großes, nichts besonderes, aber doch zumindest ein sicherer Bereich in der Hauptstadt selbst. Auch hier musste es Kriminelle geben, aber längst nicht mehr so viele Straßendiebe. Dafür gab es zu viele Patrouillen.
      Nachdem sie die Kolonne gesehen hatten, fielen beiden nun die Farben auf, die sich auch an den Uniformen der Wachen wiederfanden: Mal ein rötlicher Akzent, mal eine grüne Schärpe, mal eine blaue Hose. Immer dieselben fünf Farben. Aber ein Muster war nicht zu erkennen, denn obwohl sie hauptsächlich an Uniformen wiederzuerkennen waren, standen blaue Soldaten mit grünen herum, rote unterhielten sich mit gelben und bunte Haufen patrouillierten die Straßen. Wenn es ein Muster gab, dann war es so gut versteckt, dass nicht einmal Kassandra es entschlüsseln konnte.
      Obwohl die Kolonne sie gut auch bis zum Palast hätte bringen können, musste die Phönixin doch begriffen haben, dass Zoras sich nicht wirklich den ganzen Tag hinter knallenden Peitschen stellen konnte, also mussten sie einen anderen Weg einschlagen. Es dauerte länger und führte sie in das labyrinthartige Wirrwarr dieses Straßennetzes, aber dafür stießen sie bald auf eine interessante Entdeckung: Eine Statue. Ein Mann und eine Frau, beide ungefähr gleich groß, beide jeweils eine Hand auf einer Art Zepter. Der Mann war älter, hatte aber die Augen eines Falken; die Frau wirkte wie 16. Ihr Mund umspielte ein Lächeln, das in dem grauen Stein so realistisch war, dass es einen schon fast gruselte.
      Die Statue stand an einem Brunnen, der wohl als Art Altar genutzt wurde. Ringsherum lagen Opfergaben und noch während Kassandra und Zoras dort standen, verbeugten sich Menschen vor der Statue, traten dann ans Wasser heran, sagten irgendetwas und zogen wieder ab.
      Du denkst sicher dasselbe, das ich denke, was das hier ist. Nicht wahr?
    • Kassandra ließ Zoras gewähren und seinen Arm um ihre Hüfte schlingen. Das Schmunzeln, das er ihr zeigte, war eines der wenigen Dinge, die sie am Morgen tatsächlich am liebsten hatte. Den größten Teil des Tages über war es nicht auf seinem Gesicht erschienen, sodass diese Momente in ihrer Wahrnehmung deutlich mehr wert waren, als früher. Der Herzog Zoras hatte öfter gelächelt, öfter gelacht und war freier gewesen. Ob sie jenen Zoras lieber zurückhätte, fragte sich die Phönixin jedoch nie.
      „Ein aufstrebender Eviad sollte bei Kräften sein, oder etwa nicht?“, erwiderte sie und sah ihm dabei zu, wie er das ergaunerte Frühstück verspeiste.
      Ihren Weg setzten sie kurz darauf fort. Während sich Zoras daran orientierte, wo man die Kuppel am Horizont erblicken konnte, streckte Kassandra ihre Fühlerchen aus. Sie suchte nicht plakativ nach einer Götterkraft, sondern einfach nur nach Orten, wo sich die Aura verdichtete. Wo das Licht heller schien und das Leben beinahe kräftezehrend stark war. Dort mussten sich die Champions aufhalten, denn so dicht gedrängt kumulierten sie ihre Macht, was sie deutlich lokalisierbar machte. Träte ein Gott wie Loki auf, ungebunden und ungezügelt, dann könnte er innerhalb weniger Momente fünf Götter auf einen Schlag ausmerzen, die sich auf einem Silbertablett präsentierten. Auch diesen Gedanken arbeitete Kassandra lieber nicht weiter aus. An Loki wollte sie nun auch nicht denken.
      Wie zu erwarten trafen sie auf eine weitere Kontrolle. Abermals wurden Menschen nach ihren Papieren gefragt und davon abgehalten, einfach weiter zu reisen. Hinter diesen Toren mussten jene Menschen leben, die einen höheren Stand genossen. Üblicherweise wäre sie einfach über die Mauern hinweg geflogen, aber das hätte zu viel Aufmerksamkeit generiert. Also mussten sie es erneut auf die klassische Art versuchen, wobei Kassandra ernsthaft infrage stellte, wie sie nun weiterkommen sollten. Die Papiere reichten nun nicht mehr aus. Während sie also darüber nachdachte und dabei mit einer dunklen Haarsträhne spielte, fiel ihr der sich nähernde Konvoi zunächst nicht auf. Erst als es knallte, und Kassandra kannte sowohl das Geräusch als auch das Gefühl sehr gut, drehte sie den Kopf zur Quelle des Geräusches. Es war jedoch der feste Griff an ihrem Arm, der sie wieder herumwirbeln ließ. Regelrecht anklagend sah sie Zoras an. Einen Moment später verlor sich der Ausdruck in ihrem Gesicht und wich Erstaunen. Von jetzt auf gleich war das genervte Gesicht ihres Schwurpartners einer Grimasse gewichen, die sie stark an ihr erstes Aufeinandertreffen an der Eisfeste erinnerte. An die Momente, wo er ihre Berührung nicht ertragen hatte. Seine Hand an ihrem Arm wurde feucht, das sah sie deutlich und auch der Schmerz, der ihn wahnsinnigerweise durchzuckte, hallte in ihrem Geist wider.
      „Zoras…“, murmelte sie warnend, was in dem knallenden Geräusch vermutlich unterging, doch er sah sie nicht an. Stattdessen wurde er stocksteif wie eine Säule und machte keine Anstalten, ihren Arm loszulassen.
      Die Kolonne war an ihnen vorbeigezogen, als ihr auffiel, dass Zoras und sie die einzigen berittenen Einheiten neben der Kolonne waren. Das letzte Pferd war gerade an ihnen vorbeigezogen, da trieb sie ihr eigenes Tier an und zog Zoras einfach mit sich. Sie mussten sich der Gruppe möglichst nahtlos anschließen, dann gingen sie vielleicht als Nachhut durch mit ihren Gepäckstücken auf den Pferden. Es bestand noch immer die Gefahr, dass die Wachen sie erkannten, aber unter dem Haufen an Menschen gingen sie vielleicht auch einfach unter. Wenn nicht, konnte Kassandra immer noch auf andere Tricks zurückgreifen, sofern sie denn musste. Sie hielt sich bedeckt, gab sich klein und unauffällig. Am Ende spielten wohl die Moiren ebenfalls mit, denn sie kamen ungefragt durch das Tor, das hinter ihnen wieder geschlossen wurde. Sofort ließen sie sich zurückfallen und verloren den Anschluss an der Kolonne, denn Zoras war noch immer nicht aus seiner steifen Haltung erwacht. Also setzten sie sich ab und folgten verwinkelten Wegen, bis sie schließlich an einem Denkmal ankamen.
      Es zeigte zwei Personen, eine männliche und eine weibliche mit deutlichem Altersunterschied. Bei dem Mann fühlte sich Kassandra marginal an Santras mit seinem stechenden Blick erinnert, doch das Mädchen war eher das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Menschen neigten dazu, Abbilder immer nicht realitätsgetreu nachzubilden und so schätzte sie, dass auch diese Skulpturen nicht der Wahrheit zur Gänze entsprachen. Sie waren aus Stein und vor einem Brunnen platziert worden, der über und über mit Gaben dekoriert worden war. Doch Kassandras Augen überflogen nur den Rand und blieben am Wasser hängen.
      „Das Wasser ist durch und durch mit Aura versetzt. Deutlicher, als vieles andere hier“, sagte sie leise wobei sie sich noch weiter zu Zoras herüber lehnte. „Ich nehme stark an, dass es davon in der Stadt noch mehrere Orte geben wird.“
      Wie lange war die Statue schon hier? Der Menge nach an Leuten zu urteilen besaß der Champion ein gewisses Ansehen. Wenn das Wasser kein malerischer Zusatz war, dann hatten sie einen der Champions vor sich. Es war nur noch nicht sicher, wer von Beiden es war. Klar war jedoch, dass es jener Champion des Wassers sein musste.
      „Ich schätze, die Farben der Soldaten entsprechen vielleicht den Grundzügen der Champions. Wir haben fünf gesehen; Blau für das Wasser, Rot für Feuer und Grün für Wind? Dann wäre nur die Frage, warum die anderen beiden keine Farben tragen, wenn sich drei Sektionen bereits einzeln mit Soldaten präsentieren“, sagte Kassandra, die das Wasser musterte, als würde es ihr jede Sekunde entgegen springen.
    • Zoras brummte nur leise, unzufrieden damit, auch hier auf diese Aura zu stoßen. Es war fast unumgänglich, auf die Spur des Champions zu stoßen, je näher sie ihnen kamen, aber das machte es nicht erträglicher. Wenn Kassandra nur einmal unaufmerksam wäre, könnten sie gleich entdeckt werden. Was würden die Champions wohl davon halten, dass sich eine freie Göttin direkt unter ihnen befand?
      Ich frage mich, weshalb sie überhaupt Farben haben. Kuluar hat ein Wappen, aber das habe ich hier viel weniger gesehen. Sind sie nicht stolz auf ihr Land? Versuchen sie, es umzuschreiben?
      Diese Frage konnte ihm selbst Kassandra nicht beantworten, deren Erfahrungen auch nicht ausreichte, um in die Köpfe von fünf herrschenden Champions zu sehen. Sie wirkte auch nicht sehr glücklich, so offen wie sie sich vom Brunnen fernhielt, als könne das Wasser sie ergreifen, wenn sie zu nahe kam. Auch Zoras würde eher nicht davon trinken, so wie er einige andere zu sehen glaubte. Es war ihm einfach noch immer nicht geheuer, eine Aura zu schlucken, und sei sie noch so schwach.
      Der Brunnen war nicht das einzige Zeugnis der hiesigen Regentschaft. Mehr Statuen von Männern und Frauen in hoheitlichen Posen standen überall in der Stadt verteilt, manchmal als Mittelpunkt eines großen Platzes, manchmal am Rand der Straße, manchmal aus den Hausfassaden heraus wachsend. Es waren immer dieselben zwei Pärchen, die sich stets abwechselten, daher bestand kein Zweifel mehr, dass es sich hierbei um die Champions und ihre Träger handelte. Ganz anscheinend wollten sie dafür sorgen, dass das Volk von Kuluar nicht vergaß, wer für sie auf den Thronen saß.
      Es verwunderte sie gar nicht, dass es mehr als ein Tor an der nächsten Mauer gab und sie einfach auf das nächste stießen. Diesmal versuchten sie ihr Glück erst gar nicht, sie hatten schließlich schon herausgefunden, dass ihre Papiere nicht zulässig waren. Stattdessen kehrten sie in eine Taverne ein, zum einen um die Pferde erholen zu lassen und zum anderen, um sich zum ersten Mal aktiv umzuhören.
      Zoras bestellte sich ein Met und gemeinsam setzten sie sich an eine Bank, an der noch mehr Leute saßen. Der Körperkontakt reizte ihn, jetzt mehr als jemals sonst, nach der unvorbereiteten Angst, die ihn bei den Peitschen ergriffen hatte, und so musste sich Kassandra zwischen ihn und den Rest setzen, damit er wenigstens nur sie neben sich hatte. Natürlich schien das der übergewichtige Kutschführer direkt neben ihr gleich als Einladung zu sehen.
      “Hey, Süße…”
      Nein.”
      Zoras starrte nur höchst eindringlich zu ihm hinüber, aber das reichte wohl aus. Der andere schnaubte und drehte sich wieder weg.
      ... Eigentlich… Mann.
      Prüfend sah er wieder her.
      Eigentlich hat sich meine Freundin hier gefragt, ob man irgendwo die Anwärter ansehen kann.
      “Anwärter? Was will’sd damit anfang’n? Meins’de für’n Eviad?”
      Zoras kniff die Augen zusammen. Er hatte tatsächlich Mühe, etwas zu verstehen, wenn der andere so lallte, aber das entscheidende Wort hatte er doch schon ausgemacht.
      Ja.
      “Ach, Humbug. Vergeud dir nich’ die Zeit mit so’m Quatsch. Ist’s garnich’ wert.”
      Davon verstand er in etwa die Hälfte. Aber bevor er antworten konnte, lehnte sich schon ein dürrer Mann von der anderen Seite ein Stück herüber.
      “Den Eviad? Wollt ihr auch hingehen? Ich geh etwa schon seit zwei Wochen jeden Tag. Es soll wieder einen geben, der durch die Kontrolle kommt.”
      Was für eine -
      “Unsinn alles!”, donnerte der erste und wischte mit der Hand durch die Luft. “Eviad gibt’s nich’. Seht’s ein, Leute, der is’ ein Hirngespenst. Lieber mit dem arbeiten, was wir hab’n. Ich verplemper meine Zeit nich’ mit gar nichts.”
      “Gibt’s schon”, beharrte der zweite. “Meine Cousine ist aus Paspatera angereist und hat erzählt, dass es einen gibt, einen mit Markenzeichen und allem. Der ist’s, wirklich. Das ist der eine.”
      “Wenn er es wirklich ist, kann er’s nicht sein”, meldete sich eine Frau drei Plätze weiter. “Ich hab nämlich auch von einem gehört, aber der kam aus’m Süden und nicht von Norden und Paspatera. Wenn er’s sein soll, warum ist er dann nicht schon längst hier? Warum verschwendet er die Zeit mit wahllosem Herumreisen?”
      “Weil’s ihn nicht gibt, so einfach”, wieder der erste. “Das is’ ein Trick, damit wir uns alle anstrengen. Und uns dumme Zeichen auf den Körper malen lassen. Letzt’ns hab ich einen geseh’n, der hat sich ganz grün angemalt, damit er den Champions gefällt. Hab ihn natürlich danach nie wieder geseh’n. Wenn er Glück hat, wird sein Kopf noch dafür benutzt, wenigst’ns die Schweine zu füttern.”
      “Der richtige Eviad wird auch nicht grün sein.”
      Der Kerl lachte. “Sondern? Blau? Regenbogenfarben?”
      Der andere verzog das Gesicht. “Irgendwann wird schon wieder einer durchkommen und ich denke, der ist es. Es wurde ja schon einmal vollbracht, es ist nicht unmöglich.”
      “Aber unwahrscheinlich. Vorher wird er verreck’n.”
      Wo kann man sich das ansehen?
      Alle drei starrten Zoras verständnislos an.
      “... Beim Palast natürlich.”
      Aber ohne richtige Papiere kommt man nicht weiter.
      “Natürlich weiß’de das nich’ als Ausländer. Willsd dir hier eine Vorführung ansehen aber keine Ahnung, wie man reinkommt, wie? Hättste gleich Zuhause bleiben können wo du hingehörst.”
      “Es gibt eine sogenannte Brücke”, klinkte sich die Frau wieder ein. “Man kommt nicht ganz zum Palast, aber bis zur Mauer davor. Zwischen 9 und 11 öffnen die das und dann kann man alle Eviads anschauen, die sich dann melden und vielleicht reingelassen werden. In letzter Zeit ist aber keiner durchgekommen.”
      “Eine ganze Weile schon nicht mehr. Aber jetzt soll es ja wieder einen geben, ich komme schon jeden Tag, um ihn nicht zu verpassen.”
      “Und sonst has’de nichts zu tun?”
      “Es sind ja nur zwei Stunden. Wir gehen da als Familie hin, das ist quasi Tradition.”
      “Durchgeknallt.”
      “Nenn es wie du willst, aber wenn Eviad durchkommt und gekrönt wird, werden wir an erster Stelle sein, wenn er wieder rauskommt. Und dann weiß er gleich, wer ihm treu ist und wem er dafür danken muss, dass er es geschafft hat.”

      Am nächsten Tag sahen sie sich also besagte Brücke an, ein Durchgang bis zum Palast, der an beiden Seiten mit hohen Gattern eingezäunt war. So kam man wirklich bis zur letzten Mauer, von wo aus man durch eine Erhöhung den Vorplatz des Palastes einsehen konnte. Der Ort war rege besetzt mit den meisten Besuchern eher mit sich selbst als mit dem Palast beschäftigt. Wenn man dem Geplauder glauben konnte, lag der letzte Eviad auch schon weit zurück. Es gab wohl keine besonders große Hoffnung, dass es demnächst noch einen geben könnte.
      Durch mehr Herumgefrage erfuhren sie, dass man selbstverständlich nicht einfach in den Palast hinein spazieren konnte - es gab eine scharfe Kontrolle. Soldaten und damit Menschen kontrollierten, ob man als Eviad würdig war und brachten einen dann erst durch; entsprechend hoch war die Sorgfalt, damit sie die Champions nicht verärgerten. Es hieß, dass am liebsten keiner hindurch gelassen wurde. Man musste schon sehr, sehr überzeugend sein.
      Also brauchten sie gleich mehrere Auftritte: Einen für die Kontrolle, einen für die Zuschauer auf der Brücke und schlussendlich einen für die Champions. Und alle drei mussten absolut überzeugend sein.
    • Warum trägt ein Land gerade in seiner Hauptstadt sein Wappen nicht zur Schau? Während Kassandra weiterhin das Abbild betrachtete, gab sie Zoras keine klare Antwort darauf. Die politischen Machenschaften der Menschen waren in der Regel nichts, worüber sie ihren Kopf zerbrochen hatte. Wann immer es ging, hatte man sie als Druckmittel oder gar Waffe eingesetzt und die Folgen wogen meistens schwer. Aber selbst ihr war klar, dass ein fehlendes Wappen bedeutete, dass man sich mit dem Land nicht identifizierte. Die verschiedenen Farben, die nicht zu dem Wappen passten, zeugten von einem Individualismus eines jeden Ratsmitgliedes. Jeder wollte sein eigenes Stück vom Kuchen haben, jeder seinen eigenen Platz beanspruchen.
      Einige Zeit später hatten sie ihren groben Rundgang beendet und beschlossen, sich eine Taverne zu suchen. Nirgends bekam man die Stimmung der Leute besser mit als an Orten wie diesen, doch nach dem Vorfall mit der Eskorte wirkte Zoras weniger gefasst als üblich. Am Ende musste Kassandra als Barriere zwischen ihm und den anderen Gästen der Taverne dienen und obzwar es eindeutig war, warum Zoras den Kontakt zu Anderen mied, war es bei Kassandra ein gänzlich anderer Grund. Sie hasste es, wenn man sie ungefragt berührte. Wie sich die Schulter des Mannes zu ihrer rechten sich immer näher an ihre heran schob und sie sogar schon den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. Unweigerlich wurden ihre Schultern steif, den Blick hielt sie konsequent nach vorn gerichtet. Sie behielt es bei, als eine holprige Konversation zwischen Zoras und dem Kutschführer bestand. Gott, Alkohol richtete einen Schaden an, den sie noch immer erstaunlich fand.
      Allerdings entspannten sich kleine Bereiche ihrer Gesichtszüge, als sich ein zweiter Gast einmischte und offenbarte, dass die Kunde aus Paspatera doch bis hierhin reichte. Beinahe wäre ihr ein süffisanter Ausdruck ins Gesicht geschrieben gewesen, doch so viel Kontrolle besaß sie nun doch noch. Wesentlich interessanter war die Frau ein paar Plätze weiter, die endlich mit Informationen um die Ecke kam, die verwertbar waren. So verwertbar, dass sich sogar Kassandra herabließ und den Kopf anmutig wandte, um sich die Frau zu besehen. Wie vermutet spaltete sich das Lager in der Hauptstadt zwischen jenen auf, die an einen Eviad glaubten und jenen, die es nicht mehr ertrugen. Stattdessen gab es einen öffentlichen Weg, um sich bekannt zu machen und vorzusprechen. Das war vielversprechender als die Phönixin vermutet hatte. Unter diesem Aspekt war der erste Eindruck weniger gefährlich und sie wären nicht in einen Palast eingegangen, ohne gesehen worden zu sein.
      Für die anderen Gäste völlig unerklärlich lehnte sich Kassandra mit einer selbstgefälligen Bewegung etwas zurück. Ein Schmunzeln umspielte ihre Lippen, verlockend, so wie feiner Wein die Lippen benetzte. Wenn die armen Menschen hier nur wüssten, neben wem sie gerade saßen.

      Am nächsten Tag suchten sie die Brücke auf. Bewusst hatten sie ihre Pferde in den Stallungen zurückgelassen, da Kassandra der Ansicht gewesen war, nicht beritten dort aufzutauchen. Sie sollten aus Fußvolk aufmarschieren, so wie die Bürger der Stadt, die sich auf ihr tummelten und wo sich Kinder an die Gitter pressten, um einen Blick nach unten zu erhaschen. Kassandras Augen glitten nach oben, wo sie die gaffenden Menschen kurz betrachtete, die sonst nicht viel zu tun zu haben schienen. Ja, wenn es darum ging, entsprechend Eindruck zu schinden, dann war sie definitiv in ihrem Element.
      Ihre Haltung änderte sich bereits merklich, als sie das Tor bloß ansteuerten. „Ich werde so frei sein und nicht das Wort erheben. Das ist deine Aufgabe, aber ich bleibe in deinem Rücken und halte ihn dir frei. Apropos Rücken; eigentlich wäre mein Mal dort wesentlich eindrucksvoller zu zeigen als jenes von Amartius.“ Sie schritt mittlerweile eher als dass sie normal ging und die anderen Menschen, die sie umgaben, schienen wie von selbst bereits ihre Nähe zu meiden. Sie ließen deutlich mehr Platz um Kassandra, ohne sie dafür mit Blicken zu strafen.
      Die Wache mit der Kontrolle kam in Sicht. Tatsächlich sprachen nur wenige bei den Soldaten direkt vor, die meisten wurden eh abgewiesen, aber ein wenig gesammelt war es trotzdem. Kein Hindernis für Kassandra, wie sich in den nächsten Augenblicken bewies. Das war der Moment, wo sie die gesamte Scharade fallen lassen konnte. Sie mussten die Menschen überzeugen, die Tore zu öffnen, was, mit Kassandras Einwirken, das geringste Problem darstellte. Allerdings ging es hier nicht um sie, einen weiteren Champion, der Menschen manipulierte, sondern den Mann, dessen Rücken sie gerade musterte. Er hatte ebenfalls in sein antrainiertes Muster gewechselt, mit gestrafften Schultern, ausladendem Gang und einer Ruhe in jedem Schritt, als sei es sein von den Göttern gegebenes Recht, hier zu sein. Was, wenn man die Phönixin in seinem Rücken betrachtete, auch stimmte.
      Die Blicke der Soldaten fielen auf Zoras, nicht auf Kassandra, die wieder dieses süffisante Schmunzeln im Gesicht trug. Noch bevor auch nur ein einziges Wort ausgetauscht werden konnte, ließ Kassandra ihren Schleier fallen. Wie ein Tsunami rollte ihre Aura, ihre reine Präsenz, über den Platz, die Menschen, ja die gesamte Stadt hinweg. Eine Woge aus Wärme, aus Erhabenheit, aus Göttlichkeit wallte durch die Stadt und mit jedem Lebewesen, das sie berührte, ging für Kassandra gedanklich ein Licht auf. Ein Meer aus Lichtern, stärker als zuvor, entwickelte sich vor ihrem geistigen Auge und dann spürte sie auch endlich die anderen Champions unmittelbar vor ihnen im Palast. Ihre rubinroten Augen zuckten zur Seite, als sie feststellte, dass nur vier besonders starke Auren vor ihnen lagen. Die fünfte war abseits, wirkte abgeschlagen viel weiter östlich in der Stadt.
      Sofort brandete ein Raunen durch die Menschen, Kinder schrien, und die Menschen um Kassandra und Zoras explodierten zu allen Seiten und räumten ihnen den Platz ein, der ihnen gebührte. Dieses Mal machte Kassandra keinen Hehl um den leichten Schimmer, der sie oftmals umgab und sie als das kennzeichnete, was sie war. Sie stand nur zwei Schritte schräg hinter Zoras, die Hände vor ihrer Mitte sanft ineinander und den Kopf in den Nacken gelegt. Jedes Mal, wenn sie den Schleier fallen ließ, fühlte es sich für sie an, als würde sie endlich wieder frei atmen können. Jeder einzelne Atemzug, den sie tat, aber sicherlich nicht brauchte, wirkte wie ein Puls, der die Lichter um sie herum zum Flimmern brachte. Als würden sie sich einzig und allein auf sie einstellen. Das war das wahre Machtgefühl, das mit dem Sein eines Phönix einherging. Sie sah das Leben, die Zeiten, die Seelen. Das hob sie selbst von den mächtigsten namenhaften Göttern der Geschichte ab.
      Die Augen der Soldaten waren unweigerlich auf Kassandra gerichtet. Als sie das Kinn wieder senkte und ihre Augen auf die der Soldaten traf, las sie alles Mögliche in ihnen ab. Viele Spinner hatten sie schon gesehen, aber kaum einen, der einen echten Gott mit sich führte. Dass sie dabei ungebunden und frei war, konnten sie noch nicht einmal wissen. Allerdings war für jeden Anwesenden unmissverständlich klar, dass Niemand, wirklich Niemand, auch nur das Recht besaß, diese Göttin zu berühren. Ein in Stein geschriebenes Gesetz, für jedes Wesen absolut und unmissverständlich. Das Raunen der Zuschauer war verebbt.
      Eben jene Göttin trat neben Zoras in vollkommenes Schweigen und löste ihre Hände voneinander. Sanft griff sie nach seiner Schwerthand, dort, wo auch Amartius‘ Mal prangte, und hob sie nahezu feierlich in die Höhe. Anschließend führte sie seinen Handrücken an ihre Lippen und platzierte einen hauchfeinen Kuss auf die schwarz verfärbte Haut. Das Bindeglied zwischen Mensch und Gott. Dann entließ sie seine Hand, kehrte in die altbekannte Haltung zurück und überließ Zoras das Wort.
    • Es fühlte sich merkwürdig an, die Brücke wieder zu verlassen, die Stadt zu Fuß zu durchqueren und den Platz anzustreben, an dem die Kontrolle stattfand. Gleich mehrere Eindrücke ergriffen Zoras, während sie dort zu zweit auftauchten: Der Weg zum Henkersbeil, zum Richtergericht, in die Schlacht. Es fühlte sich ungewohnt leer an, als vermisse er eine Armee, die mitlaufen und in seinem Rücken schreiten müsste. Stattdessen war es nur er, ein sterblicher Mann, und Kassandra die ungezügelte Phönixin. Sie waren gleichermaßen nicht annähernd eine Armee und viel mehr, als eine Armee hergegeben hätte.
      Der Platz war nicht unbedingt voll, aber die Leute wichen sowieso vor der natürlich erhabenen Ausstrahlung, die Zoras nach all den Jahren noch immer anhaftete. Vielleicht war es auch die unbegreiflich schöne Frau in seinem Rücken, die die Menschen von sich scheuchte, wenn sie nur näher kamen. Letztlich war es auch unwichtig, denn ihnen wurde bald erfolgreich der Blick auf die Soldaten freigegeben.
      Kein einziges Wort wurde zwischen dem Paar gewechselt, schon die ganze Zeit nicht. Der Plan war abgesprochen, es bedurfte keiner weiteren Ablenkung. Die Räder begannen sich zu drehen und nur ihre gesetzt Position würde zeigen, ob sie ineinander übergriffen.
      Ganz kurz nur ließen sie die Aufmerksamkeit auf Zoras liegen, lange genug, dass die Soldaten den Mann sehen, betrachten und einschätzen konnten, ehe eine vorläufige Schlussfolgerung von dem einzig großen Triumph endgültig festgesetzt wurde. Zoras hielt den Kopf hoch erhoben, den Blick auf neutrale, aber selbstbewusste Weise auf die Wachen gelegt, als Kassandra sich der Umgebung offenbarte. Diesmal war Zoras auf den Stoß vorbereitet, der ihm durch den Geist fuhr und ihn in Paspatera noch überrascht hatte, während er sich jetzt nicht davon rührte. Kassandras Göttlichkeit erglühte in seinem Rücken wie eine einzige, feuernde Explosion, die ihre Umgebung mit einem unsichtbaren Licht erhellte. Schlagartig wichen die Menschen zurück, überwältigt von der plötzlichen Göttlichkeit, die direkt unter ihnen waberte und pulsierte, ausströmend von der bis dahin noch so unscheinbare Frau. Selbst mit fünf Champions war keiner von ihnen jemals in Berührung mit einer entfesselten Göttin gekommen. Zoras wusste selbst, wie überwältigend es sein konnte.
      Auch dieses Mal wurde er von einer Wärme ergriffen, die seinen rasenden Puls beruhigte und ihm das Gefühl gab, das er vorhin noch so sehr vermisst hatte: Das Gefühl einer ganzen Armee in seinem Rücken, die nur hier war, um das Schlachtfeld für ihn auszufüllen. Es mochte nur Kassandra und ihre Aura sein, die ihm dieses Gefühl bescherte, aber er fühlte sich so sicher, als würde er dieses Schlachtfeld bereits dominieren. Er reckte das Kinn ein Stück vor und betrachtete die entsetzten, verblüfften, geschockten Gesichter der Wachen, die nun alle Kassandra anstarrten. So war es richtig, das sollte die richtige Reaktion sein. Das erste Rad war soeben angelaufen.
      Was er nicht sehen konnte, war die plötzliche, schlagartige Verdichtung der Wasseraura, die sich überall um sie herum sammelte. Es gab hier keine große, offene Wasserquelle, stattdessen erglühte sie plötzlich in jeder einzelnen Feldflasche um sie herum, in den Waschzubern in nahen Häusern, unter der Erde aus Abwasserkanälen. Sie drängte sich heran, soweit es nur ging, vermischte sich dabei mit Kassandras Aura, die jetzt durch die Luft waberte, ohne sie wirklich zu berühren. Sie war nur da, anwesend und aktiv. Sie war aufmerksam geworden und auf den einzigen Punkt in Kuluar gerichtet, der nun wirklich ihrer Aufmerksamkeit bedarf.
      Sie warteten ab, bis die erste Überraschung über ihr Auftauchen allmählich verklungen war, dann trat Kassandra, noch immer in geheimnisvolles Schweigen gehüllt, nach vorne neben Zoras. Sie nahm eine andere Stellung an seiner Seite ein, trat von seinem Schatten, seinem Rücken, der zweiten Stellung hinter ihm nach vorne und neben ihn und ergriff seine Hand. Die letzten Geräusche verklungen zu angehaltenem Atem, als diese ungebundene, freie Göttin die Hand ihres sterblichen Begleiters nach oben hob und in sündiger Weise an ihre hoheitsvollen Lippen hob. Der Kuss hätte tausend Mal so laut ausfallen können bei der absoluten Stille, die herrschte, während die Versammlung diesen einzigartigen Augenblick beobachtete. Man hätte wohl keine Worte gefunden, um zu verarbeiten, was hier von sterblichen Augen gesichtet wurde. Keiner wollte glauben, was er hier sehen konnte.
      Das zweite Rad war angelaufen. Kassandra ließ Zoras wieder los und trat zurück hinter ihn, überließ ihm wieder die Führung, schloss sich ihm an. In der Pause, die dadurch entstand, gab Zoras den Wachen keine Gelegenheit, das Wort zu ergreifen. Er wartete darauf, dass sie ihn wieder ansahen, oder dass sie eine sonstige Regung von sich gaben, um diese Situation wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Er gab ihnen keine Gelegenheit dazu. Er kostete die Macht, die Kassandra ihm mit ihrer Anwesenheit übertragen hatte, vollständig aus.
      "Eviad wurde gerufen", verkündete er bedeutungsschwanger, laut genug, dass ihn alle hier hören konnten. Immerhin war das nicht nur ein Auftritt für die Wachen des Rats.
      "Hier bin ich."
      Seine Worte hätten kaum den richtigen Effekt erzielt, wenn es nur er gewesen wäre, der hier aufgekreuzt wäre. Einen einzelnen Mann hätte man ausgelacht, wenn er versuchte, sich hier in irgendeiner Weise aufzuspielen, aber dafür war die Situation völlig verkehrt. Die Gegend war totenstill, sämtliche Augen auf die leicht schimmernde Göttin gerichtet und Zoras' Stimme, die als einzige ertönte, laut und kräftig mit der Stärke eines erfahrenen Redners, war das einzige bekannte weltliche, dass sie wieder erdete. Seine Worte waren es, die sie wieder zurückholte. Die Bedeutung dahinter umso stärker: Er war hier, um sich als Eviad würdig zu erweisen. Er, der eine Göttin in seinem Rücken stehen hatte. Nicht vor sich, nicht neben sicher, sondern hinter sich.
      Gemurmel erhob sich wieder, schüchtern und ungläubig, bevor sich das zu einer regelrechten Unruhe steigerte. Viele wichen noch weiter zurück, wollten wohl nicht der Gefahr ausgesetzt werden, von dem unbekannten Schimmer irgendwie ergriffen zu werden und die ungewollte Aufmerksamkeit der Göttin auf sich zu ziehen. Andere liefen gleich davon, wohl unweigerlich, um dieses Spektakel gleich weiterzutragen. Wieder andere begannen auf das Paar zu deuten und mit anregendem Eifer zu reden. Das sollte ein Eviad sein. Das war wirklich einer, der sich vom Rest absetzte.
      Die Soldaten reagierten recht spät und das auch noch langsam. Einer räusperte sich; er versuchte wohl, etwas von seiner Autorität wiederzugewinnen, die ihm unweigerlich vom Gesicht geschmolzen war. Es half nicht, dass er saß und Zoras auf ihn herunterstarren konnte, es half auch nicht, dass er Kassandra ganz deutlich neben ihm sehen konnte. Es brachte ihn völlig aus dem Konzept.
      "Tragt Ihr - das Zeichen. Eviad ist der Gebrandmarkte."
      Der arme Mann hatte sicher irgendein Protokoll, das er abhaken musste. Er war aber so aus der Fassung gebracht, dass es ihm wohl gänzlich entglitten zu sein schien.
      Zoras nickte und drehte sich zu der versammelten Menge um und zu Kassandra. Sein Blick streifte sie nur kurz, eine Versicherung, dass seine Armee noch immer hinter ihm stand, bevor er sich die Blöße gab, seine Narben zu enthüllen. Es war ihm nicht sonderlich unangenehm, fremden Menschen seine nackte Haut zu präsentieren, aber Kassandras und Amartius Siegel waren ein Zeichen, die Narben und das Sklavenmal ein anderes. Er mochte es nicht, dass das eine nur in Verbindung mit dem anderen präsentiert werden konnte.
      "Die Götter haben mich erwählt! Seht die Zeichen, die nur des Eviads würdig sein können!"
      Er zog sich das Hemd aus mit seinen Floskeln und präsentierte zu allererst den Soldaten das Paar Flügel, das auf seinem Rücken thronte. Er konnte ihre Gesichter nicht sehen, als er die Muskeln straffte und sich dann ganz langsam wieder zu ihnen umdrehte, um auch dem Rest der Menge seinen vernarbten Rücken zu zeigen. Die Flügel auf seinem Rücken bewegten sich mit der abgehackten Welle seiner Haut.
      Wieder ein Raunen, wieder Geräusche, die von der Menge auflebten und diesmal deutlich schneller lauter wurden. Bei manchen stieg hörbare Euphorie auf, während sie die Zeichen seines Körpers begafften, andere tuschelten nur. Alle waren noch immer in einem ehrfürchtigen Abstand zu ihnen, allein durch Kassandras Präsenz. Doch das schaffte wiederum nur einen Kreis, dessen Mittelpunkt das Paar darstellte.
      Der Soldat starrte Zoras' Körper an, lehnte sich dann weg, ohne den Blick von beiden zu lassen, und flüsterte mit einem Kollegen. Sie flüsterten nicht lang, dann entfernte sich der Kollege und verschwand im Laufschritt in Richtung Palast. Der erste Soldat lehnte sich wieder nach vorne.
      "Wer ist Eure Begleitung?"
      Es könnte als Beleidigung aufgefasst werden, dass der Mann Kassandra nicht direkt ansprechen wollte. Zu seiner Verteidigung mochte man wohl bedenken, dass der Mann sicherlich nicht nur um seinen Kopf, sondern seine ganze Seele fürchtete, wenn er hier einen Fehler begann, also wollte Zoras ihm das verzeihen.
      "Die Göttin an meiner Seite ist niemand anderes als Phönixin Kassandra."
      Weiteres Raunen, auch Rufe. Man verband wohl die Flügel auf seinem Rücken mit der Phönixin. Die Unruhe steigerte sich und der Soldat sprach aus, was sie alle denken mochten:
      "Eviad ist kein Träger. Champions sind in Kuluar nicht erwünscht."
      "Kassandra ist auch kein Champion und wird es nicht sein. Und ich bin nicht ihr Träger und werde es nicht sein."
      Er drehte sich halb zu seiner Göttin um und trat dann einen Schritt beiseite, nicht, weil es nötig gewesen wäre, sondern um ihr einfach den Platz zu geben, den sie als rechtmäßige Göttin einnehmen musste. Den sie außerdem benötigte um zu zeigen, dass sie durchaus kein gefangener Champion war.

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    • Auf Kassandras Miene lag nichts außer Erhabenheit und vollkommene Entspanntheit. Sie war hier, ohne Zweifel, diejenige mit der Kontrolle über die gesamte Situation. Würden nicht alle Champions gleichzeitig auflaufen, dann gäbe es nichts, was sie ihr wieder abnehmen können würde. Ihre Augen waren auf die Wachen gerichtet, allesamt überwältigt von dem, was sich vor ihnen entfaltet hatte, doch ihre Aura ging darüber hinaus. Sie hatte vorhin alle Champions gespürt, doch einer von ihnen war anders. Einer von ihnen war kein mythisches Wesen wie sie. Einer von ihnen besaß einen Namen, und das allein bedeutete unter Umständen Ärger. Solange sie Namen trugen, standen sie auf einer höheren Stufe als die meisten Champions, und da würde ein eigentlich wenig kampferprobter Dionysus nichts anderes darstellen. Wesentlich interessanter war jedoch die Aura des Wasserchampions, die sich verdichtete, komprimierte, und um sie Beiden enger schloss. Da hatten sie wohl jemandes Aufmerksamkeit gewonnen.
      Langsam wandelten sich Kassandras Gesichtszüge, als sich der erste Wachmann räusperte, der zu allem Unglück auch noch vor ihnen saß und sichtlich überrumpelt war. Leicht verzogen sich ihre Mundwinkel zu etwas, das einem spöttischen Lächeln sehr nahekam. Dass er offensichtlich von dem abwich, was er normalerweise sagen würde, verstärkte das Gefühl in der Phönixin nur noch. Ihr Auftritt hatte dermaßen gesessen, dass innerhalb Stunden die gesamte Stadt wissen würde, dass sie hier waren. Und nicht einfach so verschwinden konnten.
      Stolz mischte sich in das Lächeln, als Zoras ihnen allen seinen Rücken präsentierte. Diejenigen auf der Brücke sahen nur die tiefschwarzen Flügel, aber alle anderen in geringerer Reichweite sahen die Narben. Die Zeichen, die ihm neben dem von Kassandra zugefügt worden waren. Für Kassandra war es nichts, worüber man sich schämen musste. Was man verstecken musste. Jede Narbe, jede Wulst und jede Verfärbung waren Beweise dafür, dass er überlebt hatte. Grenzen überschritten hatte, die viele andere Menschen ihren Verstand gekostet hätten.
      Spöttisch hob sie jedoch die Augenbrauen, als sich der Soldat bei Zoras nach ihr erkundigte. Sehr schlau von dem Mann, wenn man bedachte, dass da ein unbekannter Gott vor ihm stand. Noch schlauer, dass er verstand, dass man sie nicht einfach so anzusprechen hatte. Fast hätte sie ihn gelobt wie einen Welpen. Als ihr Name verkündet wurde, hörte sie die Rufe. Eine Mischung aus diversen Empfindungen kitzelten den Rand ihrer Aura, als sie kaum merklich unter den Rufen anwuchs. Metaphorisch, denn das Raunen und die Schreie waren Musik in ihren Ohren. Sie hörte diejenigen, die sie feierten, ohne zu wissen, was sie getan hatte oder wer sie war. Doch da waren andere Rufe, erzürnte oder gar abfällige Rufe, die sie irgendwann eines Besseren belehren würde. Sie sollten ihren Namen ruhig fürchten. Solange die Menschen irgendetwas mit ihrem Namen verbanden, würde sie nicht verschwinden. Nicht verglimmen wie das Feuer einer alten Schmiede, die irgendwann verlassen werden würde. Noch eine Sache, die sie Zoras nie erzählt hatte. Wie Götter wirklich entstanden und woraus sie ihre Kräfte zehrten.
      Das Lächeln gewann an Hohn mit jedem Wort, das die Wache sprach. Es wuchs, wurde breiter und artete in einem ausgewachsenen Grinsen aus. Der arme Mann hatte wahrlich keine Ahnung, was da in greifbarer Nähe vor ihm stand. Es gab so unglaublich viele Möglichkeiten, wie man simplen Menschen demonstrieren konnte, dass die Bezeichnung eines Champions eine Beleidigung war, dass es ihr regelrecht schwerfiel, auch nur eine in Betracht zu ziehen. Allerdings gab es doch etwas, um das sie sich direkt kümmern würde. Noch immer war das Grinsen in ihrem Gesicht, als sie ihre Aura mit ihrer wilden Magie versetzte. Sie schwängerte sie zu einem unglaublichen Ausmaß und begegnete der anderen Aura am Rande mit ungezügelter Gewalt. Während Kassandra unbeweglich dastand, rang ihre Aura die andere nieder. Wobei, nein, sie rang sie nicht nieder. Sie löste sie auf. Wie Säure zersetzte sie die Aura, die ihrer eigenen zu nah kam und zwang das andere Bewusstsein auf Abstand. Das hier war ihr Spielgrund und sonst niemandes. Das machte sie als Erstes deutlich.
      Erst dann neigte sie den Kopf leicht zur Seite und widmete sich den Wachen. Es bedurfte einen kurzen Blick, sie überflog sämtliche Wachen und Soldaten, die in greifbarer Nähe waren, und hob dann einen Finger.
      „Ihr haltet alle eure Köpfe viel zu hoch“, beschloss Kassandra mit ihrer sanften, melodischen Stimme, die in völligem Kontrast zu ihrer Mimik stand, und vollführte eine Bewegung mit dem Finger gen Boden.
      Sofort brandete ihre Präsenz wie ein wildgewordenes Tier auf, warf sich auf die Soldaten und brachte sie allesamt nicht nur auf die Knie, sondern direkt auf alle Viere. Es schepperte, als Waffen, Schilde, Armbrüste und sonstige Dinge ihnen aus den Händen fielen und jeder einzelne Soldat, egal wo er war, zu Boden ging. Jeden, den sie innerhalb eines Radius von fünfzig Metern hatte, ereilte das gleiche Schicksal. Gezielt nahm sie dabei nur die Miliz in den Fokus; die Bürger waren schließlich nicht ihr Ziel.
      „Ich brauche meine Gestalt nicht zu wechseln. Ebenso bin ich nicht verpflichtet, mich vor euch zu rechtfertigen. Fragt eure lächerlichen Champions, die sich hinter Palastmauern verschanzen, ob einer von ihnen mich als eingeschränkt bezeichnen würde“, fügte sie noch hinzu, während das Grinsen nach wie vor auf ihren Lippen prangte.
    • Kassandra schien an dem ganzen Schauspiel einen eigenen, höheren Spaß zu finden. Die Unberührtheit, die Zoras zu großem Teil auch spielte, damit die Zuschauer in seiner Gestalt ihren idealen Eviad sehen konnten, war bei Kassandra schon gar kein Theater wert. Ihre Miene war zunehmend gelöst und erhaben geworden, je mehr Aufruhr sie mit ihrem Auftreten heraufbeschworen und je größer die spürbare Ehrfurcht vor ihr wurde. Dabei trug sie nur noch mehr zu dem Bild einer vollkommenen Göttin bei, die auf ihre Anhänger herab blickte. Ihr Auftritt alleine war es, der hier den entscheidenden Eindruck hinterließ.
      Die Soldaten sahen mit größer werdender Furcht dabei zu, wie Zoras gewissermaßen als letzte Bastion zwischen der Göttin und ihnen zur Seite trat und seiner Begleitung damit eine freie Angriffsfläche übergab. Dabei konnte niemand - nicht einmal er selbst - vorhersehen, was Kassandra im Schilde führte, als sie mit ihrer weichen, lieblichen Stimme das Wort erhob. Sie sprach nicht laut, dabei war er sich aber sicher, dass selbst die hinterste Reihe sie noch hören musste. Das war auch die einzige Warnung, die den Wachen zugestanden wurde.
      Mit einem Scheppern, Rasseln und plötzlichen Krachen fielen sämtliche uniformierten Männer in der Umgebung zu Boden, schienen von einer Schwerkraft angezogen, die so viel größer war, als ihre Körper widerstehen konnten. Die Überraschung war groß, panische, oder gar alarmierte Rufe erklangen aber nicht, als die Männer so plötzlich vor der Göttin auf dem Boden knieten. Sie mussten wissen, dass eine Gegenwehr absolut aussichtslos war, wenn alles im Körper danach strebte, vor dieser göttlichen Macht den Körper zu senken. Zoras wusste selbst, wie es sich anfühlte, daher zweifelte er auch gar nicht daran, dass die Männer dasselbe spüren mussten. Und dass es das erste Mal war, dass ihnen so etwas geschah.
      Den Zivilisten gefiel das Schauspiel dafür umso besser. Auf einen Moment des Schreckens und der Verwirrung, als die lauten Geräusche ertönten und die Wachen zu Boden sanken, folgte umso schneller ein absoluter Sturm an jubelnden Rufen, die sich über den Platz ergossen und ihnen nichts anderes mehr als Zuspruch zutrugen. Es war unklar, ob sie der Göttin so zujubelten, weil sie die farbigen Soldaten so leicht zu Fall gebracht hatte, oder weil sie so einfach bewiesen hatte, kein Champion zu sein und Zoras damit noch immer als Eviad qualifiziert war; letzten Endes war es aber auch nicht wichtig, denn letzten Endes galt der Zuspruch ihnen beiden. Sie hatten geschafft, was sie zu erreichen gehofft hatten. Die Räder hatten sich in Bewegung gesetzt.
      Zoras überließ Kassandra den Triumph dieses kleinen Tricks, er selbst trat zu dem wachhabenden Soldaten, hockte sich vor ihn und senkte den Kopf, bis er in dessen Augen sehen konnte. Dem Mann war die Furcht quasi ins Gesicht geschrieben.
      "Wir dürfen dann dem Rat vorstellig werden, ja?"
      "S-Sicher."
      Zoras nickte und stand wieder auf. Der Jubel verebbte noch immer nicht, aber ganz so sehr sollten sie es auch nicht auskosten. Immerhin würden die Champions nun auf sie aufmerksam geworden sein und da war jede Minute, die sie nicht auf dem Weg zu ihnen waren, ein Risiko, dass sie sich etwas einfallen lassen würden, um den Eviad bei seinem Titel aufzuhalten. Zoras verständigte sich also mit der Phönixin und sie entließ zumindest den einzelnen Soldaten, damit er seine Aufgabe erledigen konnte. Es sollte mittlerweile wohl auch klar sein, dass ein einfaches Tor sie nicht aufhalten würde, aber deswegen war es umso wichtiger zu zeigen, dass sie die Grenze trotzdem respektierten. Etwas anderes war für einen zukünftigen Herrscher nicht vertretbar.
      Der Mann kam auf die Beine und mühte sich dann damit ab, wieder Kontrolle zurück zu erlangen. Worauf er kam, war nur noch eine letzte, verzweifelte Frage.
      "Wie lautet Euer Name?"
      Zoras sah sich nach der jubelnden, schreienden Menge um. Er entschied sich dazu, einen Vorstoß zu wagen und die Hand zu heben, wie es nötig war, wenn er seinen Soldaten gleich den Befehl zum Marsch geben wollte. Es dauerte einen Moment, aber der Lärm wurde tatsächlich etwas leiser, bis er die Stimme heben konnte.
      "Mein Name", begann er und brüllte dabei, damit man ihn auch wirklich verstehen konnte, "... ist der des Göttervaters."
      Er verstummte und wartete in einer kunstvollen Pause darauf, dass die Lautstärke sich wieder änderte. Sie nahm etwas zu, dann wurde es wieder leiser als klar wurde, dass das hier kein Ratespiel war, sondern dass er ihn noch offenbaren würde. Damit erreichte er allerdings, dass mehrere dutzend Leute gleichzeitig denselben Namen und dasselbe Bild im Kopf hatten, bevor er ihn überhaupt ausgesprochen hatte.
      "Mein Name", setzte er wieder an, sah die Menge an und ließ sie weiter verstummen, bevor er fortsetzte: "lautet Zoras."
      Er wusste, dass der Name für Kuluarer schwierig auszusprechen war, Faia hatte es ihm bewiesen. Er wusste aber auch, dass er sich im kuluarischen trotzdem wie Zeus anhörte. Und so wartete er nur, als die ersten Zischlaute sich erhoben, während die Menschen seinen Namen ausprobierten, ihn zu formen versuchten und dabei die Stirn runzelten, wobei an anderer Stelle sich Zeus' Name erhob. Und Zeus' Name war bekannt, Zeus ließ sich gut von der Zunge rollen, und während die ersten das begriffen und Zeus' Namen abstumpften, ihn verhärteten, seinen Klang formten, dröhnte an anderen Stellen bereits nur Zeus' Name. Und von Zeus erhob sich etwas anderes und dieses andere wurde schließlich zu Zoras' Namen, der immer lauter wurde, der durch die Menge huschte wie der Wind und dabei seinen eigenen Klang und den von Zeus miteinander vermischen ließ. Es dauerte nur einen Moment lang, dann schwoll die Lautstärke wieder an und brachte einen schwallenden Chor aus Zoras' oder vielleicht auch Zeus' hervor - es war nicht wichtig. Beides zählte. Und als die Menge für einige Sekunden lang den Namen getestet hatte, als noch immer keine Soldaten zur Stelle waren, um den aufsteigenden Lärm zu besänftigen, da erhob sich irgendwann auch Kassandras Namen aus dem Schwall heraus und sie brüllten, als wäre es eine Prophezeiung, die sie zu verkünden gälte: Zoras und Kassandra. Kassandra und Zeus.
      Zoras wandte den Kopf zu ihr, sah Kassandra an und lächelte dann. Die Räder hatten sich, wahrhaftig, alle in Bewegung gesetzt.
      Die armen Soldaten mussten irgendwann erlöst werden, bevor noch ein wahres Chaos losbrechen würde. Das war sowieso nicht weiter schlimm, denn jetzt konnte ihnen kaum noch der Eintritt verwehrt werden. Es war sowieso zu laut, um noch irgendeine Frage zu stellen und selbst wenn, hätte man sich wohl spätestens jetzt um die Quelle des Störenfrieds kümmern müssen und das war nunmal derselbe, der sowieso zum Rat gehen wollte. Damit bekamen Zoras und Kassandra eine Eskorte zur Seite gestellt und das Tor öffnete sich für sie, um sie weiter zum Palast zu bringen.
      Der Lärm wurde auf dem Weg irgendwann leiser, aber das war auch in Ordnung so. Zoras zog sein Hemd nicht wieder an, da es besser war, ihn und seinen Rücken auf die Entfernung zu erkennen, und außerdem schlug er einen provokant langsamen Marsch an. Er musste den Menschen, die sie gerade gesehen hatten, die Zeit geben, die Nachricht zu verbreiten und sich auf der Erhöhung der Brücke einzufinden, um sein Einkehren im Palast zu beobachten. Er musste ihnen die Zeit geben, seinen Namen zu verbreiten, aufdass er den Palast erreichen würde, bevor er es selbst tat. Sie brauchten die Unterstützung des Volkes, bevor sie der Gefahr des Rates gegenüber traten. Sie mussten sich den Rücken dafür freihalten, dass man ihnen den Titel verwehren wollte.
      Ihrer Eskorte gefiel das natürlich gar nicht, aber sie wagten es auch nicht, gesondert einzuschreiten, nachdem Kassandra noch immer unter ihnen war. Sie hielten sogar beträchtlichen Abstand und sahen den beiden nicht in die Augen. Fast fühlte es sich an wie ein Gefangenentransport, wären dort nicht die hintergründigen Rufe, die noch immer nicht ganz verebbten.

      Im Palast selbst, gar nicht so weit entfernt, wurde etwa zur selben Zeit eine Krisensitzung einberufen: 8 Männer und Frauen, die sich in einem hohen, ausladenden Saal zusammenfanden, in dem es insgesamt 10 Stühle gab. Hätte man es nicht besser gewusst, hätte man gesagt, dass Panik herrschte.
      "Wir können sie nicht hier reinlassen!", rumorte ein Mann, der nur das offensichtliche aussprach. "Sie sollte gar nicht hier sein! Was tut sie hier?! Menschenspiele spielen?!"
      "Dann geh nach draußen", rief eine Frau, "und sag ihr, dass sie hier nicht rein darf! Du persönlich! Bestimmt hört sie auf dich!"
      "Wird sie nicht!"
      "Ach?!"
      "Können wir Zeit schinden? Bis alle hier sind?", warf ein anderer rein und erntete Schnauben von einem vierten. "Als ob wir etwas gegen eine entfesselte Göttin tun können."
      "Eine Phönixin."
      "Ja sehr richtig, eine Phönixin."
      "Das ist nicht mehr als ein großer Vogel."
      "Der Feuer speit und außerdem freie Bahn hat. Weißt du, wie schnell sie ganz Kuluar vernichten kann?"
      "Phönixe machen sowas nicht."
      "Das ist auch nicht irgendein Phönix, das ist Kassandra!", brüllte ein anderer dazwischen, als ob der Name etwas bedeuten würde. Den meisten bedeutete er gar nichts.
      "Na und?"
      "Kassandra ist für die schwarzen Feuer verantwortlich!"
      "Das hört sich ungemütlich an."
      "Kassandra würde hier nichts stehen lassen, wenn wir sie verärgern!"
      "Wir verärgern auch nicht, wir vernichten sie!"
      Gelächter erhob sich aus einer Ecke. "Sicher, ich lade sie auf einen Wein ein. Das wird ihr gefallen."
      "Deswegen müssen wir auch warten, bis wir alle wieder vollzählig sind! Gibt es denn irgendeine -"
      Er verstummte, als neben dem Tisch es plötzlich blubberte und in einem herangerollten Wasserfass mit einem Mal ein Kopf auftauchte. Alle starrten auf das Gesicht, das sich erst bildete und sich dann empört nach oben schob.
      "Sie hat mich einfach rausgeworfen!!!"
      "Rausgeworfen?"
      "Weggedrückt dieses Miststück!"
      "Kommst du nicht mehr ran?"
      "Ich komme ran, aber nicht nahe genug!"
      "Dann probier es weiter, wir müssen wissen, was sie vorhat!"
      Der Kopf warf dem Sprecher wütende Blicke zu und platschte dann so schnell wieder zurück ins Wasser, dass er seine Nachbarsitze nass machte. Er war wieder verschwunden, bevor die empörten Rufe ihn erreicht hätten.
      "Was tun wir also? Zeit schinden?"
      "Zeit schinden. Der Anwärter soll reinkommen, aber nicht seine Göttin. Wir nennen das Tradition oder sowas, dagegen dürfen auch keine Götter aufbegehren."
      "Und wenn sie es doch tut?"
      "Dann sagen wir einfach, dass er nicht angehört werden wird! Wer scheiß Eviad werden will, muss halt unsere Regeln befolgen!!"

      Am Vorplatz des Palastes hatte sich schließlich schon eine beträchtliche Menge eingefunden, die dort oben an der Brücke stand und herunter grölte. Die Soldaten, die die Lage oben übersahen, hatten Mühe damit, den Aufruhr unter Kontrolle zu bekommen bei der schieren Anzahl an Leuten, die dort heran strömten. Zoras sah nach oben und winkte ihnen; der Lärmpegel schwoll sogleich an. Er hatte noch nicht einmal seinen Titel, war dem Rat noch nicht einmal gegenüber getreten, aber er wurde schon gefeiert. Das war genau der Rückhalt, den sie brauchten. Wenn der Rat wagte, diesen offensichtlich würdigen Eviad abzulehnen, würde das eine gewaltige Unruhe auslösen. Und Zoras ging ganz fest davon aus, dass das nicht die erste und einzige Unruhe in dieser Stadt sein würde.
      Die Eskorte brachten sie bis zu den Toren des Palastes, wo es nur so von Wachen wimmelte. Eigentlich sollten sie hier gleich weiter hindurchgelassen werden, aber die vordersten Soldaten unterhielten sich einen Moment lang und dann war es an der Wache von vorhin sich umzudrehen und mit einem etwas blassen Gesicht zu verkünden:
      "Es sind keine Götter im Palast erwünscht."
      Soviel war zu erwarten gewesen, aber es traf Zoras trotzdem. Er wollte nicht ohne Kassandras Schutz weitergehen, das wäre so, als würde er freiwillig in das geöffnete Maul eines Löwen blicken. Aber er ahnte bereits, dass es hier keine Verhandlungsbasis gab.
      "Hört ihr die Rufe?"
      Es war eine ganz rhethorische Frage, jeder hier musste den Chor von Zoras und Kassandra und Zeus hören. Er war vermutlich laut genug, um bis in den Palast vorzudringen.
      "Phönixin Kassandra ist Teil davon. Sie muss den Champions ebenso gegenübertreten."
      "Die Anhörung erfolgt nur über den Titel des Eviads und der wird einer einzigen Person zugeschrieben. Eviad ist derjenige, dessen Aura menschlich ist. Kassandra ist eine Göttin."
      Zoras wusste ja, dass er recht hatte, aber es gefiel ihm trotzdem nicht. Er drehte sich zu Kassandra um.
      "Alles wie besprochen?"
      Sie bestätigte es ihm: Alles wie besprochen. Er brauchte das. Er ergriff ihre Hand und hauchte ihr unter anschwellendem Getöse einen Kuss auf den Handrücken. Dann drehte er sich um und breitete vor der zuschauenden Menge die Arme aus.
      "Kuluar braucht einen Eviad!!"
      Er brüllte so laut er konnte, um den Lärm zu übertönen. Ob er wirklich gehört wurde, war fraglich, aber er musste das hier noch tun. Er brauchte die Stütze.
      "Ich werde wiederkommen!! Und ich werde es sein!!"
      Sie tobten. Sie schrien ihm zu. Sie feuerten ihn an und das Geschrei war echt, die Unterstützung war echt. Zoras erhoffte sich, dass ein solcher Anblick nicht alle Tage vorkam. Er erhoffte sich, dass der Rat schlau genug war, die Bedeutung dahinter zu entschlüsseln. Er hoffte, dass er wirklich wiederkommen würde und keine leeren Versprechungen gemacht hatte.
    • Das Tosen der Menschen war die reinste Symphonie in Kassandras Ohres.
      Umgehend fühlte sie sich zurückversetzt in jene Zeit, als man sie als das eingesetzt hatte, was sie zu jener Zeit am meisten gebraucht hatte. Als sich ein ganzes Volk ihr zu Füßen warf und sie für ihre Schönheit sowie Tödlichkeit verehrte. Dass etwas so Schönes wie sie, das Symbol der Wiedergeburt und des Lebens, reihenweise eben jenes nahm und dabei so anmutig aussah, dass man sie nur mit Ehrfurcht hatte bewundern können. Damals, vor 490.000 Jahren war Kassandra nicht sie selbst gewesen. Sie hatte sich komplett verloren und war wie eine Seuche allein über das Kampffeld getanzt, das eher einem Massaker geglichen hatte.
      Mit einem weiteren Wimpernschlag befand sich Kassandra wieder im Hier und Jetzt, noch immer eingehüllt in die Stimmen, die sie für ihre Taten priesen. Oder einfach für das, was sie war. Es spielte keine Rolle, solang das Ergebnis das Gleiche war. Trotzdem nahm sich Kassandra nicht das Recht heraus und wandte sich den Menschen zu, deren Stimmen den Platz erfüllten. Sie wirkte unbehelligt, beinahe gleichgültig, als sie einen der Soldaten mit einem Fingerzeig aus seiner Demutshaltung entließ, damit er sie durch das Tor geleitete. Ganz die rücksichtsvolle Phönixin nahm sie sich zurück, als Zoras seinen Namen verkündete. Nur das Grinsen, das allmählich zu einem Lächeln verblasst war, zeugte noch von ihrer geistigen Anwesenheit. Teilweise war sie auf ihre Aura konzentriert, die noch immer die Fremde im Wasser von sich wies und auch bemerkte, dass sich der entfernte Champion in Bewegung gesetzt hatte. Direkt auf den Palast zu.
      Der Lärm, der sich daraus ergab, dass zig Leute versuchten seinen Namen zu schreien, fiel ihr bewusst kaum auf. Dafür umso mehr der Moment, als eine einzige Stimme ihren Namen rief. Dann noch einer, drei weitere, neun weitere. Wie ein Lauffeuer mischte sich ihr Name unter seinen und sorgte dafür, dass sie sich letzten Endes doch einmal umdrehte und ihren Blick über die Menge an Menschen wandern ließ. Ja, es war durchaus etwas anderes, wenn die Menschen ihren Namen nicht aus Angst oder Abscheu riefen. Mit dieser Erkenntnis wandte sie sich ab und schloss sich der Eskorte an, nachdem sie alle Soldaten aus ihrer Haltung hatte aufstehen lassen.

      Die Brücke war bis zum Bersten mit Menschen gefüllt.
      Wäre Kassandra solche Anblicke nicht gewohnt, hätte es durchaus sehr erdrückend wirken können. So wie damals in dieser einen Arena, in der man sie eingesetzt hatte, als die wilden Tiere nicht mehr die Zuschauer befriedigten. Das hier war aber keine geifernde Menge, sondern ein fanatischer Pulk, der die Soldaten ordentlich auf Trapp hielt. Genau das, was sie sich vorgestellt hatten.
      Offenkundig entspannt stieg Kassandra hinter Zoras die Treppe zum Palast hinauf, der überfüllt war mit Infanterie in allen fünf Farben. Hier sah sie auch das erste Mal die zwei fehlenden Farben, die ihr zuvor nicht untergekommen waren. Braun dominierte die meisten Soldaten, die irgendwie sichtlich stärker ausgerüstet waren als der Rest. Zumindest waren die Rüstungen aus höherwertigem Material geschmiedet worden.
      Immer wieder schickte sie ihre Aura aus und verfolgte den letzten Champion. Jenen, der sich mittlerweile in unmittelbarer Nähe befand und eigentlich vom puren Eindruck her erstaunlich zahm wirkte. So wie ein Champion der absolut niedersten Klasse. Reichte das etwa schon auf, um einen festen Sitz im Rat zu beanspruchen? Natürlich tat es das. Sie waren schließlich allesamt immer noch mächtiger als ein Haufen Menschen zusammen.
      Gestoppt wurden sie von tuschelnden Soldaten, die ihnen schließlich verkündeten, dass man nur Zoras allein empfangen wollte. Genau das Szenario, das Kassandra von Anfang an befürchtet hatte. Noch hatte sie nicht die Möglichkeit gehabt, ihm genug Fähigkeiten an die Hand zu geben, doch ihre Notfallabwehr war längst installiert. Würde jemand auch nur einen Finger an ihn legen, wenn sie nicht da war und ihm Gefahr drohte, würde sich das Mal auf seinem Rücken aktivieren. Die letzte Bastion, die genug Zeit erkaufen würde bis sie eintraf und alles in Schutt und Asche legen würde.
      Zoras ging darauf ein und band das Volk in seine Einlage mit ein. Damit man ihn nicht einfach ausmerzen konnte, wenn er einmal den Palast betrat. Kassandra hatte dem Plan zugestimmt, wirklich glücklich war sie damit jedoch nicht. Sie ließ ihn ihr einen Handkuss geben und war gewillt, ihn wahrlich gehen zu lassen, da kratzte es unangenehm an ihrer Aura, die sie wie einen Schild um den Platz gesponnen hatte.
      Vermutlich wäre die Menge verstummt, wenn Kassandra zurück auf den Platz gegangen wäre und sich dem gestellt hätte, was da kam. Dazu kam es nicht, als sie sich gerade einmal umgedreht und den Blick in die richtige Richtung gewandt hatte, als etwas durch die Luft flog. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte Kassandra das Flugobjekt und etwas zog sich in ihr zusammen, als es mit einem hässlichen Knacken auf dem Boden vor der Treppe aufschlug.
      Es war ein Mann, ein Bürger wie jene, die dort oben auf der Brücke standen.
      Die Menge verstummte, dann brandeten entsetzte und wutentbrannte Stimmen auf. Während Kassandra langsam die Treppe wieder hinabstieg, die Augen auf den Leichnam zu ihren Füßen gerichtet, teilte sich die Menge auf der anderen Seite des Platzes. Sie musste es auch, wenn sie nicht von der massiven Streitaxt zerteilt werden wollten, die sich durch die Luft schob. Geführt wurde sie von dunkelbraun behaarten Händen, gewaltig und massig. Muskelbepackte Arme mündeten in einem unwirklich erbauten Oberkörper ohne Bekleidung, dafür komplett bedeckt von braunem Fell. Unterhalb der Hüfte befand sich nicht einmal eine Hose, sondern nur dichtes Fell, ein peitschender Schwanz mit Haarbüschel am Ende sowie Paarhufen statt Füßen. Auf den Schultern trug er keinen menschlichen Kopf, sondern den eines Stieres mit goldglänzendem Ring in der Nase.
      Ein Minotaur.
      Kassandra war vor dem Leichnam in die Hocke gegangen und hatte ihre Hand auf dessen Brust gelegt. Der sie umgebende Schimmer wurde heller, als sie die Seele des frisch verstorbenen berührte und sie zum Zyklus zurückführte. Mit ihrer Führung würde sie bald wiedergeboren werden. Erst danach richtete sie sich langsam wieder auf und nahm den Minotauren in Sicht.
      „Eine ungebundene Gottheit sehen wir hier selten“, sagte ein Mann, der aus dem Schatten des Minotauren hervortrat, und sich in seinen Mittzwanzigern befinden musste. Er betrachtete Kassandra mit unverhohlener Neugier, als er auf sie zu kam, immer mit dem Stier zwischen ihnen, der nur schnaubte. „Die ganze Stadt ist in Aufruhr wegen Euch. Ihr wollt der Eviad sein?“
      Kassandras Miene sagte nichts, dafür sprach Zoras‘ Rücken eigentlich schon Bände. Ebenso wie die Menschen auf der Brücke, die damit anfingen, ihre Namen zu schreien.
      Der Mann stutzte nicht einmal. „Götter dürfen den Palast nicht betreten. Das gilt auch für Asterios.“ Er zeigte mit einem Daumen auf seinen Minotauren, der nicht wirklich darauf reagierte, sondern nur seine Axt fester packte und die Phönixin anstierte. „Er bleibt hier bei Eurer Göttin, damit sie nicht allein auf Euch warten muss. Einverstanden?“
      Während er sprach hielt er nicht an, sondern passierte Kassandra lediglich mit einem Nicken. Sie musste alles aufbringen, um dem Mann nicht einfach den Kopf von den Schultern zu reißen, aber der Minotaur baute sich so nah vor ihr auf, dass es selbst ihr beinahe unangenehm wurde. Asterios war nicht sonderlich schlau, aber extrem stark. So stark, dass ein ordentlicher Schwung seiner Axt sich nicht einmal von Kassandra parieren ließ. Also gab sie sich damit geschlagen, den Stier und die Menge im Auge zu behalten.
      Der Mann kam die Treppe empor und deutete auf den Eingang. „Einmal da lang. Dauert auch bestimmt nicht lange, ich bin immer nicht unbedingt der Pünktlichste.“ Er zuckte mit den Schultern und forderte Zoras ein weiteres Mal auf, reinzugehen.
      Kassandras Miene verfinsterte sich zusehends. Dann griff sie auf den Schwur zu, ohne Umschweife, ohne Verluste und etablierte die Verbindung, die sie schon längst hätte knüpfen wollen. Sie rief sich Zoras Aura vor die Augen, baute sie Farbe für Farbe nach und fasste den Faden, der ihre Gedanken mit den seinen verband. Es sirrte in ihrem Kopf, als die Verbindung stabil war.
      Wenn dir etwas seltsam vorkommt, denk an mich. Denk an meine Aura, an die Farbe, die du gesehen hast. Konzentrier dich darauf, dann kann ich deine Worte hören. Ruf mich, wenn du mich brauchst und ich schmelze den Stein zu Lava.