Salvation's Sacrifice [Asuna & Codren]

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    • Auf Amartius' Frage hin wusste Zoras auch nichts zu antworten. Es stimmte, er hatte keine Ahnung, wie Kassandra vor all diesen Jahrtausenden gewesen sein mochte und er wusste auch nicht, wie sehr sie sich verändert hätte. Sie wäre lange genug in Kontakt mit menschlichen Emotionen gewesen, dass auch sie sich davon hätte beeinflussen lassen können. Aber wäre sie dann auch so, wie Zoras sie kennengelernt hatte? Noch immer stark, selbstbewusst, weise - liebevoll? Glücklich? Er dachte nicht. Wenn sie sich von den Gefühlen der Menschen hätte beeinflussen lassen, dann wäre sie mittlerweile ein Wrack, ein Schatten ihrer selbst, nicht mehr als ein Bruchteil von dem, was eine Phönixin ausmachte. Und das war sie nicht, dessen war sich Zoras sicher. Kassandra war noch immer eine gänzlich vollwertige Göttin.
      Allerdings wusste er das nicht in Worte zu verpacken, die seinen Glauben unterstützt hätten, also schwieg er stattdessen und beobachtete, wie Amartius aufstand und sich in den Wagen verabschiedete. Dann war er alleine und starrte abwechselnd in das Feuer und in die Finsternis hinaus, während ihm noch die Worte seines Sohnes im Kopf herum geisterten, dass Kassandra alles für ihn tun würde. Dass sie ihn, nach all der Zeit, ja vielleicht sogar noch liebte.

      Sie fuhren bei Tag weiter, der sich in nichts vom gestrigen unterschied. Der Himmel war zumindest weiter aufgeklärt und präsentierte die Sonne als gleißende Lichtquelle, aber die davon ausgehende Wärme ließ zu wünschen übrig. Zoras wollte sich nicht vorstellen, wie es ohne Amartius wäre.
      Der Junge verzog sich zu Golm nach vorne und überließ es den Söldnern, weiter über ihr Vorgehen zu diskutieren. Besonders Faia schien wohl hibbelig in Anbetracht der möglichen Schätze zu werden, die sie überall ergattern könnten, und strengte sich daher an, ihrem gemeinsamen Plan etwas Gestalt zu verleihen. Zoras ließ sie reden und holte sie nur manchmal auf den Boden der Tatsachen zurück.
      Es mochten Stunden, oder auch schon der halbe Tag vergangen sein, unmöglich einzuschätzen bei der Monotonie, die sie ständig umgab, als Amartius hastig aufsprang und einen Moment später der ganze Wagen ruckelte. Faia verstummte und hielt sich an der Wand fest, Zoras griff nach der nächstbesten Kiste und richtete seinen Blick auf Amartius. Der Wagen war schon häufiger ein wenig zur Seite getrieben, aber das hier war anders. Der Boden sollte hier immer gleich sein mit dem ganzen Schnee und Zoras sah auch keine Unebenheiten, als sie die Stelle überquert hatten.
      Nur wenige Sekunden später ruckelte es erneut, aber dieses Mal konnte er deutlich sehen, dass etwas nicht stimmte. Es war der Boden, der nicht ganz leblos zu sein schien, was ihm auch das ferne Schneegestöber bestätigte. Ein Erdbeben? Niemand hatte etwas von einem Erdbeben gesagt. War das normal?
      Auch Omnar und Tysion folgten jetzt dem allgemeinen Beispiel und hielten sich an etwas fest, keine Sekunde zu früh, da brüllte Golm von vorne und kaum einen Moment später teilte sich der Boden. Zoras konnte mit wachsendem Entsetzen den wahren Alptraum beobachten, der aus der Schwärze des Erdreichs in die gleißende Helligkeit des Schnees emporgedrungen kam in der Form eines gewaltigen, aufgerissenen Mauls mit undenkbar spitzen Zähnen. Das Ungetüm stammte aus den tiefsten Winkeln von Morpheus' Fantasie, dessen war sich Zoras sicher, als der Wagen erschüttert wurde und ein einzelnes, genauso riesiges Auge dem aufgerissenen Maul folgte und direkt in das Innere des Gefährts starrte. Die Pupillen waren vergleichsweise dünn und lang, die Haut darum herum geschuppt, die Iris fahl und schimmernd. Amartius und Faia schrien bei dem Anblick beide auf und Omnar stieß eine Reihe von Flüchen aus. Das Ding schoss an ihnen vorbei, knapp genug, dass es sie schon längst hätte zerreißen können.
      Der Wagen ruckelte noch immer, dann machte er seinen Satz und schleuderte seinen Inhalt herum, als er scheinlichst den Boden verlor und auf die Seite fiel. Die Kisten waren nicht gesichert, genauso wenig wie die Passagiere, die herumfielen und schließlich in einem einigermaßen beruhigten Gefährt zum Stillstand kamen. Das Krachen des aufgespaltenen Bodens und fallenden Gefährts war verklungen und eine Stille breitete sich aus, die fast noch lauter war als sämtlicher Lärm zuvor. Omnar stöhnte leise, Tysion befreite seine Gliedmaßen von dem ausgekippten Inhalt der Fracht, Zoras stieß eine Kiste beiseite und sah sich dann nach Amartius um, der kaum etwas Schlimmeres abbekommen hatte. Ihre Blicke trafen sich und er wollte schon Luft holen um etwas zu sagen, vielleicht was zum Teufel das gewesen war oder ob alle unverletzt wären, da ertönte zu dem vorher alptraumhaften Anblick auch noch ein Geräusch, das ihnen allen bis in die Knochen fuhr. Die Söldner zuckten zusammen, von vorne beantwortete der Ochse das Geräusch mit einem eigenen Laut, der ihre Haare zu Berge stehen ließ und dann endlich hatten sie ihre Fassung soweit wiedererlangt, dass sie nach draußen klettern konnten - und sich dem Monstrum gegenüber sahen, das die Untiefen dieses Eislandes hervorgebracht hatte.
      Ein Frostwyrm, in seinem vollständigen Grauen. Golm hatte keineswegs übertrieben, als er von einem Drachen geredet hatte. Das Ding war monströs und reptilienartig, anders stellte man es sich wohl nicht vor. Die Beschreibung war in keinerlei Hinsicht untertreibend gewesen: Der lange, schuppenbedeckte Körper, der gewaltige Kopf, die Hörner, von denen eins sicherlich genauso groß wie der ganze Wagen war. Stacheln, die sich über seinen Rücken hinweg absetzten und sicher irgendwie ihren Beitrag zur Wanderschaft durch das Erdreich leisteten. In einem anderen Kontext wäre diese neuartige Kreatur wohl faszinierend gewesen, genauso viel wie deren Herkunft, aber im Moment verspürte Zoras in Anbetracht der Tatsache, dass das Ding seinen Blick auf die kleine Gruppe gerichtet hatte und mit einer gewaltigen, gespaltenen Zunge zischelte, nichts anderes als pures, tiefgründiges Entsetzen. Wäre sein Körper nicht aus reiner Angst erstarrt gewesen, wäre er wohl in schiere Panik ausgebrochen. So starrte er nur, während Tysion auf einer Seite anfing, ein Stoßgebet an die Götter zu murmeln, und Amartius auf der anderen Seite gleichfalls überwältigt schien. Keiner von ihnen allen rührte sich, alle starrten nur dem Alptraum entgegen, der sich vor ihnen offenbart hatte.
      Dann setzte es sich in Bewegung. Der große, schlangenartige Körper setzte sich mit einem Schwung in Bewegung und schlängelte sich aus der Spalte hervor, durch das Schneegestöber hindurch, ungeachtet der Wolken, die er damit aufstieß. Der Wyrm war langsamer als er es noch vor ein paar Sekunden gewesen war, als er aus dem Erdreich gebrochen war, aber er war noch immer schnell genug, dass eine Flucht aussichtslos war. Selbst auf einem Pferd wäre es wohl kaum machbar gewesen, schätzte Zoras, der sich für einen Moment von den rhythmischen Bewegungen der schillernden Schuppen hypnotisieren ließ. Das Ding kam näher. Die Zunge leckte zwischen den gewaltigen Zähnen heraus nach draußen, zuckte und zog dann wieder ein, die Schlitzaugen zuckten. Das Knacken von aufbrechendem Eis und schabenden Schuppen begleitete es, ein Geräusch, wie es nicht besser zu dem Alptraum hätte passen können. Morpheus hätte es nicht besser konstruieren können.
      Faia stieß ein Geräusch aus, das verdächtig nahe an einem Wimmern lag, und packte Omnars Unterarm, da riss Zoras sich erst aus seiner Trance. Sie konnten hier nicht stehen bleiben, er war nicht hergekommen, um sich von einem bis dahin unbekannten Monster verschlingen zu lassen. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was zum Teufel er gegen so ein Ding tun sollte, irgendetwas musste er machen. Sie mussten irgendwas versuchen, denn anders würden sie keineswegs vor den radhohen Zähnen fliehen können.
      "Weg. Weg vom Wagen!"
      Er tat einen Schritt zurück, aber kein anderer rührte sich nicht, allesamt starrten sie nur in vereintem Grauen auf ihren gemeinsamen Untergang. Er kannte den Blick. Jetzt, wo er sich selbst erst von dem Ungetüm abwenden konnte, erkannte er die Schockstarre, in der sich alle anderen vier befanden. Einen vom Schock gelähmten Soldaten sandte man nicht an die Front, aber in diesem Fall waren sie die einzige Front. Er musste.
      "Amartius, geh zum Wagen, hilf Golm, ihn zu richten. Er muss weiterfahren, schnell. Beeil dich!"
      Er fasste den Jungen bei der Schulter und zog ihn unsanft zurück, riss ihn aus dessen Trance und schob ihn in Richtung des Wagens. Einen einzigen Blick nur konnte er ihm widmen, um zu signalisieren, dass der Junge gefälligst genau das tat, was er ihm befahl, dann musste er sich schon an die anderen wenden. Er packte Tysion beim Oberarm und schubste ihn zur Seite gegen Omnar, der wiederum gegen Faia stolperte. Alle drei lösten sich aus der eingetretenen Starre und richteten ihre Blicke auf ihn.
      "Weg vom Wagen, jetzt! Faia Norden, Omnar Nordosten, Tysion Südwesten! Aufstellung, Waffen ziehen!"
      Tysion war der erste und einzige, der reagierte. Das Soldatenblut musste dem Veteranen noch immer durch die Venen fließen, denn sein Unterbewusstsein reagierte auf Zoras' herrschenden Befehlston mit Gehorsam. Vermutlich war er sogar erleichtert darum, etwas tun zu können, seine eigenen Gedanken auszuschalten und dem zu folgen, was der andere ihm vor diktierte. Er riss sein Schwert hervor, wirbelte herum und rannte in die angegebene Richtung.
      Erst, als Omnar Tysion davonrennen sah, stieß er einen weiteren Fluch aus, fügte sich dem Befehl und zog Faia mit sich. Die Frau hatte ihren Eisengriff noch nicht von seinem Unterarm gelöst und stolperte mehr, als dass sie rannte, aber schließlich setzten auch ihre Beine sich anständig in Bewegung. Zoras drehte sich zu der Schlange herum und zog sein Schwert heraus.
      Jetzt war er alleine. Kaum 50 Meter trennten ihn und den Wagen von dem Wyrm. Die Kälte war plötzlich da und kroch ihm unter die Kleidung, in sämtliche Schlitze in seinem Gewand und unter seine Haut. Er packte sein Schwert mit eisernem Griff und wog es in der Hand, befühlte den rauen Griff und testete die Balance der Klinge. Es war keine hochwertige Waffe.
      Der Wyrm hielt auf den Wagen zu, einfaches, gefundenes Fressen, ignorierte die anderen und sperrte das Maul auf. 20 Meter, Zoras trat einen Schritt nach vorne. Er richtete sich seitlich aus, fixierte das Ungeheuer, den tiefschwarzen Schlund, der sich vor dem Wagen auftat. 15 Meter, der Ochse kreischte vor Angst, Zoras hob das Schwert an, seitlich zu seinem Kopf, verlagerte das Gewicht nach hinten, suchte festen Halt auf dem schneebedeckten Boden. 10 Meter, er stieß sich ab, machte drei lange Laufschritte nach vorne, das Schwert neben seinem Kopf. Kassandra, ich bete zu dir, zu dir und niemand anderem, führe mein Schwert mit deiner Macht, leite den Wind mit deinen Schwingen, leihe mir deine Stärke. Für die Befreiung meiner Phönixin, für die Freiheit meines Sohnes, für das Wohl meiner Freunde. Ich liebe dich.
      Er neigte sich nach hinten, überstreckte den Arm und schleuderte die Waffe dann mit der ganzen Kraft seines Oberkörpers nach vorne.
      Die Klinge raste durch die Luft, etwa zwei Sekunden lang, ein blitzendes Etwas in der gleißenden Landschaft, und verschwand dann zielsicher in dem Schlund des Ungeheuers. Der Wyrm klappte das Maul zu und dann stieß er ein Donnern aus, das die Macht hatte, den Boden zu erschüttern. Der Kopf schwenkte zur Seite und ein riesiges, stählernes Auge richtete sich auf Zoras.
      Der Veteran wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Seiner Waffe beraubt, die irgendwo im Rachen des Monstrums steckte und hoffentlich seinen Schaden anrichtete, wirbelte er auf der Stelle herum und lief, rannte so schnell er konnte, sprintete auf die ferne Lücke zu, die er sich zwischen den anderen dreien gelassen hatte. Er rannte, wie er in seinem Leben noch nie gerannt war, so schnell, wie es der Boden gestattete, wie sein vor Angst rasendes Herz es erlaubte. Hinter ihm donnerte es und der Boden vibrierte. Der Wyrm war verärgert.
      Das Eis krachte, der Untergrund bebte, Zoras rannte um sein Leben. Ein Schatten erhob sich unter ihm, groß und dunkel und furchteinflößend, gepaart mit einem Warnruf, den er flüchtig Tysion zuordnen konnte. Mit einem Hechtsprung, der ihm seine ganze Körperkraft abverlangte und immernoch nicht genug zu sein schien, katapultierte er sich zur Seite weg, rollte sich im eisigen Schnee weiter und wurde nur einen Augenblick später durchgeschüttelt, als das Monstrum neben ihm das geöffnete Maul in den Boden stieß. Das Eis brach auf, der Boden teilte sich und Zoras strampelte schnell in die andere Richtung, als der Spalt aufkrachte und der Wyrm ins Erdreich hinab brach. Er hatte ihn verfehlt. Er hatte ihn um gerade mal einen Meter verfehlt.
      Tysion tauchte aus dem Nichts auf und zerrte Zoras auf die Beine, bevor beide vor dem herabgrabenden Wyrm davonliefen. Er würde unten verschwinden, dort wo er ursprünglich gewesen war, und dann würde er wieder auftauchen. Sie hatten höchstens Sekunden gespart. Zoras rang um Atem.
      "Weiter! Ablenken, wenn er kommt! Er kann uns nicht alle auf einmal fressen!"
      Gehetzt sah er sich nach dem Wagen um. Konnten sie weiter? Weg von der Bestie, die vermutlich irgendwo unter ihnen einen Weg wieder nach oben suchte?
    • Amartius wusste wie es sich anfühlte, einem Gott gegenüber zu stehen. Er wusste, wie lächerlich unwichtig Menschen sich in seiner Gegenwart anfühlen konnten und dass er selbst eine seltsame Mixtur dazwischen darstellte. Aber dieser Wyrm vor ihm ließ ihn seine Weltanschauung noch einmal hinterfragen. Solch ein erdrückendes Gefühl, das ihn gar zu Boden nötigen wollte, war übermächtig. Sogar noch viel stärker als der Eindruck, den Telandir ihm damals vermittelt hatte. Das hier war eine Urgewalt, etwas, das auf Erden geboren und dazu auserkoren war, in dieser Region zu herrschen. So musste es sich anfühlen, wenn ein Beutetier seinem Fressfeind gegenüberstand.
      Als sich der Wyrm in Bewegung setzte, wirkte es beinahe surreal. Es dauerte einen Augenblick ehe man erkannte, wie schnell sich der Wyrm mit seiner gemächlich wirkenden Bewegung vorwärts bewegte. Das Krachen von Erd- und Eisplatten dröhnte unter ihren Füßen bis zu ihnen herüber und niemand schien sich im Angesicht dieses Ungetüms auch nur Rühren zu können. Wie aus hundert Metern Entfernung hörte der Junge seinen Vater etwas rufen, doch es bedurfte den Ruck an seiner Schulter, damit sein Verstand endgültig wieder in Gang kam. Und dann genau das tat, was ihm aufgetragen worden war.
      Er rannte so schnell er konnte durch den kniehohen Schnee zum Wagen, der eine Schneedüne vor sich aufgeschoben hatte. Olaf hatte sich von der Seite liegend zumindest schon mal wieder auf die Beine gekämpft, doch der Wagen war auf der Seite zu schwer, um dem panischen Tier seine Instinkte nach Flucht nachzugeben. Golm versuchte derweil mit steifen Armen den viel zu schweren Wagen aufzurichten. Amartius war eine Sekudne später an seiner Seite, packte den Wagen mit beiden Händen möglichst weiter unten und drückte. Es war ihm egal, dass man ihm nun nicht mehr nachsagen konnte, ein Mensch zu sein. Wenn sie hier nicht schleunigst Land gewannen, dann gab es niemanden mehr, der Fragen stellen konnte. Mit glühenden Augen stemmte der Junge ohne Golms Hilfe den Wagen eigenmächtig wieder aufrecht. Der Wagen schaukelte heftig und beinahe wäre Olaf schon losgestürmt, wäre Golm ihm nicht in die Zügel gefallen. Aus dem Augenwinkel sah Amartius nur, wie der Mann seinem Tier eindringlich in die Augen sah und kein einziges Wort sagte. Doch es reichte, dass das Tier unnatürlich ruhig wurde und selbst stehen blieb, als der Führer sich von ihm entfernte. Mit großen Schritten kam er auf den Halbphönix zu und packte ihn am Kragen. Die unwirsche Behandlungen irritierte Amartius, der kurz seine Position hier vergaß.
      „Wenn du schon kein Mensch bist, dann setz dich auch zur Wehr!
      Amartius' Augen weiteten sich während er kurzzeitig hätte schwören können, dass sich Golms Augenfarbe kurz verändert hatte. Doch das Beben des Bodens löste diese Starre auf und er riss sich aus dem Griff los, um um den Wagen herum zu schießen und erschrocken feststellen zu müssen, dass der Wyrm geradewegs auf sie zu kam. Mit aufgerissenem Maul wühlte er sich durch Schnee und Erdreich und ignorierte dabei Faia, Omnar und Tysion, die zu seinen Seiten standen. Zwischen dem Wagen mit Amartius und dem Wyrm stand nur eine einzige Persone und Amartius vergaß, wie man lebte.
      Sein Vater war die einzige Hürde zwischen ihnen.
      Das war das reinste Horrorkabinett. Ein winziger, zerbrechlicher Mensch stand gegen ein meterlanges Monster, das sich problemlos durch die Erde wühlte. Zoras musste den Verstand verloren haben auch nur eine Sekunde zu denken, dass er dem Monster Einhalt gebieten konnte. Mit jedem Meter stieg der Druck exponentiell an und was auch immer Golm mit Olaf gemacht hatte, schwächte ab und ließ den Ochsen wieder kreischen. Unter dieses Kreischen mischte sich ein anderer Ruf, der mindestens genauso panisch klang.
      Vater!
      Amartius sah Zoras bereits im Maul des Wyrms verschwinden, doch der Söldner gab keine leichte Beute ab. Völlig verstört sah er dabei zu, wie Zoras sich von seiner Waffe trennte und sie zielsicher im Rachen der Bestie versenkte und ein wütendes Grollen über das Brechen des Bodens anschwoll. Dann rannte Zoras wie der Teufel weg von dem Wagen und in die Lücke zwischen seinen Gefährten.
      Amartius wurde schlecht. Er versuchte, die Aufmerksamkeit vom Wagen wegzulenken. Aber ohne Waffe oder einen ernsthaften Plan hatten die Menschen keine Chance gegen einen Wyrm.
      Die Menschen hatten keine Chance.
      Amartius sprintete ebenfalls weg vom Wagen auf Zoras zu. Mit vor Schreck geweiteten Augen sah der Junge, wie der Wyrm sich auf die Jagd machte und dem fliehenden Zoras nachstellte. Es mangelte ihm an Stimme, seine Lungen brannten aus unerfindlichen Gründen während er versuchte, schnell genug bei seinem Vater zu sein. Im Gegensatz zu Tysion fand er keine Stimme, als der Wyrm nach vorn schnellte und seine tödlichen Zähne knapp neben Zoras im Boden versenkte. Erneut wurde der gesamte Boden durchgeschüttelt, als eine weitere Spalte aufbrach und der viel zu massiv wirkende Wyrm im Erdreich verschwand. Es dauerte einen Augenblick ehe Amartius seinen Vater im Schnee erspähen konnte und eine Spur Erleichterung durchzuckte ihn. Unter ihm in der Erde spürte er die gewaltige Präsenz, wie sie sich weiter bewegte und neu ausrichtete, um seine Opfer an der Oberfläche zu jagen.
      Nach einer gefühlten Ewigkeit war Amartius bei Zoras und Tysion angekommen. Sie liefen noch immer und Amartius schloss sich ihnen an während er seine Aufmerksamkeit konsequent auf den Boden gerichtet hatte.
      Der Wagen steht aber das reicht nicht!“, rief er auf kuluarisch während des Laufens und sah an Tysion vorbei, wo er in einiger Entfernung Omnar und Faia ausmachen konnte, die sich immer noch an den Arm festgeklammert hielt. Sie liefen deutlich langsamer und kamen nicht ganz so schnell hinterher. „Der Wyrm wartet nur auf-“
      Eine Verschiebung der Präsenz im Untergrund. Amartius hatte mit seinem Satz abgebrochen kaum spürte er, wie sich der Wyrm unten neu ausrichtete. Und sich nicht mehr direkt unter ihren Füßen befand. Voller Panik sah er zu Omnar und Faia herüber und schrie ihnen aus voller Kehle zu: „Er kommt für euch!!!“
      Faia reagierte nicht als der Boden erneut erzitterte und den Wyrm ankündigte. Aber Omnar hatte Amartius scheinbar gehört. Auf die Ferne hin schien er während des Rennens mit Faia etwas zu diskutieren und man sah, wie er versuchte, sich von ihr zu lösen. Voller Terror sah Amartius dabei zu, wie sich die Präsenz aus dem Boden mit rapider Geschwindigkeit wieder nach oben grub. Das Zittern wurde stärker, bis sie beinahe keinen Schritt mehr recht setzen konnten. In diesem Moment schaffte Omnar es, sich von Faia zu lösen und sie barsch in die entgegengesetzte Richtung zu stoßen. Keine Sekunde zu früh, denn da riss der Boden unter Omnars Füße auf und ein gewaltiges Maul verschluckte den Mann innerhalb eines Wimpernschlages. Der Wyrm schoss senkrecht in die Luft, klappte das Maul zu und fiel dann nach vorn, wobei sein Aufprall einem Vulkanausbruch gleichkam. Es war ein ohrenbetäubendes Dröhnen, bei dem sich Amartius fast die Ohren zugehalten hätte, wäre er nicht vollends terrorisiert. Seine Füße waren zum halten gekommen während er genau den Moment sah, in dem Omnars Lebenslicht schlagartig erlöschte. Wie der Wyrm seine erste Beute gemacht hatte und noch kein Ende seines Raubzuges sah. Neben dem Loch lag Faia im Schnee, die dank Omnar mit ihrem Leben haarscharf davon gekommen war und nurmehr ebenso schockiert das gewaltige Schuppenmonster anstarrte.
      Amartius konnte nicht mehr atmen. Er konnte nicht mehr denken. Er fühlte eine erschlagende Wut und Trauer sein Wesen übermannen als ihm auf einer tieferen Ebene als allen anderen bewusst wurde, dass Omnar soeben gestorben war. Unwiederbringlich von der Erde verschwunden war. Und zeitgleich wusste er, dass dies der Lauf der Dinge war, wenn man der Natur ihren Lauf ließ.
      Es war die Natur. Die, der er eigentlich folgen sollte und genau in diesem Augenblick verdammte.
      Da setzte sich Amartius wieder in Bewegung und trennte sich von Zoras und Omnar. Was für einen Ausdruck er im Gesicht trug, wusste er nicht. Doch mit jedem Schritt, den er tat, schmolz der Schnee bereits vor seinen Beinen und ein Flimmern umgab den kleinen Körper. Er wälzte sich durch die Schneemassen zu Faia, die sich scheinbar immer noch nicht bewegen konnte. Auch nicht, als sich der massige Körper des Wyrms wandte und sie alsbald dem gelben geschlitzten Auge gegenüber saß. Hinter Amartius rief jemand, aber er hörte es nicht. Alles, was er jetzt wollte, war verhindern, dass Faia die nächste Beute war. Er lief so schnell, wie ihn seine Füße trugen und schätzte die Meter bis zu Faia ab. Er sah, wie der Wyrm zischte und abermals die gewaltigen Kiefer aufsperrte, wo Faia dem Schicksal Omnars folgen würde. Amartius ließ sich von seiner Wut, seiner Trauer und Verzweiflung lenken und ließ sämtliche Hemmungen fallen. Seine Magie begann in ihm zu zirkulieren, verwandelte sich in etwas, das er nicht kontrollieren konnte. Und als er fast bei Faia angekommen war, zischte der Wyrm und schnellte das letzte Stück auf die am Boden sitzende, zur Säule erstarrten Frau zu.
      Amartius kam keine Sekunde zu spät. Er schlitterte das letzte Stück zu Faia und streckte die Hand gegen das drohende Unheil aus – eine winzige Kinderhand gegen einen gähnenden Schlund. Dann brach Feuer nicht nur aus Amartius' Hand, sondern seinem ganzen Körper hervor und bildeten einen unscharfen, mehreckigen Schild vor ihnen beiden, gegen den der Wyrm mit aufgesperrtem Maul krachte. Ein unwirkliches Heulen zerriss beinahe ihre Trommelfelder, als der Schild brach und der Wyrm mit schwarz verkohltem Maul zurückschreckte und offensichtlich Schmerzen litt. Dass sich dabei auch ein Aufschrei Amartius' gemischt hatte, war untergegangen. Der saß noch immer im Schnee und ließ die ausgestreckte Hand sinken. Schweiß war ihm auf die Stirn getreten und sein gesamter Leib zitterte, als sich seine schwarzen Hände am Boden abstützten, damit er nicht vorn überfiel. Haut war bis zu seinen Ellbogen nicht mehr zu erkennen. Er atmete schwer während er mit eisernem Blick den Wyrm niederstarrte.
      Faia, die sich endlich wieder rührte, sah seine verkohlten Arme, die nur noch von verbrannten Fetzen seines Mantels umgeben waren. Unsicher berührte sie Amartius an der Schulter, der sich daraufhin auf die Beine kämpfte und Faia am Unterarm riss. „Lauf!“
      Er rannte nach ihr, zurück zu Zoras und Tysion, die mittlerweile beim Wagen wieder angekommen waren und denen der Schrecken in mehrfachem Sinne ins Gesicht geschrieben stand. Hinter Faia und Amartius kreischte der Wyrm noch immer und er fühlte die unbändige Wut, die sich im Inneren der Bestie formte. Alt, wild und überschwänglich. Fort war die reine Jagd, jetzt ging es ihm um mehr. Faia, getrieben durch Angst und Panik, lief deutlich schneller als Amartius, der einiges an Mobilität eingebüßt hatte. Er sah, wie Zoras sich in Bewegung setzte, doch er winkte ihm harsch ab. Er durfte nicht kommen, noch so eine Abwehr würde er wohl nicht zustande bringen. Und dann fühlte er, wie sich der Wyrm wieder in Bewegung setzte und sich ihnen näherte. Er spürte den Blick in seinem Rücken, die Präsenz ihn von hinten wie eine Welle übermannen.
      Das war der Augenblick in dem die Zeit erneut an Bedeutung verlor. In der alles wie in Zeitlupe ablief und Amartius sich ernsthaft fragte, was er hier gerade eigentlich tat. Er sah vor sich die geweiteten Augen seines Vaters, der das Ungetüm nahen sah. Tysions Ausdruck, den er nicht ganz deuten konnte. Faias Rücken. Und weiter hinten Golm, der mit verschränkten Armen die Lage nur beobachtete.
      Amartius hatte es satt. Er war ein verdammter Halbgott und würde weder sich noch seine Leute von einem Wyrm fressen lassen. Nicht, wenn er so kurz davorstand, seine Mutter wiederzusehen. Nicht, wenn er das heile Bild einer Familie haben könnte, das Zoras ihm gemalt hatte. Der Entschluss festigte sich in seiner Brust, ließ die Magie in ihm ins unermessliche anschwellen. Er begann leicht rot zu glühen, am gesamten Körper, während er weiter lief und schlussendlich verstand, dass nur er den Wyrm stoppen konnte. Und dass er die Waffe dafür besaß, die es brauchte, um das Monster zu Fall zu bringen.
      Dieser Augenblick bescherte Amartius eine seltsame Klarheit und Erkenntnis. Er wusste um die Konsequenzen, die seine Handlung mit sich führen würde. Und er wusste, dass es der einzige Weg war. Sie waren nun ein Mann weniger und eine Waffe ärmer und ohne den Halbphönix von Anbeginn dem Untergang geweiht. Aber jetzt, in dieser Sekunde, gab es etwas, was nur er tun konnte.
      Als die Zeit wieder weiterlief, brach Amartius plötzlich zusammen. Er fiel auf die Knie und stützte sich mit den Händen ab bevor er sich auf seine Unterschenkel setzte und nach einem kurzen Blick zu Zoras die Augen schloss. Er spürte, wie der Boden zu beben begann, wie alles erzitterte und er die Zähne hören konnte, die sich durch den Boden gruben. Um ihn herum war der komplette Schnee geschmolzen, er glühte beinahe selbst wie eine Fackel. Die Entspannung wich aus seinem Gesicht, er kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Lippe. Er konnte es nicht leugnen, er hatte schreckliche Angst. Er war nie der mutige Typ gewesen. Nie so mutig wie sein Vater, der sich nur mit einem Schwert dieser Bestie gestellt hatte. Diesen Mut hätte Amartius gerne von seinem Vater geerbt. Mut und die Entschlusskraft. Den Willen, zu erreichen, was er wollte. Denn das würde Amartius wohl nicht mehr erreichen.
      Mit einem scharrenden Geräusch verschwand Amartius im Schlund des Wyrms. Sein Maul schloss sich um Junge und Erdreich gleichermaßen, als er ihn erfasste und sein Auge auf die Gruppe vor sich warf.
      Dann geschah alles sehr schnell.
      Schon einen Moment später explodierte der Kopf des Frostwyrms. Von seinem Maul aus zerfetzte es das Monster von innen heraus und ließ Haut und Knochen in alle erdenklichen Richtungen fliegen. Der massige Körper kam mit einem Mal zum Halten noch während es Fleischfetzen regnete und Zähne wie Geschosse in alle Richtungen flogen. Die Augen hatte es direkt im Ganzen heraus gesprengt und der Schnee und das Eis um sie herum färbte sich Grün durch des Wyrms Blut.
      Inmitten der Explosion saß eine kleine Gestalt auf dem Boden.
      Amartius saß noch wie wenige Augenblicke zuvor auf dem Boden, die Hände auf den Oberschenkeln abgelegt und den Kopf gesenkt. Es hatte seine komplette Kleidung von seinem Körper gebrannt und wo eigentlich Haut hätte sein sollen, herrschte nur noch komplette Schwärze. Amartius hatte seine gesamte Energie, die er noch besessen hatte, gebündelt und sich damit selbst in die mächtigste Bombe überhaupt gehüllt. Diesen Preis zahlte er nun bitterlich, indem sein Körper immer weiter schwarz anlief und verkohlte. Seine Brust oberhalb des Brustbeins war noch hautfarbend, ebenso wie sein Hals und sein Gesicht. Alles andere war bereits verkohlt, und man sah das Voranschreiten mit bloßem Auge. Seine feuerroten Haare wogen im eiskalten Wind, den er nicht mehr spürte. Er spürte generell nicht mehr in seinen Händen, seinen Füßen, seinen Extremitäten. Hätte er nicht gesehen, dass er noch saß, hätte er nicht einmal das bestimmen können. Trotzdem umspielte ein schwaches Lächeln seine Lippen als er auf den Boden vor sich blickte. Viel zu lange hatte er bereits befürchtet, dass er seine Eltern niemals zusammen erleben würde. Nun hatte er die Gewissheit.
    • Zoras' Herz raste. In den wenigen Sekunden seiner gehetzten Flucht hatte ihn die Hitze gepackt und auch jetzt kochte ein Feuer unter seiner Haut, während er versuchte, die Lage im Blick zu behalten, zu fliehen und gleichzeitig zu überlegen, wie sie einen gigantischen Schlangendrachen abwehren sollten. Würde er jemals müde werden? Wie weit könnten sie es selbst mit einem schnellen Wagen schaffen, bevor das Ungetüm die Jagd aufgeben würde? Würde es das überhaupt tun? Es sah nicht gerade so aus, als würde es sich von einem Zahnstocher eines Schwertes aufhalten lassen und mehr hatten sie wohl nicht zu bieten.
      Zu allem Überfluss kam Amartius Momente später an und berichtete, dass der Wagen kaum in der Lage war zu fahren. Vielleicht waren die Räder beschädigt, vielleicht hatte sich der Ochse verletzt, in jedem Fall mussten sie noch mehr Zeit schinden. Zoras war sogar dazu geneigt, den Wagen einfach stehenzulassen, sie wären zu Fuß auch nicht unbedingt langsamer.
      "Golm soll ihn zurücklassen!"
      Amartius setzte gerade zu einer weiteren Erklärung an, er lief jetzt neben Zoras, seine kindlichen Beine hatten Schwierigkeiten mit Zoras' längeren mitzuhalten, da brach er plötzlich ab und rief einen Warnruf zu den anderen beiden, die auch die Flucht angesetzt hatten. Der Boden war noch unverändert, das ferne Dröhnen des Wyrms schon abgeklungen, es wirkte so, als hätten sie eine ganz gute Distanz zwischen sich und der Bestie gebracht, aber das entsprach nichtmal ansatzweise der Realität und das sollten Omnar und Faia als erstes erfahren.
      Der Boden vibrierte und erbebte, das war die einzige Warnung, die auch die menschlichen Sinne bekamen, bevor ein paar Sekunden später das Ungetüm direkt unter den beiden anderen hervorbrach. Das Eis brach auseinander, die Spalte öffnete sich, ohrenbetäubendes Getöse und donnernder Krach ertönte und dann erschien das Maul, fraß Steine und Schnee und Eis und einen einzelnen, roten Haarschopf. Die Zähne schlugen in der Luft aufeinander, der menschliche Körper verschwand, das Ungetüm krachte mit derselben Wucht und Energie zurück auf den Boden.
      Zoras konnte nur starren. Sie waren stehengeblieben, ein zweites Mal, und auch wenn sie hätten weiterlaufen müssen, gab es doch mit einem Mal keinen Grund mehr dafür. Wie hätten sie flüchten sollen? Woher hätten sie verhindern können, dass sie dasselbe Schicksal ereilte, wie es jetzt wohl Omnar getroffen hatte? Wie sollten sie sich vor einem Rachen schützen, der größer als ein Wagen war und vor einem Körper, der schneller war, als jedes andere weltliche Geschöpf? Wo lag der Sinn?
      Es gab keinen, das war die Antwort. Sie hatten keine Chance auf eine Flucht, wenn nicht in den nächsten Sekunden irgendein Wunder passieren würde.

      Amartius setzte sich wieder in Bewegung. Zoras sah es erst aus dem Augenwinkeln, aber dann trat sein Sohn einen sehr sicheren Schritt nach vorne und schob sich in sein Blickfeld - in das, in dem sich auch der Wyrm befand. Zoras' Hand schoss nach vorne.
      "Amartius!"
      Seine Finger griffen ins Leere, als sein Sohn einen weiteren Schritt nach vorne trat. Er beachtete ihn gar nicht und als Zoras den Schnee sah, der um seine Füße herum schmolz, packte ihn ein plötzliches, grauenhaftes Entsetzen.
      "Amartius!"
      Er hörte ihn nicht, oder er ignorierte ihn. Mit derselben Geschwindigkeit, mit der er gerade noch geflohen war, lief er jetzt auf den Wyrm zu.
      "Verdammt!"
      Zoras wirbelte zu Tysion herum, dessen Augen groß geworden waren und der jetzt mit einem anderen Entsetzen auf den Schnee starrte, der sich vor Amartius wie Wasser zu teilen schien und davonfloss. Ein Gebet schlich sich auf dessen Lippen und Zoras wusste nur, dass es eins war, weil er Tysion noch nie das Wort "Götter" in den Mund nehmen gehört hatte. Zum ersten Mal sah der Mann so alt aus, wie er vermutlich auch war.
      Tysion hatte sein Schwert noch, aber Zoras konnte nicht darauf hoffen, es von ihm zu bekommen. Er durfte es auch nicht, sie hatten schon eine Waffe verloren, eine weitere könnte ihr Untergang sein. Sie durften es nicht und dennoch wäre es das einzige gewesen, mit dem Zoras sich näher an den Wyrm hätte wagen können. So hatte er gar nichts, lediglich die hilflose Pflicht, Amartius dabei zuzusehen, wie er selbst auf das Monstrum zurannte.

      Faia hatte sich noch nicht geregt. Die Frau sah starr auf dem Boden und starrte ihrem eigenen Schicksal entgegen, das dem von Omnar in nichts nachgestanden hätte. Wenn Amartius nicht gewesen wäre.
      Der Junge sprintete vor den kauernden Körper der Frau und dann zerriss es die Luft, als ein Feuerwall explodierte, der sich senkrecht nach oben vor Amartius ausbreitete - und keinen Moment zu früh, als der Wyrm nur einen Herzschlag später damit in Berührung kam. Sein Gebrüll hatte die Macht, Trommelfelder zu zerplatzen und ganz anscheinend hatte Amartius' Feuer die Macht, einen Frostwyrm aufzuhalten. Die Kreatur zuckte vor dem Angriff zurück und das Feuer verschwand einen Augenblick danach.
      Zoras starrte jetzt selbst voller Unglauben die Szenerie an, die sich vor ihm gerade entfaltet hatte: Der kleine Amartius, der in der Ferne auf dem Boden kauerte, die riesige Kreatur, die vor seinem schmächtigen Körper zurückgezuckt war. Er konnte es kaum fassen. Wäre er nicht noch immer in vollkommener Sorge um seinen Sohn, wäre er vor Stolz beinahe geplatzt.
      So starrte er nur und musste sich zusammenreißen, als Faia sich kurz darauf hektisch auf die Beine strampelte und mit unsicheren Schritten in ihre Richtung gelaufen kam. Da setzte auch Zoras sich endlich in Bewegung, vielleicht um Amartius zu helfen, vielleicht aber auch um ihn endlich zurückzuholen. Nur hob der Junge den Kopf, starrte direkt in seine Richtung und hob in einer barschen Geste die Hand. Zoras verstand ihn, aber er wollte nicht. In seinem Kopf bildete sich bereits ein Argumentationsmuster, das ihn dazu forttreiben sollte zu seinem Sohn kommen zu wollen, aber dieses Muster erstarrte bei einem einfachen Gegenargument: Amartius war ein Halbphönix, er hatte göttliches Blut in sich. Zoras war nicht mehr als ein Mensch und noch dazu waffenlos, er konnte nicht das vollbringen, was soeben Amartius getan hatte, nichtmal ansatzweise. Er konnte nur stehenbleiben, warten und die Arme in die Richtung seines Sohnes ausstrecken. Er sollte sich beeilen, das übermittelte diese Geste. Zoras würde auf ihn warten, er sponn seine väterliche Liebe selbst über die größte Gefahr, die es in diesen Eislanden geben konnte.
      Dann bewegte sich der Wyrm und Zoras spürte sein eigenes Blut gefrieren. Das Monster bewegte sich und Amartius hatte kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, Faia ein Stück vor ihm, keuchend und leichenblass. Auch sie starrte Zoras an, aber in ihrem Blick lag etwas anderes als in dem des Jungen. Ihr traute er zu, dass sie sich die größte Mühe gab, zurück zum Wagen zu kommen, aber Amartius sah anders aus. In seinem Blick lag etwas berechnendes und das gefiel Zoras ganz und gar nicht.
      Ohne Vorwarnung fiel der Junge plötzlich vornüber und landete auf hartem, geschmolzenen Boden, sein Körper von dem Glühen erfasst, das auch in seinen Augen tanzte und Minuten vorher das riesige Feuerschild gestützt hatte. Zoras fing wieder an zu laufen, der Name seines Jungen auf seinen Lippen, dieses Mal ungeachtet des Blickes, der ihm zugeworfen wurde. Er rannte ohne einem anderen Ziel als seinen Sohn zu retten, in welcher Weise auch immer, wie auch immer das aussehen würde, auch wenn es ihr gemeinsamer Untergang war. Er rannte, weil er vor sich seinen schmächtigen, kleinen Jungen sah und dahinter ein übergroßes, tiefschwarzes Maul. Er rannte, weil er sich freiwillig hineingeworfen hätte, wenn das bedeutet hätte, dass Amartius von den übergroßen Zähnen verschont geblieben wäre. Er rannte, so schnell es seine Beine zuließen, den Arm nach Amartius ausgestreckt.
      Der Wyrm war schneller. Die Kreatur gewann das unsichtbare Rennen, das sie geführt hatten, und verschluckte Amartius in einem riesigen Rachen. Ein einziger Herzschlag rummste durch Zoras' Brust, laut und panisch und schmerzhaft, ein Schlag der von Realisation gestützt wurde, und dann explodierte das ganze Ungetüm. Der Kopf wurde mit surrealer Wucht von seinem übrigen Körper gerissen und Fleischteile, die so groß waren wie ganze Pferde, flogen durch die Luft. Eine grüne Flüssigkeit ergoss sich wie Regen um seine Umgebung und platschte mit einem furchtbar nassen Geräusch auf den Boden. Die Erde krachte, der Körper rutschte weiter, wirbelte den Schnee mit sich auf und dann war mit einem Mal Ruhe.
      Zoras hatte sich in den eisigen Schnee geworfen, um den übergroßen Projektilen zu entgehen, jetzt rappelte er sich mit rasendem Herz wieder auf, sein Atem gefangen in einer Mischung aus panischer Schnappatmung und erschöpftem Keuchen. Ein schauriger, grünlicher Dunst lag in der Luft und setzte sich auf seinen Klamotten ab, die Innereien des Biests, das jetzt in zwei Stücke gespalten auf der Erde lag.
      Und dazwischen, klein und unauffällig und fast zu übersehen, saß ein kleiner, dünner Körper.
      "Amartius…!"
      Zoras setzte sich erneut in Bewegung, gehetzt und hastig, auch wenn plötzliche Ruhe eingekehrt war, auch wenn das Geschöpf enthauptet und leblos vor ihnen lag. Er mühte sich durch den hohen Schnee, stolperte, als er auf ungewohnt harten Boden auftrat, fing sich wieder und hastete weiter. Er musste fleischige Wyrmstücke entgehen, sprang über sie hinweg und warf sich schließlich zu Amartius auf den Boden.
      "Scheiße, Amartius!"
      Er hatte seine Kleidung verbrannt - nein, es war seine Haut, die so schwarz wie Ruß war. Sein schmächtiger Körper schien in sich zusammengeschrumpft und die Schwärze breitete sich nur noch weiter aus. Sie breitete sich aus? Zoras legte den Arm um seinen Sohn und zog ihn an sich.
      "Das hast du gut gemacht. Das war sagenhaft, aber - scheiße, Amartius!"
      Er leistete keinen Widerstand. Seine Arme hingen schlaff herab und wenn Zoras ihn nicht hochgehalten hätte, wäre er wohl vornüber gefallen.
      "Hörst du mich? Amartius, sprich mit mir! Hast du dich verletzt? Bist du in Ordnung? Amartius!"
      Der Körper des Jungen war warm, aber die Temperatur nahm sekündlich ab. Das war nicht gut, das war nicht normal, nicht für einen Phönix, nichtmal für einen Halbphönix.
      Hastig zerrte er sich das Lederwams, das er trug, vom Körper, wickelte es um Amartius und zog ihn in seinen Schoß, damit er nicht mehr auf dem kalten Boden sitzen würde. Panisch zurrte er das Wams fest und versuchte, seinen Sohn mit seinen Armen warm zu halten. Die Kälte erreichte ihn jetzt ungeschützt, wesentlich stärker als noch davor. Amartius' Aura musste abgenommen haben.
      "Hey."
      Er bemühte sich um Ruhe, während er dem Jungen ein paar Haare beiseite strich und versuchte, einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Lächelte er?
      "Es ist alles in Ordnung, hörst du mich? Alles ist gut, du hast den Wyrm erledigt, das war sagenhaft, ich bin so stolz auf dich. Ich bin so stolz auf dich, hörst du? Und deine Mutter auch. Wir gehen jetzt zum Wagen und dann gehen wir zu ihr, okay? Du musst nur ein bisschen durchhalten Amartius, schaffst du das? Du darfst nicht einschlafen, okay? Es ist nicht mehr weit, ich verspreche es dir, wir werden bald da sein, hörst du?"
    • […]
      I could run from it all but I'd only get lost
      Oh, I've walked on the bridge that I shouldn't have crossed
      And I find myself, a user
      Oh, I wake every day with addictions to feed
      They all call me a friend but I'll never be freed
      From the face of a faithless future
      […]

      Ab dem Zeitpunkt der Explosion war das Gehör von Amartius getrübt. Er hörte nichts mehr außer seinem eigenen Herzschlag, der bereits massiv an Kraft eingebüßt hatte. Das Rauschen in seinen Ohren, das genauso gut sein Blut hätte sein können. Mit einem schmalen Lächeln beobachtete er die kleinen Wölkchen, die sein Atem hervorbrachte und den Nebel, der in Schwaden durch die noch warmen Stücke des Wyrms um sie herum aufgestiegen war. Er wusste, was seine Handlung bewirkt hatte und wenn er sich nicht so taub fühlen würde, hätte er einen Blick riskiert. Aber so konnte er nichts tun. Sein Leib fühlte sich taub an und die Schwärze war schon so sehr fortgeschritten.
      Leise drang eine Stimme an sein Ohr. Aber sein Kopf war so unglaublich schwer. Es fühlte sich alles kalt an, eine Kälte, die er bisher noch nie so gespürt hatte. Erst beim zweiten Ruf konnte er die Stimme seinem Vater zuordnen und ihm wurde etwas anders zumute. Erleichterung, dass ihm nichts widerfahren war. Angst davor, was er sagen würde, wenn er ihn so sah. Dann schoben sich Knie in sein Blickfeld und etwas Schweres legte sich um seinen eingeäschten Körper. Es kostete ihn unglaubliche lange ehe er bemerkte, dass es ein Arm war, der sich um seine Schultern gelegt hatte und ihn an die Brust seines Vaters drückte. Wo er sonst immer diese Wärme gespürt hatte und Liebe, war nun nichts mehr. So als sei er von allem abgeschnitten worden.
      Ah.... So ist das also... Es bricht einfach alles ein.
      „Ich bin nicht verletzt“, sagte er erschreckend gefestigt und entspannt, was so gar nicht zu der Optik passte, die er gerade erzeugte. Er konnte seinen Kopf noch immer nicht heben während Zoras seinen Wams von sich riss und ihn um seinen Jungen wickelte. Das Lächeln bröckelte, erstarb. Er versuchte die Hand zu heben und Zoras zu berühren, doch diese Anstrengung ließ seine Finger zu Asche zerbröseln. Er sah ihn im Wind frösteln, der ihn nun ungehemmt erwischte. Trotzdem schaffte der Junge es, seinen Kopf doch endlich zu heben. Die schwärze war bereits bis zu seinen Schlüsselbeinen gekrochen.
      „Weißt du was passiert wenn ein Phönix stirbt?“

      […]
      I'm tryin' to be somebody else
      I'm findin' it hard to love myself
      I've wanted to be somebody new
      But that ist impossible to do

      […]

      „Er zerfällt zu Asche. Wenn seine Magie aufgebraucht ist oder sein Zyklus vollständig, zerfällt er zu Asche und ersteht neu aus ihr. Aber das geht nur, wenn die Lebensenergie schier unendlich ist. Und das war sie bei mir nicht.“
      Seine Augen fanden die seines Vaters und glühten so hell wie die Flamme, die tief in seinem Inneren loderte. Zusehends wurde sie jedoch schwächer, das Licht wich aus seinen Augen je weiter das Schwarz wuchs.
      „Wenn du mich jetzt zum Wagen trägst, zerfalle ich. Lass mich einfach hier bleiben, bis es vorbei ist, ja? Hier in deinem Schoß, Vater.“ Er musste nun doch einmal die Augen schließen, damit er nicht doch einbrach. Damit er seinem Vater nicht doch zeigte, dass er Angst hatte. Angst vor dem, was nach dem Leben kam. Angst vor dem, was niemand kannte. Angst davor, seinen Vater zu verlassen und Trauer, dass er niemals seine Eltern zusammen sehen würde. Dass es von vornherein ein Traum gewesen war und nie mehr.
      „Als Telandir mich ausgesetzt hat, hat er meine Lebenskraft absorbiert. Deswegen bin ich nicht mehr gewachsen sondern nur mental gealtert. Ich hatte morgens schon Momente, da waren meine Hände schwarz. Ich hab's dir nur nie gesagt.“
      Seine Lider flogen wieder auf und bohrten sich regelrecht in Zoras' Augen. Noch immer spürte er nichts außer der Taubheit und der Kälte, die sich immer mehr seines Körpers bemächtigte. Für ihn existierte in diesem Moment nur sein Vater und er. Nicht die Geräusche der Menschen weiter weg oder das Knacken vom Boden unter ihnen. Nichts davon war relevant und er hätte so viel dafür gegeben, noch einmal diese Wärme seines Vaters spüren zu dürfen. Nur ein einziges Mal sollte es ihm doch vergönnt sein.
      Am Ende zwang er sich wieder das Lächeln auf sein Gesicht. Es sollte nicht gequält erscheinen. So sollte Zoras seinen Sohn nicht in Erinnerung behalten. Eine uralte Stimme, eine Eingebung, hatte die ganze Zeit schon in sein Ohr geflüstert und ihm gesagt, was er nun zu tun hatte.
      „Ich verstehe nun endlich, was sie alle meinten“, sagte er leise völlig zusammenhangslos bevor er Luft holte und sich auf seine letzte Tat konzentrierte. Es gab etwas, dass er noch für Zoras, seinen Vater, tun konnte.

      […]
      I'm runnin' out of my mind
      Is this really my life?
      I'm runnin' out of time
      Is this really my life? My life
      [...]

      Das war der Augenblick, in dem Amartius das erste und einzige Mal in seinem Leben sang. Seine Stimme erhob sich als leiser, aber klarer Singsang während er seine verbleibende Lebenskraft nutzte für die eine Sache, die er noch tun konnte.
      Geboren aus dem Feuer der Götter.
      Er spürte, wie ein Ruck durch sein Inneres ging. Wie sich etwas aufbaute und seinem ganzen Selbst zog.
      Gebunden durch das Blut der Familie.
      Sein ganzer Körper begann zu summen und die Kälte verflog. Die Taubheit wich für einen kurzen Moment, und während er sprach nahm die Geschwindigkeit erschreckend zu, wie sich das Schwarz nun bereits an seinem Hals befand und auf sein Gesicht zu wuchs.
      Geleitet durch die Liebe und das Leben.“
      Schwarze Ränder erschienen an Amartius' Kinn. Seinen Ohren. Seiner Kopfhaut. Doch sein Blick blieb fest auf Zoras' Gesicht, das Gesicht seines Vaters gerichtet während die Worte, die fremd aus seinem Munde klangen, leise gesäuselt wurde.
      Ein Zeichen, so stark und verlässlich wie das Band, das wir knüpften.“
      Auf Zoras' Handrücken bildete sich ein schwarzer Nebel, der wie ein kleiner Sturm auf seiner Haut tanzte. Er fühlte nicht einmal eine Berührung, als sich der Nebel verdichtete und sich als Staub auf der Haut absetzte. Von weitem sah es wie eine kreisrunde Form aus, die bei genauerem Hinblick aber kleine Lücken aufwies. Und wenn man noch genauer hinsah, dann entdeckte man einen zarten geschwungenen Hals und einen Vogelkopf.
      Der Verfall war nun auf Amartius' Wangen angekommen und schloss sich langsam kreisrund um seine Augenpartie. „Trage das Zeichen, trage die Güte, trage die Erinnerung um zu erlangen, was du begehrst. Erinnere dich, wenn du seinen Namen nennst. Es heißt...“
      Amartius' Lider flatterten, aber er wagte es nicht zu blinzeln. Er fühlte, wie ihm die Kälte empor kroch, als das letzte bisschen Wärme aus ihn in Zoras' Hand zu fließen schien. Das Sprechen fiel ihm schon so schwer und er schmeckte den Ruß auf seiner Zunge. Doch er musste nur nur ein Wort sagen. Ein einziges Wort, dann wäre es vorbei. Er verlor schließlich den Kampf und als seine Lider sich senkten und die matt werdenden Augen vor dem Blick seines Vaters verschloss, vollendete er es.
      „....Amartius.“
      Der letzte Funke von Amartius' Leben erlosch in der Sekunde, als er die Augen geschlossen hatte. Sein Brustkorb senkte sich und hob sich kein zweites Mal. Sein Kopf, nun vollkommen veräschert, sackte nach hinten und dann zerfiel der Junge in schwarzen Aschestaub. Der Wind, der ihr stetiger Begleiter war, nahm sich ohne Widerrede Teile dieser Asche, hob sie auf und trug sie mit sich fort. Er verstreute die Asche über das Eis, über den Schnee, über Asvoß hinaus bis über das Meer und noch viel weiter.
      Und so konnte Zoras nur dabei zusehen, wie sein Junge vollends zu Staub zerfiel und das Wams durch den ehemaligen Körper auf seinen Schoß fiel. Wobei – dies war nicht ganz richtig. Der Wind trug nicht nur die Asche von seinem Schoß fort sondern auch die auf seiner Hand. Unter seinem Blicke flammte das Zeichen auf seinem Handrücken auf und hinterließ ein feuerrotes Mal.
      Und dann legte der Wind in Zoras' Schoß etwas frei.
      Zwischen all dem Staub und dem Wams war etwas zurückgeblieben. Vom Wind befreit glänzte etwas Glattes und Hartes unter der Sonne Asvoß'. Alsbald wurde die Schneide sichtbar, die aus der Asche hervor kam. Sie war mattschwarz und lang, lief unter dem Kragen des Wams zu einem einer Flamme nachgeahmten Stichblatt und einem aus einem dunkelgrauen, matten Metall gearbeiteten Griff zu. Als Zoras es aus dem Wams und der Asche befreite, schienen rote Zeichen an der Schneide kurz nur für ihn aufzuleuchten. Die Zeichen, die als der Name seines Sohnes gelesen werden konnten.

      Ein Kreischen schnitt plötzlich durch die Stille, so hoch wie der Schrei eines Vogels. Er wirkte allerdings alles andere als tierisch und trug eine unglaubliche Wehmut mit sich mit. Als hätte derjenige genau mitangesehen, was geschehen war. Erst einen Augenblick später erschien etwas am Horizont. Etwas Feuerrotes zeichnete sich hart vom Blau des Himmels ab. Es nahm in rasanter Geschwindigkeit an Größe zu und bald wurde klar, was dort am Himmel auf sie zu raste.
      Mit weit ausladenden Flügelschlägen näherte sich dem Schauplatz ein Phönix. Kein Gebilde aus puren Flammen, das aussah wie eine Ausgeburt der schlimmsten Vulkanausbrüche. Dieser Phönix war in seiner wahren, uneingeschränkten Gestalt, mit einem feuerroten Federkleid, das kreisrunde gelb strahlende Muster auf dem Gefieder aufwies, ähnlich den Augen eines Pfaues. Er hatte drei besonders lange Stoßfedern, die in jeweils einem dieser Augen endeten und mit jedem Flügelschlag mit wog. Sein Hals war dünn und lang, eher zierlich wirkender Natur und der Kopf mit seinem schmalen gelblichen Schnabel hatte sich direkt auf die Gruppe ausgerichtet. Selbst von Weitem sah man die rubinroten Augen blitzen, als sie erkannten, wer und was sich dort auf dem Boden herum trieb.
      Der Phönix ging in einen steilen Sturzflug über, gefolgt von einem weiteren Schrei. Er hielt direkt auf Zoras zu und seine Größe war mit jener Telandirs zu vergleichen. Er spürte den Mann, der dort vor dem Kadaver eines Wyrms hockte und in Händen hielt, was einst sein Sohn gewesen war. Doch anstatt ihn direkt in Asche zu legen, schrumpfte der Phönix und wurde zu einem Feuerball etwa zwanzig Meter vor Zoras, bevor er den Boden berührte. Es war ein fließender Übergang zwischen Vogelgestalt und der Erscheinung einer Frau, die aus den Flammen entstieg und den Schnee um sich meterweit zum schmelzen brachte. Ihre rubinroten Augen fixierten direkt Zoras, eine Sekunde danach das Schwert in seinen Händen. Sie trug ihre feuerroten Haare kurz bis an ihr Kinn, wo es in Wellen ein filigranes Gesicht umrahmte. Sie war etwas größer als Kassandra, trug allerdings auch eher dünnere, fremdartige Kleidung, die nicht zum Klima passen wollten. Ihre Schritte waren schnell gewesen, doch mit jedem vergaß sie ein wenig ihrer Geschwindigkeit, ehe sie gut sieben Meter vor Zoras innehielt und einen von Mitleid erfüllten Blick auf die Waffe richtete. Die Präsenz um diese Frau war abartig stark, so sehr, dass in der Entfernung Faia und Tysion direkt auf die Knie fielen. Olaf war wieder in endloser Panik verfallen während Golm ihn mit eiserner Hand an Ort und Stelle hielt.
      „Ich bin zu spät“, sagte die Frau leise, die nicht älter aussah als 19 Jahre, und fiel auf die Knie. Sie streckte ihre Hand nach dem Schwert aus, würde es aber niemals berühren können aus dieser Distanz. „Oh, Amartius....“
    • Amartius' Körper war so leicht, so federleicht, leichter als ein Junge war, leichter als ein Halbphönix sein durfte. Zoras drückte ihn so fest an sich, dass er glaubte, ihn damit erdrücken zu müssen, aber seine Arme registrierten kaum Gewicht. Da war so wenig von Amartius und es nahm sekündlich auch noch weiter ab. In seinen ganzen, langen Jahren war ihm der Verfall noch nie so rapide, so erbarmungslos, so herzlos vorgekommen. Er wollte ihn aufhalten; oh, was er nicht dafür gegeben hätte, dem Jungen etwas von seiner Lebensenergie zu schenken. Kein Preis wäre ihm zu hoch gewesen.
      Aber er antwortete ihm. Er antwortete ihm und sprach mit einer festen, gesunden Stimme, die Zoras gleich wieder Hoffnung einflößte. Es ging ihm gut, es würde ihm gut gehen. Das alles war nur ein Nebeneffekt, ein merkwürdiger Nebeneffekt eines Phönixes, von dem Zoras nur nichts wusste. Ihm ging es gut.
      "Das ist gut, das ist sehr gut. Alles ist gut, entspann dich, ja?"
      Seine eigene Stimme kam gepresst hervor, ein Produkt aus tiefsitzender Panik und körperlicher Erschöpfung. Er durfte jetzt selbst nicht nachgeben, sein Sohn brauchte ihn, jetzt mehr als jemals zuvor, er musste ihm eine Stütze sein. Amartius starb nicht, das war die einfache Wahrheit. Sie würden jetzt nur ein bisschen weiter hier sitzen und sobald er konnte, würde er ihn zurück zum Wagen tragen und ihm ein ordentliches Bett herrichten. Dann würde er sich hinlegen können und die ganze Fahrt sogar bis zur Eisfeste schlafen können und wenn er aufwachte, würde Zoras ihm ein Festmahl bereiten, wie er es noch nie gesehen hatte, er würde das ganze verdammte Eisland absuchen, um ihm alle Schokolade zu besorgen, die er nur finden konnte. Er würde sich erholen, sie würden Kassandra finden und mit ihr würden sie fliehen, es war ganz egal wohin, es könnte auch eine Eishöhle in diesen verfluchten Ebenen sein und Zoras würde glücklich damit sein. Er musste ja nur noch ein ganz kleines bisschen ausharren, mehr war es nicht.
      Amartius' Hand zuckte, dann lösten sich seine Finger in klobige, trockene Rußklumpen auf. Zoras nahm die Hand in seine eigene, legte seine rauen Finger um das viel zu dünne, kleine Gelenk seines Sohnes und hob es an, bis er einen weichen, sanften Kuss auf die rissige, brüchige Haut seines Handrückens drückte. Sein Blick hatte sich auf Amartius festgesetzt, verließ dessen Gesicht nicht, das jetzt der Schwärze noch viel näher war. Er konnte sich gerade noch von einem Zittern abhalten, das ihm durch die Muskeln zu ziehen drohte.
      "Was? Was passiert?"
      Er wusste genau, was geschah, wenn ein Phönix starb, aber er ließ es sich von Amartius noch einmal sagen, er lauschte auf die fast unveränderte Stimme seines Sohnes und beobachtete, wie das Leuchten in dessen Augen zurückkehrte. Für einen Bruchteil wurde es stark, erstrahlte mit derselben Kraft, die es auch sonst innehatte und nährte Zoras mit unendlicher Hoffnung, dann nahm es wieder ab und das war nicht mehr annähernd so natürlich wie sonst. Es verschwand und Zoras presste ihn noch fester an sich. Bis es vorbei ist? Bis es vorbei ist?
      "Okay."
      Zoras lächelte, er wusste nicht, woher seine Gesichtsmuskeln gelernt hatten, in diesem Augenblick eine solche Bewegung zu vollziehen. Aber Amartius hatte ihn Vater genannt, also lächelte er, auch wenn es seine Kehle zuschnürte und seine Brust zum Schmerzen brachte.
      "Wir bleiben hier, du ruhst dich aus. Wir haben Zeit, entspann dich. Es ist alles in Ordnung."
      Amartius schloss seine Augen und Zoras lehnte sich vor, stützte seinen Kopf mit seiner Hand und küsste seine Stirn. Da sprach sein Junge noch einmal und er lehnte sich wieder zurück, um ihn verstehen zu können.
      Es war Telandirs Schuld. Natürlich war es Telandirs Schuld, wie hätte es auch anders kommen können. Auch, wenn Zoras diese Neuigkeit definitiv zum ersten Mal erfuhr und vorher nicht einmal darüber nachgedacht hatte, ob der Phönix noch etwas anderes im Schilde geführt hätte, war es doch keine Überraschung. Nein, eigentlich fühlte er gar nichts besonderes bei den Worten, die eigentlich sämtliche Emotionen in ihm hätten entfachen müssen. Telandir war schuld daran, dass sie jetzt hier saßen, dass Amartius so aussah, als würde er sich gleich ins Reich der Phönixe verabschieden - aber das Wissen konnte es nicht rückgängig machen. Sein Sohn lag schlaff in seinen Armen, einer Leiche ähnlicher als einem Menschen und Zoras hätte nichts auf der Welt mehr interessieren können. Sollte Telandir doch tun und lassen was er mochte, er würde sich schon früh genug mit dem Phönix auseinandersetzen. Das hier war wichtiger, Amartius brauchte ihn. Der Rest interessierte ihn nicht.
      "Das ist in Ordnung. Wir werden das regeln, alles wird wieder gut werden, hm?"
      Und da war es, ein dünnes, fast unsichtbares Lächeln, das Zoras mit Wärme füllte. Fast hätte er seine eigenen Worte geglaubt, als er die Mimik erwiderte und Amartius über die Haare strich. Der Junge sagte noch etwas, was Zoras nicht recht zuordnen konnte, und dann begann er zu singen.
      Seine Stimme war weich und zart, ein direkter Kontrast zu allem um sie herum, sogar zu sich selbst, dessen Schwärze sich nur noch weiter ausbreitete. Zoras konnte die Spannung fühlen, die durch Amartius' Körper zuckte und ließ ein wenig locker, weitete die Augen, während er zu verstehen versuchte. Die Worte waren ihm fremd, genauso wie die Melodie und was auch immer Amartius zu bezwecken versuchte, aber er erkannte doch, dass etwas dahinter stecken musste, dass es weitaus mehr war als lediglich ein Singsang, den er ihm präsentieren wollte. Amartius' Blick stach sich in seinen eigenen, unangenehm fast, durchdrang ihn bis auf die Knochen und obwohl Zoras noch einmal beteuern wollte, dass alles gut werden würde, dass sie sich nur ein bisschen ausruhen würden, konnte er doch nicht den Blick abwenden, geschweige denn den Gesang unterbrechen. Er starrte selbst, erstarrt in seiner Haltung und beobachtete, wie das Schwarz Amartius' Gesicht vereinnahmte. Es war jetzt überall und mit ihm schien selbst der Gesang an Farbe zu verlieren, die Töne wurden leiser und die Worte schwammig, die Spannung in Amartius' Körper schwand und hinterließ nichts als Leblosigkeit. Und als ihm das letzte Wort über die Lippen glitt, sein eigener Name, der so leise hervorkam, dass er kaum als Gesang hätte gedeutet werden können, und als der letzte Fleck unberührter Haut sich in tiefes Schwarz verwandelte und seine Augen zufielen, da spürte Zoras erst, wie ihn die Kälte auf einen Schlag traf, wie etwas in ihm verloren ging, das er all die Wochen womöglich als selbstverständlich erachtet hatte, wie ein Teil von ihm mit Amartius ging. Er starrte noch immer, er konnte sich nicht rühren, und dann zerfiel sein eigener Sohn vor seinen Augen Stück um Stück zu Asche.
      "Nein..."
      Er umfasste ihn stärker, presste ihn an sich, versuchte, mit seinen Armen eine Grenze zu schaffen, die den Zerfall aufhalten würde. Aber unter seinem Griff löste sich der schmächtige Körper auf und als er versuchte, seine Hand noch einmal zu ergreifen, gab die Asche schon keinen Widerstand mehr und rann ihm zwischen den Fingern hindurch. Das letzte Gewicht von Amartius verschwand, als der Wind das forttrug, was vor einer Sekunde noch seinen Sohn ausgemacht hatte.
      "Amartius!"
      Er griff nach der Asche und griff ins Nichts. Dafür fiel sein Blick jetzt erst auf das enthüllte Mal an seinem Handrücken, ein feuerrotes Zeichen, das er anstarrte wie etwas außerirdisches. Er hatte es nicht bemerkt, zu sehr war er abgelenkt von seinem Jungen gewesen, und jetzt fixierte er es, bevor sein Blick auf seinen Schoß fiel. Unter dem jetzt leeren, vom Ruß fleckigen Wams lag ein Schwert, eine wunderschöne, ehrfurchtgebietende Waffe, die er vorsichtig aus der Asche emporhob. Die Klinge war lang und elegant, die Kanten dünn und scharf, der Griff meisterhaft gearbeitet und passte sich wie perfekt in seine Hand. Und über die Schneide, in feuerroten Zeichen und für einen Augenblick nur, der wie das vergangene Echo eines Rufes wirkte, erschien ein Name, den Zoras vermutlich in allen Sprachen hätte erkennen können: Amartius.
      Da brach es erst über ihn herein und ein Geräusch entriss sich seiner Kehle, das sich wie ein gebrochenes Schluchzen anhörte. Er hatte seinen Sohn verloren. Er hatte sein Fleisch und Blut verloren, das einzige auf der Erde, das er mit einer Inbrunst geliebt hatte, dass alle weltlichen Gefühle überstiegen hatte. Er war ihm geschenkt worden, ein Geschenk der Götter, und jetzt hatte er ihn verloren, verloren an eine bis dahin unbekannte Bestie in einem bis dahin unbekannten Land, weil er selbst nicht stark genug gewesen war, sie vor diesem Ding zu beschützen. Er hatte ihn verloren, weil Amartius wohl letzten Endes doch ein Luor gewesen war, weil er von dem selben Fluch betroffen war, der alle Luors dazu verleitete, sich für ihre Lieben opfern zu wollen. Er hatte ihn verloren, weil er selbst nicht schnell genug gewesen war.
      Ein weiteres Geräusch entwich seiner Brust und er fiel nach vorne, ließ das Schwert los, stützte sich mit den Händen auf eiskaltem Boden ab. Die Kälte stach durch seine ungeschützte Haut, war jetzt überall, unter seinen Kleidern, unter seiner Haut, in seinen Knochen, in seiner Brust, sie erfüllte ihn und es tat so weh, es schmerzte mehr als sämtliche körperliche Schmerzen, die er jemals hatte aushalten müssen, es tat so weh. Er hatte seinen Sohn verloren, Amartius war für immer verschwunden, verloren, weil er keine Lebenskraft mehr übrig gehabt hatte, verbannt ins Jenseits. Er war für immer verschwunden und Zoras glaubte, zusammenbrechen zu müssen.
      Tränen verschleierten ihm die Sicht, liefen heiß über seine Wange, vermischten sich mit dem Rest der Asche auf dem Boden. In seiner Brust rumorte es, er konnte nicht atmen, er konnte nicht denken, die Welt um ihn herum war verschwunden, es gab keinen Wyrm und keinen Wagen, kein Asvoß - keinen Amartius. Er schluchzte erneut, ein trockener, kehliger Laut, der in seinem Hals schmerzte und ihn der wenigen Luft beraubte, die in seinen Lungen festsaß. Da drang plötzlich ein gellendes Kreischen zu ihm durch und er zuckte zusammen, riss den Blick von dem geschwärzten Boden und blickte in den Himmel empor.
      Es war ein Phönix und Zoras wusste, dass es Telandir war. Er hatte sie entdeckt und jetzt war er hergekommen, um seinen angefangenen Auftrag zu beenden. Er würde sich Zoras und die anderen holen, denn Amartius hatte er ja jetzt bereits, was machte es da schon für einen Unterschied, wenn er sich nicht auch noch seinen Vater holte. Und Zoras würde sich ihm ergeben, sollte er ihn doch holen, sollte er ihn doch verbrennen und in Stücke schneiden und jedes Stück einem Wyrm zum Fraß vorwerfen, es war alles nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der in seiner Brust loderte. Sie hatten verloren. Sie waren hergekommen, um zu siegen, und stattdessen waren sie einer bitteren Niederlage unterlegen.
      Der Phönix begann seinen Sturzflug und Zoras senkte den Kopf, um dem Tod nicht noch ins Auge blicken zu müssen. Er fasste sich auf den Feuerball, der ihn heimsuchen würde und seine Haut in ähnlicher Weise äschern würde wie Amartius' - aber der Feuerball blieb aus. Stattdessen hörte er ein Geräusch, das einem starken Windzug glich und hob nach einem Moment wieder den Kopf.
      Es war nicht Telandir, der dort auf ihn zugeschritten kam. Es war auch nicht Kassandra, auch wenn Zoras für einen winzigen Augenblick der surrealen Überzeugung war, dass Kassandra eine andere Hülle und ihn gefunden hätte. Aber es war keiner von beidem und das Auftauchen der fremden Phönixin allein war genug, dass er sich durch den Schleier seiner unversiegten Tränen kämpfte und sich zumindest aufsetzte. Er glaubte nicht, aufstehen zu können. Er glaubte nicht, dass seine Beine den Schmerz tragen könnten, der in seinem Inneren loderte.
      Die Phönixin blieb in einer Entfernung stehen und fiel dann zu seiner Überraschung selbst auf die Knie. Ihr Gesicht war verzerrt in einer Grimasse, die für einen Menschen vielleicht nachvollziehbar gewesen wäre, nicht aber für ein Wesen, das eigentlich keine Gefühle haben sollte. Sie streckte eine filigrane, zarte Hand aus, die genauso wenig wie der ganze Rest ihrer Erscheinung zu der Umgebung passte, und Zoras verstärkte den Griff um das Schwert, so als hätte er Angst, dass sie es ihm auf die Entfernung wegnehmen könnte. Ihre Stimme war ganz warm, aber ihre Worte trafen nur auf eine eiskalte Mauer in Zoras' Innerem.
      "W-W..."
      Er schluckte gegen einen verschlossenen Hals an, seine Hand krampfte sich so sehr um den Schwertgriff, dass sie schmerzte. Die Kälte des Eises drang ihm jetzt auch durch die Beine und raubte ihm das Gefühl in seinen Extremitäten. Es tat noch immer so weh, dass er glaubte, jeden Moment den Verstand verlieren zu müssen.
      "W-Wer seid Ihr?"
    • Für eine grausig lange Minute musterte die Phönixin Zoras einfach nur mit ihrer ausgestreckten Hand. Erst dann ließ sie sie langsam sinken, noch immer war ihr Gesicht von Mitleid gezeichnet. Vor sich sah sie einen gebrochenen Mann, der gerade seinen Sohn verloren hatte. Und das konnte sie nur deshalb so sicher sagen, weil es sonst keinen Grund gab warum ein Söldner um den Tod irgendeines Kindes weinte.
      „Mein Name lautet Areti“, sagte sie leise, doch ihre Stimme übertrumpfte den Wind spielend leicht. „Tochter von Telandir und Kassandra. Amartius' Halbschwester.“
      Ihre wachen Augen suchten die seinen und warteten auf den Moment, in dem die Erkenntnis einschlug. Als nach ein paar Herzschlägen nichts dergleichen geschah, senkte sie kurz den Blick bevor sie aus dem Schnee aufstand. Noch in der Bewegung ging eine unsichtbare Welle kreisförmig von ihr aus, die den Schnee binnen Sekunden zum schmelzen brachte. Der darunter liegende graue Fels war zerklüftet und erzählte von Zeiten, in denen das Land noch nicht von Schnee und Eis bedeckt war. Mit jedem grazilen Schritt, den Areti auf Zoras zu machte, schmolz mehr Schnee und umhüllte den am Boden sitzenden Mann mit einer ungeahnten Wärme. Als würde die Sonne höchstpersönlich ihr Licht nur auf ihn werfen und sich bis in sein Innerstes vorkämpfen.
      Als die junge Frau vor Zoras stand und auf ihn hinab blickte, sah sie, wie er das Schwert noch fester hielt als es überhaupt möglich sein sollte. So sehr hielt er an dem Geschenk fest, das sein Sohn ihm gemacht hatte. Dabei hielt er nur das ersichtliche in Händen und vergaß den unsichtbaren Teil. „Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, um euch zu finden.“
      Sie streckte ein weiteres Mal ihre Hand aus, dieses Mal in Richtung seines Kopfes. Gut eine Armlänge entfernt stockte sie und ihre Augen weiteten sich leicht in Überraschung. Dann, völlig unverwandt, lächelte Areti sanft. Ein unglaubliches Lächeln, das nicht voller von Güte und Sanftmut hätte sein können. Sie ballte ihre Faust und führte sie an ihre Brust, wo sie verharrte und die Augen schloss. So als hätte sie etwas Wertvolles in ihrer Hand gefangen.
      „Er hat nicht einfach aufgehört zu existieren. Ihr tragt seine Seele in Eurer Faust und seinen Schwur als Zeichen auf Eurer Hand. Solange Ihr daran festhaltet, wird er nie von Eurer Seite weichen. Denn wenn ich nach Eurer Aura spüre, liegt seine wie ein Schleier über Eurer.“
      Vor Zoras ging Areti wieder in die Hocke und schlang ihre Arme um ihre Beine. Schlagartig wirkte sie noch jünger als sie es ohnehin schon tat während das Lächeln schwand und sie den Mann mit ernsterer Miene betrachtete. Das war also der Mann, an den Kassandra ihr Herz verloren hatte. Derjenige, der das ganze Unheil in Gang setzen würde, sollte sein Plan gelingen.
      „Ich bin extra aus der Eisfeste zu Euch gekommen, um Euch zu warnen. Ich bin mir bewusst, dass der Zeitpunkt schlecht erscheinen mag, aber das ist er ganz und gar nicht. Ihr werdet meinen Worten keine Folge leisten, aber ich muss darauf bestehen. Ihr müsst von Eurem Vorhaben ablassen. Ihr dürft Kassandra nicht treffen und noch viel wichtiger, ihr nicht ihre Essenz wiederbeschaffen. Wenn Ihr dafür sorgt, dass sie wieder Herrin über ihre Macht wird, dann lasst Ihr ein Unheil über diese Welt los. Ihr brächtet das Gleichgewicht zwischen den Welten durcheinander. Kehrt um. Zeigt Euch ihr nicht. Beweist ihr nicht, dass ihr Sohn gegangen ist.“
    • Die Phönixin antwortete nicht. Für eine grausam lange Zeit starrte sie nur und Zoras konnte nichts anderes tun, als zurückzustarren. Seine Beine waren mit dem Boden verschmolzen und er hätte nicht einmal die Kraft gefunden, seine Schultern höher zu heben.
      Dann endlich sprach sie und ihre Stimme erhob sich mit Leichtigkeit über die Umgebung hinweg. Sie war nicht kraftvoll und auch nicht eindringlich, sie war viel eher leise und süßlich, aber darin schwang weitaus mehr als der bloße Gesang mit, darin sammelte sich die Sonne und der Himmel und das Leben. Sie sprach zu ihm und ihre Stimme traf nicht nur auf seine Ohren, sondern auch auf seinen Verstand, auf seinen Geist, auf seine Seele. Er spürte sie auf weitaus mehr Ebenen, als sein menschliches Wesen begreifen konnte.
      Langsam blinzelte er, während er vor seinem getrübten Blick die Phönixin musterte. Es war Areti, Amartius' Halbschwester. Irgendwie war er dazu geneigt, sie der Lüge zu bezichtigen.
      Aber er sagte gar nichts, schwieg seine Gedanken, seinen Frust, seinen Schmerz hinab während er beobachtete, wie die Phönixin aufstand und auf ihn zuschritt. Selbst ihre Bewegungen waren auf eine Weise einzigartig, die er nicht hätte deuten können. Sie stolzierte, wie man es wohl von einer Phönixin erwarten könnte, aber jeder Schritt beschrieb eine ungeahnte Reichweite, die Zoras genauso wenig ergreifen konnte. Er erwischte sich dabei, wie er glotzte, unfähig dazu, seine Augen abzuwenden. Es war kaum zu leugnen dass Areti, mit ihrer hochgewachsenen Figur, dem zarten Gesicht und der natürlichen Eleganz, gewisse Attribute von Kassandra mit sich brachte, aber etwas war an dieser Phönixin anders als an ihrer Mutter, das Zoras nicht so recht einfallen wollte. So beobachtete er nur und erzitterte, als ihn eine ungeahnt eindringliche Wärme ergriff. Sie hatte nicht nur die Macht dazu, den Schnee zu schmelzen, sie war auch noch stark genug, seine Gliedmaßen aufzutauen und bis in sein verhärtetes Inneres vorzudringen. Fast hätte er sich gänzlich von der Wärme vereinnahmen und mitreißen lassen.
      Dann kam sie vor ihm zum Stehen und er senkte wieder den Blick. Es gab nichts weiter dazu zu sagen. Wenn er die Kraft gefunden hätte, hätte er sie womöglich gefragt, ob sie denn überhaupt wusste, was Leid bedeutete, ob sie so wie Amartius jemals einen Fuß außerhalb der Eisfeste gesetzt hatte und ob sie mitbekommen hatte, was diese Worte überhaupt bedeuteten, die sie so leichtfertig an ihn richtete. Es tat ihr leid - begriff sie vollständig, was hinter diesen Worten steckte? Dass sie gerade mal zehn Minuten hätte früher auftauchen können und den Wyrm wahrscheinlich mit ihrem Feuer allein hätte vertreiben können? Dass Amartius sich nicht nur für sie geopfert hatte, sondern dass das nun auch beinahe umsonst gewesen war? Wenn er die Kraft gehabt hätte, hätte er ihr gesagt, dass sie umsonst gekommen war. Vielleicht hätte er gesagt, dass es wohl besser gewesen wäre, wenn sie ganz ferngeblieben wäre.
      Stattdessen schwieg er und hob wieder den Blick, als sie weitersprach, nur um jetzt ein fast strahlendes Lächeln zu entdecken, das ihre Lippen kräuselte. Zoras presste die Lippen aufeinander und starrte auf das rote Mal hinab, das auf seiner Hand zurückgeblieben war.
      Er wollte wieder weinen. Er wollte schreien, er wollte schluchzen, er wollte den Wyrm zum Leben erwecken und ihm mit bloßen Händen antun, was er Amartius angetan hatte. Er wollte zusammenbrechen, sich auf dem jetzt geschmolzenen, harten Felsboden zusammenrollen und nie wieder aufstehen. Er wollte die ganze Welt und alle Götter dafür verantwortlich machen, was mit seinem Sohn geschehen war. Er wollte, dass alle Welt davon wusste, welches Leid Amartius widerfahren war und welches Loch sein Tod in Zoras' Seele gerissen hatte.
      Was er stattdessen tat, war einen tiefen, zuckenden Atemzug zu nehmen und die Hand zur Faust zu ballen. Er streckte seinen Rücken etwas durch, zog die Schultern zurück und hob den Kopf an. Als Areti sich dann auch noch hinhockte, hätte es fast so wirken können, als wären sie lediglich zwei Gleichgesinnte, die sich in einer merkwürdigen Umgebung über ihre Belange austauschten. Man hätte fast über die Umstände vergessen können.
      Zoras fand seine Stimme wieder, als die Phönixin weitersprach. Zunächst schien es von außerordentlicher Wichtigkeit, von Weltenbewegung sogar, sodass er es zuließ, dass ihre Worte ihn von Amartius und allem anderen ablenkten, aber dann wurden sie genauso schnell wieder nichtig. Zugegeben, noch nie war er jemandem gegenüber gestanden, der ihn aktiv von seinem Vorhalten abgehalten hätte, aber das änderte auch nichts an der Tatsache, dass die Phönixin völlig falsch lag. Sie durfte Kassandras Namen in den Mund nehmen, denn eigentlich hörte er sich mit ihrer Stimme frisch und lebendig an, aber sie durfte nicht die Worte aussprechen, die sie soeben an Zoras richtete. Etwas in ihm, ein schwelender, alternder Teil, forderte, dass diese Frau den Mund schloss.
      "Ich darf ihr ihre Essenz nicht wiederbeschaffen?"
      Seine eigene Stimme kratzte ihm im Hals und er fixierte die Phönixin, als hätte sie sich in den einzigen Punkt der Welt verwandelt, den er ansehen konnte.
      "Weil sie... weil ein Unheil losbricht? Bezeichnet Ihr Kassandra etwa als Unheil?"
      Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn, eine einzige Furche in trockener Haut, der sogleich zehn weitere folgten. Er hatte noch immer nicht die Kraft dazu, sich überhaupt zu regen, geschweige denn etwas anderes zu empfinden als den tiefsitzenden Schmerz, der in seinem Innersten saß, aber jetzt flammte daneben auch etwas anderes auf. In gewisser Weise war es wohl der Teil, weswegen er überhaupt hier war.
      "Seid Ihr hierhergekommen, um mich davor zu warnen, Kassandra ihre Essenz zurückzugeben, weil dann ein Unheil ausbricht? Weil es das Gleichgewicht durcheinander bringt? Dass eine Phönixin ihr Herz zurückerhält? Eure Mutter?"
      Das Schwert, das er soeben noch etwas lockerer gehalten hatte, packte er jetzt wieder mit voller Kraft. Das Kratzen in seinem Hals erstarb, seine Stimme gewann an Stärke - und an Zorn.
      "Seid Ihr Euch darüber im Klaren, was Ihr hier tut? Was Ihr von mir verlangt? Dass ich umkehre, den Ozean überquere und Kassandra ihre Existenz fristen lasse, bis in alle Ewigkeit und noch viel weiter an einem Ort, der ihrem Zuhause nicht annähernd nahe steht? In dem sie dazu gezwungen wird, für einen Menschen zu handeln? Ihm Kinder zu gebären?"
      Für Amartius hatte er nur Liebe empfunden, für ihn und die Verbindung zu Kassandra, die er darstellte. Bei Areti spürte er nicht mehr als eine ferne Sehnsucht nach dem, was hinter der Phönixin stand, nicht aber für die Phönixin selbst.
      "Von allen Wesen auf der Erde solltet Ihr es wohl am besten wissen, wie es um Eure Mutter steht, aber anstatt etwas daran zu ändern, bittet Ihr mich, nichts zu tun! Ich soll mich zurückziehen und Kassandra ihrer Gefangenschaft überlassen, ist es wirklich das, was Ihr für Eure Mutter wünscht? Für Eure Mutter? Hättet Ihr auch nur einen Funken Liebe für sie übrig, für Euer eigenes Blut, dann würdet Ihr erkennen, wie es um sie steht, dass sie nichts auf dieser Welt mehr braucht als ihre Essenz! Nicht einmal Euch!"
      Seine Beine regten sich. Es benötigte ihn mehrere Anläufe, um sich gegen die schier unendliche Last aufzustemmen, die sich auf seine Schultern gelegt hatte und seine Brust verengte, bis er erst ein Bein, dann das andere aufgestellt hatte und sich wankend aufrichtete. Seine Muskeln zitterten, sein Arm bebte, als er ihn anklagend anhob. Amartius' feuerrotes Mal schien sich gegen den eintönigen Hintergrund besonders abzuheben.
      "Kassandra verdient die Freiheit, hat sie schon immer verdient! Sie ist die einzige, die dazu verdammt ist, schon seit Urzeiten unter uns Menschen zu wandeln und wenn sie schon nicht in den Himmel zurückkehren kann, soll sie ihr Herz zurückerhalten, bei dem ich selbst versagt habe! Das ist das einzige - das mindeste, das sie verdient und sogar das wollt Ihr ihr nicht gewähren! Wie könnt Ihr also so leichtfertig daherkommen und Eure Forderung stellen, wenn Ihr selbst nicht einmal -"
      Da fiel es ihm erst wie Schuppen von den Augen, als er erkannte, was Areti so sehr von ihrer Mutter unterschied, und er stolperte einen Schritt zurück, wäre fast gefallen, weil seine Beine drohten, den Dienst zu versagen. Die Phönixin war hergeflogen, sicherlich, aber zwischen ihr und dem Feuervogel, den Kassandra einst auf dem Schlachtfeld präsentiert hatte, lag ein so offensichtlicher Unterschied, dass es Zoras im ersten Moment gar nicht aufgefallen war. Areti war eine Phönixin und sie war im vollen Besitz ihrer Kräfte. Sie war eine vollwertige Phönixin auf Erden.
      Der Ausdruck in seinem Gesicht festigte sich, wurde kalt, zornig. Er wusste nicht, woher er die Energie nahm, aber das machte auch nichts. Er war bereit, für Kassandra ganze Welten zu versetzen, geschweige denn sich mit ihrer Tochter anzulegen.
      "Ihr seid selbst noch im Besitz Eurer Kräfte. Wie könnt Ihr es da wagen, sie Eurer Mutter enthalten zu wollen? Ihr besitzt Eure Essenz selbst noch, Ihr habt noch nicht annähernd lange genug unter den Menschen geweilt, um ihr Grauen zu erfahren! Und Ihr wagt es, Eurer Mutter die Freiheit zu entsagen? Ihr solltet ihr helfen, wenn Ihr schon nicht rechtzeitig wart, um Euren Halbbruder zu helfen, der sein Leben gelassen hat, damit wir seine Mutter finden! Also nein, Areti, Tochter von Telandir und Kassandra, Halbschwester von Amartius Luor, ich werde von meinem Vorhaben nicht ablassen! Ich werde Kassandra finden und ihr ihre Essenz zurückgeben, weil tausend Generationen von Menschen vorher dabei versagt haben - und Ihr werdet entweder das tun, was für Eure Mutter am besten ist, oder Ihr werdet vier weitere Menschenleben auf dem Gewissen haben, wenn Ihr schon bei dem einzigen, halben versagt habt!"
    • Areti war wie ihre Mutter nicht der Naivität verfallen. Ihr war klar, dass die Worte, die sie an Zoras richtete, nicht auf Akzeptanz stoßen würden. Erst recht nicht nach dem, was vor erst wenigen Minuten geschehen war. Und genau das war der Grund, warum sie so rigoros ihre Forderung an ihn stellte. Sie hatte es nicht angedeutet oder verlauten lassen, aber sein Schmerz war so greifbar, dass er beinahe zu ihrem eigenen hätte werden können. Das Leid, das dieser Mann gerade durchlitt, war so stark, dass die meisten anderen Menschen daran zu Grunde gegangen wären. Und auch dieser Söldner, ehemaliger Herzog und Liebster befand sich gefährlich nah an dieser Schwelle. Einer Schwelle, die sie mit Leichtigkeit von ihm fernhalten konnte und dennoch wusste, dass er es niemals zulassen würde. Es schrie alles in ihr, ihm sein Leid zu nehmen, doch würde sie es nur, wenn er nicht mehr dazu bereit war, es selbst zu tragen.
      Mit ihren eigenen, rubinroten Augen sah Areti, wie der Schmerz von Wut verbannt wurde. Fast hätte sich ein dankbares Lächeln auf ihre Lippen geschlichen, aber dann reihte er Worte aneinander, die sie ehrlicherweise so nicht erwartet hätte. Als Göttin, die sie war, verspürte Areti keine Wut. Was sie dafür sehr wohl fühlen konnte, war ihr angegriffener Stolz und eine Verbindung, die dieser Sterbliche niemals greifen und erst recht nicht in Frage stellen durfte.
      „Ja, ich bezeichne Kassandra als Unheil wenn sie jemals wieder ihre volle Kraft zurückerhält“, bejahte Areti noch immer in hockender Position und mit der gleichen ruhigen und bedachten Stimme. „Ihr habt es vollkommen richtig begriffen. Meine Mutter darf ihr Herz nicht zurückbekommen, denn nur sie hat das Potenzial, das bereits geschwächte Gefüge zu zerstören.“
      Es ihm jetzt zu erklären würde nichts bringen. Eher redete sie sich den Mund fusselig, als dass dieser Mann wirklich verstand, welche Rolle Kassandra, die am längsten auf der Erde gefangene Phönixin, zugetragen worden war. Sie hätte Namen nennen können. Schuldige herausstellen. Doch nichts davon würde den Lauf des Schicksals beeinflussen außer den Momenten, die sich nun entschieden.
      All das, was Zoras in seiner aufsteigenden Wut nun sagte, entsprach vollkommen der Wahrheit. Areti wusste besser als die meisten, wie sehr Kassandra unter ihrer Situation litt. Umso mehr schmerzte es ihre Tochter, dass sie diejenige sein musste, die dafür sorgte, dass dieses Leid ewig währte. Damit er seinen völlig abstrusen Plan nicht in die Tat umsetzte. Niemand wusste, wie lange er schon daran gearbeitet hatte. Wie früh er damit begonnen hatte, die Figuren so zu platzieren, damit am Ende das gesamte Spielbrett in sich zusammen fiel. Vermutlich war sie selbst ein geschickt gesetzter Turm, der seine Rolle nur noch nicht erkannt hatte. Bis jetzt hätte sie sogar all die Worte dieses Sterblichen ohne etwas zu sagen über sich ergehen lassen. Zumindest bis zu dem Moment, in dem er sich erdreistete über die Beziehung zwischen Mutter und Tochter zu urteilen.
      Vor Areti erwachte Zoras wieder zum Leben. Er brauchte ein paar unbeholfene Anläufe, um sich aus seiner Haltung empor zu kämpfen. Augenscheinlich die Ruhe selbst begutachtete sie erst das eine zuckende Bein, dann das zweite und hob nicht den Blick, als er schließlich wieder aufrecht stand. Er wankte ein wenig, das sah sie an seiner Stellung, doch er hielt Armatius noch immer fest in seiner Hand während er von oben herab auf ihren Scheitel blickte. Eine vertauschte Welt, die den Pulsschlag der anderen beiden Menschen, die weiter hinten am Wagen auf ihren Knien zur Säule hatte erstarren lassen, beschleunigte. Freiheit war etwas, das jeder verdiente, aber noch lange nicht jeder bekam. Wieso verdiente Kassandra mehr die Freiheit als all die Sklavenkinder, die täglich in den Städten missbraucht und verkauft wurden? Seit wann war die Dauer der entscheidende Aspekt in der Zurechnung dieses Bedürfnisses? Neben Kassandra gab es noch zahlreiche andere Götter, die ihr Schicksal teilten, auch wenn sie mit Abstand am längsten auf der Erde verweilte. Welche Geschichte hatte sie diesem Menschen überhaupt erzählt, wie sie auf die Erde gekommen war?
      Zoras' Wutschwall unterbrach sich selbst und Areti musste beinahe schmunzeln als sie seine Erkenntnis spürte. Wie er begriff, dass sie im Gegensatz zu allen anderen so sehr Gott war wie es nur möglich war. Für sie gab es keine Einschränkungen, denn sie war genau das, was Zoras für Kassandra wollte: frei. Erst, als sie spürte, wie die heiße Wut in kalten Zorn umschlug, hob sie den Kopf. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht hätte betroffen sein sollen, vielleicht ebenfalls erzürnt. Aber alles, was sie zeigte, war ein schmales Lächeln. Eines, das ihre Augen nie gänzlich erreichen würde. Sie ließ ihn in völliger Ruhe zu ende wüten, dann öffnete sie ihre Arme und gab ihre Beine frei.
      Mit einer wahnsinnigen Anmut erhob sich Areti. Ihre Arme hingen einfach zu ihren Seiten hinab während sie den Mann vor sich betrachtete. Ja, sie konnte verstehen, wie sich ihre Mutter zu ihm hingezogen fühlen konnte und die Reue darüber, was sie tun musste, wuchs ins Unermessliche. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie ihn direkt in Kassandras Arme geflogen und sie alle aus der Feste gebracht. Aber das war nur möglich, wenn sie für einen kleinen Augenblick egoistisch war und ihr persönliches Glück über alles andere stellte.
      Und das konnte Areti als vollwertige Phönixin nicht.
      „Wieso vier Menschenleben? Ich sehe im Umkreis lediglich drei.“ Zeitgleich mit ihren Worten fingen ihre Augen Feuer; das Rot intensivierte sich so sehr, das es sich allein durch den Anblick durch alles zu brennen schien. Hinter ihr am Wagen knieten noch immer Tysion und Faia. Doch Golm war spurlos verschwunden.
      „Ich glaube, Ihr missversteht Euren Platz, Zoras Luor. Euch sei der Schmerz vergönnt, den der Verlust Eures Sohnes mit sich gebracht hat. Ebenso wie das Leid, das Ihr erfahren musstet als meine Mutter Euch das Leben gerettet hatte und Ihr in Gefangenschaft gelandet wart. Euch sei verziehen, dass Ihr Euch in eine Phönixin verliebt habt und alles für sie tun würdet. Eine durchaus ehrenhafte Einstellung. Aber wagt es nicht, Euch kundig darüber zu geben wie ich zu meiner Mutter stehe.“
      Der Druck, der sich vorhin nur kurz bemerkbar machte, schlug nun mit aller Wucht zurück. Vor Areti taumelte Zoras einen weiteren Schritt zurück, doch im Gegensatz zu den Anderen fiel er nicht auf seine Knie. Schuld daran war das Schwert, das in seiner Hand vibrierte und ihn vor dem Einfluss so gut es konnte schützte.
      „Ihr werdet Euch davor hüten, mir zu unterstellen, ich liebe meine Mutter nicht. Ebenso wie Ihr mir nicht unterstellen werdet, dass ich ihr ihr Leben vorenthalten würde. Mir obliegt nicht der Luxus zu tun, was ich für mich oder meine Liebsten wünsche. Wenn ja, dann hätte ich Euch längst zu ihr und wieder aus der Feste heraus gebracht. Aber ich muss tun, was für beide Welten das Beste ist und nicht für das Glück des Individuums.“
      Ihr Herz zuckte bei diesen Worten schmerzlich zusammen. Der Himmel hatte ihr eine Aufgabe übertragen, die bedeutete, dass sie niemals das Glück haben können würde, das sie sich erträumte. Der Weg, der sich vor ihr eröffnete, war gepflastert mit Entbehrungen und Nichtigkeiten.
      „Ihr wisst doch nicht einmal, wie es ihr wirklich geht. Ich hingegen schon? Wollt Ihr es sehen? Wollt Ihr sie sehen?“, fragte Areti herausfordernd und ließ das erste Mal durchblicken, das nicht alles spurlos an ihr vorbei zog. Es war eine Bitterkeit in ihren Worten versteckt, weil sie genau wusste, was Zoras erwarten würde. „Dann seht sie euch gefälligst an.“
      Die gesamte Luft um sie herum begann zu flimmern und schließlich wirkte es so, als verzerre sich die Realität. Während Areti unbeweglich dastand, wuchsen Steinwände aus dem Boden hervor, der Fels unter ihnen wurde zu Fliesen und über ihren Köpfen schloss eine Decke den Himmel weg. Ein geräumiges Zimmer entstand um sie beide herum, ausgestattet mit schwerem Mobilar und Fellen auf dem Boden. In diesem Raum stand kein Bett, es war eher mit einem Empfangsraum zu vergleichen, an dessen Wänden Regale mit Büchern standen und hohe, teils vereiste Fenster helles Licht in den Raum fallen ließen.
      Und genau an einem dieser Fenster stand eine Person.
      Kassandra stand vor einem dieser Fenster und sah durch die Eisblumen hinaus. Sie hatte die Arme um sich geschlossen und wirkte äußerlich genauso jung wie ihre Tochter. Doch ihre Hautfarbe wirkte fahl, tiefe Augenringe lagen unter ihren sonst so wachen Augen, die ihren Glanz verloren hatten. Ihr schwarze Mähne war nicht mehr kunstvoll geflochten sondern fiel nur in stumpfen Wellen über ihren Rücken hinab. Wenn man davon absah, dass sie nicht abgemagert aussah, war sie nicht mehr das blühende Leben von einst.
      „Sie steht jeden Tag an diesen Fenstern und schaut hinaus. Teilweise stundenlang, so als erwarte sie die Ankunft von jemanden. Ich weiß, wie Kassandra einst gewesen war und diese Frau dort am Fenster ist nur noch ein Schatten jener Phönixin von damals. Schaut sie Euch an und sagt mir dann noch einmal ins Gesicht, dass ich kein Mitleid für sie empfinden würde! Sie sollte dort nicht so stehen wie jemand, der nur darauf wartet, dass seine Zeit abläuft. Wisst Ihr eigentlich, wie viele Zyklen sie durchmachen musste? Dass meine Geburt sie so sehr entkräftet hat, dass sie zu Asche zerfallen ist und wie durch einen Fluch wieder auferstanden ist? Wie, denkt Ihr, soll ich dazu stehen, dass ich ein Teil der Maschinerie bin, die ihr ewiges Leid einbringt?“
      Es war eine Illusion, die Areti Zoras gerade zeigte. Kassandra würde nicht auf Stimmen reagieren, doch das, was er nun sah, war eins zu eins aus Aretis Erinnerung gesponnen. Tagtäglich stand ihre Mutter dort, schweigend ohne ein wirkliches Ziel vor Augen zu haben. Telandir hatte seiner Tochter einst von dem Temperament Kassandras erzählt, von dem nichts mehr übrig gewesen war.
      Areti tat einen tiefen Atemzug, bevor sie fortfuhr. „Was denkt Ihr geschieht, wenn Kassandra wieder über ihre Macht verfügt? Nachdem sie erfahren hat, was ihrem Sohn widerfahren ist? Nachdem sie sich damit konfrontiert fühlen muss, wie Ihr sie anseht? Beim Urvater, Zoras, man hat sie mehrfach vergewaltigt. Habt Ihr nie einen Gedanken daran verschwendet wie sie sich fühlen muss, wenn sie Euch je wiedersieht? Ich kann es Euch sagen; sie fühlt sich beschmutzt, unrein. Angefangen damit, dass man Euch als Trugbild genutzt hatte, um sie das erste Mal zu brechen.“
      Als Telandirs Tochter enthielt er ihr wenig von allem vor, was er getan hatte. Sei es unrühmlich gewesen oder nicht und so kamen sie irgendwann auch auf das Thema Amartius und wie es zu all dem gekommen war. Während ihr Vater seine Worte darüber verlor, wuchs in Areti nur eine Abscheu ihrem eigenen Vater gegenüber heran. Wie konnte sich ein Mann, der zur gleichen, reinen Art wie sie selbst gehörte, zu solchen Mitteln nur greifen? Schnell war sie sich sicher gewesen, dass es sein Einfluss gewesen sein musste, der Telandir maßgeblich zu dem gemacht hatte, was er nun war. Eine geschickt eingefädelte Spielfigur.
      „Gebt ihr nun ihre Macht zurück und sie wird fallen, Zoras. All der Zorn, all die Trauer und all die Abscheu wird sich jäh entladen und dafür sorgen, dass sie wie der schwarze Tod über das Land herziehen wird. Noch einen entfesselten Gott, und dazu ein von Menschen verdorbener, hält das Gleichgewicht nicht mehr aus. Die Grenze zwischen Erde und Himmelreich wird fallen und eine neue Ordnung fällig sein. Deswegen kann ich nicht zulassen, dass sie ihre Essenz zurückbekommt. Ich ertrage es ebenso wenig, sie so zu sehen, aber wenn ich es nicht tue, dann sind sowohl Menschen als auch Götter in Gefahr.“

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    • Vermutlich hätte Zoras in einem Moment seines ansteigenden Zornesschwalls erkennen müssen, dass das, was er hier tat, einem Selbstmordversuch glich. Was dachte er sich überhaupt dabei, eine vollwertige Göttin so zurechtzuweisen, wie er es gerade bei Areti tat? Hätte er es bei einem anderen Gott getan, der so vor ihm stand? Bei einem Champion? Hätte er in einem solchen Tonfall mit Kassandra gesprochen? Niemals, nicht in einer Million Jahren, aber dennoch konnte er sich einfach nicht davon abhalten. Areti war eine Phönixin ohne Träger, die Tochter seiner Liebsten und ganz unabhängig davon, wer der Vater war, hätte er sie respektieren müssen, viel mehr als das, was er ihr im Moment bot.
      Aber sie verstand nicht. Sie hätte niemals verstehen können, vielleicht in tausend Jahren, wenn sie genug Zeit unter den Menschen verbracht hätte, um Zoras' Leiden bei einem anderen wiederholt zu beobachten. Aber nicht in dieser kurzen Zeit, nicht in den paar Monaten, denn älter konnte sie nicht sein, sie musste in Amartius' Alter sein und das half wohl Zoras' Wohlwollen nicht weiter, wenn man bedachte, dass sie angemessen groß und alt schien. Sie konnte nicht verstehen, sie hatte kein ganzes Leben verloren, sie hatte kein Land zurückgelassen, das sich eigentlich nicht selbst auffressen sollte und doch auf dem besten Weg dorthin war, sie hatte keine Familie verlassen, die vielleicht noch immer, vielleicht aber auch schon lange nicht mehr auf die eigene Rückkehr wartete. Sie hatte keinen lebzeitlichen Wunsch erfüllt bekommen, der so schön hätte sein können, dass sich alle Strapazen schon fast wieder gelohnt hätten, nur um ihn dann wieder entrissen zu sehen, direkt vor ihren Augen, direkt in ihren Armen. Nein, Areti hatte wahrhaft keine Ahnung, wie es sich anfühlen mochte, in Zoras' Haut zu stecken und daher wich er nicht zurück, auch dann nicht, als sie sich selbst wieder aufrichtete und etwas von dem natürlichen Gleichgewicht wiederherstellte, das mit ihren verschobenen Positionen durcheinander gebracht worden war. Aus der Nähe betrachtet, ähnelte sie sogar Kassandra viel mehr, als Zoras im ersten Moment gedacht hatte, und das schürte nur weiter seinen Zorn auf sie.
      Nur ihre Bemerkung lenkte ihn für einen kurzen Moment ab, lange genug, dass er den Blick zu ihrem Wagen warf und zuckte, als ihm dann erst Aretis glühende Augen ins Blickfeld stachen. Tysion und Faia knieten in ihrer Huldigung auf dem Boden, der Ochse gab leise Geräusche von sich, aber Golm war verschwunden. Einer weniger, worum Zoras sich Sorgen machen müsste. Ja, er war zu weit gegangen damit, Areti zu verärgern. Jetzt würde er wohl die Konsequenz dafür erfahren, das versprach der harte Tonfall, der von der Phönixin durch die Luft schnitt. Das Gefühl, das schon die ganze Zeit auf seinem Körper lastete und ihn in die Knie zu zwingen versuchte, verstärkte sich und ließ ihn taumeln, als seine Gelenke unter der Kraft erzitterten. Es war jetzt wohl kaum mehr ein Geheimnis, dass Aretis schiere Präsenz ihr Umfeld zu Boden zwang, als würde sie ihren rechtmäßigen Tribut dazu fordern, dass man ihr als Göttin huldigte. Es war allerdings sehr wohl ein Geheimnis, wie Zoras es schaffen konnte, selbst jetzt, in seinem Moment größter Schwäche und Schmerz, noch immer halbwegs aufrecht zu stehen. Das Schwert in seiner Hand zitterte und schien sich verabschieden zu wollen, wenn Zoras es nicht noch fester gepackt hätte. Aber er blieb stehen und traktierte Areti mit einem zuzugebenermaßen wohl eher schwächlichen Blick.
      "Für beide Welten", imitierte er abschätzig und schnaubte. "Sie ist eine Phönixin und nicht etwa die Göttermutter. Sie verdient die Freiheit genauso sehr wie Ihr sie verdient habt und wie - meinetwegen, es soll mir alles recht sein! - Telandir sie verdient. Ihr redet, als würde sie als vollwertige Phönixin die ganze Welt vernichten!"
      Am Rande registrierte er zwar, dass Areti genauso wollte, dass Zoras zu Kassandra fand, unabhängig davon, in was für einem Widerspruch es zu ihrer Handlung stand, aber selbst das ließ sie ihre Meinung nicht ändern. Was wäre also die Ausgangssituation? Was würde diese Phönixin, die im Besitz sämtlicher ihrer Kräfte war, tun, wenn sie herausfand, dass es tatsächlich keinen Weg gab, Zoras irgendwie umzustimmen?
      Bevor er diesem Gedankengang allerdings länger hätte folgen können, sprach Areti bereits weiter und dieses Mal trafen ihre Worte einen ganz anderen, unbedachten Punkt in ihm. Er wollte sie sehen? Sehen? Natürlich wollte er sie sehen! Das war so, als ob sie ihn gefragt hätte, ob er atmen wollte.
      Was dann allerdings folgte, war anders, als er es sich ausgemalt hätte. Natürlich kam er gar nicht so weit, sich zu überlegen, wie dieses "sehen" wohl letzten Endes sein würde, denn er bezweifelte stark, dass Areti ihn einfach nehmen und zur Feste fliegen würde, aber mit einer Illusion hatte er genauso wenig gerechnet - und erst recht nicht mit einer solch realistischen. Denn der Boden verwandelte sich in geschliffenen Stein, Wände zogen in der Luft empor, die aus dem Nichts aufstiegen, und ein Raum bildete sich, direkt um Zoras herum, der tatsächlich einer Festung ähnlich sah. Das alles wich aber schnell der Nichtigkeit, als er die einzige Person sah, die in diesem Raum abgebildet war.
      Die Zeit schien stehenzubleiben, als Zoras seinen Blick auf die Frau richtete, die sich dort vor dem Hintergrund der heraufgezogenen Wände abhob. Sein Atem blieb gefangen in seiner Brust, sein Herzschlag setzte aus, Aretis Gegenwart versickerte hinter seiner Wahrnehmung, während sich sämtliche seiner Sinne auf die Frau ausrichteten, die vor ihm stand: Kassandra. Kassandra bei lebendigem Leib, wenn auch nur eine Abbildung, das war Kassandra und er wusste es, bei allen verfluchten Göttern, er wusste, dass es Kassandra war, seine Kassandra, die dort nur zwei Armlängen von ihm entfernt am Fenster stand. Aber es war nicht die Kassandra, die er kennengelernt hatte; es war keine Phönixin in einem wallenden, türkisen Gewand, in dem ihre Haut leuchtete als bestünde sie aus unendlich kleinen Diamanten, es war auch keine Phönixin, die in der Mitte des Schlachtfelds einen Feuervogel entstehen ließ, gewaltig und mächtig und ehrfurchtgebietend, all das und noch viel mehr, was die weltliche Umgebung hervorzubringen vermochte. Es war eine Frau und der Gedanke erschreckte Zoras so sehr, dass er zischend Luft holte. Sie wirkte nicht mehr als eine Frau, eine mit einem gewissen Stolz erfüllte Frau, aber doch nicht mehr als das. Sie war jung, viel jünger als damals zu Zoras' Zeit und für einen Augenblick verstand er ebenfalls nicht, wie Phönixe rückwärts altern konnten, bis Aretis Stimme aus dem Nichts seinem Verstand auf die Sprünge half. Und wie sehr es schmerzte, wie sehr es ihn in Stücke riss, sie so zu sehen. Was war nur aus ihr geworden? Was hatte man in der Festung mit ihr angestellt, dass sie so zurückgeblieben war?
      "Kassandra..."
      Langsam trat er einen unsicheren Schritt nach vorne und streckte die Hand aus, auch wenn er wusste, dass es eine Illusion war und er sie nicht wirklich spüren konnte. Er tat es trotzdem. Auf seiner Hand stach das brennende Mal hervor.
      Siehst du, Amartius? Das ist deine Mutter und ich habe es nicht geahnt. Ich habe es nicht gewusst. Wenn ich es doch nur gewusst hätte...
      Seine Hand glitt durch die leere Luft an der Stelle, wo Kassandras Schulter gewesen wäre. Er spürte nichts, keinen Luftzug, nichtmal eine Andeutung dessen, dass sich dort etwas befunden hätte. Es war gar nichts und er hoffte, dass Kassandra sich umdrehen würde, dass sie sich nur ein bisschen bewegen würde und gleichzeitig wusste er, dass er diesen Anblick nicht ertragen hätte. Es hätte ihn förmlich zerrissen zu begreifen, dass sie tatsächlich irgendwo an diesem Fenster stand, mit einem leeren Blick nach draußen sah und er nichts hätte unternehmen können, um ihr in irgendeiner Weise zu helfen.
      So konnte er wenigstens die Hand zurückziehen und starren, während Areti neben ihm weitere Alpträume flüsterte. Beinahe wäre er tatsächlich gebrochen; sein Blick zuckte zu ihr hinüber und als er sprach, war seine Stimme leise geworden. Jegliches Anzeichen von seinem vorherigen Zorn war unwiederbringlich gelöscht.
      "Man hat was...?"
      Er wollte es sich nicht vorstellen, er konnte nicht. Er durfte nicht und trotzdem tat er es und in seiner Hand bebte das Schwert, aber dieses Mal nicht, weil es ein Eigenleben zu entwickeln gehabt haben schien. Sein Blick wanderte zurück zu Kassandras Abbild, während Aretis Worte wie Hammerschläge in sein Gehirn einschlugen.
      "Aber... sie war einst so schön... so... lebendig..."
      Wieder streckte er die Hand nach ihr aus, dieses Mal zu ihrer eigenen. Seine rauen, zerfurchten Finger fuhren widerstandslos durch ihre filigranen, zarten Hand, während er sich das vertraute Gewicht vorstellte, wie er die weichen, hübschen Finger mit seinen umschloss, wie er ihre Hand zu seinen Lippen anhob. Die Kassandra vor ihm rührte sich nicht, aber die Kassandra vor seinem inneren Auge wandte sich ihm zu, das trübe Haar in einem Rahmen um ihr eingefallenes Gesicht und sie richtete ihren Blick auf ihn, der damals so voller Feuer und Inbrunst geleuchtet hatte und jetzt nicht einmal mehr mit einem Flämmchen zu vergleichen wäre. Und er stellte sich vor, wie sie ihn anlächelte, wie ihr Gesicht so erstrahlte wie früher, aber das gelang ihm nicht. Beide Kassandras waren beinahe leblos und nur die Kassandra vor seinem inneren Auge, die ihm zugewandt stand und ihren Blick auf ihn gerichtet hatte, brachte ihre Mundwinkel zum Zucken. Es reichte aber nicht für ein Lächeln.
      Seine Sicht verschwamm hinter einem dicken Schleier, der alles verzerrte und vernebelte und Zoras holte einen tiefen, zittrigen Atemzug. Er wandte sich ab von dem unbewegten Bild von Kassandra und damit auch von Areti und lenkte sich ab, indem er versuchte, Amartius' Schwert in das leere Heft an seinem Gürtel zu schieben. Es gelang ihm nicht. Er versuchte es wieder und wieder, während Tränen aus seinen Augen fielen, die er wegzublinzeln versuchte. Seine Brust wollte nicht aufhören zu schmerzen. Kassandra. Kassandra. Amartius.
      Nach dem bestimmt achten Versuch verfing sich die Spitze endlich in der Öffnung und er ließ es hineingleiten, während er seine Lunge geräuschvoll mit Luft füllte. Grob rieb er sich die Nässe von den Wangen und legte für einen Moment den Kopf in den Nacken, bis er so lange geblinzelt hatte, bis er wieder einigermaßen sehen konnte. Dann wandte er sich um, besah sich die Inneneinrichtung der Illusion, als wäre sie aussagekräftig darüber, wie es Kassandra wohl gehen mochte, und dann hatte er sich soweit wieder unter Kontrolle, dass er sich in Aretis Richtung drehte.
      "Was ist also Eure Lösung des Problems? Sie niemals an ihre Essenz kommen lassen? Das ist der einzige Ausweg?"
      Seine Stimme zitterte verräterisch, aber sie gewann wieder an Kraft. Sie erholte sich auch von dem zweiten Zusammenbruch, dem er nur knapp entgangen war, genau wie der Rest seines Körpers.
      "Sie soll also niemals ihre Macht zurückerhalten - und wenn es doch eines Tages passiert? Wenn sie durch Zufall ihre Essenz zurückerlangt; oder wenn sich ihr jemand erbarmt oder sich in sie verliebt, so wie ich es getan habe? Wenn er ihr ihre Essenz freiwillig zurückgibt, so wie ich es vorgehabt hatte, wäre Telandir nicht gewesen? Was dann, Areti; werdet Ihr dann auch zur Stelle sein, um ihn aufzuhalten? Oder werdet Ihr lieber kein Risiko eingehen und Kassandra bis in alle Ewigkeiten in dieser Eisfestung lassen", er machte eine Geste zu dem Raum um ihn herum, "damit niemand anderes jemals ihre Essenz in die Finger bekommt? Ein ganz eigenes, persönliches Gefängnis am Ende der Welt, in dem sie verrotten kann? Das", er deutete mit einer barschen Geste diesmal auf Kassandra, "ist in vier Jahren passiert! Telandir hat sie vor vier Jahren entführt, was also denkt Ihr, wird in weiteren vier Jahren sein? Oder in zehn Jahren, in zwanzig, es ist ja auch völlig unwichtig, in viertausend? Wann würdet Ihr sie in die Freiheit entlassen, erst, wenn von ihrem Geist nichts mehr übrig ist? Wenn sie nicht mehr Göttin als eine fleischliche Hülle ist? Das ist es, was die Erde und das Himmelsreich retten soll? Eine Phönixin, die man für tausende Jahre gebraucht, die ihr eigener Artgenosse gebraucht hat und dann einfach wegwirft wie ein benutztes Spielzeug? Das soll es sein?"
      Er legte seine Hand zurück auf seinen Schwertgriff. Er straffte sich auch und die Kraft dazu, das zu tun, entnahm er allein daraus, dass er wusste, das richtige zu tun. Dass er mit seiner Geliebten wieder vereint würde.
      "Ich bleibe also bei meiner Antwort. Ich werde Kassandra sehen, ich muss sie sehen und ich werde das einzige tun, was ihr schon immer geholfen hätte. Ihr seid umsonst hergekommen, Areti, auch wenn Amartius vielleicht der Gedanke gefallen hätte, eine Halbschwester zu besitzen."
    • Vieles war Areti in diesem Augenblick durch den Kopf gegangen. Ihr war klar gewesen, dass selbst Amartius' Segen nicht genug sein würde, um ihre Illusion vollständig zu lösen und daher rechnete sie mit einem immensen Einschlag in Zoras' Psyche. Aber er jagte einem Traumbild hinterher, wusste nicht, wie es in Wahrheit um Kassandra stand und wie sehr man ihr den Verfall bereits äußerlich ansehen konnte. So hart dieser Eindruck auch ausfallen würde, er musste es mit eigenen Augen sehen und so zeigte Areti ihm, wonach er all die Zeit bereits suchte.
      Das Trugbild war gerade fertig ausgebildet, da verlor sich der Fokus des ehemaligen Herzoges auf der Phönixin komplett und sie zog sich weitestgehend aus diesem Moment heraus. Stattdessen sah sie sich mit einem immensen Gefühl der Betroffenheit konfrontiert als sie vor ihren eigenen Augen die Wandlung von Sehnsucht in Schrecken beobachten konnte. Erst da erklärte sie ihm, wie es zu diesem Umstand gekommen war und noch viel mehr darüber hinaus. So viel, dass es eigentlich hätte ausreichen sollen, damit ein einfacher Mensch seine Liebe und Zuneigung zu einer Gottheit vergaß und sich seines Lebens besann.
      Es entstand vor dem wirklich schlimmen Worten eine Pause, als Areti einen tiefen, gedehnten Atemzug machen musste. Das Konzept der Liebe und des Schmerzes waren ihr alles andere als fremd, aber all ihre Worte schienen nichts bei diesem Mann bewirken zu können. Das erkannte sie, während Zoras seine Hand an Kassandras Schulter legen wollte und durch das Bild hindurch glitt. Stattdessen blickte Kassandra nur weiterhin durch das Fenster und atmete normal weiter. Der Schmerz, der in seiner Brust so tiefe Wurzeln geschlagen hatte, dass Areti die Machart eines menschlichen Herzens hinterfragen musste, erstreckte sich bis zu ihr herüber und machten ihre folgenden Worte nur umso schwerer. Aber das war das Bisschen, was sie ihm noch offenbaren musste, damit er das ganze Ausmaß begriff.
      Aber... sie war einst so schön... so... lebendig..“
      „Sie lebt noch. Aber das, was Ihr da seht ist nur noch ein Schatten ihrer Selbst.“
      Aretis roten Augen verfolgten wie magisch angezogen die raue Hand des Mannes, kaum hatte sie sich wieder in Bewegung gesetzt. Sie wollte es nicht sehen, wollte sich abwenden und nicht bekunden, wie sehr es ihr eigenes Herz zerquetschte, wenn er vergebens nach der Liebe seines Lebens griff. Denn genau das war ihre Mutter für ihn geworden und sie verfluchte die Aufgabe, die man ihr auf die Schultern gelegt hatte. Also beobachtete sie die Hand, wie sie nach der anderen greifen wollte und sie niemals berühren würde. Ihr Ausdruck war eine emotionslose Maske, nicht gewillt zu zeigen, was sie wirklich spürte. Doch ihre Augen, ihre wunderschönen, nun wie Rubine im Licht glänzenden feuchten Augen, ließen sich nicht hinter dieser Maske verstecken. Ihr fehlte die Lebenserfahrung, die ihre Mutter dafür an den Tag legen konnte. Die Entschlossenheit, sich gegenüber Anderen so sehr zu verschließen.
      Noch immer lag ihre Aufmerksamkeit ungeteilt auf dem Mann, dessen Schmerz so mächtig war, dass er ihn längst in die Knie gezwungen haben musste. Der so stark war, dass sie eine einzelne Träne, eine Mischung aus seinem und ihrem Schmerz, über ihre Wange rollte und im Nichts verdampfte. Gerade noch rechtzeitig, bevor sich Zoras ihr wieder zuwandte und seine Stimme wiedergefunden hatte. Ebenso reglos hörte sie sich jedes seiner Worte an, nur um ganz am Ende etwas von ihrer starren Haltung fallen zu lassen.
      „Sagt mir, wie man den Zorn tilgen soll, der sich über Jahrtausende manifestiert hat. Gebt mir eine sinnvolle Lösung, wie ich meiner Mutter ihr Herz zurückgeben kann ohne zu befürchten, dass die Grenze zwischen den Welten bricht. So sehr, wie daran festhaltet, sie wiederzusehen, so sehr wird auch sie an ihrem Zorn und ihrem Hass festhalten. Ihr kennt keine Lösung dafür, richtig?“ Areti fasste mit ihrer rechten Hand nach ihrem linken Oberarm und verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein. So, wie sie dort stand, wirkte sie lachhaft menschlich. Wären da nicht diese noch immer glühenden Augen gewesen. „Die Lösung auf Eure Fragen ist ganz einfach. Ich werde ihre Essenz bewachen. Ich werde sie Demataya entreißen und mich absetzen, sodass Kassandra ihr Herz nie wieder bekommt. Und dafür trage ich ein Mahnmal eben dieses für immer an meinem eigenen Herzen. Klingt das nicht wunderbar ironisch?“
      Nein, das wollte sie nicht. Jedoch war dies genau die einzige Möglichkeit, wie Areti das Unheil in Form ihrer Mutter vereiteln konnte. Nur so würde sie das Blutvergießen umgehen und zahllose Tote verhindern, selbst wenn sie sich dann mit ihrem eigenen Vater anlegen müsste und ihre Mutter nie wieder unter die Augen treten konnte. Das wäre ein eigenes, selbstgesetztes Exil, in das sich Areti dafür begeben müsste.
      „Ich kann Kassandra nicht dort in der Feste lassen. Ihr habt gesehen und ganz richtig erkannt, was gerade einmal vier Jahre mit ihr angestellt haben. Ich bin nicht so töricht zu glauben, dass man diese Folter ewig aushalten kann. Das kann nicht mal sie, zumal einer der beiden Faktoren, der ihre Entschlusskraft maßgeblich bestimmt hatte, hier vor mir steht.“
      Aretis Hand fiel von ihrem Arm ab als sie langsam auf Zoras zu schritt. Ihr Blick allein war schon so eindringlich, dass er sich keinen Millimeter von ihr weg bewegen können würde. Auch ihre Aura, die die von Amartius leicht streifte, sollte versichern, dass sie diesem Menschen nichts tun würde und keine schlechten Absichten hegte. Eine Armlänge entfernt blieb sie vor ihm stehen, sie selbst fast auf Augenhöhe mit ihm. Doch ihr Blick war gesenkt und was augenscheinlich wie Demut aussah, war einfach nur eine Fixierung auf die Hand, die auf dem Schwertgriff ruhte.
      „Das Schicksal ist bereits gesponnen und darin steht niedergeschrieben, dass Ihr Kassandra treffen werdet. Nur unter welchen Umständen steht offen und ich bin geneigt, hier meinen eigenen Faden mit einzubringen. Ich habe unterschätzt, wie sehr Ihr Euch zu ihr hingezogen fühlt. Dass sie Euch sehen mussund ihr zusammen sein könnt, auch wenn ich ihre Essenz an mir trage. Die Gewissheit, dass ihr Sohn gegangen ist, wird schwer auf ihr lasten. Ihr werdet kein tränenreiches Wiedersehen aus den genannten Gründen mit ihr haben. Aber Ihr könnt an ihrer Seite sein wenn sie bereit ist, zu akzeptieren. Unter dieser Abmachung kann ich Euch gewähren, sie zu sehen und mit ihr aus der Feste zu fliehen.“
      In ihrem Hinterkopf ziepte es. Eine subtile Warnung, dass sie nicht mit den Meuren spielen sollte und ihre eigene Rolle nicht überstrapazieren sollte. Doch das war ihr egal. Ihre Existenz war zu kurzweilig auf dieser Welt und sie würde ihre Spuren hinterlassen, die sie selbst gewählt hatte.
      Ihre wachen Augen hoben sich und suchten die seinen. Ein Herzschlag verging ehe sie ihm leise zuflüsterte: „Ich kann Euch helfen. Den Schmerz lindern, wisst Ihr?“
      Ihre linke Hand legte sich bedächtig auf seine, die noch immer am Schwertknauf lag. Diese kleine Berührung reichte, damit sie wie in einem Blitzschlag Amartius' Gestalt kurz vor sich sah, wie er neben seinem Vater stand und seine Halbschwester anlächelte. Ein warmes Lächeln, solches, das Kassandra vielleicht einst getragen hatte. Im nächsten Augenblick war er verschwunden und eine Welle des Schmerzes und des Leids brach über ihrem Kopf zusammen. So eine Masse hatte sie von einem einzigen Menschen noch nie zu spüren bekommen und es verschlug ihre einen Moment die Sprache. Erst danach streckte sie ihre Aura nach dem Leid aus und begann damit, die grauen trüben Schlieren, die das Leid darstellten, langsam an den Rändern aufzulösen.
      „Lasst mich Euch zumindest ein Teil des Schmerzes nehmen... Bitte“, fügte sie genauso leise hinzu, immer darauf bedacht zu stoppen sobald sie auf Widerstand traf Sie nahm ihm nicht die Erinnerungen, die Gefühle oder den Schmerz gar auf ewig. Aber sie konnte ihn lindern, erträglich machen, bis er nicht mehr allmächtig war und drohte, den Mann unter sich zu begraben.
    • Natürlich kannte Zoras selbst keine Lösung für ein Problem, das er vor wenigen Minuten überhaupt zum ersten Mal gehört hatte. Selbst wenn er schon immer davon gewusst hätte, es wäre fraglich gewesen, ob ihm etwas eingefallen wäre - was sollte er auch als Mensch vollbringen, um eine Göttin davon abzuhalten, ihre gottgegebene Natur freizulassen? Es wäre sogar fraglich, ob Kassandra sich überhaupt etwas von ihm sagen ließe, schließlich hatten sie immerhin nur ein Jahr miteinander verbracht, kaum ein Herzschlag im Leben der Phönixin. Er könnte sicher nicht mehr vollbringen als ihre eigene Tochter.
      Trotzdem hoffte er darauf, dass ihnen jetzt, in der Mitte einer eisigen Einöde, umringt von den Überresten eines gigantischen Eisdrachen, wie durch ein Wunder einfiel, wie sie die Situation für alle Beteiligten gut lösen konnten. Wenn aber schon Areti nicht weiterwusste, wie hätte dann Zoras etwas beitragen können?
      Er presste die Lippen aufeinander und schwieg, während er die Phönixin betrachtete. Aus der Nähe gesehen war sie auch nicht viel mehr als eine Frau, eine schlanke, graziöse, einschüchternde Frau vielleicht, aber doch nicht mehr als das. Wären da nur nicht die Augen gewesen, die sich mit der Macht von tausend Feuern in Zoras' eigene bohrten.
      Allerdings reichte auch diese Einschüchterung nicht dazu aus, Zoras an einem Schnauben zu hindern. So schnell, wie er geneigt dazu gewesen war, gemeinsam mit der Phönixin über einen Ausweg nachzudenken, war er jetzt wieder ganz weit davon entfernt.
      "Ihr? Ihr wollt ihre Essenz nehmen? Habt Ihr dabei einmal darüber nachgedacht, wie es Kassandra dabei ergehen mag zu wissen, dass ihre eigene Tochter sich augenscheinlich gegen sie verschworen hat? Nachdem ihr erster Sohn bereits gestorben ist? Und bevor Ihr antwortet, denn ich kann mir schon denken, was es sein wird: Es ist mir egal, wie wichtig es für das Gleichgewicht sein wird, dass sie nicht zu ihrer alten Macht zurückkehrt, denn es ist mindestens genauso wichtig, dass sie dabei nicht zu Grunde geht. Ihr würdet wohl mehr Erbarmen zeigen, wenn Ihr ihr gleich den Todesstoß verpasst. In welchem Fall ich mein möglichstes tun würde, um Euch aufzuhalten. Oder sie im schlimmsten Fall zu rächen."
      Sein Blick war hart geworden, in seinem Gesicht zeichneten sich ebenso harte Gesichtsmuskeln ab, eine Maske, die sich erst langsam zu bilden begann. Kassandras Befreiung war etwas, worauf er sich konzentrieren konnte, was ihn von allem anderen ablenkte. Es war schon immer Kassandra gewesen, die ihn in den letzten Jahren begleitet hatte, egal welche Hürden er bezwungen hatte. Und sie war es auch jetzt, der er sein volles Augenmerk schenkte; Kassandra und nichts anderes. Die einzige Frau, die er jemals in seinem Leben haben wollte und die er nicht verlieren würde. Anscheinend hegte sie entfernt ähnliche Gefühle.
      "Zumindest sind wir uns darüber einig, dass sie dort nicht bleiben kann", stellte er finster fest. "Nicht in der Festung und auch nicht bei Eurem Vater. Nichts für ungut."
      Er fixierte Areti noch immer, als die Phönixin dann begann, langsam auf ihn zuzukommen. Ihre Schritte waren noch immer voller Anmut, langsam und fast hypnotisierend, aber er scheute sich vor ihr. Ein Teil von ihm, womöglich derselbe, der die offensichtliche Gefahr von Kassandras Befreiung in ihr sah, wollte die Phönixin auf Abstand wissen, damit es zumindest einen kleinen Puffer gäbe, falls sie doch unberechenbar ausfallen würde. Diesmal rührte er sich aber nicht, seine Beine wie erstarrt, seine Füße wie festgefroren, als sie vor ihm zum Stehen kam. Die Wärme breitete sich um ihn herum aus, hüllte ihn ein; es war nicht die Wärme eines Feuers und auch nicht eines Körpers, es war wie die Sonne selbst, die ihre Strahlen unter seine Haut schickte. Er starrte und merkte, wie sich sein Kiefer wieder lockerte, als hätte ihn die Empfindung etwas beruhigt.
      Mit Vorsicht lauschte er ihren Worten. Sie waren gefährlich, denn sie hörten sich so verlockend an. Es sei schicksalsgegeben, dass er Kassandra wiedersähe, sie musste ihn sehen, er könnte an ihrer Seite sein. Was hatte er in den letzten Jahren anderes gewollt? Und es musste wohl an Areti liegen, an ihrer Natur vielleicht oder ihrem Vorhaben, dass sie genau die Punkte in Zoras zu treffen schien, die er noch nicht hinter seiner Maske hatte versiegeln können. Wie schnell sie doch bei dieser Aussicht wieder einbrach, schneller noch, als er sie aufgebaut hatte. Die Härte schwand aus seinen Augen und er schluckte, während er in Areti nach einem Anzeichen dafür suchte, dass die Phönixin nur die halbe Wahrheit sprach.
      "Ich dürfte bei ihr bleiben?", fragte er dann, leiser, und noch bevor er eine Antwort darauf erhalten hätte, legte sich eine warme Hand auf die seine. Er zuckte, mehr aus Reflex als aus irgendetwas anderem. Die Wärme vergrößerte sich und füllte ihn dann aus, ein allesergreifendes Etwas, das in jede Faser seines Körpers vorzudringen schien. Und wie schön es wäre, den Schmerz hinter diesem Schleier verschwinden zu sehen, nur noch das zu fühlen, was sich wie das Leben und die Sonne anfühlte. Es wäre so einfach und so schön, woraufhin Zoras nur schwach nickte, bevor er doch die Hand mit einem Ruck zurückzog.
      "Ich will nicht vergessen."
      Und er würde nicht vergessen, das versprach ihm die Phönixin, die ihren Blick noch immer gesenkt hielt. Nichts würde er vergessen, es würde sich nur nicht mehr so anfühlen, als könne es ihn jeden Moment in zwei reißen. Also streckte er ihr die Hand doch wieder hin und nach einem kurzen Augenblick legte sie ihre federleichten Finger in seine und die Sonne war zurück, erstrahlte sich in jede dunkle Ecke seines Verstandes und linderte tatsächlich den Schmerz, der in seiner Brust zu explodieren drohte. Es fühlte sich leichter an; zwar nicht gänzlich besser, aber leichter. Gewohnter. Amartius' Tod rückte nicht in die Ferne, aber er dachte doch nicht mehr, jeden Augenblick unter der Last eingehen zu müssen.
      "Kann ich darüber nachdenken?"
      Seine Stimme war noch immer leise, wie ein Geheimnis, das sie miteinander teilten.
      "Nur für eine Nacht. Ich habe meinen Sohn verloren, ich kann noch nicht… planen. Ich muss ihn beerdigen, wir müssen Omnar… beerdigen. Eine einzige Nacht, mehr ist es nicht. Können wir dann noch einmal reden?"
    • Eine Flut der Erleichterung überkam Areti, als Zoras einwilligte, dass sie ihm einen Teil seines Schmerzes nehmen durfte. Es war wie ein Zwang, dem sie endlich nachgeben durfte und die Schlieren immer weiter aufzulösen begann. Wie in einem Fieberwahn sah sie kleine Sequenzen, die all den Schmerz in Zoras' Inneren befeuerten. Unter diesen Episoden erhaschte Areti schließlich auch einen Einblick auf ihren Halbbruder, der so herrlich unschuldig gewesen war. Der keinen Hass kannte, der die Abgründe der Menschen nicht kannte. Der die Liebe nicht kannte und durch seinen Vater erstmals erfuhr, wie sich Nähe anfühlte, die nicht von seitens seiner Mutter stammte. Ein leises Seufzen entkam ihr kurz bevor sie ihre Hand von seiner nahm.
      "Natürlich dürft Ihr das", erwiderte sie mit ihrer unverkennbaren Freundlichkeit in der Stimme. "Bei einem kann ich nicht viel ausrichten. Bei dem anderen hingegen schon."
      Die Illusion um sie herum begann so schnell zu verfallen wie sie errichtet worden war. Eisiger Wind kündigte sich an bevor die ersten Wände fielen und blauer Himmel brach durch die Decke, die sich nicht mehr über ihren Köpfen schloss. Grelles Weiß von Eis und Schnee blendete sie während die Zeit wieder zu laufen begann und Areti sich von Zoras zurückzog, um ihm den dringend notwendigen Raum zu geben. Das war also derjenige, den ihre Mutter Telandir vorzog. Er muss ein großartiger Mann sein, wenn sie auf einen ebenbürtigen Partner verzichtete. Oder er hatte andere Dinge getan, die dazu geführt hatten, dass sie sich an ihn verloren hatte.
      Areti wandte sich den Überbleibseln des Wyrms zu. "Armseliges Geschöpf...", murmelte sie leise als sie auf den gigantischen Körper zuschritt, dessen Kopf in sämtliche Kleinteile zerplatzt war. Sie wirkte wie eine Ameise neben dem massigen Körper, dem sie eine Hand auf die Schuppen legte und sie regelrecht zu strahlen begann. Nach ein paar Sekunden wurde ein Geräusch hörbar, das so gar nicht in die Kulisse zu passen schien. Eine Melodie formte sich, zäh und süß zugleich, die scheinbar in den Köpfen der Menschen entsprang. Ein Lied, dessen Ursprung nicht greifbar war und sich so wunderschön anhörte, dass man beinahe geneigt war, sogar mit dem Atmen aufzuhören. Es war Aretis Summen, das den toten Leib ebenfalls zum Glühen brachte und er sich allmählich in unendlich viele kleine Glitzerfragmente aufzulösen begann. Wie abertausende kleine glitzernde Schmetterlinge zerstoben die Fragmete, um sich schließlich in der Luft aufzulösen und so unwirklich auszusehen, dass man nicht mal mehr wusste, ob man überhaupt noch bei Verstand war. Erst, als Areti fühlte, wie sie den gefressenen Menschen im Inneren der Bestie erreicht und erlöst hatte, verebbte ihr Gesang. Erst dann, als sie sicher war, dass sowohl Mann als auch Bestie den Weg zurück in den Kreislauf der Seelen finden würden.
      Aretis rote Augen folgten dem Lauf zum Himmel noch einen Augenblick lang, dann wandte sie sich den verbleibenden Menschen zu. Das Leuchten in ihren Augen war vollkommen verschwunden, der Eindruck blieb jedoch. Das wurde deutlich, als sie zurück zum Wagen schritt, wo Tysion und Faia noch immer knieten und sie nicht einmal wagten, anzusehen.
      "Erhebt euch. Ihr müsst nicht länger im Schnee knien als ohnehin schon. Ihr habt gerade mehr durchlebt, als man euch zumuten könnte."
      Es dauerte noch einen Moment, ehe die Beiden gehorchten und sich nicht recht entschlossen wieder aufrichteten. Sie tauschten Blicke aus, die Areti nicht gänzlich deuten konnte, bevor sie die Phönixin mit großen Augen musterten. Doch diese hatte nur Augen für den Wagen und den Ochsen. Hier wimmelte es von Magie, die Signatur konnte sie nur nicht einordnen. Jemand war hier gewesen, der es vertuschen wollte.
      "Ich würde vorschlagen, ihr rastet hier", beschloss sie und nach einem weiteren Wimpernschlag verdampfte der Schnee um sie alle herum schlagartig. Die Kälte schien nicht mehr existent, der Wind war nurmehr eine leichte Brise. Zoras wollte eine Nacht Bedenkzeit, und die würde er bekommen.
    • Areti entfernte sich wieder und mit ihr auch die Illusion einer eingefallenen, grauen Kassandra, die tagein tagaus aus dem selben Fenster blickte. Zoras wollte Areti fast aufhalten, denn es schien ihm gänzlich falsch, Kassandras Bild einfach so verblassen zu lassen, als wäre es nichts weiter als nur das: Ein einfaches Bild. Aber er wusste, dass es letzten Endes ja doch so war und dass lediglich seine eigene Verzweiflung ihm Sachen vorspielte, die nicht vorhanden waren.
      Es ging ihm wahrhaftig besser. Sein Verstand war klarer, das Gefühl für seinen Körper deutlicher, er konnte an Kassandra und auch an Amartius denken, ohne zu befürchten, dass gleich wieder Dämme brechen würden. Sein Blick folgte jetzt Areti, wie sie durch die Überreste des aufgeplatzten Wyrms schritt, ohne ein Gefühl dabei zu haben, als wäre sie lediglich eine junge, weibliche Version von Telandir, die Zoras an den Kragen zu gehen versuchte. Nein, jetzt ohne den Schmerz in seiner Brust war sie eine eigenständige Phönixin und eine potentielle Verbündete. Was sie nicht alles erreichen könnten, wenn sie Areti an ihrer Seite wüssten.
      Er beobachtete, wie sie die Hand auf den riesigen Leichnam legte und für einen Moment gar nichts tat. Und dann erhob sich ein Geräusch, das sehr deutlich zu seinem vorherigen Eindruck passte, dass Areti die Sonne und das Leben mit sich brachte, wohin sie auch schritt. Es war, als hätten die Engel zu singen begonnen.
      Dieses Mal war Zoras nicht von Angst oder Schmerz erstarrt, diesmal fesselte ihn allein die Melodie, die schöner als alles klang, was er bisher gehört hatte. Die Töne wirkten unmenschlich sauber und zart, sie berührten Stellen in seinem Gehirn, die er gar nicht für empfänglich gehalten hatte. Und wie wunderschön die Melodie nur war. Wenn er gekonnt hätte, wäre er bis in alle Ewigkeit in diesem Eisland gestanden und hätte sich Aretis langsamen, atemberaubenden Gesang angehört.
      Aber wie alle guten Dinge musste auch dieses viel zu früh verenden, als der Wyrm damit begann, sich langsam in unendliche funkelnde Kleinteile aufzulösen, bis schließlich gar nichts mehr von ihm über war. Da versiegte auch der Gesang und Areti holte sowohl Zoras, als auch Faia und Tysion zurück in die Gegenwart.
      Die beiden Kuluarer hatten sich während des ganzen Geschehens nicht einen Zentimeter gerührt. Vermutlich lag das nicht zu wenigen Teilen an Aretis vernichtender Präsenz, die noch immer durch die Luft waberte wie ein beständiger Schleier, der alles Leben in seiner Reichweite zur Demut zwang, aber auch jetzt, nachdem selbst Zoras spürte, wie diese Präsenz sich etwas zurückzog, dauerte es doch lange, bis sich ihre Muskeln regten. Nach mindestens genauso langer Zeit konnten sie sich dann wohl endlich dazu durchringen, Areti mit aufgerissenen, angsterfüllten Augen anzustarren. Nur Zoras, der wohl ganz anscheinend der einzige in der Gruppe war, der bereits etwas mit Champions und besonders mit Phönixen zu tun gehabt hatte, ließ sich von der Phönixin in keinster Weise beeindrucken, wenn auch ihre Präsenz auch auf ihn noch eine gewisse Auswirkung übte.
      Zumindest war die Göttin geistesanwesend genug, um gleich den Schnee um sie herum wegzuschmelzen und ihnen Platz für das angekündigte Nachtlager zu schaffen. Zoras bedankte sich dafür bei ihr, während Faia und Tysion größtenteils noch starrten. Sie erwachten erst dann halbwegs zum Leben, als Zoras sie dazu aufforderte, ein Feuer zu machen.
      Von Golm war keine einzige Spur mehr übrig geblieben, nicht einmal Schneespuren, auch wenn die vermutlich in dem größten Chaos im Schnee untergingen. Er war verschwunden und es war fraglich, ob er in dieser Wüste irgendwohin finden würde und nicht einfach an den nächsten Eiswyrm verging. Zurückgeblieben war einzig und allein der Ochse und der Wagen, von denen zumindest nur letzterer ernsthafte Schäden davongetragen hatte. Das Holz war von dem Sturz zerkratzt, eine Wand etwas lose und zwei Räder sahen so aus, als könnten sie sich bei der nächsten Unebenheit lösen. Nicht, dass Zoras etwas an diesem Zustand hätte bessern können, aber er beschäftigte sich damit, bis seine eigenen Gedanken sich halbwegs beruhigt hatten. Kassandra sollte ihre Essenz nicht wiederbekommen, sie waren so kurz davor sie zu retten, Areti nahm eine merkwürdige Position in der ganzen Sache ein. Konnten Phönixe lügen und wenn ja, was würde Areti sich davon erhoffen? Aber noch fühlte sein Kopf sich zu dick an, zu geplagt von den jüngsten Ereignissen, dass er die Sache für den Moment abtat. Er würde die erbotene Pause machen und dann könnte er ernsthaft darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. Sein Blick fiel kurz auf das rote Mal an seiner Hand, über das er strich, bevor er sich wieder den anderen Dingen widmete.

      Sie durchsuchten den Wageninhalt nach sämtlichen brauchbaren Gegenständen, von denen es nicht allzu viel gab. Golm konnte nicht sonderlich viel Gewinn mit seiner kleinen Fracht erzielt haben und letzten Endes schnappten sie sich ein paar von den Stoffen, um sich damit ein bisschen auszupolstern. Es war nicht viel und außerdem wohl noch immer nicht genug für die weiter sinkenden Temperaturen, die sie noch erwarten würden, aber für die Nacht wären sie durch Aretis Gegenwart sowieso geschützt und danach würden sie einfach weitersehen müssen. Sie bedienten sich außerdem an dem Essen, den Rest der Waren steckten sie dorthin zurück, wo sie sie gefunden hatten, um sie später womöglich verkaufen zu können. Sofern sie nicht mit Areti reisten und die Phönixin sie direkt zur Festung brächte.
      Es wurden beinahe keine Worte gewechselt, bis sie später das Essen zu sich nahmen. Die Phönixin hatte sich ein Stück abgesetzt, noch immer in Sichtweite aber vermutlich nicht mehr in Hörweite - auch wenn Zoras bezweifelte, dass sie ihnen nicht hätte lauschen können, wenn sie es gewollt hätte - und so schien wieder etwas mehr Leben in die Kuluarer zu kommen. Tysion starrte mit offenem, jetzt fast faszinierten Blick auf die ferne Gestalt der Göttin und Faia stocherte ein wenig in ihrem Essen herum, während sie die Flammen beobachtete. Zoras aß schweigend und fast hätte alles wieder beim alten sein können. Fast.
      "Also."
      Faias plötzliche Stimme durchschnitt das angespannte Schweigen, bevor sie ihre Schüssel unachtsam auf den Boden fallen ließ. Das Geschirr knallte hell auf dem freigelegten Steinboden auf.
      "Was ist gerade passiert?"
      Sie hob den Blick und ihre Augen brannten sich mit der typischen Intensität einer aufgebrachten Faia in Zoras' Schädel hinein. Der Angesprochene schwieg die Frage aus, schließlich hatte Faia ja wohl selbst beobachtet, was gerade geschehen war. Aber natürlich war es nicht so einfach.
      "Ischyll. Wir wurden gerade von einem prähistorischen, gigantischen Wesen angegriffen, das uns alle fünf mit einem Haps hätte verschlingen können und trotzdem sitzen wir drei noch hier. Ich habe gesehen, wie Amartius so ein...", sie machte eine ausladende Geste mit beiden Armen, "... Feuerschild heraufbeschworen hat und dass er hinterher den Wyrm explodiert hat. Du hast mit einer... einer... einer Phönixin - ist das da eine Phönixin, Ischyll, wirklich? - gesprochen und sie hat dir irgendwas gezeigt und... sie hat dich berührt. Und auch noch das Schwert und... und ist Amartius etwa auch ein Phönix? Ischyll, ich schwöre dir, bei den Eiern des Königs, wenn du mir nicht sofort erklärst, was gerade passiert ist, werde ich dir ganz persönlich einen Dolch durch den Hals jagen."
      Noch immer unbewegt starrte Zoras sie an und sah dann zu Tysion hinüber, der jetzt auch seinen Blick von Areti abgewandt hatte und Zoras mit seiner beinahe üblich teilnahmslosen Miene beobachtete. Aber der Veteran war eine Spur bleicher im Gesicht als üblich, die Falten an seiner Stirn und seiner Wange schienen tiefer als üblich und die Ringe unter seinen Augen dunkler als üblich. Er sagte nichts dazu, aber Zoras erkannte auch so, dass er ebenfalls seine Antworten brauchte. Wenn mindestens, um in dieser Nacht halbwegs ruhig schlafen zu können.
      Also sah er wieder zu Faia zurück.
      "Ich heiße nicht Ischyll, sondern Zoras. Und Amartius war ein Halbphönix und mein Sohn."
      Und er begann ihnen alle wichtigen Details zu erzählen, angefangen bei seinem Herzogstitel, bei einem Land, dessen König zu früh zu regieren begonnen hatte, über seine erste Begegnung mit Kassandra hinweg bis zu seiner rettenden Flucht, die im Gegenteil endete und ihn dazu verdammte, von einem Unglück ins nächste zu stolpern, immerzu auf der Suche nach einer Phönixin, die keiner gesehen hätte, von der keiner gehört hätte, von der keiner wusste. Er erzählte auch, wie ihm Amartius eröffnet hatte, woher er kam, wie lange es gedauert hatte, bis Zoras die losen Enden miteinander verknüpft hatte und wie Amartius sich nun, an diesem Tag, für sie alle geopfert hatte. Eigentlich hatte er gedacht, dass das Thema noch viel zu frisch war, um nun in einer solchen Weise darin herumzustochern, aber Aretis Einfluss schien noch immer zu wirken und so erzählte Zoras unbewegt von den Geschehnissen, die ihn hierher geführt hatten. Und Faia, die gute, sonst so geschwätzige Faia, unterbrach ihn nicht ein einziges Mal, sondern sie starrte, starrte nur aus viel zu großen Augen und einem geöffneten Mund, der sich irgendwann dann gelöst hatte, als Zoras seinen Plan verdeutlicht hatte, Kassandra ihre Essenz zurückzugeben. Sie starrte und ihrem Gesicht entsprang beinahe das selbe Entsetzen, mit dem sie Areti gemustert hatte.
      Als er schließlich geendet hatte, starrte auch Tysion ziemlich verdutzt und die Flammen des Feuers zwischen ihnen war für einen Moment lang das einzige, das sich regte. Dann zuckte Faia, als wäre sie geschlagen worden, und legte langsam eine Hand vor den geöffneten Mund.
      "Ischyll..."
      "Zoras. Ischgyell war mein Vater."
      "Zorah. Du bist... ich..."
      Sie starrte wieder nur und Zoras wartete mit zeitloser Geduld darauf, dass sich ein verständlicher Satz aus ihrem Mund formen würde.
      "Also... Oder? Er ist es doch?"
      Ihr Blick sprang zu Tysion hinüber und zum ersten Mal seit ihrer Bekanntschaft schien Tysion Zoras wirklich anzusehen. Sein Blick wanderte über seine Klamotten, über das offensichtliche Mal an seinem Handrücken, über Zoras' Schwert, über seine ganze Gestalt. Er sah ihn an, als wäre dort etwas unglaublich interessantes unter Zoras' Haut versteckt.
      "... Vielleicht? Kann schon sein."
      "Was?"
      "Zorah."
      Faia setzte sich jetzt ein Stück auf. Ihr Körper schien aus einer Trance erwacht, derer sie sich bis dahin nicht bewusst gewesen war.
      "In unserem Land, in Kuluar, gibt es eine Legende, die von dem einzigen König spricht - dem Eviad. Es heißt, dass der Eviad der einzige ist, der den Thron besetzen kann - den einzigen Thron des einzigen Königs. Ihm wurde das gottgegebene Recht zugetragen, Kuluar zu führen und das in all seinen weltlichen Belangen, aber auch in seinen himmlischen. Er ist sowas wie ein Prophet, wenn man es so sagen möchte, nur halt... anders. Er ist die Schnittstelle zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen."
      Stille kehrte ein und in dieser Stille schien Faia zu erwarten, dass Zoras verstand, auf was sie herauswollte. Aber er verstand nicht, er hatte ja gerade erst davon gehört.
      "Und das soll ich sein?"
      "Ja! Also, nein. Vielleicht? Lass mich das anders erklären.
      Der erste Träger, der einst nach Kuluar kam, erhob sich damals recht mühelos in den Thron. Wir hatten eigentlich seit jeher eine Demokratie, hatten sie auch dann noch, als der Träger kam, aber niemand will mehr sonderlich demokratisch sein, wenn man bei Missgunst gegen eine bestimmte Person damit fürchten muss, dass Köpfe rollen, ohne, dass jemand etwas dagegen hätte tun können. Das Militär war machtlos, auch wenn der Champion gar kein Kriegschampion war. Es unterstellte sich ihm, um unnötige Konflikte zu vermeiden und bald hatte sich eine Monarchie abgesetzt. Der Träger entwarf seine ersten Gesetze und um weitere Meinungsverschiedenheiten gleich im Keim zu ersticken, war eines der ersten Gebote, dass eine neue Gesellschaftsschicht gegründet wurde - die Träger, innerhalb derer ausschließlich regiert werden sollte. Träger war selbstverständlich der, der eine Essenz und einen Champion besaß.
      Dann kam der zweite Träger ins Land und ähnlich wie der erste, erhob auch er sich sofort in den nächsthöchsten Stand, was mittels der neuen Gesetze ohne Umschweife geschehen konnte. Allerdings hatte dieser Träger kaum ein Interesse an Politik und interessierte sich nur dafür, das Leben mit seinem Champion auszukosten. Er kam aus armen Verhältnissen und genoss es, in unverhofftem Reichtum zu schwimmen. Er genoss es so sehr, dass er den ersten Träger damit erzürnte.
      Im darauffolgenden Krieg der beiden Champions wurde keiner verletzt, da sie den Kampf wohl irgendwie mental ausfochten, aber der erste Champion gewann und so passte der König die Gesetze an. Der Adel durfte wieder regieren, der Rang der Träger wurde gelöscht und Träger konnte nur sein, wer von Adel war. So wandte er ein paar unschöne Besucher ab, bis doch wieder ein Träger kam, der die Anforderungen erfüllte. Und dann noch einer. Der König starb, sein Champion bekam einen neuen Träger und dieser neue Träger wurde wieder König. Mehr Träger kamen und irgendwann waren genug davon vorhanden, dass wieder eine Art Demokratie Einzug fand. Zumindest so lange, bis auch dieser König starb und die restlichen Träger anfingen, sich darüber zu streiten, wer nun den Thron besetzen sollte. An diesem Punkt sollte wohl gesagt sein, dass Kuluar schon so viele Unruhen durchgestanden hatte, dass es bisher kaum noch Adelige gab, denn wenn ein Träger mit seinem Nicht-Träger nicht einverstanden war, brachte er ihn einfach um. Der Adel dezimierte sich und schließlich war er ganz weg. Adelig war nur noch, wer auch Träger war.
      Es war der Champion des ersten Königs, der die rettende Idee hatte: Anstatt sich auf die Tradition und alten Gesetze zu verlassen, sollte ein König bestimmt werden, der seines Amtes wahrhaftig würdig war. Es sollte ein König sein, der kein Träger war, aber der sich mit den Champions und dieser Veränderung auf der Welt auskannte. Es sollte jemand sein, der weder für das Amt geboren war, noch dazu aufstrebte, es zu besitzen. Der wahrhaft würdige König sollte nicht wissen, dass er König werden würde und er sollte auch nicht wissen, was ihn erwartete. Er sollte eine Sicht auf die Menschen und auf die Götter haben und er sollte das Gleichgewicht zwischen beiden finden - nur so könnte gewährleistet werden, dass auch bei allen Champions der Welt Kuluar noch immer standhalten würde. Er sollte dazu fähig sein, das Land nicht nur durch seine weltlichen Belange, sondern auch durch seine himmlischen Belange zu führen. Er sollte der wahrhaft würdige König für Kuluar sein.
      Aber so jemanden zu finden stellte sich als äußerst schwierig heraus und so blieb der Thron viele Jahre lang unbesetzt, bis schließlich ein Streit unter den Trägern ausbrach, der den Champion dazu zwang, seine Forderung zu konkretisieren. Also verfasste er, was wir heute als "Die Krönung des Eviad" kennen, eine Schrift, in der der Eviad beschrieben steht:

      Der einzige König von Kuluar heißt Eviad.
      Eviad ist, wer Träger, aber kein Träger ist.
      Eviad ist geborener König ohne Krone.
      Eviad ist derjenige, dessen Aura menschlich ist.
      Eviad ist, wer die Tore zum Himmel kennt, aber sie nicht geöffnet hat.
      Eviad ist, wer im eigenen Namen, aber nicht für sich selbst handelt.
      Eviad ist der Gebrandmarkte."

      Damit endete Faia und strahlte Zoras an, als hätte sie ihm damit das Geheimnis der Welt offenbart. Aber Zoras runzelte nur die Stirn.
      "Das sind nur generische Aussagen, die auf jeden zutreffen könnten. Wer Träger, aber kein Träger ist? Entweder man ist es, oder man ist es nicht."
      "Nach deiner Erzählung zu schließen", setzte überraschenderweise Tysion an, "ist deine Frau, Kassandra, dein. Du warst ein Träger, du bist es nicht mehr, aber ein Champion gehört zu dir. Du hast sie, ohne die Essenz zu tragen. Träger, ohne Träger zu sein."
      "Das ist weit hergeholt."
      "Das ist hier nicht relevant."
      Tysion lehnte sich auf die Hände zurück.
      "Wir Kuluarer glauben an das Übernatürliche, weil wir mit vielen Trägern gesegnet wurden. Mir ist bewusst, dass man nur verhindern will, dass die Träger sich gegenseitig zerfleischen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du Kandidat dafür bist, Eviad zu sein. Du bist Träger, ohne ein Träger zu sein, nach deiner Erzählung zu schließen hat man dich in Theriss behandelt wie einen König, ohne die Krone dazu zu tragen, du bist nicht von einem Champion gesegnet, du hättest sterben sollen, als Kassandra dich noch gerettet hat, du setzt dein Leben für Kassandra allein aufs Spiel und du bist ziemlich wortwörtlich gebrandmarkt."
      Er deutete auf Zoras' Handrücken.
      "Mehr Eviad geht wohl nicht."
      Wortlos starrte Zoras von einem zum anderen. Ihm gefiel nicht, worauf das hinaus lief, aber Faia sprach es trotzdem aus.
      "Du könntest König werden, Zorah. Wenn du Kuluar beweist, dass du der Eviad bist, würde man dich sofort krönen."
      Nein, das gefiel ihm jetzt ganz sicher nicht mehr.
      "Ich möchte kein König sein. Wieso überhaupt Eviad, was soll das sein?"
      "Ach, das ist nur irgendeine Macke von dem Champion. Es soll sowas sein wie der Träumende des Trägers oder so, ganz sicher ist sich da keiner mehr. Morpheus ist nach dieser Legende irgendwann mit einem neuen Träger verschwunden und dann nie wiedergekommen."
      Und darauf wusste Zoras nun wirklich nichts mehr zu sagen.

      Der Abend schritt voran und irgendwann legten sich die anderen beiden schlafen. Zoras hielt Wache, auch wenn er es nicht musste, weil er unmöglich Schlaf finden würde. Er starrte in das Feuer und dachte über alles nach, was ihm in den Sinn kam.
      Er wollte kein König von Kuluar werden, was sollte er da? Und was sollte er mit der Information anfangen, dass es gerade Morpheus gewesen war, der sich diesen Unsinn ausgedacht hatte? Was wollte ein Traumgott in einem Land, in dem Träger angefangen hatten zu herrschen? Was für ein merkwürdiger Zufall konnte das sein?
      Und was sollte er mit Areti tun? Ihrem Angebot zustimmen in der egoistischen Aussicht, bei Kassandra sein zu können? Oder nicht, weil er wusste, dass sie ihre Essenz zu jedem Preis zurück wollte? Oder schon, weil ein gewisses Gleichgewicht einstürzen könnte? Oder nicht, weil Areti auch lügen könnte?
      Abgelenkt von einer Bewegung aus dem Augenwinkeln, sah er hinüber zum Wagen, wo die anderen beiden sich zusammengerollt hatten. Zuerst dachte er, sich nur verschaut zu haben, aber dann sah er einen der Leiber zucken und dann noch einmal. Er starrte viele, lange Sekunden lang, bis ihm irgendwann auffiel, dass Faia sich in der hintersten Ecke zusammengerollt hatte und stumm weinte.
      Er stand auf, wandte sich ab und suchte die fernere Umgebung nach der einzelnen Silhouette ab, die sich dort irgendwo abhob. Areti war nie zu ihrem Lagerfeuer zurückgekehrt, aber sie versteckte sich auch nicht vor ihnen. Zoras fand sie und nach einem weiteren Moment des Wartens überquerte er den weiten, brachen Boden bis zu der Stelle, an der die Phönixin stand. Dort stellte er sich selbst auf und in gemeinsamer Schweigsamkeit beobachteten sie die weite Einöde vor sich.
      "... Wie ist Telandir so? Zu Kassandra, zu Euch? Zu Demataya?"
    • Areti nahm sich lediglich ein paar Minuten Zeit, um zu beobachten, wie das Leben in die drei Menschen einkehrte. Wie sie sich zusammenrissen und das Nötige taten, um ihr Lager zu errichten. Die Phönixin mied die weitere Nähe zu den Menschen, so hatte sie doch mehr als deutlich in den Augen der Sterblichen gesehen, dass sie sie fürchteten. Also brachte sie genug Abstand zwischen sie alle, damit ihr Einfluss sich nicht weiter ausbreitete. Es gab wichtigere Dinge zu tun, die sonst niemand an ihrer Stelle hätte tun können.
      In der Zeit bis zum Abend hatte Areti sämtliche Spuren Blutes verschwinden lassen. Kein Grün besprenkelte mehr den Boden und auch das, was Amartius wohl zurückgelassen hatte, war nicht mehr zu sehen. Nur noch reines Weiß erstreckte sich um sie herum, doch das war es nicht, was die Phönixin mit ihrer Säuberungsaktion beabsichtigt hatte. Dank ihrer Aurensicht sah sie Fragmente von Amartius' Aura in der Luft umherwabern, lose Fragmente, die sie in sich aufnahm und kurze Momentaufnahmen aus der Erinnerung ihres Halbbruders gezeigt bekam. Es wirkte auf den Beobachter so, als bliebe sie in unterschiedlichen Intervallen stehen und würde die Ferne begutachten, doch in Wahrheit lernte sie erst jetzt Amartius ein bisschen kennen. Mit jeder Erinnerung konnte sie seinen Charakter besser greifen und am Ende spürte sie nur Trauer darüber, ihn nicht einmal mehr getroffen zu haben. Selbst diese Fragmente besaßen eine unglaubliche Wärme, die ihr ihr Vater nie hatte erbringen können. Als sie jedes Fragment absorbiert hatte, zog sie sich auf eine kleine Anhöhe zurück, wo sie sich einen Platz freischmolz und sich setzte. Dann sortierte sie das, was sie gesehen hatte, damit sie ihn in ihrer Erinnerung weitertragen konnte.

      Als es bereits dunkel geworden war, hatte sich die junge Phönixin wieder auf die Beine gebracht und den Kopf in den Nacken gelegt. Stumm sah sie hoch zu den Sternen, die millionenfach über ihr leuchteten und nicht ahnen ließen, dass der Götterhimmel gar nicht so fern war. Am Rande ihrer Wahrnehmung bemerkte sie einen Anstieg von Emotionen. Ihr Blick wanderte in eine Ecke ihres Augenwinkels als sie lauschte und feststellte, dass es von der Frau der Gruppe stammte. Sie hatte vorhin Zoras als etwas bezeichnet, das sie selbst noch nicht gehört hatte. Eine von Menschen geschaffene Prophezeiung, basierend auf den Worten eines Gottes. Morpheus' Worte, um genau zu sein. Zum Lachen war ihr jedoch nicht zumute, als nicht nur Trauer sondern auch Verzweiflung Faia zu übermannen suchte und schließlich auch gewann. Areti schloss schließlich die Augen und ihren Geist davor weg. Dieser Schmerz war etwas, das sie lindern, aber niemals nehmen würde.
      Stattdessen gesellte sich Zoras zu ihr, was ihr ein dezentes Nicken entlockte. Sie hatte damit gerechnet, dass auch er sich seine Zeit nehmen und Abstand wahren würde. Immerhin war sie mehr ein Keil als ein Weg zu Kassandra. Auf seine Frage hin richtete sie ihre unverhohlene Verwunderung in ihren Augen direkt auf den Mann nebst ihr.
      "Das Erste, das Ihr fragt, dreht sich um meinen Vater? Ich bin überrascht. Aber wie Ihr wünscht. Mich behandelt er so, wie man es sich vermutlich vorstellt. Ich bin seine Tochter, er erzählt mir alles, was ich wissen möchte und gibt sich nahbar. Im Laufe der Zeit habe ich allerdings ein paar... Unstimmigkeiten bei ihm entdeckt. Ich brauche nur nennen, dass er Euch ohne Weiteres hätte töten wollen. Die Zeit, die er auf Erden verbracht hat, tat ihm wahrlich nicht gut."
      Sie löste ihren Blick und sah erneut in die Ferne. In das unendliche Weiß, dass das Licht der Sterne reflektierte und hoffentlich auch im Namen Amartius' strahlte.
      "Und Ihr möchtet wirklich wissen, wie er sich zu Kassandra verhält? Er liebt sie, Zoras. Er umschwärmt sie wie ein Schmetterling die schönsten Blumen. Er versucht ihr all das Beste zukommen zu lassen, doch sie hat sich ihm je her widersetzt. Sie erwiderte seine Avancen nicht und ich bin nur durch einseitige Liebe entstanden. Es hätte alles so schön werden können, aber Kassandra hat ihr Herz buchstäblich an jemand anderen verschenkt. Und was Demataya betrifft... ich würde es eher als ein freundschaftliches Verhältnis bezeichnen. Sie befürwortet seine Hingabe zu Kassandra und er dankt ihr für seine Handlungsfreiheit mit seiner Treue. Aber mehr als das sollte es nicht sein. In seiner Welt existiert nur Kassandra als einziger Dreh- und Angelpunkt. Deswegen wird er auch alles daran setzen Euch aus dem Weg zu räumen, sobald er euch spürt. Was mich allerdings zu einer anderen Frage führt."
      Areti wandte sich Zoras frontal zu und musterte ihn von oben nach unten.
      "Ich spüre Eure Aura nicht. Nicht in dem Maße, wie ich die Auren Eurer Begleiter spüren kann. Ebenso war es mir fast unmöglich, Amartius zu spüren. Was habt Ihr getan, damit Ihr nicht aufgefunden werden könnt? Denn andernfalls würden sowohl Telandir als auch Kassandra unlängst wissen, dass Ihr naht. Und das, mit Verlaub, tun sie beide offensichtlich nicht."
    • "Euer Vater nimmt eine nicht unwesentliche Position ein, wie Euch vielleicht nicht bewusst ist. Er mag an seine Trägerin gebunden sein, aber ihre Verbindung ist stark und ich kann mir nicht vorstellen, dass er vor etwas zurückschrecken würde, um Kassandra bei sich zu behalten. Wir werden mit ihm konfrontiert werden, auf die eine oder andere Weise. Ihr werdet mit ihm konfrontiert werden, in jedem Fall. Allein schon durch die Tatsache, dass Ihr auch nur plant, Kassandra zu befreien."
      Zoras hatte Haltung angenommen, Wachhaltung, und jetzt kam es ihm viel einfacher vor, die ganze Sache aus einem strategischen Blickwinkel zu betrachten. Kriegsplanung, das war sein Metier, damit konnte er sich gut beschäftigen.
      Areti bestätigte alle seine Befürchtungen, die er sich durch Amartius aufgebaut hatte. Telandir war vernarrt in Kassandra, und zwar so sehr, dass jegliche Vernunft von ihm abprallte und er die Phönixin wie eine Trophäe hielt, ganz ungeachtet dessen, ob die Gefühle erwidert würden. Zu behaupten, dass Telandir alles tun würde, um Kassandra zu behalten, war eine schlichte Untertreibung. Der Phönix würde wahrscheinlich Welten zerstören, um seine Geliebte bei sich zu wissen.
      Zoras überlegte, die Gedanken laut auszusprechen, Areti vielleicht sogar in seinen halb konstruierten Plan einzuweihen, Telandirs Essenz an sich zu nehmen, um ihn außer Gefecht zu setzen, aber das ganze konnte auch schnell nach hinten losgehen. Die Phönixin hatte ihren Standpunkt bezüglich ihrer Mutter recht unmissverständlich dargestellt, nicht aber bezüglich ihres Vaters oder gar Demataya. Er könnte sie fragen, sie würde ihm höchstwahrscheinlich auch eine aufrichtige Antwort geben, aber er tat es nicht. Stattdessen blickte er wortlos zu ihr hinab, als sie ein anderes Thema anschnitt.
      "Etwas ähnliches hatte Amartius auch gesagt. Er sagte, er könne keinerlei göttliche Präsenz spüren, ganz egal, wie weit er sich ausdehnte. Und dass Telandir uns schon längst aufgesucht hätte, könnte er uns sehen. Er würde meine Aura wiedererkennen."
      Er legte eine Kunstpause ein, damit Areti zuerst den Gedanken spinnen konnte, den er dann mit aussprach.
      "Etwas oder jemand scheint unsere Auren zu unterdrücken. Wir waren es nicht, wir sind mit der Fähre von Kuluar gekommen, die alles andere als von Göttern berührt ist. Vielleicht ist es einer von Dematayas Champions? Habt Ihr jemals mit ihnen zu tun gehabt?"
      Er warf Areti einen Seitenblick zu, erhoffte sich, mehr von ihr erfahren zu können als von Amartius. Sein Sohn war von seinem ehemals vermeintlichen Vater verstoßen worden, er hatte keinen guten Einblick in die Festung gehabt. Bei Areti könnte es anders gewesen sein.
      "Jede Information könnte hilfreich sein, auch wenn sie noch so klein ist. Es wäre auch nützlich zu wissen, wo Eure Grenzen liegen, Areti."
      Wieder eine Pause, in der er sie aus den Augenwinkeln musterte.
      "Wie weit würdet Ihr gehen, um Kassandras Essenz zu erhalten? Wo liegt Euer Limit? Ich weiß, wozu Phönixe in der Lage sein sollten - oder eher, wofür sie eher ungeeignet sind. Aber ich weiß es nicht bei Euch."
    • Areti besah sich Zoras einen Augenblick. Er nahm die Probleme aus dem Blickwinkel eines Sterblichen wahr, wohingegen sie es aus den Augen einer ungebundenen Göttin betrachten konnte. Was für den Mann vor ihr als Hindernis wirkte, war für sie zumeist nur ein Kieselstein unter ihren Schuhen. Noch ahnte Telandir nicht, dass seine Tochter danach strebte, Kassandra unter seinen Schwingen hervor zu holen und weit weg von ihm zu bringen. Wenn er es täte – und das würde er früher oder später – dann würde er höchstwahrscheinlich auch nicht davor zurückschrecken, seiner eigenen Tochter etwas anzutun. Diese Gewissheit, dass er eine Frau mehr liebte als sein eigenes Kind, stimmte Areti tatsächlich bestürzter als sie es jemals hätte zugeben wollen.
      „Seit mir meine Aufgabe übermittelt worden ist, ist mir der Gedanke daran nicht fremd. Wir standen noch nie auf einer gemeinsamen Seite und ich wage zu bezweifeln, dass sich mein Vater jemals auf die meine stellen wird“, kommentierte Areti lediglich und legte den Kopf ein wenig schief.
      Zoras stand nicht einfach nur da, er hatte sich aufgestellt. Binnen Sekunden fiel ihr auf, dass dies eine Haltung war, die ihm so vertraut war, dass er sie als Rücksicherung annahm. Zu keiner anderen Zeit bisher hatte sie ihn in einer vergleichbaren Haltung erlebt. Er besaß eine Ausstrahlung, ein Führungstalent, das er nur selten zur Schau trug und es offensichtlich lieber geheim hielt. Obwohl es ihm so viel Sicherheit schenkte. Ihre Augen wurden schmäler während sie ihn so betrachtete und sah, dass er seinen Kopf über etwas zerbrach. Als er es schließlich mit Worten formulierte, öffnete sich ihr Blick wieder.
      „Ihr solltet mich nicht betrachten wie eine Einheit in Eurem Schlachtzug. Denn das bin ich nicht.“
      Ihr Ton war weder schneidend noch ermahnend. Sie hatte immer noch diesen sanften Tonfall, der so weit weg von dem Feuer war, das ihre Mutter gern in ihre Worte gelegt hatte. Trotzdem war ein Nachdruck zu spüren, den man eindeutig nicht ignorieren konnte.
      „Ihr braucht nicht zu wissen, wo meine Grenzen liegen, denn ich habe keine. Ich bin das, was dieser Welt mehr schadet als jeder Krieg und jede Seuche. Ein Gott mit uneingeschränkter Macht zu sein wird auf Dauer zu schwer für Eure Welt zu tragen sein. In Euren Aufzeichnungen gibt es keine Verweise auf ungezügelte Götter weil sie schlichtweg nicht lang genug auf der Erde gewandelt waren, um bezeugt zu werden. Auch ich gehöre hier nicht her, aber meine Aufgabe verbietet es mir, in den Götterhimmel aufzusteigen. Welch Ironie, nicht wahr?“
      Wie hatte dieser Mann ihre Mutter nur behandelt? Hatte er sie doch als Kriegsmaschine und Druckmittel benutzt und es nur so geschickt angestellt, dass sie es nicht gemerkt hatte? Gehörte er in Wahrheit zu den Menschen, die mit ihren goldenen Zungen die Götter einst versklavten?
      Zoras riskierte einen Blick aus den Augenwinkeln auf Areti, die ihn dafür sofort strafte. „Gehört es zur guten Erziehung, eine Göttin nur aus den Augenwinkeln anzusehen?“ Sie wartete ab bis er seine Ausrichtung korrigierte, nur um das Kinn ein wenig zu recken. Areti war zwar gütig und sanft, aber auch stolz. „Ich werde tun, was in meiner Macht liegt um meine Aufgabe zu erfüllen. Wenn ich Euch an die Feste bringe, wird das Geschehen in Gang gesetzt und wird nicht mehr aufzuhalten sein. Dann werde ich mit ihrer Essenz ausziehen und mich dafür über meinen Vater hinwegsetzen müssen. Er mag noch so viele Jahrtausende älter sein als ich, in gebundenem Zustand wird er nicht an meine Fähigkeiten heranreichen. Ich weiß nicht, was Kassandra Euch erzählt hat, aber ich werde nicht kämpfen und ebenfalls nicht töten. Denn das steht mir nicht zu. Wir haben andere Wege, um unserem Willen Ausdruck zu verleihen.“
      Wie zur Verdeutlichung ließ sie eine schwere Pause entstehen, in der man in der Weite nicht einmal mehr die Wölfe aus der letzten Nacht hören konnte. Alles um sie herum wirkte wie tot, wobei es nur daran lag, dass Aretis Präsenz alles Lebendige einschüchterte und zum Rückzug zwang. Bis auf Zoras, der durch Amartius teilweise vor ihrem Einfluss geschützt war.
      „Ja, ich bin Dematayas anderen Göttern begegnet. Ich weiß, wen sie an ihrer Seite hat und wer ihr dient. Zu was sie das befähigt und angesichts dessen ergibt es Sinn, dass Eure Aura verschleiert worden ist. Die Zarin von Asvoß ist im Besitz von drei weiteren Champions nebst Kassandra und Telandir. Wobei ich nur einem von ihnen den Weg kreuzen durfte und das hat mir bereits gereicht.“ Areti schnaubte abfällig als sie auch nur einen Gedanken an diesen arroganten Kerl verschwendete. „Es wird der Einfluss dieses Gottes gewesen sein. Wenn Telandir Euch erspüren kann, gilt das auch für Kassandra und ich weiß, dass die Zarin das Risiko nicht eingehen will, alte Flammen neu zu entzünden. In ihrer Gleichung bin ich eine Unbekannte, die sie nicht kontrollieren kann und somit muss sie ihre Mittel bedacht einsetzen. Aber ich bin mir sehr sicher, dass sie Loki eingesetzt hat, damit meine Eltern Euch nicht auffinden können.“
    • Ertappt dabei, die Phönixin genau als das zu betrachten, was sie für Zoras im Moment darstellte, nämlich eine einzelne, unbezwingbare Einheit auf dem Schlachtenplan von Asvoß, der neben ihr auch die etwas kleineren Einheiten von den anderen Phönixen, den Champions und der winzigen Einheit der drei Menschen darstellte, straffte er den Rücken. Es war nicht sein Schlachtzug, nicht per se, aber es war ein Schlachtzug und bis Zoras herausgefunden hatte, wer genau gegen wen hier eigentlich vorgehen würde, begann er den Fehler, Areti eigenständig herumschieben zu wollen. Dabei hatte er in diesem Land keinerlei Befugnis, keine einzige Regel der Kriegsführung wurde erfüllt und Areti könnte heute noch eine Verbündete, aber morgen schon eine Feindin sein. Also ja, sie hatte recht, er sollte sie nicht als Einheit einstufen. Noch nicht.
      "Verzeiht. Ich versuche nur zu verstehen."
      Und das tat er auch - langsam, aber er verstand.
      Areti war eine vollwertige Göttin, geboren von zwei Champions auf der Erde. Sie war nicht die einzige Göttin, aber sie war die einzige, die ihre Essenz noch bei sich trug. Kein Champion dieser Welt, vielleicht nicht einmal Zeus, auch mit der besten Verbindung zu seinem Träger könnte aufhalten, was auch immer diese Phönixin sich in den Kopf gesetzt hätte. Sie allein hatte die Macht, Essenzen mit dem Schnippen ihrer Finger zu zerstören, aber auch, sie an sich zu nehmen. Sie konnte selbst Trägerin werden und nicht einmal die Götter im Olymp mochten sich vorstellen, was eine göttliche Trägerin alles bewirken konnte.
      Wusste sie Bescheid? Wusste sie darum, dass sie einzig und allein in der Lage war, diese Welt dem sofortigen Untergang zuzuführen, Kassandra hin oder her? Dass sie die Macht hätte, sämtliche Menschen, Länder und Kontinente in ihre Gewalt zu bringen? Dass nichts sie aufhalten könnte? Sie musste es wissen. Die Frage war, ob sie nicht eines Tages dazu gewillt wäre, diese unendliche Macht auch zum Einsatz zu bringen.
      Areti war eine mindestens gleich große Gefahr für das Gleichgewicht wie Kassandra, wenn das stimmte. Aber das war ein Gedanke, den Zoras für sich behielt. Er nahm ihn zur Kenntnis, er wog ihn ab und dann verstaute er ihn ordentlich an einer Stelle, an der er ihn jederzeit wiederfinden könnte.
      "Ihr könntet Eure Essenz an jemanden vergeben, das Schicksal Eurer Brüder und Schwester auf der Welt teilen. Das würde die Welt durchaus aushalten und Ihr wärt noch immer in der Lage, Eurer Aufgabe nachzukommen. Wie Ihr erkennen könnt, gibt es durchaus immer eine zweite Lösung. Vielleicht sogar eine dritte."
      Wieder schweigend, jetzt aber mit einer gewissen Überraschung darüber, dass Areti sich tatsächlich dazu abließ, Zoras für sein respektloses Verhalten zu tadeln, wandte er sich ihr ganz zu. Der Ausfall kam überraschend, denn auch wenn er normalerweise durchaus keinem Gott in einer solchen Weise begegnet wäre, hatte doch Areti kaum genug Zeit unter den Menschen verbracht, um sich von ihnen angemessen verehren zu lassen. Woher stammte dieser Stolz also, wer hatte ihn ihr eingebläut? Etwa Telandir? Oder die anderen Champions? Demataya?
      "... Verzeiht."
      Unberührt fuhr sie fort und Zoras ließ seinen Blick offen auf ihrem Gesicht ruhen.
      "Mit Verlaub, ich zweifle nicht an Euren Fähigkeiten und auch nicht an Eurem Willen, aber in Zeiten höchster Verzweiflung, die unweigerlich für Demataya und Telandir anbrechen werden, wird Gewalt eines der letzten Mittel für sie sein. Ich rate Euch nicht, sie zu erwidern, aber Ihr solltet darauf gefasst sein - und ich auch, wenn ich mich Euch anschließe. Dann muss ich wahrhaftig überdenken, wie ich Euch als Einheit auf "meinem" Schlachtplan einzusetzen habe."
      Es entstand eine Pause, die Zoras unangenehm schien, auch wenn er nicht recht wusste, weshalb. Die Umgebung wirkte geheimnisvoll ruhig, das Feuer am Wagen war zu weit entfernt, um bis zu ihnen herüberzureichen und eine mittlerweile nicht unbekannte Schwere legte sich auf ihn, die nicht unähnlich einer tiefen Erschöpfung war. Er ließ seinen Blick unverblümt weiter auf Areti gerichtet, nicht etwa, weil er sich ihrem Willen unterwerfen wollte, sondern weil er dieses Gespräch nicht mit Nichtigkeiten über Formalitäten aufhalten wollte. Das hier war wichtig und während der frühere Zoras sich womöglich darum bemüht hätte, Areti den angemessenen Respekt entgegenzubringen, einzig aus ihrem Stand heraus, tat der heutige Zoras nur das nötigste. Er war nicht unhöflich, aber er hatte es auch satt, sich ungeschriebenen Gesetzen zu beugen.
      "Ihr meint also, Demataya selbst sorgt dafür, dass wir nicht aufzufinden sind? Weil sie kein Risiko eingehen will - das Risiko ihres eigenen Champions, bei der sehr geringen Chance, dass ich eines Tages hier auftauchen könnte, vorausgesetzt ich lebe überhaupt noch und weiß, dass Kassandra hier ist?"
      Das hörte sich alles so unwirklich an, das ganze Konstrukt, das sich hier am Ende der Welt aufgebaut hatte, unter der Aufsicht einer Frau, deren Beweggründe Zoras noch immer mehr als fremd waren. Aber gleichzeitig würde es zu den restlichen, merkwürdigen Sachen passen, die er schon über die Zarin und das Land gehört hatte. Genauso wie es ihn fast schon gar nicht mehr überraschte, Lokis Namen zu hören, schließlich hatte er selbst schon an ihn gedacht. Er richtete nicht oft ein Gebet an seinen Namensvettern persönlich, aber in diesem Moment widmete er ein paar hastige Verse an Zeus selbst, dass er die Kontrolle über seine Brut zurückerlange.
      Was ihn dafür ganz und gar überraschte, und das nicht zum ersten Mal, war die fast offensichtliche Menschlichkeit, mit der Areti manchmal reagierte. Er erinnerte sich nur allzu gut an Amartius' eigene Vermutung, dass Demataya einen Erben schaffen wollte und die Tatsache, dass Areti manchmal mehr Mensch als Phönixin wirkte, unterstrich diese Worte auch noch. Zoras starrte sie noch immer an, aber jetzt kniff er die Augen zusammen.
      "Areti, wenn Ihr sagt, dass Demataya Euch als eine unkontrollierbare Variable sieht, weshalb seid Ihr dann hier? Verzeiht mir die taktlose Frage, aber sie lässt sich nicht anders formulieren. Ihr sagtet selbst, dass Ihr durch einseitige Liebe entstanden seid und dass Euer Vater sich nicht auf Eure Seite stellen würde. Ich gehe davon aus, dass er Kassandras Seite wählen würde - oder eher seine eigene. Das spricht nicht für sonderlich viel väterliche Liebe, durch die Ihr hättet entstehen können. Und wenn Ihr Eure Essenz nicht Demataya schenkt, was wohl auch nicht sinnvoll ist, nachdem sie schon zwei Phönix-Champions besitzt; weshalb seit Ihr dann hier? Was ist der Grund, der Euch geboren hat?"
      Er legte seine Hand auf seinen Schwertgriff.
      "Amartius wurde verstoßen, bevor er es hätte herausfinden können. Aber Ihr seid es nicht, Ihr könnt es erfahren. Weiht mich darin ein."
    • Aretis sanfter Ausdruck bekam plötzlich einen angespannten Unterton. Sie hatte sich nicht verhört als Zoras erwähnte, sie könne ihre Essenzverschenken. Hatte er denn noch immer nicht verstanden, was dies bedeutete? Hatte er nicht an Kassandra gesehen, was es mit den Göttern anstellte? Es gab unter den Menschen kaum Gute, und die die es waren, fielen zu schnell und rissen ihre Essenzen mit sich in den Abgrund. Niemals würde Areti einen Teil ihrer Seele abspalten. Niemals würde ein anderer Gott oder gar ein Sterblicher auch nur einen Teil an Herrschaft über sie gewinnen. Denn wenn es eines gab, dass Kassandra ihr von der Wiege aus gelehrt hatte, dann das. Dass sie niemals ihre Wurzeln vergessen und sich in ein Bindungsverhältnis begeben durfte.
      „Ihr unterschätzt Lokis Reichweite. Demataya weiß dank Telandir, dass Ihr der einzige Stolperstein sein werdet, der ihr Konstrukt ins Wanken bringen könnte. Ebenso wusste sie, dass Ihr nicht durch Telandir gestorben wart und ich bin mir sicher, dass sie Loki benutzt hat, um Euren Status herauszufinden. Wenn mein Vater herausfindet, dass ihr noch lebt und sogar schon in der Nähe seid wird es selbst für sie schwierig, ihn zu kontrollieren.“
      Vieles rankte sich um Lokis Anwesenheit. Dieser Gott war einer der ganz Großen und seine Macht war selbst als Champion schier grenzenlos. Er war einer der wenigen, gegen die selbst Areti in ungebundenem Zustand Schwierigkeiten haben würde, zu bestehen. Wie war diese Frau ausgerechnet an diesen Gott gekommen? Er muss ihr all diese Flausen in den Kopf gesetzt haben.
      Dann sprach Zoras einen neuen Punkt an, der dafür sorgte, dass die Spannung aus ihrem Gesicht wich und zur Ausdruckslosigkeit wechselte. Verschiedene Gefühlsregungen wallten in ihr auf in solch rapider Abfolge, dass sie Probleme damit hatte, sie der Reihe nach zu deuten. Areti wusste um ihre Aufgabe, wusste, warum sie jetzt hier war. Sie wusste darüber hinaus noch so viele Kleinigkeiten, die für diesen Mann ein unlösbares Puzzle zusammensetzen würde und ihr doch nicht weiterhalf. Selbst wenn sie Kassandras Tochter war, nahm sie für diesen Menschen keine bedeutsame Rolle ein. Und hier offenbarte sich ein Unterschied zwischen Mensch und Gott; Es kümmerte Areti nicht.
      „Ich betone noch einmal, dass Ihr Euch nicht die Freiheit nehmen solltet, über meine Beziehungen zu urteilen“, wiederholte sie leise, etwas Dunkles schwang in ihrer Stimme mit, was so gar nicht zu ihrem üblichen Verhalten zu passen schien. „Ihr wisst nicht, dass Telandir tatsächlich einen Stamm mit Kassandra auf Erden gründen will. Unabhängig von dem Himmelreich mit seinen Regeln, er will eine neue Utopie gründen. Ihr habt nicht gesehen, wie er mich liebevoll als Säugling in den Armen gehalten hat und mit mir gespielt hat. Dass er mir erläutert hat, was den Kern eines Phönix ausmacht und dass ich jederzeit aufsteigen könnte. Genauso wenig wisst ihr über den Moment, an dem ich feststellte, wie krank dieser Mann mit der Zeit geworden ist. Also ja, ich bin durch seine Liebe entstanden und habe bewusst die Bande durchtrennt, die diesen Wahnsinnigen mit mir verbanden. Deswegen wird er sich nur um seine Belange kümmern. Weil er denkt, er habe mich bereits verloren.“
      Endlich bekam Areti das Gefühl, das dominierende Gefühl, zu greifen. Es war kein Zorn, keine Wut, die ihre Welt gerade beherrschte. Es war vielmehr eine Bestürzung, weil alles das, was ihr zu einer Familie reichte, genommen worden war. Sie kam zu spät und fand nur noch die Überreste ihres Halbbruders. Ihre Mutter war nurmehr ein seelisches Wrack und ihr Vater ein übergeschnappter Gott. Was dafür sorgte, dass Areti zwar mächtig war, zeitgleich aber völlig allein auf dieser Welt. Gebunden durch ihre Aufgabe war sie mit einer Einsamkeit konfrontiert, die das wärmeliebende Wesen nicht ertragen konnte.
      „Hinterfragt Ihr etwa den Grund, warum Ihr auf der Erde wandelt?“, fragte sie wobei ihre Augen von seinem Gesicht zu Amartius und wieder zurück zuckten. „Die Meuren haben mir eine Aufgabe zuteil werden lassen. Telandir hat Kassandra dazu genötigt, mich zu gebären. Er ist so blind und sieht nicht, dass er damit nur Dematayas Willen erfüllt. Die Zarin will keinen Nachfolger. Sie will eine Streitkraft aus auf Erden geborener Götter, um damit ein jedes Land unter sich zu vereinen. Deswegen sollte Amartius sterben, weil er kein vollwertiger Gott war. Auf Kassandras Flehen hat Telandir ihn nur ausgesetzt und ich bin mir absolut sicher, dass Loki dafür gesorgt hat, dass er nicht stirbt und Euch am Ende finden kann. Damit Ihr nun Euren Fuß in dieses Land setzt und damit Euren Teil meiner Aufgabe erfüllt.“
      Ein paar weitere Sekunden verstrichen in denen Areti Zoras nieder starrte, um schließlich die Lider zu senken und sich von ihm abzuwenden. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und blickte wieder in die weite Ferne.
      „Glaubt mir, ich wünschte, ich wäre lieber aus Zufall in einer liebevollen Beziehung entstanden als so.“
    • Einen Stamm. Telandir wollte einen Stamm voller Phönixe auf Erden gründen.
      Zoras blinzelte mit einem Ausdruck gänzlicher Verwunderung über diese neue Information. Ein Stamm Phönixe auf der Erde und Telandir in gewissermaßen der Urvater. Weshalb? Weil er den Regeln des Himmelreiches entgehen wollte, wie Areti bereits lose darstellte? Aus welchem Grund? Welche Regeln konnte es geben, die der Phönix zu umgehen dachte, indem er seine Brut auf der Erde gebar? Wusste er überhaupt um das Gleichgewicht, wie Areti betont hatte, und wie es damit auseinanderfallen würde? Auf der anderen Seite, woher sonst hätte sie diese Information überhaupt?
      Es brachte nichts, sich den Kopf allzu sehr darüber zu zerbrechen, denn wie die Phönixin bereits mehrfach angedeutet hatte, hatte Zoras nicht nur keinen Einblick in die jetzige Situation und das Leben der Phönixe, er hatte zudem auch nur beschränktes Wissen über die Götter, den Olymp und alles, was damit einherging. Er könnte nur spekulieren und ganz anscheinend kam er damit nicht sehr viel weiter, als Areti zu verärgern.
      Er nickte bedächtig und machte einen Rückzieher, bevor er noch eigenständig dafür sorgte, dass die Phönixin sich gegen ihn verschwor.
      "Ihr habt recht, mir mangelt es an dem geeigneten Wissen. Ich bitte zu entschuldigen. Ich denke, es war nicht einfach, in einem Haushalt wie diesem aufzuwachsen."
      Ein Schatten huschte über Aretis Gesicht, vielleicht hatte er sich das aber auch nur eingebildet.
      "Der Grund meiner Anwesenheit war schon immer das Vermächtnis, daran gab es nie einen Zweifel. Das war mir bekannt, seit ich denken kann und ich möchte behaupten, dass meine Zeugung auf zweiseitiger Liebe beruhte. Noch ein Grund, wenn Ihr mich fragt."
      Er begegnete Aretis Blick offen, unbewegt. Die Phönixin zeigte nicht viele Gefühlsregungen, allen voran mangelte es ihr an erkennbarer Mimik und teilweise auch Gestik, aber ihre Augen, das war eine ganz andere Sache. Es lag etwas in ihren Augen, das Zoras vorher nicht so recht aufgefallen war, das aber jetzt herausstach, nachdem er sich sicher war, die Phönixin verärgert zu haben. Es lag ein Ausdruck in ihren Augen und während das eigentlich kaum der Rede wert gewesen wäre, war es das doch bei der Göttin. Sie mochte keine besondere Mimik zur Schau tragen und ihre Stimme blieb stetig kühl, wie Zoras fand, aber ihre Augen spiegelten wieder, dass tatsächlich etwas darunter lag. Sie funkelten und ihr Blick zuckte und für einen Augenblick, nur einen kurzen Augenblick, empfand Zoras eine gewisse Genugtuung darüber, dass er derjenige war, der von dieser Unterhaltung größtenteils unberührt blieb. Areti ließ sich von einem Menschen ärgern.
      In der auftretenden Stille ließ Zoras genau diesen Blick über sich ergehen, bevor sie sich beide simultan voneinander abwandten und die weiten Schneeebenen betrachteten. Der Veteran ließ sich all die neuen Informationen durch den Kopf gehen, allen voran Lokis Teil in dieser Aufgabe, die wohl auf einzelne Posten übertragen worden war, während die Phönixin ganz anscheinend an andere Dinge dachte. Ihr letzter Satz war etwas weniger garstig, wie Zoras fand.
      "Ihr wisst, dass es nicht dabei bleiben muss?"
      Seine eigene Stimme war auch wieder etwas weicher geworden. Schließlich war er nicht hergekommen, um zu streiten - nicht nur.
      "Eure Blutsverwandtschaft mag Euch zu Familie machen, aber nicht alle Familie besteht aus Blutsverwandtschaft. Ihr mögt... unvollkommene Eltern haben, aber das ist nicht alles, was Familie hergibt. Nicht das einzige."
      Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
      "Ich habe meine Familie vor vier Jahren verloren. Sie ist irgendwo da draußen, aber ich weiß nicht wo sie ist, wie es ihr geht, ob sie auch nur noch existiert. Mein Bruder hat eine Walküre geheiratet, ohne es zu wissen - unsere Blutsverwandtschaft hätte nicht ferner liegen können, und doch war sie an meiner letzten Schlacht zutage und hat mir versprochen, mich ganz persönlich ins Jenseits zu bringen. Kassandra ist auch nichtmal ansatzweise blutsverwandt und doch lege ich mich mit einem Frostwyrm an, um sie zu erreichen. Und mit einem Phönix. Und potentiell mit weiteren Champions und ganz sicher mit einer Zarin. Ihr seid nicht auf den Blutsteil Eurer Familie beschränkt, das möchte ich damit sagen - und auch nicht auf die Zarin, nur weil sie Euch eine Unterkunft bietet und Eure Eltern... beherbergt. Ihr seid eine freie Phönixin, Ihr könnt überall finden, wonach Ihr sucht, wenn Ihr nur wisst, was es genau ist, das ihr finden wollt."
      Er schwieg einen Moment, dann straffte er sich.
      "Ihr lebt Euer Leben, Eure Eltern und die Zarin das ihrige. Ich für meinen Teil habe durchaus etwas dagegen einzuwenden, wenn Demataya beschließt, die Erde mit einer Armee aus Champions oder Phönixen an sich zu reißen, aber die Verhinderung dessen ist nicht Bestandteil meiner jetzigen Mission. Ich plane Kassandra zu befreien, in welcher Weise auch immer, und falls das der Zarin gegen die Pläne geht, wäre das ein angenehmer Nebeneffekt. Ist das genauso von den Moiren bestimmt? Woher wisst Ihr, welche Aufgaben sie Euch übertragen?"

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    • Das, aus dem Areti entstammte und wo sie viel zu schnell erwachsen geworden war, konnte man nicht als Haushalt bezeichnen. Das war ihr ebenfalls erst viel später aufgefallen. Unter den Göttern gab es keinen Haushalt, keine Verpflichtungen und Regeln in gewöhnlichem Sinne. Im Himmelsreich lebte man nach Dekreten und vergeudete die Zeit, von der es sowieso sinnlos viel gab. In ihrer kurzen Existenz hatte Areti noch kein Gefühl dafür, wie schnell die Zeit auf Erden verging und Leben dahin raffte. Das ständige Erlöschen von Lichtern war seit ihrer Geburt ihr ständiger Begleiter und es hatte eine Erklärung Telandirs bedurft ehe sie verstand, dass das nicht normal war. Im Himmel geboren war diese Fähigkeit nicht von Nützen, im Himmel starb niemand. Auf Erden wurden sie hingegen allzeit mit dem Tod konfrontiert und die ständigen Leidspiralen, Todeskämpfe und Erlöschen von Lichtern brachten sie allmählich um den Verstand. Das hatte zu Telandirs Verfall beigetragen und da Areti auf der Erde geboren war, hatte sie es noch im Leib ihrer Mutter konstant erfahren und sich daran gewöhnt.
      Es zuckten sogar ihre Augenbrauen, als Zoras ihr eiskalt beantworten konnte, warum seine Füße den Staub dieser Erde aufwirbelten. Er war aus den Gründen entstanden, die sie selbst auch gerne ausgelegt hätte. Sie wäre gerne als Produkt der Liebe entstanden, so kitschig es auch klingen mochte. Derjenige, dem er vergönnt gewesen war, hatte seine Eltern nie mehr zusammen erlebt sondern fristete nun da Dasein als Waffe am Gürtel seines Vaters.
      Also schwieg Areti und hörte sich Zoras' Worte an. Worte, die sehr schön in ihren Ohren klangen und sie etwas besser verstehen ließen, warum ihre Mutter sich vielleicht an den ein oder anderen Menschen verloren hatte. Allerdings war sie zu dieser Zeit schon sehr lange auf der Erde gewesen und der Einfluss der Menschen würde auch bei ihrer Tochter keinen Halt machen. Es war nur eine Frage der Zeit.
      „Wisst Ihr, was uns von Euresgleichen eigentlich grundlegend unterscheidet? Uns Göttern fehlt die Fähigkeit, zu fühlen. Deswegen beobachten sie euch Menschen so gern aus dem Reich, weil sie etwas in euch sehen, das ihnen selbst fehlt. Das, was Ihr als Liebe bezeichnet, gibt es unter den Göttern eigentlich gar nicht. Verehrung. Anerkennung. Hingabe. Das gibt es sehr wohl, aber es gibt nicht einen Gott, der sein Prestige für einen anderen opfern würde. Die meisten von uns sind nicht in der Lage, Neid zu spüren oder noch schlimmer, aufrichtigen Zorn und Hass. Wenn wir es täten, dann würde der Himmel in ein einziges Chaos ausbrechen und die Konsequenzen würden selbst auf Erden spürbar sein. Deswegen mangelt es uns an der emotionalen Bandbreite. Zumindest sollte es das.“
      Das war der Grund, warum Götter auf Erden verdarben. Warum Kassandra bis in den tiefsten Kern ihrer Seele schon nichts anderes als gähnende Leere aufweisen musste. Das, was ihre Tochter am Fenster stehen und hinaus sehen sah, war der beste Beweis dafür. Oder dass Telandir, der nie aus dem Himmel verbannt worden war, selbst nicht mehr aufsteigen können würde, und das nicht einmal realisierte. Bei diesen Gedanken drückten sich Aretis Finger etwas kräftiger in ihre Oberarme, wo sie eisern ihre Hände behielt. Als bezöge sie selbst nun Stellung.
      „Nein, es ist nicht genau so von den Moiren vorherbestimmt“, setzte sie nach einer Bedenkzeit langsam an zu erklären, „und ich kann auch nur für den Teil sprechen, an dem ich aktiv beteiligt bin. Bestimmt ist nur, dass Ihr Kassandra wiederseht und Ihr ihre Essenz beschafft, woraufhin sie entfesselt wird und Unheil über die Welt bringt. Ich nehme an, Ihr wisst, dass Götter nicht träumen können? Nun, die Moiren sind mir in eben jenem Traum erschienen und haben mir die Zukunft prophezeit. Sowie meine Rolle darin. Dass meine Existenz zwar geplant, aber nicht festgeschrieben sei. Dass ich der Ersatz für jemand anderes sei.“
      Für Amartius. Amartius hätte derjenige sein sollen, der Kassandras Herz an sich nimmt und verwahrt und nicht ich.
      „Sie sagten mir, dass mein Faden noch gesponnen werden müsse und ich demnach noch einen Einfluss ausüben könne. Angeblich soll ich nicht verhindern können, dassdieses Schicksal eintrifft, aber ich bin gewillt, es herauszufordern.“
      Areti lächelte schmal. In dieser Hinsicht war sie mindestens genauso starrsinnig wie der Mann zu ihrer Seite. Egal wie lange sie seine Aura abtastete und nach der verräterischen Schwärze suchte – sie fand sie einfach nicht. Es reichte ein einziger Gedanke an Kassandra und schon strahlte seine Aura lichterloh. Als sei sie im wahrsten Sinne des Wortes sein Lichtblick.
      „Wisst Ihr, ich denke, es gibt Eure Familie noch. Da ich nun Eure Signatur kenne, dürfte ich in der Lage sein, Eure Verwandten zu finden. Und wenn darunter eine Walküre zählt, dann wage ich ernsthaft zu bezweifeln, dass sie gefallen ist. Das ist ein sehr dickköpfiges Volk...“