Auf Amartius' Frage hin wusste Zoras auch nichts zu antworten. Es stimmte, er hatte keine Ahnung, wie Kassandra vor all diesen Jahrtausenden gewesen sein mochte und er wusste auch nicht, wie sehr sie sich verändert hätte. Sie wäre lange genug in Kontakt mit menschlichen Emotionen gewesen, dass auch sie sich davon hätte beeinflussen lassen können. Aber wäre sie dann auch so, wie Zoras sie kennengelernt hatte? Noch immer stark, selbstbewusst, weise - liebevoll? Glücklich? Er dachte nicht. Wenn sie sich von den Gefühlen der Menschen hätte beeinflussen lassen, dann wäre sie mittlerweile ein Wrack, ein Schatten ihrer selbst, nicht mehr als ein Bruchteil von dem, was eine Phönixin ausmachte. Und das war sie nicht, dessen war sich Zoras sicher. Kassandra war noch immer eine gänzlich vollwertige Göttin.
Allerdings wusste er das nicht in Worte zu verpacken, die seinen Glauben unterstützt hätten, also schwieg er stattdessen und beobachtete, wie Amartius aufstand und sich in den Wagen verabschiedete. Dann war er alleine und starrte abwechselnd in das Feuer und in die Finsternis hinaus, während ihm noch die Worte seines Sohnes im Kopf herum geisterten, dass Kassandra alles für ihn tun würde. Dass sie ihn, nach all der Zeit, ja vielleicht sogar noch liebte.
Sie fuhren bei Tag weiter, der sich in nichts vom gestrigen unterschied. Der Himmel war zumindest weiter aufgeklärt und präsentierte die Sonne als gleißende Lichtquelle, aber die davon ausgehende Wärme ließ zu wünschen übrig. Zoras wollte sich nicht vorstellen, wie es ohne Amartius wäre.
Der Junge verzog sich zu Golm nach vorne und überließ es den Söldnern, weiter über ihr Vorgehen zu diskutieren. Besonders Faia schien wohl hibbelig in Anbetracht der möglichen Schätze zu werden, die sie überall ergattern könnten, und strengte sich daher an, ihrem gemeinsamen Plan etwas Gestalt zu verleihen. Zoras ließ sie reden und holte sie nur manchmal auf den Boden der Tatsachen zurück.
Es mochten Stunden, oder auch schon der halbe Tag vergangen sein, unmöglich einzuschätzen bei der Monotonie, die sie ständig umgab, als Amartius hastig aufsprang und einen Moment später der ganze Wagen ruckelte. Faia verstummte und hielt sich an der Wand fest, Zoras griff nach der nächstbesten Kiste und richtete seinen Blick auf Amartius. Der Wagen war schon häufiger ein wenig zur Seite getrieben, aber das hier war anders. Der Boden sollte hier immer gleich sein mit dem ganzen Schnee und Zoras sah auch keine Unebenheiten, als sie die Stelle überquert hatten.
Nur wenige Sekunden später ruckelte es erneut, aber dieses Mal konnte er deutlich sehen, dass etwas nicht stimmte. Es war der Boden, der nicht ganz leblos zu sein schien, was ihm auch das ferne Schneegestöber bestätigte. Ein Erdbeben? Niemand hatte etwas von einem Erdbeben gesagt. War das normal?
Auch Omnar und Tysion folgten jetzt dem allgemeinen Beispiel und hielten sich an etwas fest, keine Sekunde zu früh, da brüllte Golm von vorne und kaum einen Moment später teilte sich der Boden. Zoras konnte mit wachsendem Entsetzen den wahren Alptraum beobachten, der aus der Schwärze des Erdreichs in die gleißende Helligkeit des Schnees emporgedrungen kam in der Form eines gewaltigen, aufgerissenen Mauls mit undenkbar spitzen Zähnen. Das Ungetüm stammte aus den tiefsten Winkeln von Morpheus' Fantasie, dessen war sich Zoras sicher, als der Wagen erschüttert wurde und ein einzelnes, genauso riesiges Auge dem aufgerissenen Maul folgte und direkt in das Innere des Gefährts starrte. Die Pupillen waren vergleichsweise dünn und lang, die Haut darum herum geschuppt, die Iris fahl und schimmernd. Amartius und Faia schrien bei dem Anblick beide auf und Omnar stieß eine Reihe von Flüchen aus. Das Ding schoss an ihnen vorbei, knapp genug, dass es sie schon längst hätte zerreißen können.
Der Wagen ruckelte noch immer, dann machte er seinen Satz und schleuderte seinen Inhalt herum, als er scheinlichst den Boden verlor und auf die Seite fiel. Die Kisten waren nicht gesichert, genauso wenig wie die Passagiere, die herumfielen und schließlich in einem einigermaßen beruhigten Gefährt zum Stillstand kamen. Das Krachen des aufgespaltenen Bodens und fallenden Gefährts war verklungen und eine Stille breitete sich aus, die fast noch lauter war als sämtlicher Lärm zuvor. Omnar stöhnte leise, Tysion befreite seine Gliedmaßen von dem ausgekippten Inhalt der Fracht, Zoras stieß eine Kiste beiseite und sah sich dann nach Amartius um, der kaum etwas Schlimmeres abbekommen hatte. Ihre Blicke trafen sich und er wollte schon Luft holen um etwas zu sagen, vielleicht was zum Teufel das gewesen war oder ob alle unverletzt wären, da ertönte zu dem vorher alptraumhaften Anblick auch noch ein Geräusch, das ihnen allen bis in die Knochen fuhr. Die Söldner zuckten zusammen, von vorne beantwortete der Ochse das Geräusch mit einem eigenen Laut, der ihre Haare zu Berge stehen ließ und dann endlich hatten sie ihre Fassung soweit wiedererlangt, dass sie nach draußen klettern konnten - und sich dem Monstrum gegenüber sahen, das die Untiefen dieses Eislandes hervorgebracht hatte.
Ein Frostwyrm, in seinem vollständigen Grauen. Golm hatte keineswegs übertrieben, als er von einem Drachen geredet hatte. Das Ding war monströs und reptilienartig, anders stellte man es sich wohl nicht vor. Die Beschreibung war in keinerlei Hinsicht untertreibend gewesen: Der lange, schuppenbedeckte Körper, der gewaltige Kopf, die Hörner, von denen eins sicherlich genauso groß wie der ganze Wagen war. Stacheln, die sich über seinen Rücken hinweg absetzten und sicher irgendwie ihren Beitrag zur Wanderschaft durch das Erdreich leisteten. In einem anderen Kontext wäre diese neuartige Kreatur wohl faszinierend gewesen, genauso viel wie deren Herkunft, aber im Moment verspürte Zoras in Anbetracht der Tatsache, dass das Ding seinen Blick auf die kleine Gruppe gerichtet hatte und mit einer gewaltigen, gespaltenen Zunge zischelte, nichts anderes als pures, tiefgründiges Entsetzen. Wäre sein Körper nicht aus reiner Angst erstarrt gewesen, wäre er wohl in schiere Panik ausgebrochen. So starrte er nur, während Tysion auf einer Seite anfing, ein Stoßgebet an die Götter zu murmeln, und Amartius auf der anderen Seite gleichfalls überwältigt schien. Keiner von ihnen allen rührte sich, alle starrten nur dem Alptraum entgegen, der sich vor ihnen offenbart hatte.
Dann setzte es sich in Bewegung. Der große, schlangenartige Körper setzte sich mit einem Schwung in Bewegung und schlängelte sich aus der Spalte hervor, durch das Schneegestöber hindurch, ungeachtet der Wolken, die er damit aufstieß. Der Wyrm war langsamer als er es noch vor ein paar Sekunden gewesen war, als er aus dem Erdreich gebrochen war, aber er war noch immer schnell genug, dass eine Flucht aussichtslos war. Selbst auf einem Pferd wäre es wohl kaum machbar gewesen, schätzte Zoras, der sich für einen Moment von den rhythmischen Bewegungen der schillernden Schuppen hypnotisieren ließ. Das Ding kam näher. Die Zunge leckte zwischen den gewaltigen Zähnen heraus nach draußen, zuckte und zog dann wieder ein, die Schlitzaugen zuckten. Das Knacken von aufbrechendem Eis und schabenden Schuppen begleitete es, ein Geräusch, wie es nicht besser zu dem Alptraum hätte passen können. Morpheus hätte es nicht besser konstruieren können.
Faia stieß ein Geräusch aus, das verdächtig nahe an einem Wimmern lag, und packte Omnars Unterarm, da riss Zoras sich erst aus seiner Trance. Sie konnten hier nicht stehen bleiben, er war nicht hergekommen, um sich von einem bis dahin unbekannten Monster verschlingen zu lassen. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was zum Teufel er gegen so ein Ding tun sollte, irgendetwas musste er machen. Sie mussten irgendwas versuchen, denn anders würden sie keineswegs vor den radhohen Zähnen fliehen können.
"Weg. Weg vom Wagen!"
Er tat einen Schritt zurück, aber kein anderer rührte sich nicht, allesamt starrten sie nur in vereintem Grauen auf ihren gemeinsamen Untergang. Er kannte den Blick. Jetzt, wo er sich selbst erst von dem Ungetüm abwenden konnte, erkannte er die Schockstarre, in der sich alle anderen vier befanden. Einen vom Schock gelähmten Soldaten sandte man nicht an die Front, aber in diesem Fall waren sie die einzige Front. Er musste.
"Amartius, geh zum Wagen, hilf Golm, ihn zu richten. Er muss weiterfahren, schnell. Beeil dich!"
Er fasste den Jungen bei der Schulter und zog ihn unsanft zurück, riss ihn aus dessen Trance und schob ihn in Richtung des Wagens. Einen einzigen Blick nur konnte er ihm widmen, um zu signalisieren, dass der Junge gefälligst genau das tat, was er ihm befahl, dann musste er sich schon an die anderen wenden. Er packte Tysion beim Oberarm und schubste ihn zur Seite gegen Omnar, der wiederum gegen Faia stolperte. Alle drei lösten sich aus der eingetretenen Starre und richteten ihre Blicke auf ihn.
"Weg vom Wagen, jetzt! Faia Norden, Omnar Nordosten, Tysion Südwesten! Aufstellung, Waffen ziehen!"
Tysion war der erste und einzige, der reagierte. Das Soldatenblut musste dem Veteranen noch immer durch die Venen fließen, denn sein Unterbewusstsein reagierte auf Zoras' herrschenden Befehlston mit Gehorsam. Vermutlich war er sogar erleichtert darum, etwas tun zu können, seine eigenen Gedanken auszuschalten und dem zu folgen, was der andere ihm vor diktierte. Er riss sein Schwert hervor, wirbelte herum und rannte in die angegebene Richtung.
Erst, als Omnar Tysion davonrennen sah, stieß er einen weiteren Fluch aus, fügte sich dem Befehl und zog Faia mit sich. Die Frau hatte ihren Eisengriff noch nicht von seinem Unterarm gelöst und stolperte mehr, als dass sie rannte, aber schließlich setzten auch ihre Beine sich anständig in Bewegung. Zoras drehte sich zu der Schlange herum und zog sein Schwert heraus.
Jetzt war er alleine. Kaum 50 Meter trennten ihn und den Wagen von dem Wyrm. Die Kälte war plötzlich da und kroch ihm unter die Kleidung, in sämtliche Schlitze in seinem Gewand und unter seine Haut. Er packte sein Schwert mit eisernem Griff und wog es in der Hand, befühlte den rauen Griff und testete die Balance der Klinge. Es war keine hochwertige Waffe.
Der Wyrm hielt auf den Wagen zu, einfaches, gefundenes Fressen, ignorierte die anderen und sperrte das Maul auf. 20 Meter, Zoras trat einen Schritt nach vorne. Er richtete sich seitlich aus, fixierte das Ungeheuer, den tiefschwarzen Schlund, der sich vor dem Wagen auftat. 15 Meter, der Ochse kreischte vor Angst, Zoras hob das Schwert an, seitlich zu seinem Kopf, verlagerte das Gewicht nach hinten, suchte festen Halt auf dem schneebedeckten Boden. 10 Meter, er stieß sich ab, machte drei lange Laufschritte nach vorne, das Schwert neben seinem Kopf. Kassandra, ich bete zu dir, zu dir und niemand anderem, führe mein Schwert mit deiner Macht, leite den Wind mit deinen Schwingen, leihe mir deine Stärke. Für die Befreiung meiner Phönixin, für die Freiheit meines Sohnes, für das Wohl meiner Freunde. Ich liebe dich.
Er neigte sich nach hinten, überstreckte den Arm und schleuderte die Waffe dann mit der ganzen Kraft seines Oberkörpers nach vorne.
Die Klinge raste durch die Luft, etwa zwei Sekunden lang, ein blitzendes Etwas in der gleißenden Landschaft, und verschwand dann zielsicher in dem Schlund des Ungeheuers. Der Wyrm klappte das Maul zu und dann stieß er ein Donnern aus, das die Macht hatte, den Boden zu erschüttern. Der Kopf schwenkte zur Seite und ein riesiges, stählernes Auge richtete sich auf Zoras.
Der Veteran wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Seiner Waffe beraubt, die irgendwo im Rachen des Monstrums steckte und hoffentlich seinen Schaden anrichtete, wirbelte er auf der Stelle herum und lief, rannte so schnell er konnte, sprintete auf die ferne Lücke zu, die er sich zwischen den anderen dreien gelassen hatte. Er rannte, wie er in seinem Leben noch nie gerannt war, so schnell, wie es der Boden gestattete, wie sein vor Angst rasendes Herz es erlaubte. Hinter ihm donnerte es und der Boden vibrierte. Der Wyrm war verärgert.
Das Eis krachte, der Untergrund bebte, Zoras rannte um sein Leben. Ein Schatten erhob sich unter ihm, groß und dunkel und furchteinflößend, gepaart mit einem Warnruf, den er flüchtig Tysion zuordnen konnte. Mit einem Hechtsprung, der ihm seine ganze Körperkraft abverlangte und immernoch nicht genug zu sein schien, katapultierte er sich zur Seite weg, rollte sich im eisigen Schnee weiter und wurde nur einen Augenblick später durchgeschüttelt, als das Monstrum neben ihm das geöffnete Maul in den Boden stieß. Das Eis brach auf, der Boden teilte sich und Zoras strampelte schnell in die andere Richtung, als der Spalt aufkrachte und der Wyrm ins Erdreich hinab brach. Er hatte ihn verfehlt. Er hatte ihn um gerade mal einen Meter verfehlt.
Tysion tauchte aus dem Nichts auf und zerrte Zoras auf die Beine, bevor beide vor dem herabgrabenden Wyrm davonliefen. Er würde unten verschwinden, dort wo er ursprünglich gewesen war, und dann würde er wieder auftauchen. Sie hatten höchstens Sekunden gespart. Zoras rang um Atem.
"Weiter! Ablenken, wenn er kommt! Er kann uns nicht alle auf einmal fressen!"
Gehetzt sah er sich nach dem Wagen um. Konnten sie weiter? Weg von der Bestie, die vermutlich irgendwo unter ihnen einen Weg wieder nach oben suchte?
Allerdings wusste er das nicht in Worte zu verpacken, die seinen Glauben unterstützt hätten, also schwieg er stattdessen und beobachtete, wie Amartius aufstand und sich in den Wagen verabschiedete. Dann war er alleine und starrte abwechselnd in das Feuer und in die Finsternis hinaus, während ihm noch die Worte seines Sohnes im Kopf herum geisterten, dass Kassandra alles für ihn tun würde. Dass sie ihn, nach all der Zeit, ja vielleicht sogar noch liebte.
Sie fuhren bei Tag weiter, der sich in nichts vom gestrigen unterschied. Der Himmel war zumindest weiter aufgeklärt und präsentierte die Sonne als gleißende Lichtquelle, aber die davon ausgehende Wärme ließ zu wünschen übrig. Zoras wollte sich nicht vorstellen, wie es ohne Amartius wäre.
Der Junge verzog sich zu Golm nach vorne und überließ es den Söldnern, weiter über ihr Vorgehen zu diskutieren. Besonders Faia schien wohl hibbelig in Anbetracht der möglichen Schätze zu werden, die sie überall ergattern könnten, und strengte sich daher an, ihrem gemeinsamen Plan etwas Gestalt zu verleihen. Zoras ließ sie reden und holte sie nur manchmal auf den Boden der Tatsachen zurück.
Es mochten Stunden, oder auch schon der halbe Tag vergangen sein, unmöglich einzuschätzen bei der Monotonie, die sie ständig umgab, als Amartius hastig aufsprang und einen Moment später der ganze Wagen ruckelte. Faia verstummte und hielt sich an der Wand fest, Zoras griff nach der nächstbesten Kiste und richtete seinen Blick auf Amartius. Der Wagen war schon häufiger ein wenig zur Seite getrieben, aber das hier war anders. Der Boden sollte hier immer gleich sein mit dem ganzen Schnee und Zoras sah auch keine Unebenheiten, als sie die Stelle überquert hatten.
Nur wenige Sekunden später ruckelte es erneut, aber dieses Mal konnte er deutlich sehen, dass etwas nicht stimmte. Es war der Boden, der nicht ganz leblos zu sein schien, was ihm auch das ferne Schneegestöber bestätigte. Ein Erdbeben? Niemand hatte etwas von einem Erdbeben gesagt. War das normal?
Auch Omnar und Tysion folgten jetzt dem allgemeinen Beispiel und hielten sich an etwas fest, keine Sekunde zu früh, da brüllte Golm von vorne und kaum einen Moment später teilte sich der Boden. Zoras konnte mit wachsendem Entsetzen den wahren Alptraum beobachten, der aus der Schwärze des Erdreichs in die gleißende Helligkeit des Schnees emporgedrungen kam in der Form eines gewaltigen, aufgerissenen Mauls mit undenkbar spitzen Zähnen. Das Ungetüm stammte aus den tiefsten Winkeln von Morpheus' Fantasie, dessen war sich Zoras sicher, als der Wagen erschüttert wurde und ein einzelnes, genauso riesiges Auge dem aufgerissenen Maul folgte und direkt in das Innere des Gefährts starrte. Die Pupillen waren vergleichsweise dünn und lang, die Haut darum herum geschuppt, die Iris fahl und schimmernd. Amartius und Faia schrien bei dem Anblick beide auf und Omnar stieß eine Reihe von Flüchen aus. Das Ding schoss an ihnen vorbei, knapp genug, dass es sie schon längst hätte zerreißen können.
Der Wagen ruckelte noch immer, dann machte er seinen Satz und schleuderte seinen Inhalt herum, als er scheinlichst den Boden verlor und auf die Seite fiel. Die Kisten waren nicht gesichert, genauso wenig wie die Passagiere, die herumfielen und schließlich in einem einigermaßen beruhigten Gefährt zum Stillstand kamen. Das Krachen des aufgespaltenen Bodens und fallenden Gefährts war verklungen und eine Stille breitete sich aus, die fast noch lauter war als sämtlicher Lärm zuvor. Omnar stöhnte leise, Tysion befreite seine Gliedmaßen von dem ausgekippten Inhalt der Fracht, Zoras stieß eine Kiste beiseite und sah sich dann nach Amartius um, der kaum etwas Schlimmeres abbekommen hatte. Ihre Blicke trafen sich und er wollte schon Luft holen um etwas zu sagen, vielleicht was zum Teufel das gewesen war oder ob alle unverletzt wären, da ertönte zu dem vorher alptraumhaften Anblick auch noch ein Geräusch, das ihnen allen bis in die Knochen fuhr. Die Söldner zuckten zusammen, von vorne beantwortete der Ochse das Geräusch mit einem eigenen Laut, der ihre Haare zu Berge stehen ließ und dann endlich hatten sie ihre Fassung soweit wiedererlangt, dass sie nach draußen klettern konnten - und sich dem Monstrum gegenüber sahen, das die Untiefen dieses Eislandes hervorgebracht hatte.
Ein Frostwyrm, in seinem vollständigen Grauen. Golm hatte keineswegs übertrieben, als er von einem Drachen geredet hatte. Das Ding war monströs und reptilienartig, anders stellte man es sich wohl nicht vor. Die Beschreibung war in keinerlei Hinsicht untertreibend gewesen: Der lange, schuppenbedeckte Körper, der gewaltige Kopf, die Hörner, von denen eins sicherlich genauso groß wie der ganze Wagen war. Stacheln, die sich über seinen Rücken hinweg absetzten und sicher irgendwie ihren Beitrag zur Wanderschaft durch das Erdreich leisteten. In einem anderen Kontext wäre diese neuartige Kreatur wohl faszinierend gewesen, genauso viel wie deren Herkunft, aber im Moment verspürte Zoras in Anbetracht der Tatsache, dass das Ding seinen Blick auf die kleine Gruppe gerichtet hatte und mit einer gewaltigen, gespaltenen Zunge zischelte, nichts anderes als pures, tiefgründiges Entsetzen. Wäre sein Körper nicht aus reiner Angst erstarrt gewesen, wäre er wohl in schiere Panik ausgebrochen. So starrte er nur, während Tysion auf einer Seite anfing, ein Stoßgebet an die Götter zu murmeln, und Amartius auf der anderen Seite gleichfalls überwältigt schien. Keiner von ihnen allen rührte sich, alle starrten nur dem Alptraum entgegen, der sich vor ihnen offenbart hatte.
Dann setzte es sich in Bewegung. Der große, schlangenartige Körper setzte sich mit einem Schwung in Bewegung und schlängelte sich aus der Spalte hervor, durch das Schneegestöber hindurch, ungeachtet der Wolken, die er damit aufstieß. Der Wyrm war langsamer als er es noch vor ein paar Sekunden gewesen war, als er aus dem Erdreich gebrochen war, aber er war noch immer schnell genug, dass eine Flucht aussichtslos war. Selbst auf einem Pferd wäre es wohl kaum machbar gewesen, schätzte Zoras, der sich für einen Moment von den rhythmischen Bewegungen der schillernden Schuppen hypnotisieren ließ. Das Ding kam näher. Die Zunge leckte zwischen den gewaltigen Zähnen heraus nach draußen, zuckte und zog dann wieder ein, die Schlitzaugen zuckten. Das Knacken von aufbrechendem Eis und schabenden Schuppen begleitete es, ein Geräusch, wie es nicht besser zu dem Alptraum hätte passen können. Morpheus hätte es nicht besser konstruieren können.
Faia stieß ein Geräusch aus, das verdächtig nahe an einem Wimmern lag, und packte Omnars Unterarm, da riss Zoras sich erst aus seiner Trance. Sie konnten hier nicht stehen bleiben, er war nicht hergekommen, um sich von einem bis dahin unbekannten Monster verschlingen zu lassen. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was zum Teufel er gegen so ein Ding tun sollte, irgendetwas musste er machen. Sie mussten irgendwas versuchen, denn anders würden sie keineswegs vor den radhohen Zähnen fliehen können.
"Weg. Weg vom Wagen!"
Er tat einen Schritt zurück, aber kein anderer rührte sich nicht, allesamt starrten sie nur in vereintem Grauen auf ihren gemeinsamen Untergang. Er kannte den Blick. Jetzt, wo er sich selbst erst von dem Ungetüm abwenden konnte, erkannte er die Schockstarre, in der sich alle anderen vier befanden. Einen vom Schock gelähmten Soldaten sandte man nicht an die Front, aber in diesem Fall waren sie die einzige Front. Er musste.
"Amartius, geh zum Wagen, hilf Golm, ihn zu richten. Er muss weiterfahren, schnell. Beeil dich!"
Er fasste den Jungen bei der Schulter und zog ihn unsanft zurück, riss ihn aus dessen Trance und schob ihn in Richtung des Wagens. Einen einzigen Blick nur konnte er ihm widmen, um zu signalisieren, dass der Junge gefälligst genau das tat, was er ihm befahl, dann musste er sich schon an die anderen wenden. Er packte Tysion beim Oberarm und schubste ihn zur Seite gegen Omnar, der wiederum gegen Faia stolperte. Alle drei lösten sich aus der eingetretenen Starre und richteten ihre Blicke auf ihn.
"Weg vom Wagen, jetzt! Faia Norden, Omnar Nordosten, Tysion Südwesten! Aufstellung, Waffen ziehen!"
Tysion war der erste und einzige, der reagierte. Das Soldatenblut musste dem Veteranen noch immer durch die Venen fließen, denn sein Unterbewusstsein reagierte auf Zoras' herrschenden Befehlston mit Gehorsam. Vermutlich war er sogar erleichtert darum, etwas tun zu können, seine eigenen Gedanken auszuschalten und dem zu folgen, was der andere ihm vor diktierte. Er riss sein Schwert hervor, wirbelte herum und rannte in die angegebene Richtung.
Erst, als Omnar Tysion davonrennen sah, stieß er einen weiteren Fluch aus, fügte sich dem Befehl und zog Faia mit sich. Die Frau hatte ihren Eisengriff noch nicht von seinem Unterarm gelöst und stolperte mehr, als dass sie rannte, aber schließlich setzten auch ihre Beine sich anständig in Bewegung. Zoras drehte sich zu der Schlange herum und zog sein Schwert heraus.
Jetzt war er alleine. Kaum 50 Meter trennten ihn und den Wagen von dem Wyrm. Die Kälte war plötzlich da und kroch ihm unter die Kleidung, in sämtliche Schlitze in seinem Gewand und unter seine Haut. Er packte sein Schwert mit eisernem Griff und wog es in der Hand, befühlte den rauen Griff und testete die Balance der Klinge. Es war keine hochwertige Waffe.
Der Wyrm hielt auf den Wagen zu, einfaches, gefundenes Fressen, ignorierte die anderen und sperrte das Maul auf. 20 Meter, Zoras trat einen Schritt nach vorne. Er richtete sich seitlich aus, fixierte das Ungeheuer, den tiefschwarzen Schlund, der sich vor dem Wagen auftat. 15 Meter, der Ochse kreischte vor Angst, Zoras hob das Schwert an, seitlich zu seinem Kopf, verlagerte das Gewicht nach hinten, suchte festen Halt auf dem schneebedeckten Boden. 10 Meter, er stieß sich ab, machte drei lange Laufschritte nach vorne, das Schwert neben seinem Kopf. Kassandra, ich bete zu dir, zu dir und niemand anderem, führe mein Schwert mit deiner Macht, leite den Wind mit deinen Schwingen, leihe mir deine Stärke. Für die Befreiung meiner Phönixin, für die Freiheit meines Sohnes, für das Wohl meiner Freunde. Ich liebe dich.
Er neigte sich nach hinten, überstreckte den Arm und schleuderte die Waffe dann mit der ganzen Kraft seines Oberkörpers nach vorne.
Die Klinge raste durch die Luft, etwa zwei Sekunden lang, ein blitzendes Etwas in der gleißenden Landschaft, und verschwand dann zielsicher in dem Schlund des Ungeheuers. Der Wyrm klappte das Maul zu und dann stieß er ein Donnern aus, das die Macht hatte, den Boden zu erschüttern. Der Kopf schwenkte zur Seite und ein riesiges, stählernes Auge richtete sich auf Zoras.
Der Veteran wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Seiner Waffe beraubt, die irgendwo im Rachen des Monstrums steckte und hoffentlich seinen Schaden anrichtete, wirbelte er auf der Stelle herum und lief, rannte so schnell er konnte, sprintete auf die ferne Lücke zu, die er sich zwischen den anderen dreien gelassen hatte. Er rannte, wie er in seinem Leben noch nie gerannt war, so schnell, wie es der Boden gestattete, wie sein vor Angst rasendes Herz es erlaubte. Hinter ihm donnerte es und der Boden vibrierte. Der Wyrm war verärgert.
Das Eis krachte, der Untergrund bebte, Zoras rannte um sein Leben. Ein Schatten erhob sich unter ihm, groß und dunkel und furchteinflößend, gepaart mit einem Warnruf, den er flüchtig Tysion zuordnen konnte. Mit einem Hechtsprung, der ihm seine ganze Körperkraft abverlangte und immernoch nicht genug zu sein schien, katapultierte er sich zur Seite weg, rollte sich im eisigen Schnee weiter und wurde nur einen Augenblick später durchgeschüttelt, als das Monstrum neben ihm das geöffnete Maul in den Boden stieß. Das Eis brach auf, der Boden teilte sich und Zoras strampelte schnell in die andere Richtung, als der Spalt aufkrachte und der Wyrm ins Erdreich hinab brach. Er hatte ihn verfehlt. Er hatte ihn um gerade mal einen Meter verfehlt.
Tysion tauchte aus dem Nichts auf und zerrte Zoras auf die Beine, bevor beide vor dem herabgrabenden Wyrm davonliefen. Er würde unten verschwinden, dort wo er ursprünglich gewesen war, und dann würde er wieder auftauchen. Sie hatten höchstens Sekunden gespart. Zoras rang um Atem.
"Weiter! Ablenken, wenn er kommt! Er kann uns nicht alle auf einmal fressen!"
Gehetzt sah er sich nach dem Wagen um. Konnten sie weiter? Weg von der Bestie, die vermutlich irgendwo unter ihnen einen Weg wieder nach oben suchte?