Salvation's Sacrifice [Asuna & Codren]

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    • Es dauerte insgesamt einige Tage, bis sie nicht nur das vollständige Ausmaß von Amartius' Fähigkeiten begriffen, sondern auch noch in ein Training umgesetzt hatten. Besonders letzteres war wohl der schwierige Teil gewesen, denn wenngleich sich Zoras einige Gedanken damit machte, was er dem Jungen beibringen konnte und was gleichzeitig auch noch seinen Fähigkeiten entsprach, konnten sie sich doch nie vorstellen, ob es letzten Endes wirklich hilfreich war. Sicher, er könnte sich gegen einen Menschen verteidigen, das hatten sie schon recht früh etabliert, aber Menschen waren auch nicht das Problem. Ob bewusst oder nicht, aber Zoras trimmte seinen Sohn darauf, gegen einen Phönix anzutreten.
      Sie blieben dabei, die Technik in Anwesenheit der anderen drei zu trainieren, aber mit jedem weiteren verstreichenden Tag konnten sie noch weniger davon üben, bevor sie sich schon wegschleichen mussten. Irgendwann war es wohl allzu offensichtlich, dass sie für das Training weggingen, also versuchten sie gar nicht erst, sich dafür eine Ausrede einfallen zu lassen. Ein bisschen Technik üben und dann verschwinden.
      Es dauerte nicht lange, bevor Zoras als Trainingspartner aufgeben musste. Er konnte mit Amartius' Schlägen noch mithalten, hauptsächlich deswegen, weil der Junge absichtlich nicht allzu stark schlug, aber das änderte nichts daran, dass er bei dem Kraftaufwand dennoch nach einer halben Stunde eine Pause benötigte, während Amartius ganz unbeschwert blieb. Sicher hatte auch der Halbphönix irgendeine Grenze, aber die lag nicht in Zoras' Vorstellungskraft.
      Also ließ er ihn im Anschluss stets gegen einen Baum oder wahlweise einen Stein antreten, damit er sich auch nicht zurückzuhalten brauchte. Er instruierte Amartius dabei, die Abfolgen seiner Kampfhaltungen durchzuführen, aber niemals zu wiederholen. Er ließ ihn sein Feuer entfachen, außerhalb des Kampfes und auch währenddessen, er ließ ihn das Feuer kontrollieren, entweder präzise genug, um es über sein Schwert zu schicken, ohne das Holz dabei zu verbrennen, oder stark genug, um seinen derzeitigen Kampfpartner damit zu malträtieren. Er ließ ihn zu jeder Zeit Auge auf die Auren um sich herum haben, besonders mit dem Hinblick darauf zu erkennen, ob sie beobachtet würden, und er versuchte nebenher ihn mit seinen eigenen Emotionen abzulenken, indem er entweder sehr lange und eingiebig an Kassandra dachte oder sich absichtlich in die Hand schnitt. Letzteres wechselte er damit ab, selbst um Amartius herum zu tänzeln und ihn aufzufordern, Zoras' Schläge abzuwehren, während er weiter gegen den unbeweglichen Feind kämpfte. Er tat alles in seiner Macht stehende, um seinen Sohn einem anspruchsvollen Training auszusetzen.
      Und Amartius tat sich gut, zumindest soweit man es aus der Perspektive eines Menschen erkennen konnte. Er lernte noch immer schnell und er passte sich noch immer schnell genug an, sodass sich Zoras immer wieder andere Taktiken ausdenken musste. Er würde kein perfekter Kämpfer werden, nicht solange er nicht einen Kampfpartner hatte, der ihn noch weiter herausfordern konnte, aber es war für die Umstände gut genug. Vielleicht war es sogar für Telandir gut genug.
      Daher blieben sie bei diesem Training und während sie sich der ozeanischen Grenze von Kuluar näherten, wuchs Amartius zu einer Kampfkraft heran, der Zoras bald auch nichts mehr entgegenbringen konnte. Bald konnten sie sich selbst das anfängliche Techniktraining sparen, denn es gab schlicht nichts mehr, was er ihm hätte beibringen oder was er hätte verbessern können.

      Ellspiahafen war vergleichsweise groß, eine Stadt, die sich an den Ozean anschmiegte, größtenteils lang und nicht breit. Sie lebte hauptsächlich von ihren Fischereien und davon, dass sie in Kuluar den einzigen Hafen hatte, der von außerhalb befahrbar war.
      In der Luft hing überall der Geruch von Salzwasser und Fisch und lockte Zoras zu einer Aussicht, die seinem Verstand neu war.
      Das Wasser war überall, eine dunkelblaue, unbewegliche Ebene, die in dem Sonnenschein fern glitzerte. Die Wellen waren nicht hoch, sie waren sogar kaum erkennbar auf die Ferne, die ganze Fläche wirkte so, als wäre sie ein aufgespanntes Tuch, das sich nicht rührte. Zoras starrte ziemlich, so lange sogar, dass die anderen schon weitergegangen waren und Faia zu ihm zurückrufen musste. Als er aufholte, grinste sie ihn an.
      "Was, noch nie den Ozean gesehen?"
      Und damit hatte sie genau ins Schwarze getroffen.
      Sie trennten sich wieder, so wie sie es in jeder Stadt taten, aber dieses Mal gestattete Zoras es Amartius, sich den Tag über alleine eine Beschäftigung zu suchen, solange er in dem einen Viertel bliebe und pünktlich im Zimmer war, sobald es dunkel würde. Faia würde sich auf die Suche nach einer Fähre machen und Zoras selbst nahm sich Omnar zur Hand, der nicht gerade begeistert davon war, mit dem Veteran loszuziehen.
      "Nur kurz, ich brauche deine Hilfe. Sei pünktlich, Amartius."
      Und damit trennten sich alle.
    • Je näher sie der Küste kamen, umso spezifischer wurde Zoras' Training. Bis es irgendwann klar ersichtlich war, dass Amartius, was zumindest die Technik betraf, nicht mehr viel von seinem Vater würde lernen können. Stattdessen fokussierte er sich auf das, bei dem sein Vater ihm ohnehin nicht helfen konnte; Seine göttliche Seite.
      Es dauerte gerade einmal vier Tage, da bemerkte Amartius weitere Anzeichen des Verfalles. Immer wieder verlor er das Gefühl über seine Extremitäten im Verlauf des Tages, manchmal wollten die Flammen nicht zünden, wie er es wollte. Immer häufiger lauschte der Junge in sich selbst hinein und eine kalte Vorahnung machte sich langsam, aber sicher in ihm breit. Im Geiste war er schon lange kein Kind mehr – er rangierte mittlerweile auf dem Alter eines jungen Erwachsenen – und sah noch immer wie sein zehnjähriges Selbst aus. Und egal, wie er es auch drehen und wenden mochte, das würde wohl endgültig die Grenze sein, wie weit er noch kommen würde. Offensichtlich war seinem Vater auch noch nicht das Misstrauen gewachsen, warum sein Junge sich nicht auch körperlichveränderte, sondern nur mental wuchs. Das war wohl dem Umstand geschuldet, dass Zoras ihn gar nicht anders kennengelernt hatte. Ein Umstand, den Amartius dankbar annahm und das Thema niemals von selbst anschnitt. Sein Vater war ebenso wenig begriffsstutzig wie er selbst und mit genug Hinweisen würde der ehemalige Herzog vermutlich ahnen, dass Telandir noch mehr verbrochen hatte als nur seinen Sohn in der Wildnis auszusetzen.

      Die Gruppe hatte das Meer noch nicht gesehen, da waren Amartius bereits die Seevögel aufgefallen, die vermehrt über ihre Köpfe hinweg zogen. Irgendwann gesellte sich ein ganz bestimmter Geruch dazu und schließlich war sich Amartius sicher, Wellen gehört zu haben. Er selbst hatte das Meer auch noch nie gesehen. Aus Asvoß kannte er unendliche Eislandschaften, in Kuluar hatte er normale Vegetation kennengelernt. Seen waren ihm ein Begriff. Aber als das letzte Hindernis überwunden hatten, das ihnen die Sicht nahm, ertappte sich der Junge dabei, wie er wie sein Vater wie angewurzelt stehen bleib und seinen Blick über das Meer wandern ließ. Ein Meer, dessen Wellengang am heutigen Tage überaus ruhig war und das Glitzern der im Sonnenlicht funkelnden Oberfläche gut sichtbar werden ließ. Vereinzelt sah er Schiffe auf dem großen, unbekannten Blau, mal große Handelsschiffe, dann wieder kleine Fischerboote. So ähnlich stellte sich Amartius auch die Häfen in Asvoß vor und konnte nicht wissen, wie falsch er damit lag.
      Amartius warf einen Blick zu seinem Vater hoch, der sich immer noch nicht vom Anblick lösen konnte. Er schob es auf sein fortgeschrittenes Alter, dass neue Eindrücke tiefer sanken als es bei dem Jungen der Fall war. Und so merkte Zoras auch nicht, wie Amartius die Stirn runzelte während er sich selbst fragte, ob es normal war, wie die Aura um Zoras zu flackern und manchmal regelrecht zu verblassen schien.
      In der Stadt angekommen gewährte Zoras Amartius zum ersten Mal, eigenständig auf Erkundungstour gehen zu dürfen. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass er nun wusste, wie man sich ordentlich wehrte und er einiges seiner kindlichen Naivität verloren hatte, konnte Zoras es ihm nicht weiter verwehren. Und so sah er seinem Vater kurz hinterher, ehe der mit Omnar im Schlepptau von Dannen zog. Noch einen weiteren Moment stand Amartius nur regungslos da, dann verschwand er in der wogenden Menge der Menschen.
      Er hatte Pläne. Pläne, die nur für ihn allein galten.
    • Es war lange her, dass Zoras und Omnar einmal zusammen unterwegs gewesen waren. Anfangs hatte es sich noch öfter ereignet, als Zoras noch dem naiven Glauben unterlegen gewesen war, dass der Rotschopf eine eigentlich ganz angenehme Begleitung bot. Das war wohl nicht wenig dem Umstand verschuldet, dass er ihn mit seinem kurzen Haar und seiner hellen Haut ein wenig an Ryoran erinnerte.
      Irgendwann hatte er aber die Schnauze voll von ihm gehabt und seitdem waren sie sich aus dem Weg gegangen, dem allgemeinen Frieden zum Wohle. Eigentlich so ziemlich seit dem Moment, an dem Zoras ihm ins Gesicht geschlagen hatte, weil er schlecht über Götter geredet hatte.
      An diesem Tag brauchte er aber Omnars Expertise, die vielleicht begrenzt war, aber doch immerhin Grund dafür war, dass der Mann noch nicht aus der Gruppe geworfen worden war.
      "Also, was willste stehlen? Schmuck? Kunst? Davon gibt's hier wahrscheinlich nicht allzu viel."
      Zoras hielt seinen Blick auf die Läden, an denen sie vorbeikamen. Die Straßen waren nicht allzu voll, an einem guten Tag wie diesen waren wohl alle entweder draußen auf den Boten oder am Marktplatz, wo der ganze Fisch verkauft wurde.
      "Eine Waffe. Vielleicht was zu Essen."
      "Langweilig. Knapp bei Kasse, oder was?"
      "So in etwa."
      Sie suchten zwei Schmieden auf und schließlich entschied sich Zoras für einen.
      Omnar war definitiv der bessere Dieb von ihnen beiden, um Längengrade sogar, nachdem Zoras sich selbst nach Monaten der Übung noch immer nicht daran gewöhnen konnte, sich so offen gegen das Gesetz zu stellen. Also zeigte er ihm, was er zu stehlen hatte und schlenderte selbst zum Verkäufer, um ihn mit seiner Unterhaltung abzulenken. Es war für Zoras anstrengend genug eine fachmännische Unterhaltung auf kuluarisch zu führen, da musste er nicht auch noch versuchen, den Mann von Omnar abzulenken. Aus irgendeinem Wunder heraus gelang es ihm dennoch und als sie sich eine halbe Stunde später trafen, präsentierte Omnar ihm seinen Fund ganz sachlich.
      "Sieht gut aus. Deins kaputt oder was?"
      "So in etwa."
      Sie gingen weiter, diesmal auf der Suche nach tatsächlichen Besitztümern, die sie sich aneignen konnten, bevor sie zurückgehen würden. Omnar fing an zu plappern und Zoras hörte ihm bald schon nicht mehr zu.
      Der Rotschopf machte den hauptsächlichen Gewinn, Zoras gelang es, ein Silberstück mitzunehmen, das unbeachtet auf einem Tisch herumlag, und außerdem einen herrenlosen Hut. Amateur-Einnahmen, sie waren kaum gut genug, um ein ganzes Zimmer zu finanzieren. Letzten Endes war er eben doch kein Dieb sondern ein Soldat, so oft er es auch versuchen mochte.
      Sie machten einen Abstecher zum Marktplatz, besorgten sich etwas zu Essen und dann trennten sie sich endgültig und ohne noch weiter großartig miteinander zu sprechen. Zoras half, ein paar Kisten im Hafengebiet herumzuräumen, nicht ohne dabei ständig auf das Meer zu glotzen, als könne er nicht genug davon kriegen. Diese Achtlosigkeit sorgte dafür, dass ihm ein Straßenjunge, der ihn ganz offensichtlich als Ausländer identifiziert hatte, den Geldbeutel stahl. Er jagte ihm nach, nur um noch rechtzeitig die Falle zu erkennen, in die der Junge ihn geführt hätte. Stattdessen gab er es schließlich doch wieder auf, setzte sich auf eine Erhöhung, beobachtete den Ozean und stellte sich vor, dass an dessen Ende irgendwo Kassandra saß und auf ihn wartete. Vermutlich wusste sie noch nicht einmal, dass er auf dem Weg zu ihr war, aber es war eine äußerst tröstliche und ermutigende Vorstellung, in irgendeine Eisfestung zu kommen, wie auch immer es letzten Endes dort sein mochte, und Kassandra in den Arm zu nehmen. Sie würde mit ihrem sanften Blick zu ihm aufschauen, vielleicht würde sie ihm auch ein hübsches, bezauberndes Lächeln schenken. Sie würde ihre Finger auf die Narben seiner Arme legen, vielleicht sogar auf seine Brust und sie würde ihm sagen, wie sehr sie ihn vermisst hätte, wie sehr sie all die Jahre gehofft hätte, dass er noch am Leben wäre. Und Zoras würde zurücklächeln, er würde seine rauen, schwieligen Hände in ihr weiches, wallendes Haar schieben und ihr sagen, dass er immer versucht hatte sie zu finden, dass er nie die Hoffnung aufgegeben hätte, sie eines Tages wieder erblicken zu können. Dass er sie auf ewig liebte.
      Als es dunkel wurde und er zurück in ihr Zimmer kam, hatte er den Vorfall mit dem Straßenjungen schon wieder so gut wie vergessen. Amartius kam pünktlich und so lächelte Zoras, als er hereinkam.
      "Komm her, Junge, ich hab was für dich."
      Amartius kam und mit demselben Lächeln hielt er ihm einen kleinen, filigranen Dolch entgegen. Der Griff war stabil und fest verarbeitet, die Klinge zweischneidig, elegant und frisch geschliffen. Sie ähnelte dem Dolch, den Amartius bereits in der Großstadt angesehen hatte, wenn auch nicht vollständig.
      "Du hast ganz herausragende Fortschritte die letzten Wochen gemacht. Ich weiß, dass wir noch nie mit einem Dolch geübt haben, aber vielleicht können wir das nachholen, hm? Ich bin so stolz auf dich, Amartius. Du bist ein ganz vorzüglicher Krieger."
      Er überreichte ihm den Dolch und zog ihn in eine feste Umarmung hinein. In Momenten wie diesen, aber besonders im jetzigen Moment, glaubte er fast, dass seine Liebe zu seinem Sohn alles andere überschatten könnte, dass er sich noch nie in seinem Leben so glücklich gefühlt hatte.
      Noch immer lächelnd trennte er sich wieder von ihm und strich über seinen Kopf, bevor er ihm noch eine Sache überreichte.
      "Hier, noch eine Kleinigkeit für die Überfahrt. Probier mal, das ist Schokolade. Ich würde dir aber raten, nicht alles auf einmal zu essen, damit du auf der Fahrt auch noch was davon hast. Ich fürchte das wird ein langer Weg bis nach Asvoß werden."
    • Es dauerte nicht lange bis Amartius fand, wonach er suchte. Die Küstenstadt war bei Weitem nicht so riesig wie die, die sie bereits besucht hatten und hier hatte er weniger das Gefühl verloren zu gehen. Was nur einige Tage zurücklag, mutete in seiner Wahrnehmung beinahe Ewigkeiten an. So gut erinnerte sich der Junge daran zurück, wie überwältigt er damals gewesen war. Nun trugen ihn seine Schritte deutlich ruhiger und bedachter über den steinernen Boden.
      Der künstlich angelegte Brunnen, der mit groben Steinschlägen errichtet worden war, bildete eine Art Zentrum und Anlaufpunkt dieser Stadt. Das Wasser, das dort frisch sprudelte, war für die Obdachlosen hier einer der wenigen guten Punkte, um klares Wasser zu beziehen. Spannenderweise fand man hier sämtliche Schichten der Bevölkerung jeden Alters vor und spielende Kinder tollten umher nebst jenen, die darauf spezialisiert waren für ihr Überleben Unaufmerksamen das Geld aus den Taschen zu ziehen.
      Zielstrebig steuerte Amartius den Brunnen an und setzte sich auf den rauen Stein. Seine Hände legte er links und rechts von sich auf den Stein und fühlte die darin gespeicherte Wärme. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das, was tief in ihm schlief. Was er mit Zoras nicht hatte üben können war das Auffinden und Erspüren von Auren unter Hunderten. Genau darauf konzentrierte sich Amartius nun, ließ die Magie, die er mittlerweile als solche in seinem Kern ausmachen konnte, anschwellen bis sie sich über die Grenzen seiner Aura hinweg erstreckte. Er sah und spürte unendliche viele Auren zur gleichen Zeit und während sich seine Miene angestrengt verzog konzentrierte er sich weiter und reizte seine Grenze noch darüber hinaus aus. Er fand Faia in nicht allzu großer Entfernung und nach etwas weiterem Suchen Zoras und Omnar. Sie waren noch immer zusammen unterwegs inmitten etlicher anderer Lichter. Die angestrengte Miene wurde weicher, wechselte in ein schmales Lächeln angesichts des Erfolges.
      Amartius legte den Kopf in den Nacken und öffnete die Augen. Über ihm erstreckte sich ein endloses Blau ohne weiße Wölkchen. Nur Vögel zogen über ihre Köpfe hinweg und für einen kleinen Augenblick war es ihm völlig egal, dass er niemals dort oben sein würde. Was er nicht kannte konnte er schließlich auch nicht missen. Ein gedehnter Atemzug entrang sich seiner Kehle als er sich wieder anschickte, aufzustehen und weiter zu pilgern.
      Bis sein Blick auf seine Hände fiel.
      Amartius erstarrte. Die Welt um ihn herum verging in einem Stillstand, wo nur er und das existierte, was er sah. Die Fingerkuppen seiner Hände hatten sich schwarz verfärbt. So schwarz wie die Asche, aus der Phönixe eigentlich wieder auferstanden. Sein Herz überschlug sich während er die Spitzen gegenseitig berührte. Sie waren taub.
      Mit einem weiteren Schlag brach die Welt über ihm zusammen und die Geräusche nahmen Überhand. Die fröhlichen Schreie der Kinder waren zu laut, er vernahm jedes Gespräch und jeden Fetzen zeitgleich während die Sonne ihm auf den Kopf brannte.
      „Scheiße“, fluchte er und ballte die Hände zu Fäusten, damit sie niemand sah. Dann stapfte er los, weg vom Brunnen, weg von dem Zentrum der Stadt in einer Haltung, die so gar nicht zu einem zehnjährigen Jungen passte.

      Das musste auch zwielichtigen Männern aufgefallen sein, die kurze Zeit später dem Jungen wie Schatten folgten. Es war Amartius früh genug aufgefallen, sodass er die zwei Männer ständig per Aura überwachte. Egal, in welches Viertel er ging; sie hingen an seinen Fersen. Mit jeder weiteren Minute, die verstrich, wuchs das Flämmchen, das schon eine geraume Zeit in seiner Brust geschwelt hatte. Er erkannte sie als Zorn darüber an, dass er nach außen hin noch immer so wirkte, wie man es vermutete. Ein hilfloses, kleinen Kind ohne Eltern in passablen Zustand.
      Irgendwann hatte er die Männer in eine weniger stark frequentierte Straße locken können und als er eine Sackgasse fand, reagierte er in einer Kurzschlusshandlung. Er bog in die Gasse ein und ging bis zum Ende, wo er stehen blieb und die Hauswände betrachtete, die sich drohend vor ihm aufbauten. Hier war es dunkel, hier war es leise, hier war es nicht einsehbar.
      Amartius drehte sich um.
      Die beiden Männer versperrten ihm den Weg aus der Gasse. Beide waren bullige Männer mit kräftigen Staturen. Sie trugen nur leichte Kleidung, weite Hemden und Hosen. Einer von ihnen trug ein Schwert an seiner Hüfte, der andere hatte scheinbar zwei Dolche dabei. Niemand von ihnen sagte etwas, doch die Männer schienen ein gewisses Misstrauen zu entwickeln. Jungs im Alter von Amartius hätten jetzt Angst signalisieren müssen. Doch der Halbphönix stand erhobenen Hauptes da, so als könne ihm rein gar nichts geschehen. Er hatte immer noch erstaunlich wenig Gefühl in seinen Fingern und am liebsten hätte er sich einfach nur in eine Ecke gesetzt und gewartet bis die Zeit verstrichen war.
      Dann setzte sich der Mann mit den Dolchen in Bewegung und kam auf Amartius zu. Jener rümpfte nur die Nase und sprach ein Wort der Warnung: „Geht.“
      Die Männer regierten nicht. Wer wusste, ob sie überhaupt eine der Sprachen beherrschten, die Amartius sprach. Im Endeffekt war es auch egal als der Mann seine Hand nach dem Jungen ausstreckte und nach ihm greifen wollte. Da schoss Amartius' Hand nach vorn, packte die des Mannes und riss so kräftig an ihr, dass der bullige Kerl überrascht zu Boden ging. Fast sofort war Amartius auf den Rücken des Mannes aufgesprungen und hatte seinen Arm um dessen Hals gelegt. Dann drückte er zu und hörte sofort, wie der Mann röchelte und kaum noch Luft bekam. Er versuchte mit aller Macht, den Plagegeist auf seinem Rücken loszuwerden. Erfolglos.
      „Na, macht's immer noch Spaß Kinder zu jagen?“, fauchte Amartius ihm ins Ohr und bekam nur ein Röcheln als Antwort.
      Allerdings hatte er den anderen Mann völlig vergessen. Dieser war zur Hilfe seines Kumpels gekommen, packte Amartius an den Haaren und riss ihn von seinem Kumpel herunter. Der Junge kam gerade auf den Boden auf und hob den Kopf, als ein Blitz vor seinen Augen explodierte. Sein Kopf wurde zur Seite geschlagen, dann folgte ein Tritt in seinen Bauch, der ihn bis an die Gemäuerwand trieb. Ihm wich sämtliche Luft aus den Lungen und er krümmte sich.
      „Jungs mit Biss bringen bei den richtigen Leuten deutlich mehr ein“, knurrte der Mann mit dem Schwert, während sein Kumpel sich ebenfalls wieder erhob. „Da interessiert's keinen wie du aussiehst.“
      Amartius verstand sie nicht. Sie sprachen eine Sprache, die er noch nie gehört hatte. Mühselig öffnete er die Augen und starrte die Männer hasserfüllt an. Er wollte sie bluten sehen. Er wollte sehen wie sie ihr Leben aushauchten und dafür bezahlten, was sie ihm und andere Kinder vor ihm angetan hatten. Ohne sein Zutun entfaltete sich Amartius Aura, seine Augen begannen zu glühen. Das veranlasste den Mann mit dem Schwert dazu, seine Waffe zu ziehen und die Augen zusammen zu kneifen. „Was für eine Kreatur bist du, Junge??“
      Amartius ballte die rechte Faust. Schwarze Adern bildeten sich von seinen Fingerspitzen hoch über seinen Handrücken und noch weiter in dünnen Linien seinen Arm hinauf. Sie würde brennen für all das Unrecht, das sie anderen zugefügt hatten.
      Dann sauste etwas durch die Luft und der Mann mit dem Schwert brach zusammen. Reglos sackte er auf den Boden und leere Augen blickten zu Amartius. Aus dem Schädel des Mannes ragte ein dunkelgrüner Pfeil mit hellgelben Federn am Ende.
      „Tu es nicht.“
      Amartius noch immer glühende Augen wanderten zum Eingang der Gasse, wo eine Frau stand. Sie trug einen langen, braunen Mantel, der viel von ihrer Statur verbarg. Ihre kastanienbraunen, langen gelockten Haare hatte sie zu einem einfach Pferdeschwanz nach hinten gebunden und ihre stechend grünen Augen schienen selbst in der Dunkelheit zu leuchten. Sommersprossen überzogen ihre helle Haut und in ihren Händen hatte sie einen Bogen mit einem Pfeil gespannt und ihn auf den letzten Mann gerichtet. Sofort schmeckte Amartius Gräser und Wald auf seiner Zunge. Spürte eine Wildheit, die alles übertraf, was er bisher gefühlt hatte. Und Ehrfurcht, so groß wie noch nie zuvor, machte sich in ihm breit und ließ das Glühen und den Zorn schwinden.
      Ähnlich erging es dem Mann, der regelrecht Panik bekam und seinen toten Freund in der Gasse einfach liegen ließ während er selbst Hals über Kopf die Flucht ergriff. Die Frau ließ ihn passieren, erst dann ließ sie den Bogen sinken und verstaute ihn wieder auf ihrem Rücken. Sie flüsterte etwas leise, doch Amartius hatte jedes Wort verstanden.
      Ihre Augen richteten sich auf den Jungen am Boden. Langsam kam sie auf ihn zu und bot ihm eine Hand an, die er zögerlich annahm und sich richtig hinsetzte. Vor ihm ging sie in die Hocke und tastete sein Gesicht ab, die unwirklich grünen Augen kompromisslos auf ihn gerichtet.
      „Du solltest nicht so zornerfüllt sein. Das ist wider deiner Natur.“
      Amartius' Augen wurden groß. „Woher...?“
      „Du kaschierst deine Aura nicht gut genug. Jeder, der auch nur einen Tropfen Götterblut in sich trägt, hätte dich auffinden können. Woher stammst du? Soweit ich weiß, sind nur Telandir und Kassandra auf der Erde. Gehörst du zu ihnen?“, fragte sie und setzte sich gegenüber an die Wand ohne dem Toten auf dem Boden auch nur einen Funken Aufmerksamkeit zu zollen.
      Amartius war überfordert. Er hatte so eine immense Aura nur bei Telandir und Kassandra bislang gespürt. Was bedeuten musste... „Bist du eine Göttin?“
      Die Frau musterte ihn. „Mehr als deine Mutter es je war. Aber das spielt nun keine Rolle. Es war reiner Zufall, dass ich in der Nähe war. Hat dir Kassandra nie gesagt, dass du dich den menschlichen Emotionen nicht öffnen darfst?“
      Er ächzte, als er seinen Bauch befühlte. „Sie hat nur gesagt, dass....“ Er schluckte. Sie hatte ihm gesagt, dass er niemals dem Neid, der unendlichen Trauer und dem endlosen Zorn verfallen durfte, den die Menschen spürten. Gerade war er verdammt nah dran gewesen. „Warum darf ich das nicht?“
      „Weil Götter verderben und die Menschen sind daran schuld. Du bist zur Hälfte einer und näher dran als wir alle. Wenn du verdirbst, wird jemand kommen und dir dein Leben nehmen, damit du kein Unheil anrichtest. Davor hat sie dich gewarnt.“
      „Oh.“ Das war neu. Kassandra hatte damals nichts davon erwähnt. Vermutlich, weil er einfach zu jung dafür gewesen war. Er dachte kurz nach, dann fiel ihm wieder ein, was er vorhin gehört hatte. „Wer ist Caphalor?“
      Die Frau grinste. „Mein Bogen. Besonders mächtige Waffen verlangen auch einen Namen. Wusstest du das nicht?“
      Amartius schüttelte den Kopf. Dann sah er zurück zum Eingang zur Gasse und als er zurück blickte, um sich bei der Frau zu bedanken, war sie spurlos verschwunden.

      Danach war Amartius beinahe ziellos in den Straßen umher geirrt. Mehrmals hatte er nach Stellen gesucht, um seine Erscheinung zu überprüfen und musste mit Schrecken feststellen, dass man von seiner Auseinandersetzung rein gar nichts sah. Der Schlag hatte keine Spuren in seinem Gesicht hinterlassen und sein Bauch hatte sich ebenfalls wieder erholt. Auch der schwelende Zorn war gewichen, ebenso wie die Schwärze in seinen Händen.
      Als es dunkel wurde und er die Herberge aufsuchte von der Zoras sprach, sah er aus, als sei nichts geschehen. Er war absolut in der Zeit als er sich danach erkundigt, wo ein kräftiger Söldner mit seiner Beschreibung abgestiegen war und trat in das Zimmer, wo Zoras schon auf ihn wartete. Die Wärme, die ihm seitens seines Vaters entgegenschlug, machte die vorherigen Ereignisse beinahe wieder wett.
      Komm her, Junge, ich hab was für dich.“
      Amartius ließ sich nicht zweimal bitten und nahm beinahe ehrfürchtig den filigranen Dolch entgegen, den Zoras ihm hinhielt. Sein Gewicht lag angenehm in seiner Hand während er die Waffe bewunderte und sich zeitgleich dafür schalt, gegen zwei Männer unbewaffnet angetreten zu sein. In nächsten Augenblick fand er sich in Zoras' Armen wieder und schloss die eigenen fest um den Mann. Ohne es zu wissen tröstete er seinen Sohn gerade und es beruhigte seinen aufgewallten Geist ungemein. Jegliche Zweifel, Trauer und Wut wurde von dem übermächtigen Gefühl der Liebe eines Vaters für seinen Sohn übermannt. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte und war sich zeitgleich sicher, dass er diesem Dolch einen Namen geben würde. Irgendwann, wenn ihm etwas Passendes dazu einfiel.
      „Danke, aber ich dachte, wir haben dafür kein Geld“, sagte Amartius und verstummte, als Zoras ihm ein kleines eingeschlagenes Bündel überreichte. „Schokolade? Wofür?“
      Er packte sie aus und begutachtete den braunen Block ausgiebig. Dann brach er wie geheißen eine Ecke ab und steckte sie sich in den Mund. Sofort bekam der Junge riesige Augen und gaffte seinen Vater geschockt an.
      „Das ist unglaublich süß!“, rief er beinahe aus und verstand auf einmal, wieso man ihm riet, nicht alles auf einmal zu essen. Er musste sich hart zusammenreißen, es nicht zu tun und solange davon zu zehren, wie nur irgendwie möglich. Eine Weile schmatzte er, dann sah er seinen Vater an.
      „Wenn wir nach Asvoß übergesetzt haben, kümmere ich mich um das weitere Vorhaben. Ihr sprecht zwar die Sprache, aber bei Weitem nicht so gut wie ich. Ich werde jemanden finden, der uns zur Feste bringt. Oder besser gesagt, in die Stadt vor. Wir müssen nur erst einmal übersetzen. Und dann sind wir schon beinahe bei Kassandra.“
      Angesichts der sich immer weiter häufenden Anzeichen würde es auch dringen Zeit, dass sie ihr näher kamen. Dessen war sich Amartius besser bewusst als alle anderen ihrer Truppe.
    • "Ich habe gut gespart und außerdem habe ich dir einen versprochen, sofern du dich gut mit dem Schwert machst. Mach dir also deswegen mal keine Sorgen."
      Noch immer lächelnd und noch immer durchströmt von der tiefen Zuneigung, die Zoras in diesem Moment seinem Sohn entgegen brachte, beobachtete er, wie Amartius zum ersten Mal in seinem Leben Schokolade aß. Zoras hatte recht schnell gelernt, dass etwas so natürliches wie ein Haus, Süßigkeiten und Früchte alles andere als natürlich waren und der Großteil der Bevölkerung das wenigste davon hatte. Entsprechend überraschte es ihn auch nicht, dass man in einem Eisland nicht viel Schokolade herbekam, nicht einmal in einer Festung, in der es von Göttern wohl nur so wimmelte.
      Bei der Erwähnung dessen, dass sie schon bald nach ihrer Ankunft Kassandra erreicht hätten, grinste Zoras schließlich sogar noch mehr. Es war schon beinahe lächerlich, wie leicht er sich von diesem Gedanken beherrschen ließ, so als hätte er die ganzen letzten Jahre nicht alleine überlebt, als wäre er auf die Gegenwart einer Phönixin angewiesen, die er für gerade Mal ein Jahr an seiner Seite gehabt hatte. Aber er empfand noch immer eine unbeschreibliche Zuneigung zu ihr und er würde alles tun, um sie auch endlich zu finden.
      "Das ist gut. Du wirst dich sicher freuen, nachhause zurückzukommen, oder? Zumindest zu deiner Mutter."
      Telandir war ja auch noch da, aber den überging Zoras geflissentlich. Ihn und das noch immer bestehende Problem, wie sie denn nun in die Eisfestung kommen und Kassandra herausholen sollten.

      Sie stießen am Morgen zum Rest der Gruppe und Faia informierte sie darüber, dass sie am Nachmittag eine Fähre nehmen würden. Es war kein Passagierschiff, denn sowas gab es nach Asvoß nur sehr selten und keiner von ihnen wollte einen Monat auf das nächste warten. Stattdessen hatten sie sich Plätze auf einem Handelsschiff erschlichen unter der Prämisse, dass sie ein wenig bei den Arbeiten aushelfen würden.
      "Deck schrubben und sowas."
      "Wir sollen also dafür bezahlen, dass wir Seemänner spielen dürfen?", beschwerte sich Omnar und Zoras musste ihm ausnahmsweise dabei recht geben.
      "Was wollt ihr sonst in der Zeit machen, rumsitzen und in die Luft starren? Wenigstens bekommen wir was zu tun. Bei gutem Seegang sind wir in zwei Wochen drüben."
      "Zwei Wochen! Und bei schlechtem?"
      "Länger halt. Jetzt beschwer dich nicht und bezahl. Das sind 30 Silbermünzen für jeden."
      "30?! Du hast dich abzocken lassen."
      "Auf dem anderen Schiff würde es dich bestimmt 80 kosten. Außerdem müssen wir nicht für Essen und Wasser zahlen."
      Omnar brummte und bezahlte. Zoras musste tief in seine Taschen greifen, um Faia ausgleichen zu können. Nach dem Diebstahl des Straßenjungen waren es 53 Silber und ein paar Kupfer, die er der Frau unzeremionös überreichte. Faia sah zu ihm auf und runzelte die Stirn.
      "... Ich habe nichts mehr."
      "Du hast auch mal besser verdient."
      "Schon möglich."
      Ihr Blick huschte zwar nur für einen kurzen Augenblick zu Amartius hinüber, aber Zoras verstand trotzdem, was keiner der drei auszusprechen wagte: Der Junge war eine Last und vielleicht war jetzt der Moment gekommen, ihn loszuwerden. Aber Zoras gab ihnen gar keine Gelegenheit, es auch nur vage anzusprechen.
      "Ich bezahle dir den Rest noch. Versprochen."
      Omnar schnaubte, Faia schüttelte nur ein wenig den Kopf.
      "Schon in Ordnung. Wir fahren rüber und sehen dort, welche Arbeiten wir machen können. Vielleicht wird man ja in Asvoß gut bezahlt?"
      "Bestimmt. Das gleiche sagt man dort vermutlich auch über Kuluar."
      Sie packten ihre Sachen und machten sich dann auf den Weg zum Hafen. Dieses Mal blieb Zoras gar nichts anderes übrig, als auf das Frühstück zu verzichten. Sein Geldbeutel war ausnahmslos leer.

      Die Überfahrt war, im Vergleich, sogar recht entspannend. Das Handelsschiff war nicht sehr groß, der Grund vermutlich, weshalb es überhaupt Passagiere mitgenommen hatte, denn sehr viel Umsatz schien es nicht mit dem Handel allein zu machen. Es gab einen Lagerraum, der den Gästen nicht zugänglich war und in dem lagerte, was auch immer sie handelten. Die Seemänner wussten auf Rückfrage hin auch nicht, was genau sie dort transportierten und der Kapitän zeigte sich zwar mehrmals täglich, schien es aber als nicht notwendig zu empfinden, mit dem Besuch zu plaudern. Also blieb es einfach bei einer namenlosen Fracht.
      Sie bekamen eigene Kojen in den Kajüten zugewiesen, die klein, eng und stickig waren. Dreimal täglich gab es etwas zu Essen und dazwischen durften sie Reinigungsarbeiten verrichten. Nachdem keiner von ihnen Ahnung von Schiffsfahrt besaß, übernahmen sie tatsächlich Aufgaben wie das Deck zu schrubben, die Latrinen zu leeren, das Wasser zu wechseln, die Wäsche zu waschen. Amartius durfte wegen seiner schmächtigen Statur in der Küche aushelfen und Faia beorderte man zum Waschdienst. Die drei Männer durften bei sengender Hitze das Deck polieren, manchmal begleitet von lästernden Bemerkungen der Seeleute, die in den Takelagen hingen. Zoras machte das nichts aus, er war es in gewisser Weise gewöhnt, einen Dienst auf Händen und Knien zu verrichten, der selbst für die niedrigsten Angestellten noch zu niedrig war. Ausnahmsweise genoss er die Geräusche des Schiffes, seine mal sanften und mal weniger sanften Bewegungen und die Tatsache, dass er endlich wieder in einem halbwegs ordentlichen Bett schlafen konnte. Er sah nach Amartius, wenn er mal an der Küche vorbei kam, erkundigte sich danach, ob es ihm gut ging, und wenn sie dann ihre paar Stunden Freizeit am Tag hatten, legte er sich hin und schlief, bis ihn wieder jemand weckte. Eigentlich war es sogar ganz angenehm. Er hatte das Gefühl, sich ohne den Stress und mit der eintönigen Bewegung, sich von etwas zu erholen, das er so nicht wirklich hätte greifen können.
      Je näher sie Asvoß kamen, desto kälter wurde die Luft, bis die Landmasse schließlich in der Ferne auftauchte. Es dauerte noch weitere Tage, bis sie wirklich anlegen konnten, aber schon aus der Ferne waren die Eismassen beachtlich. Zum ersten Mal überkam Zoras wieder eine Art Sorge, ob sie es wirklich schaffen würden, in eine Festung einzudringen und eine Phönixin zu befreien. Nicht, dass er seine Meinung geändert hätte, dafür waren sie jetzt wohl schon zu weit. Dennoch nagte es mit jedem weiteren verstreichenden Tag mehr an ihm und er wünschte sich sehnlichst, endlich mit Kassandra sprechen zu können, mitunter auch, um mit ihr zu planen.
      Dann kam der Tag ihrer Ankunft und sie stiegen aus in einer höchst unbeeindruckenden Hafenstadt, wie sie auch Ellspiahafen gewesen war. Auch hier gab es einen Markt und auch hier war er recht befüllt, aber auf Zoras machten die Menschen allesamt einen recht bedrückenden Eindruck. Vielleicht war es, weil sie sich gegen die Kälte zu vermummen versuchen, vielleicht, weil er jetzt ständig an Kassandra und die Eisfestung denken musste. Er musste einfach zu ihr, jetzt, als er ihr so nahe war, sogar noch dringlicher als jemals zuvor. Er musste Kassandra sehen, das war ihm so bewusst wie der Drang nach Essen um zu überleben.
      "Wo lang?", fragte er an Amartius gerichtet, in dem Unterbewusstsein, dass der Junge sich schon auskennen würde. Sie würden alle erstmal suchen müssen und dann würden sie sich erst richtig auf den Weg machen müssen.
    • Die sich deutlich abkühlende Luft war das erste Indiz, dass sich das Schiff Asvoß näherte. Noch immer segelten Vögel über ihren Köpfen hinweg und kleinere Schiffe und Fischerboote kamen ihnen entgegen, aber die leichte und teils luftige Kleidung sah man immer weniger. Als das Handelsschiff in den Hafen von Runalf einlief, wurde das Bild komplett einheitlich. Die Menschen hier, egal welcher Arbeit sie nachgingen, waren bis zum Anschlag in Fellen eingehüllt. Einige von ihnen hatten selbst ihr Gesicht vermummt, wenn sie dem ständigen Wind ausgesetzt waren. Dies hätte auch für Amartius gelten sollen, doch seine Natur begünstigte den Umstand, dass ihm auch so warm genug war. Er teilte seine Aura vorzugsweise mit Zoras, damit dieser trotz seiner geringen Kleidung ebenfalls nicht fror. Waren die restlichen Mitglieder ihrer Truppe bei ihm, erweiterte er seinen Einfluss auf sie. Wenn auch nur soweit, dass sie nicht so bitterlich froren, wie es eigentlich der Fall hätte sein sollen.
      Ihr Atem bildete Wölkchen vor ihren Mündern als sie die ersten Schritte auf Asvoß machten und Amartius sich schlagartig wieder an die Kälte erinnerte. Eine Kälte, die ihm bis ins Mark dringen sollte, es allerdings nicht tat. Sein Blick ging zu dem Rest der Gruppe, die zwar nicht bis an die Zähne dick eingepackt waren, aber sich immerhin etwas rüsten konnte. Die zweieinhalb Wochen auf dem Schiff hatte sie alle mehr oder weniger gut durchgefüttert zurückgelassen, sodass sie ihre Reserven größtenteils wieder aufstocken konnten. Diese Zeit hatte Amartius ebenfalls weiter mental altern lassen, sodass er immer öfter nicht mehr wie das Kind wirkte, das er einst gewesen war. Irgendwann würde er die Fassade nicht mehr aufrecht erhalten können. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er während der Schifffahrt manchmal aufgewacht war und seine Arme bis zu den Ellbogen schwarz angelaufen waren. Es dauerte eine geraume Weile und eine deutliche Verschiebung seiner Aura, bis er sie wieder normal gefärbt hatte und er spürte, dass es immens an seinen Reserven zog. So als würde das Schicksal ihm bedeuten, dass, je näher er seinem Ziel kam, umso mehr einbüßen musste. Bis zum heutigen Tage hatte er diese Phänomene vor seinem Vater geheim halten können.
      Amartius hielt die Gruppe kurzzeitig an und atmete tief durch. Er sandte seine Sinne aus, ortete sich und lokalisierte die Richtung, in die sie zu ziehen hatten. Doch zunächst mussten sie einmal herausfinden, ob sie laufen oder ein anderes Fortbewegungsmittel finden könnten. Kurz sah er sich um und stellte fest, dass es hier nicht ein einziges Pferd gab. Oder zumindest kein einziges sah.
      Lasst uns erst einmal ein wenig gehen. Ich muss schauen, ob wir ein Fortbewegungsmittel oder so finden. Und Proviant brauchen wir eigentlich auch, ganz zu schweigen von Geld.“
      Damit führte der Junge die Gruppe an und fühlte ein seltsames Gefühl nach Heim kommen, während er um sich herum fast nur asvoßisch und gebrochene Varianten davon hörte. Er schmunzelte während er so daran dachte, dass er es sogar auf den Kontinent zurück geschafft hatte, von dem er verschleppt worden war. Er, ein Kind, das keine Ahnung von dieser großen weiten Welt hatte.
      Der Tonfall der Menschen hier war generell eher rauer Natur. Sie wirkten barsch und hart von der Modulation ihrer Sätze her, was größtenteils der Kälte geschuldet war. Sie waren an einem Tag eingelaufen, wo es weder schneite noch stürmte und somit als gutes Wetter galt, doch die Gemüter blieben allgemein erkaltet. Waren wurden nicht offen der Kälte ausgesetzt sondern nur in Kisten transportiert. Solchen Kisten wie in dem Schiff, von dem sie nie erfahren hatten, um welchen Inhalt es sich handelte. Auch Sklaven oder Obdachlose fand man hier nicht. Primär weil die Kälte kurzen Prozess mit solchen Menschen machte. Egal, wie sehr sie die Kälte kannten.
      So schlugen sie sich durch die geschäftigen Straßen mit Leuten, die sich häufig zum Verwechseln ähnlich sahen. Sie verließen dabei den direkten Anschluss an das Wasser und erkundeten ein wenig mehr von der Stadt ehe sie an den Ausläufern eben jener ankamen. Es gab keine Mauern oder Tore, die die Stadt umschlossen. Sie endete praktisch mit den letzten Häusern im buchstäblichen Nichts. Hinter Runalf erstreckte sich eine Tundra mit Nadelbäumen und niedrigem Gestrüpp. Ein Flachland, das auf den ersten Blick gar nicht so feindlich aussah. Trotzdem runzelte Amartius die Stirn während er sich die Ausläufer so besah. Wenn er sich recht entsann, dann gab es in Asvoß nicht einmal Bäume. Nur Eis soweit das Auge reichte. Was bedeutete, dass dort, wo sie hingingen, es noch Kälter sein musste. Und dafür waren Zoras und die Anderen noch nicht gerüstet. Also musste Ausrüstung her.
      Die Feste ist umringt von Eis. Dort gibt es fast keine Vegetation mehr, also muss es dort noch deutlich kälter sein als hier. Wir brauchen bessere Ausrüstung, wenn wir ins Landesinnere vorstoßen wollen“, sagte Amartius.
      Bevor er eine Antwort bekommen konnte, krachte es einige Meter von ihnen entfernt und die Gruppe wirbelte herum. Ein einziger, etwas älter wirkender Mann hatte sichtlich Mühe ein Tier, das aussah wie ein stark beharrter Auerochse, im Zaum zu halten. Das Tier war vor einen riesigen Wagen gespannt worden und hatte ausgetreten, was die Deichsel leicht beschädigt hatte. Er rang mit dem Tier, das sogar größer war als er, und redete permanent auf es ein. Offensichtlich hatte er mehr Probleme als wirklich Erfolg.
      „Hilf ihm!“, wies Amartius seinen Vater an, der hoffentlich auch mit Rindsvieh gut umgehen konnte.
      Dieser griff beherzt in den Zaum des Ochsen und schaffte es tatsächlich mit beruhigenden Worten und Gesten das Tier wieder in den Griff zu kriegen. Der Mann, sein Bart nahm mehr von seinem Gesicht ein als alles andere, schnaufte sichtlich erschöpft und musterte die unerwarteten Helfer. „Danke?“
      Amartius schmunzelte. So wortkarg kannte er die Leute eher. „Kein Problem. Was hat das Tier denn so aufgewühlt?“
      Der Mann schniefte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Scheint wohl einen Wetterumschwung zu spüren. Wollochsen merken das“, gab er zurück und stierte auf den Halbphönix runter. „Wieso reist ein Balg mit Söldnern?“
      „Weil die Söldner nicht so gut asvoßisch sprechen“, grinste Amartius und machte eine Geste, die so viel bedeutete wie Dafür bezahlen die mich immerhin auch. „Die wollen zur Eisfeste und ohne Sprachkenntnisse wird das schwierig.“
      Der Mann betrachtete den Rest der Gruppe wobei sein Blick einen Moment zu lange auf Faia hängen blieb. Erneut schniefte er und schob Zoras unwirsch von seinem Ochsen weg. „Dann hoffe ich, euer Führer ist auch von hier.“
      „Führer?“
      „Ja, oder wollt ihr ohne einen Führer nach Asvoß? Dann könnt ihr auch gleich genug Holz für einen Scheiterhaufen mitnehmen.“ Er tätschelte seinen Ochsen, der so tat als sei nie etwas gewesen. „Ich dachte, du kommst von hier, Junge?“
      Erwischt. „Muss ja nicht heißen, dass ich schon mal zur Feste gereist bin. Ich komm aus dem Osten, da hängt man zwischendrin.“ Sie beäugten sich einen Moment lang.
      Der Mann nuschelte irgendetwas in seinen Bart und ließ die Gruppe einfach so stehen. Er stieg auf seinen Wagen auf und nahm die Leinen in die Hand. „Golm.“
      Amartius sah ihn verständnislos an. „Hä?“
      „Golm. Mein Name.“
      „Ah.“
      „Wollt ihr mit?“
      Amartius blinzelte und verkniff sich gerade rechtzeitig noch, große Augen zu Zoras zu machen. „Gegenleistung?“
      „Ihr seid doch Söldner. Olaf und ich sind allein, wenn Eiswölfe oder Frostwyrme kommen, war es das mit meiner Karawane. Das solltet ihr doch schaffen, oder?“
      Amartius drehte sich jetzt doch zur Gruppe um. „Kriegt ihr das hin?“
      Zumindest wäre das ihr Ticket, um Infos zu erhalten, einen Führer zu bekommen und vermutlich sogar problemlos zur Feste zu gelangen.

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    • Trotz der eindeutig niedrigen Temperaturen, spürte Zoras kaum etwas mehr als den gelegentlichen Wind, der ihm über die Haut strich. Die Temperaturen in Kuluar waren schon den therissischen ähnlich gewesen, wenn auch teilweise spürbar wärmer, und dort hatte Zoras noch nie Probleme mit seiner Kleidung gehabt. Hier würde er sich aber binnen weniger Stunden unterkühlen, wenn er nichts passendes zum Anziehen bekam - der Umstand, dass ihm jetzt nicht kalt war, lag ganz sicher an Amartius. Allerdings sollte die Gegenwart des Halbphönix unter keinen Umständen irgendwie bekannt werden, wodurch er doch nicht abgeneigt war, auf seine Wärme zu verzichten. Zumindest schienen die anderen nichts davon mitzubekommen, denn Faia krempelte sich die Ärmel ganz hinab und Tysion vergrub seine Hände in den Taschen. Zoras tat es ihnen gleich, nur um nicht aus der Reihe zu tanzen.
      So setzten sie sich in Bewegung, eine höchst merkwürdige Gruppe aus offensichtlich Fremden, die einem nicht mehr ganz so kleinen Jungen hinterherliefen. Amartius war gewachsen in den letzten Tagen der Reise, vermutlich von dem ausreichenden Essen, das er dort zum ersten Mal erhalten hatte. Es ärgerte Zoras nicht ungemein, dass er die offensichtliche Tatsache außer Acht gelassen und Amartius seine eigene geldsparende Diät aufgezwungen hatte, wenn er ihn stattdessen hätte durchfüttern müssen, damit er seiner Mentalität gemessen auch physisch aufwuchs. Sicherlich war es auch nicht verkehrt, denn sonst wären sie schon längst in Erklärungsnot gelangt, aber es ärgerte ihn trotzdem. Amartius war sein einziger Sohn und er wollte ein guter Vater sein, jetzt, wo er überhaupt mal die Chance dazu bekommen hatte. Von jetzt an würde er darauf achten, dass der Junge ordentlich essen konnte.
      Sie waren durch einige Straßen mit genauso finster dreinblickenden Menschen gelaufen, die die Gruppe oder wahlweise auch Amartius kritisch betrachteten und hatten dann auch schon beinahe den Rand der Stadt erreicht, wenn man das überhaupt so nennen konnte. Zoras runzelte die Stirn in Anbetracht dessen, dass die Hausreihen einfach aufhörten und durch nichts geschützt waren, aber für Asvoß war das vermutlich normal. Wohl genauso normal wie die ansteigende Kälte, die sie wohl noch erwarten würde.
      "Noch kälter?", wiederholte Faia ungläubig und schlang jetzt ganz offen die Arme um ihren Oberkörper. Sie zitterte nicht, so etwas weibisches würde Faia wohl niemals tun, aber sie war wohl ziemlich nahe daran zuzugeben, dass es hier kalt war. Sie hatte auch von ihnen allen am wenigsten Polsterung, wenn man Amartius außenvor nehmen wollte. Wobei Omnar auch nicht unbedingt allzu kräftig gebaut war.
      "Na das kann ja lustig werden", brummte besagter Rotschopf, bevor ein Krachen sie allesamt - sogar Amartius - herumfahren ließ. In einiger Entfernung stand ein Kutscher mit seinem Tier, das aussah wie der nordische Cousin eines Ochsen und machte Gesten, die man auch ohne ein Wissen über das Land verstehen könnte. Das vergleichsweise riesige Tier warf den Kopf herum und stierte den Mann mit seinen kleinen Augen nieder, ein kräftiges Schnauben aus seinen Nüstern stoßend.
      Alle fünf gafften ein wenig, bevor Zoras etwas perplex zu Amartius sah.
      "Ich soll ihm helfen? Wirklich?"
      Befremdet darüber, dem Mann scheinlichst aus purer Nächstenliebe helfen zu müssen und nicht etwa, um danach eine Bezahlung von ihm zu erhalten, ging er hinüber und stellte sich neben den Kutscher, der ihn zuerst gar nicht richtig wahrnahm, ihm dann aber einen höchst garstigen Blick zuwarf, als er nach dem Geschirr des Tieres griff. Allerdings hatte es aber wohl einen Vorteil aus einem anderen Land zu stammen, denn wo die Sprache der Asvoßer hart und ruckartig klang, konnte Zoras in seinem beschwichtigenden therissisch mehr Farbe und Schwung hervorzaubern. Er redete auf das Tier mit derselben tiefen Stimme und Sanftmut ein, die er auch bei all seinen Pferden verwendete und der Ochse drehte seinen gigantischen Kopf in seine Richtung. Es benötigte besonders viel Muskelkraft in den Armen, um den riesigen Kopf daran zu hindern, sich wieder zur Seite zu drehen, und es benötigte ein äquivalentes Risiko, die Hand auf seinen Nüstern abzulegen, aber schließlich ließ er sich davon beschwichtigen. Er schnaubte Zoras an, und scharrte schließlich mit den Hufen, ein Zeichen, mit dem sich der Söldner zufriedengeben konnte.
      Noch immer etwas befremdet trat er einen Schritt zurück und beobachtete Amartius dabei, wie er sich dem Mann annäherte. Er verstand ein paar Fetzen dessen, was die beiden redeten und mit sehr viel Mühe hätte er sich vielleicht auch mit dem Mann, der sich wohl Golm nannte, kommunizieren können, aber vermutlich nicht ohne dabei übers Ohr gehauen zu werden.
      Schließlich stieg er auf und Amartius kommunizierte, dass sie mit der Kutsche reisen könnten, wenn sie als Gegenleistung Schutz boten. Das war nun deutlich eher nach Zoras' Verständnis, aber er sah sich dennoch nach Faia um, die seinen Blick erwiderte und mit den Schultern zuckte.
      "Besser als gar nichts. Was wollen wir hier sonst machen?"
      Also stimmten sie zu und stiegen hinten in den Wagen hinein, um es sich dort zwischen den Handelswaren gemütlich zu machen. Zwar klärte sie niemand darüber auf, ob Eiswölfe gewöhnliche Wölfe wären oder was zum Teufel Frostwyrme waren, aber Zoras hatte genug Vertrauen in ihre Fähigkeiten als Gruppe, um mit allem fertig zu werden, solange es nicht unbedingt um einen Phönix mit einem Namen beginnend mit T handelte.
      So setzte sich der Wagen langsam in Bewegung und damit war viel eher Schritttempo, als ein gewöhnliches Wagentempo gemeint. Der Ochse war nicht schnell, oder vielleicht war der Wagen auch zu schwer oder beides, aber sie hatten keine gute Geschwindigkeit drauf, mit der sie irgendetwas hätten erreichen können. Das musste auch den anderen auffallen, denn Tysion machte es sich bequem, Omnar seufzte gequält und ließ den Kopf nach hinten fallen und Faia ging endlich dazu über, die Beine anzuziehen und erste Anzeichen von Kälte zu zeigen. Die Frau würde sich als erste einkleiden, damit wären wohl alle einverstanden, auch ohne darüber gesprochen zu haben. Gleich nach Amartius.
      "Ich wusste gar nicht, dass du Ochsen bezähmen kannst, Ischyll."
      "Hm."
      "Ist auch nicht schwierig, wenn man selbst einer ist."
      "Omnar."
      Der Rotschopf grinste, Faia verdrehte die Augen und ignorierte ihn.
      "Wo hast du das gelernt?"
      "Habe ich nicht."
      "Aber du konntest es."
      "Sowas lernt man nicht. Alle Zugtiere sind ähnlich."
      "Aha."
      "Ich hatte eine Pferdezucht Zuhause. Daher kann ich das."
      Faias Augen wurden größer, Omnar hob ein wenig den Kopf an, Tysion sah zu Zoras hinüber. Das war die erste Information, die er ihnen jemals über seine Vergangenheit hatte zukommen lassen. Zoras wusste nicht einmal, weshalb er das offenbart hatte, wahrscheinlich, weil er bald mit der ganzen Wahrheit herausrücken müsste: Wer Kassandra war, wer Amartius war, wer er war, was ihn hierher geführt hatte. Vielleicht war es daher nicht schlecht, langsam anzufangen, aber schon als er damit herausgerückt hatte, wusste er schon, dass er es nicht wollte. Er wollte diese Fremden, die ja doch irgendwie seine Freunde, aber längst nicht seine Vertrauten waren, nicht offenbaren, welche Missgeschicke ihm in seinem Leben unterlaufen waren. Er wollte es eigentlich niemandem offenbaren und daher schwieg er wieder, auch wenn es für einen Moment still genug war, dass er es näher hätte erläutern können.
      "... Deswegen kriecht er jedem Gaul in den Arsch."
      "Omnar!"
      "Ist doch so. Wundert mich gar nicht - auch wenn du nicht wie ein Pferdezüchter aussiehst, Ischyll. Die sind normalerweise ihrem Beruf entsprechend aufgebaut: Frauenlos, schlacksig, klein, schwächlich..."
      "Stimmt doch gar nicht. Er ist das perfekte Beispiel, dass nicht alle so aussehen."
      "Ich wette er hat mal so ausgesehen. Wie ein richtiger Pferdezüchter eben. Jetzt ist er ja keiner mehr."
      "Du bist doch nur neidisch, dass er mal einen richtigen Beruf hatte. Das hatte Tysion übrigens auch, nur du bist irgendwie immer auf der Straße gelandet."
      "Was kann ich denn dafür? Wenn mir niemand sein Geld ehrlich geben will, nehme ich mir es halt."
      "Du könntest so viel arbeiten, du bist immer so fleißig! Stell dir nur mal vor du würdest irgendwo..."
      Ihr Gespräch driftete ab und Zoras hörte schon gar nicht mehr zu. Er warf Amartius einen kurzen Blick zu, dann sah er nach draußen auf der Suche nach ankommenden Gefahren. Bis auf endlose Ebenen voller Gestrüpp und hin und wieder Anhöhungen, konnte er aber nichts dergleichen erkennen. So wie es schien, waren sie sogar die einzigen Lebewesen in ganz Asvoß, die unterwegs waren.
      Gegen Nachmittag hin nahm der Wind wieder zu und irgendwann fing Faia auch an zu zittern und setzte sich etwas weiter ins Innere des Wagens. Das war auch der Moment, in dem Zoras auffiel, dass Amartius auffällig wenig auf das Wetter reagierte, also neigte er sich zu ihm.
      "Der Wind ist relativ kalt - versuch, es ein bisschen der Frau nachzumachen und zitter ein wenig. Steck dir die Hände in die Taschen und sowas, dir müsste eigentlich viel kälter sein in den wenigen Sachen, die du anhast."
      "Ischyll", quengelte Faia schon, weil er nicht auf kuluarisch sprach und daher setzte er nach:
      "Ist dir kalt?"
      Er unterzog Amartius eine kritische Prüfung und ließ sich von ihm zeigen, wie er zitterte. Das war gut genug, es würde reichen. Es war besser, als sofort aufzufallen.
      "Wir besorgen uns schon schnell was zum Anziehen, Amartius, nur keine Sorge. Setz dich ein bisschen weiter vom Rand weg, hier geht der Wind nicht so sehr."
      Zoras widmete sich wieder dem Blick nach draußen, um einen Teil dazu beizutragen, weshalb sie hier mitfahren durften.
    • Amartius hatte sich recht weit im Inneren des Wagens verschanzt. Er hatte es nicht sein lassen können und untersuchte die Kisten sporadisch, wenn Golm nicht hinsah. Größtenteils waren es wirklich nur Stoffe und Lebensmittel, die die Kälte gut überstanden, die der scheinbare Kutscher transportierte. Das gemächliche Tempo sprach darüber hinaus noch weitere Bände. Wenn man genauer hinter die Kisten sah, waren dort Gerüstteile und Planen aufgewickelt und extra Kisten beschriftet worden, wo sich sein eigener Proviant befand. Der Mann war für eine elendig lange Reise aufgestellt und wenn man sich besah, wie gemütlich der Ochse trottete, dann war das auch mehr als nur angebracht.
      Golm verlor während der Fahrt kein einziges Wort. Vermutlich lauschte er dem seltsamen Trupp an Leuten, die ihn nun begleiteten und vor Viechern schützen sollten, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatten. Amartius schenkte währenddessen nur den Sticheleien von Omnar und Faias Geplänkel seine Aufmerksamkeit und achtete darauf, das Level an Wärme so zu halten, dass niemand ernsthafte Erfrierungen davontragen würde. Irgendwann frischte der Wind jedoch wieder auf, sodass sein Einfluss nicht mehr reichte und Faia zu zittern begann. Er selbst hingegen, mit deutlich weniger Speck am Leib, verzog nicht einmal eine Miene. Geschweige denn eine rote Nase.
      Ist dir kalt?“
      Amartius verzog betroffen das Gesicht, dann folgte er dem Ratschlag, den sein Vater ihm gegeben hatte und steckte schuldbewusst die Hände in die Taschen. „Ein bisschen vielleicht?“
      Also setzte er sich auf Faias Wunsch um und verbrachte dort den Rest der Zeit bis zum Abend in dem Versuch, Kälte zu spüren, die er nicht kannte.
      Gegen Dämmerung hatte Golm eine kleine Gruppe von Kiefern angepeilt, die im Schutze eines Hügels wuchsen. Er parkte den Wagen zwischen den Bäumen und sprang vom Wagen noch während die Söldner aus dem Hänger stiegen. In Windeseile hatte der Mann den Ochsen losgemacht und ihn an eine der Kiefern gebunden, um ihm dort Heu aufzuhäufen. Dann wandte er sich an Amartius als Sprachrohr, der von nun an alles Wichtige direkt übersetzte.
      Ihr sollt die Planen aus dem Wagen nehmen und zwischen den Bäumen spannen. Mit den Pfosten könnt ihr sie ankern und so ein Dach spannen.
      Amartius selbst machte sich daran, Holz zu sammeln. So errichteten sie ein geschütztes Lager unter der Plane, das von zwei Seiten vom Wind vollkommen geschützt war und zwei Seiten zur freien Sicht offen ließen. Einige Zeit später saßen sie um ein prasselndes Feuer zusammen während Golm in einem Gusseisernen Topf etwas anrührte, das verdächtig nach einem Eintopf aussah.
      „Wieso braucht man einen Führer nach Asvoß?“, fragte Amartius irgendwann, der sich etwas entspannte als er nicht ständig seinen Einfluss erweitern musste. „Und was sind Frostwyrme?“
      Ohne einen Führer verirrt man sich in der Eiswüste, die um Asvoß liegt. Außerdem übersieht man gerne Eisspalten und dringt in das Gebiet der Wyrme ein, wenn man nicht weiß, wo sich ihre Reviere befinden. Hier draußen sind die Menschen nicht das Problem, sondern die Natur selbst.“
      „Hm...“, machte Amartius nur und ließ seinen Blick über die Weite schweifen. Er fühlte keine Auren im Umkreis außer ihre hier am Feuer. Er war also das beste Frühwarnsystem, das sie hatten.
      Frostwyrme sind wie Drachen ohne Flügel. Sie graben sich im Boden und Eis voran und können meinen Ochsen mit einem Schlag verschlingen. Leicht reizbar und eigentlich eher selten gesehen. Aber wenn, dann spürt man zuerst die Erde beben und weiß, dass einer nah ist. Die sind größer als das größte Handelsschiff, das ihr kennt.“
      Also groß. Sehr große Wesen, denen sie nicht unbedingt über den Weg laufen wollten. Wie zur Hölle kam man auf die Idee, sich in so einem Raum anzusiedeln?
      Früher sind Krieger mit den Karawanen mitgegangen. Sie alle trugen legendäre Waffen und Rüstungen, solche, die mit Namen ausgestattet worden waren. Als die Angriffe weniger wurden und es nicht mehr lukrativ war, strichen die Krieger ihre Segel und zogen anderweitig als Söldner in Kriege. Schien wohl besser zu sein. Wieso seid ihr eigentlich auf der Reise nach Asvoß?“, richtete Golm seine Worte an Zoras und Tysion, nachdem er Omnar nicht wirklich für voll nahm. Dabei schöpfte er Eintopf aus dem Kessel und reichte die Schüsseln weiter.




      Die letzte Stunde war die Schlimmste gewesen.
      Der Schmerz war zu einer nie enden wollenen Welle geworden, die drohte, Kassandra am Ende vollständig zu verschlingen. Sie dachte, es würde sich nichts daran ändern wie es beim ersten Mal gelaufen war und dass sie diese Schmerzen ein weiteres Mal überstehen würde. Doch dieses Mal schien alles anders zu sein. Dieses Mal hatte es gerade einmal einen Monat von der Empfängnis bis zur Geburt gedauert und das rapide Wachstum hatte seinen Tribut gefordert. Die Frau, die dort im Bett lag, war beinahe nicht mehr als Kassandra zu erkennen gewesen. Ihre Haare waren komplett ergraut, tiefe Falten durchzogen ihr einst so makelloses Gesicht. Die wachen Augen waren getrübt, ihre Haut nicht mehr so strahlend und straff wie einst. Schweiß überströmt lag sie in dem Bett, das im unteren Abschnitt von ihrem Blut getränkt worden war. Man hatte das kleine Bündel direkt in Empfang genommen und in den Nebenraum gebracht, um es zu versorgen. Zurück ließ man nur die Mutter und den dazugehörigen Vater, der am Kopfende des Bettes Kassandra zur Seite saß und ihr nicht eine Sekunde lang von der Seite gewichen war. Er hatte ihre Hand gehalten bis zu dem Moment, wo die Kraft sie vollständig verließ. In Telandirs Augen lag keine Sorge, nur eine überschwängliche Liebe während er seiner Geliebten beim Sterben zusah.
      „Bald ist es vorbei, Liebste“, hauchte er ihr zur und küsste ihre leblos anmutende Hand.
      Kassandra, die ihren trüben Blick weiterhin nach oben gerichtet hielt, blinzelte. „Ich kenne den Ablauf.“
      Telandir nickte und betrachtete die Hand in seinen eigenen. Ihre Finger hatten sich bereits schwarz verfärbt und dünne Linien zogen sich ihre Arm hinauf. An ihren Beinen geschah dasselbe und kündigten den baldigen Verfall an. Bis zur letzten Sekunde wünschte sich Kassandra, dass der Zyklus einmal in der Geschichte der Phönixe versagte. Dass sie ein einziges Mal nicht wiedergeboren wurde, sondern dass ihr so viel Energie genommen wurde, dass sie nicht erneut auferstehen konnte. Mit jeder Faser ihres Körpers hoffte sie, nicht ein weiteres Mal diesen Akt durchleben zu müssen. Nicht mitansehen zu müssen, wie ihr Kind, der erste reinblütige, auf Erden geborene Gott überhaupt, zu einem Diener der Menschheit erzogen wurde. Die Machtlosigkeit hatte sie am Ende doch eingeholt und so akzeptierte sie den Lauf der Dinge und schloss die Augen.
      Die Schwärze breitete sich über ihren Körper aus und nahm jede einzelne Zelle ein. Sie stieg bis zu ihrem Hals und darüber hinaus, ließ alles verkohlen und schloss sich schließlich kreisförmig um Kassandras Gesicht. Telandir sah ihr seelenruhig dabei zu, wie auch der letzte Flecken Haut zur Asche wurde und die Hand, die er noch immer hielt, zu Staub zerfiel. Er sah den Moment, wo sie den letzten Atemzug tat und ihr Licht erlöschte. Als käme ein Wind auf, unmöglich in den Gemäuern der Feste, zerfiel ihr Körper zu einem Haufen Asche, der nur noch anmuten ließ, dass dort einst ein Körper lag. Erst als der Spuk vorbei war, erhob sich Telandir.
      „Ich passe solange auf unser Kind auf. Lass dir nicht zu lange Zeit.“
      Dann verließ er den Raum und das Bett, das Zeichen von Asche und Blut trug.
    • Gegen Abend machten sie wohl schlussendlich Halt, auch wenn Zoras es im ersten Moment gar nicht als Halt erkannte und nur meinte, der Ochse bräuchte eine Verschnaufspause. Dann wies Golm sie allerdings eindeutig an ein Lager zu errichten und so bereiteten sie sich auf die erste Nacht vor, die sie in dieser Kälte verbringen würden. Ohne Amartius hätte Zoras schon längst daran gezweifelt, dass es eine angenehme Nacht werden würde.
      Sie setzten sich um ein Wärme spendendes Feuer und Golm fing an, eine Art Eintopf anzurühren. Zoras gefiel es nicht, wie sehr sie sich bereits abhängig von dem Mann gemacht hatten: Er hatte das Essen, er hatte die Unterkunft, er hatte auch die Orientierung. Sie waren nur einen Tag lang gereist und das nicht unbedingt in vollster Geschwindigkeit, aber es sah hier alles gleich aus und Zoras war sich nicht sicher, ob er den Weg zurückfinden würde. Natürlich wäre der Mann im Zweifel in der Unterzahl und könnte sich wohl kaum gegen alle vier gleichzeitig verteidigen, aber wenn er sie in eine Falle locken würde, würden sie es bis zur letzten Sekunde nicht bemerken und das gefiel dem Söldner nicht. Er war viel lieber auf sich selbst angewiesen, allein schon um einer solchen Gefahr zu umgehen.
      Also betrachtete er den Mann etwas misstrauisch, während er das Essen entgegennahm und sich anhörte, was es mit der Eiswüste und den Wyrmen auf sich hatte. Amartius übersetzte nur das nötigste, aber es reichte dennoch aus, um ihnen ein recht unangenehmes Bild ihrer bevorstehenden Reise zu vermitteln. Keiner von ihnen hatte wohl Lust, sich durch eine Wüste aus Eis und Eisspalten zu kämpfen, genauso wenig wie ihnen das Bild eines riesigen, schiffgroßen Drachen ohne Flügel gefiel. Wie sollte man sich denn gegen so etwas verteidigen, ihn etwa mit ihren Waffen pieksen? Zoras sparte sich die Nachfrage, um nicht das vollständige Bild zu erwecken, dass die vier keine Ahnung hatten, auch wenn das der Fall war. Faia warf einen vielsagenden Blick in die Runde, der aber nur von Omnar erwidert wurde.
      Schließlich brachte der Händler auch seine eigene Neugier zum Ausdruck, was wohl nur verständlich war. Die Frage war nur, ob er aus reinem Interesse fragte, oder ob noch mehr dahinter stecken musste.
      Selbst nachdem Amartius übersetzt hatte, herrschte für einen langen Moment weiterhin Stille. Golm sah erwartungsvoll zu Zoras und Tysion, die beide keinen Ton antworteten, schweigend wie immer, während Faia Zoras' Blick suchte. Sie hatten nicht abgesprochen, was sie Leuten erzählen sollten, die danach fragten. Sie hatten ja immerhin nicht damit gerechnet, dass man nach dem Grund ihrer Reise fragte.
      "... Religion?", schlug Faia schließlich vor und Zoras zuckte unsicher mit den Schultern. Das war wohl besser als gar nichts.
      "Sag ihm, wir sind sehr religiös und wir sind auf einer Pilgerreise, bei der wir einen kalten Ort aufsuchen müssen. Für eine Art Meditation, mit der wir unseren Gott anbieten können. Unsere Götter, meine ich - nordische Götter, ja, das ist gut. Oh, vielleicht fragst du ihn auch gleich, ob er weiß, wie man in die Feste hineinkommt. Ob er einen Hinweis hat?"
      Golm schien Faia kaum wahrzunehmen, wartete wohl eher auf die Antwort von einem der Männer, aber Tysion regte sich nicht und Zoras probierte etwas von dem Eintopf, den sie vorgesetzt bekommen hatten. Es schmeckte fad und lustlos, vermutlich war es hier schwierig, viele Gewürze zu bekommen. Außerdem war es größtenteils nur Suppe, nicht viel zum Kauen. Zumindest besser als gar nichts.
      "Frag ihn auch, wie weit es wohl sein wird. Und bedank dich bei ihm für das Essen und alles - und sag ihm, wir werden ihn ganz sicher vor allen möglichen Gefahren hier draußen schützen."
    • Amartius übersetzte zwar das meiste Gesagte sofort und ohne Probleme, aber sein Hauptaugenmerk lag darauf, die Umgebung im Blick zu behalten. Dabei entging ihm nicht das Misstrauen der kompletten Gruppe, außer von Golm selbst. Entweder war er wirklich tiefenentspannt und die Leute hier waren generell weniger misstrauisch oder er war einfach nur naiv. Oder...
      Einen Wyrm wollte der Halbphönix sicherlich einmal gesehen haben. Allerdings war ihm genauso sehr bewusst, dass sie mit ihren derzeitigen Mitteln vermutlich nicht mehr waren als Flöhe auf dem Ungetüm. Er dachte an die Frau in der Gasse zurück. Wenn er so eine Waffe gehabt hätte, eine mit Namen, dann würde man vielleicht sogar einen Wyrm zumindest aufschrecken lassen können.
      Auf die Frage hin, was die Gruppe in Asvoß zu suchen hatte, blickte er möglichst entspannt zu Faia und Zoras herüber. Der Vorschlag, es mit Religion zu versuchen, konnte bitter nach hinten losgehen. Amartius hatte nie gehört, dass man in diesem eisigen Land bestimmte Gottheiten anbetete und wenn er es sich recht überlegte, war das mit Sicherheit auch fraglich wenn man bedachte, wie viele Demataya allein schon um sich geschart hatte. Dieser Gedanke brachte ihn jedoch auf eine Idee und er verwarf die Antwort mit der Religion eigens.
      „Die Vier hier suchen die Nähe der Götter“, fing Amartius dann an und hatte den Blick unentwegt auf Golm gerichtet, der gerade Omnar eine Schale gereicht hatte und die nächste befüllte. Er durfte den Moment nicht verpassen, in dem die Gefühle den Mann verrieten. „Bis nach Kuluar kam die Kunde, dass die Herzogin Demataya Götter um sich schart. Man sagt, sie habe ungewöhnlich viele Champions und dass man als Gewöhnlicher niemals näher an den Himmel herankäme.“
      Ihm war bewusst, dass alle aus der Gruppe Stückhaft verstanden, was der Junge da gerade erzählte. Zumindest, dass er von der Story der Religion abwich. Wie erwartet ließ Golm den Löffel im Topf ruhen und seinen Blick auf den Jungen richten, der makelloses asvoß sprach. Sofort fühlte Amartius nach und war für einen Augenblick irritiert. Er fühlte rein gar nichts von diesem Mann.
      Gut, die Zarin macht nicht unbedingt ein Geheimnis daraus, dass sie etliche Champions besitzt. Wie viele genau es sind wird nur gemunkelt. Genauso wie man munkelt, dass sie neuerdings ein Phönixpaar hat. Man überlegt es sich zweimal ob man ein Land angreift, dass unter dem Schutze von etlichen Göttern steht, ne?“
      Irgendwas war seltsam an der Art, wie Golm Amartius ansah während er sprach. Ihm wurde unbehaglich zumute, was sich dadurch äußerte, dass er mehrmals hin und her rutschte. Auch das übersetzte er am Ende für den Rest der Gruppe, damit sie den genauen Wortlaut hatten.
      „Warum hat sie eigentlich so viele?“ Das war eine Frage, die ihm seither auf der Seele brannte.
      Golm zuckte mit den Schultern und reichte Amartius eine weitere Schale. „Macht? Angst? Gründe sind vielseitig. Wäre sie machtgierig, dann hätte sie ihre Champions längst auf andere Länder gehetzt. Ich schätze, die Olle hat Schiss vor irgendwas. Es haben eh nur eine handvoll Leute die Zarin außerhalb der Feste jemals gesehen und manche behaupten sogar, dass sie gar nicht existiert. Aber wieso sonst sollte ein Feuervogel immer wieder hin und her fliegen?“
      Ein Feuervogel. Man hatte also Telandir gesehen und sehen lassen. Als Beweis dafür, dass sie zumindest einen Champion besaß und sich zur Wehr setzen würde. Die Frage war nur, gegen was?
      Amartius fragte ihn weiterhin nach der Dauer bis zur Feste. Golm hatte sich derweil am Feuer niedergelassen und die Decke, von denen er noch mehrere hatte, bis zum Kinn hochgezogen. „Ohne Zwischenfall und Stürme ein paar Tage. Olaf ist nicht der schnellste, aber der widerstandsfähigste. Wir nähern uns der Feste nie sondern halten nur in der angrenzenden Stadt. Keiner nähert sich der Feste, der kein Anliegen dort hat.“
    • Amartius vermittelte zumindest den Kernpunkt der halben Geschichte, die sie sich gerade aus dem Finger gezogen hatten, und das sollte wohl ausreichen. Zoras bezweifelte stark, dass nicht schon jemand anderes auf die vielen Champions von Demataya aufmerksam geworden war und die Zarin vielleicht sogar aufgesucht hätte, daher war es wohl nicht allzu offensichtlich. Er trank, oder aß, von seiner Schüssel und beobachtete den vermummten Händler.
      Amartius stellte Fragen, die durchaus auch Zoras interessiert hätten, und so gab er sich die größte Mühe, Golm bereits zu verstehen, bevor der Junge übersetzte. Es war also den Bewohnern von Asvoß selbst ein Rätsel, was die Zarin mit so vielen Champions anfangen sollte und vermutlich auch, warum sie sich zwei Phönixe angeeignet hatte. Schließlich war Zoras auf den selben Schluss gekommen wie auch Golm, nämlich dass es bei dem offensichtlich fehlenden Einsatz der Champions um etwas anderes gehen musste als um Macht und Einfluss, besonders, nachdem die Zarin selbst die Feste kaum verließ. Also war es der Schutz, aber vor was? Was auf der ganzen Welt konnte es geben, das nicht nur zwei Phönixe, sondern auch eine ganze handvoll anderer Götter benötigte? Etwa Frostwyrme? Hoffentlich nicht, denn sonst wäre Überleben aussichtslos, wenn sie doch auf einen stießen. Vielleicht andere Götter? Welcher Gott könnte mächtig genug sein, dass es mehrere seiner Brüder und Schwestern benötigte, um ihn aufzuhalten? Zeus oder Hades vielleicht? Aber es war wohl kaum vorstellbar, dass der Göttervater höchstpersönlich auf die Erde hinabgestiegen wäre und seine Essenz abgegeben hätte, denn das hätte man sicherlich gemerkt. Und wenn es eine ganze Gruppe anderer Götter wäre? Eine Gruppe, so wie die Zarin eine versammelte, die mit der ihren zusammenstieß und um was-auch-immer kämpfte? Auch das hielt Zoras für unwahrscheinlich - obwohl, er hielt es nicht dafür, er betete darum, dass es unwahrscheinlich war. Ein Kampf zwischen zwei Göttern mochte glimpflich ausgehen, so wie auch der Kampf der beiden Phönixe kaum Einfluss auf seine Umwelt gehabt hatte, aber ein Kampf zwischen zweier Gruppen an Göttern verschiedenster Art? Allesamt auf einem Haufen, allesamt in dem Versuch, sich gegenseitig zu vernichten? Das konnte kaum ungesehen bleiben. Die Vernichtung eines Gottes konnte ja kaum lange verheimlicht werden.
      Kritisch dachte er weiter darüber nach, während Amartius das Gespräch lose aufrecht erhielt. Sie sollten den Mann wohl weiter darüber ausfragen, nachdem er sich so offen gab - wer wusste schon, wie viel Informationen die Leute in der Stadt herausgeben würden? Faia neigte sich zu Omnar und murmelte irgendwas.
      "Amartius, frag ihn, was er über die Zarin oder die Eisfestung weiß. Über ihre Geschichte. Woher die Zarin kommt, warum die Eisfestung irgendwann gebaut wurde. Frag ihn, was man so über die Champions sagt."
    • Ohne Umschweife gab Amartius die Fragen weiter. Golm musterte den Jungen für einen Augenblick, so als kamen ihm langsam doch Zweifel, was die äußerst ambitionierten Fragen sollten.
      Was man über die Zarin und die Feste weiß? Die Feste existiert schon so lange wie das Eisland selbst. Keiner weiß, wer sie errichten ließ. Die war schon immer im Besitz der Zarenfamilie und Demataya ist die letzte der Blutlinie. Sie ist jung zur Zarin geworden nachdem ihre Mutter wohl erfroren war und ihr Vater durch eine Krankheit verstarb. Man sagt, dass sie in ihren jungen Jahren eine großmütige Frau gewesen war.“
      Großmütig? Demataya? Das konnte sich Amartius beim besten Willen nicht vorstellen. Sie wirkte nie blutrünstig auf ihn, aber die Kälte war nie aus ihrer Art wegzudenken gewesen. Wobei das vielleicht auch einfach der Tatsache geschuldet war, dass Amartius nicht das gewesen war, was sie eigentlich haben wollte. Er war jedoch schlau genug, nichts in dieser Riege zu sagen, dass eine Verbindung von ihm zur Zarin auch nur vermuten ließ.
      „Also ist irgendetwas vorgefallen? Du scheinst die Geschichte gut zu kennen...“, meinte er stattdessen leise und rührte durch den dünnen Inhalt seiner Schale.
      Golm schmatzte bevor er weitersprach: „Es macht früher oder später die Runde, wenn die Zarin von heute auf morgen ihre Feste nicht mehr verlässt und kaum jemand sie je wieder gesehen hatte. Böse Zungen behaupten, dass ein Sklavenhändler ihr einen Champion unter der Hand angedreht hat, der ihr den Verstand geraubt hat. Man weiß ja nie, was diese Kreaturen wirklich bezwecken.“
      Etwas in Amartius' Innerem verkrampfte sich und sein Hunger verging ihm langsam. Kreaturen... Er hatte nicht mal den Wyrm als Kreatur bezeichnet. Scheinbar betrachtete man die versklavten Gottheiten hier auch nur als das, was sie sprichwörtlich waren. Eine Gefahr, die es unter Verschluss zu halten ging, wenn man kein Unheil auf die Welt loslassen wollte. „Weiß man, welcher es war?“
      Natürlich nicht, Junge. Man munkelt. Gerüchte. Können auch alle nur dem Kopf eines Trunkenboldes entsprungen sein“, antwortete Golm und füllte noch etwas Schnee in den Topf zum Schmelzen für Trinkwasser nach. „Mit Sicherheit kennt man nur den einen Phönix, der immer wieder ein und aus fliegt. Und, dass sie zumindest einen namenhaften, echten Gott in ihrer Gewalt hat. Und mit dem hält sie ihre anderen, kleineren Champions wohl in Schach. Aber wie gesagt, irgendwann wird auch Demataya ins Gras beißen und langsam wird die Zarin zu alt, um Nachfolger zu zeugen.“
      All dies gab Amartius an den Rest der Gruppe auf kuluarisch weiter. Golm schien in diesen Augenblicken eher dem Schmelzwasser seine Liebe zu schenken, aber angesichts der fremden Sprache war es ihm nicht zu verübeln.
      „Also wissen die Leute hier auch nicht genau, welche und wie viele Götter die Zarin besitzt. Außer, dass sie einen Großen dabei hat und das wird wohl problematisch. Ich würde sagen, wir halten den Plan bei, dass wir Faia als Bedienstete reinschmuggeln. Wenn Demataya die Feste wirklich nie verlässt, dann braucht sie Personal. Auch wenn ich nie welches gesehen habe.“ Sein Blick driftete zu Zoras ab, dann wechselte er ins therissische, ungeachtet der empörten Blicke Faias. „Was ist, wenn Demataya keinen menschlichen Nachfolger auserkoren will? Wenn sie deswegen einen Nachkommen von Kassandra haben will, um ihn nach ihrem Gutdünken zu erziehen und dann einen Gott auf die Welt loslässt, der sich wie ein Mensch verhält?“
    • Selbst die Geschichte über die Eisfeste und die Zarin selbst gab nicht mehr Auskunft darüber, als sie bereits eh schon wussten oder vermuten mochten. Es musste etwas vorgefallen sein, ganz sicherlich, andernfalls würde man wohl kaum auf die Idee kommen, sich einen Haufen Champions anzueignen, aber der Grund hörte sich sehr vage an. Ein Sklavenhändler, der ihr einen Champion angedreht hätte, der ihr den Verstand geraubt hatte? Welcher Gott könnte das sein? Morpheus wäre sicherlich dazu in der Lage, wenn er seine Träume ordentlich sponn, aber mit einem derartigen Effekt? Vielleicht Loki? Der Olymp möge sie alle bewahren, falls der Gott seinen Einfluss schon unter den Menschen ausgebreitet hätte.
      Aber auch darin fanden sie keine Anhaltspunkte. Ganz im Gegenteil, es war nicht einmal sicher, ob Golms Informationen der Wahrheit entsprachen. Nur das mit Telandir war natürlich sicher, weil man ihn immerhin auch mit eigenen Augen beobachten konnte. Keine sehr gute Aussicht wenn man bedachte, dass der Feuervogel jederzeit am Himmel auftauchen könnte.
      Zumindest letzteres war wenigstens für Zoras recht informativ. Als ehemaliger Herzog, der selbst nie geheiratet, geschweige denn Kinder bekommen hatte - zumindest während seiner Amtszeit - konnte er das Gefühl nachempfinden, dass einem die Zeit wegzulaufen drohte. Zwar hatte er sich nie der Gefahr ausgesetzt gesehen, das Herzogtum an eine andere Familie zu vermachten, nachdem Ryoran schließlich einen Sohn bekommen hatte, aber Teal war ja dennoch nicht sein eigener Nachfolger. Vielleicht war es ein Akt der Verzweiflung? Oder der Kompensation? Die Zarin wollte mit den Göttern schaffen, was sie allein nicht zustande brachte?
      Er kratzte sich am Kinn, während alle vier Amartius' Übersetzung lauschten. Bekräftigend nickte er.
      "Sie muss Bedienstete haben, Champions werden kaum die Betten beziehen. Vielleicht ist es gut, wenn du Faia begleitest, Tysion. Ein alter Mann und eine Frau werden keine Bedrohung darstellen."
      Tysion sah knapp in seine Richtung und dann zu Faia, die nur ein kurzes Brummen von sich gab. Omnar wirkte beleidigt, dass man ihn so einfach überging und widmete sich seiner Schüssel.
      Zoras sah wieder zu Amartius, der mit seinen eigenen Überlegungen fortfuhr.
      "Aber wieso muss es ein Phönix sein, wenn sie so viele Champions hat und vielleicht noch mehr haben kann? Was hat sie von einem Phönix, der die Eisfestung beherrscht? Und wieso würde ein Halbgott nicht ausreichen, wieso muss es ein vollwertiger sein? Was hat sie davon, einen Gott auf ihrem kleinen Thron sitzen zu haben, wenn sie selbst gestorben ist?"
      Er stellte die Schüssel ab und sehnte sich mit einem Mal nach einem ordentlichen Zelt, nach einem Tisch, nach Papier und Stift und nach einem ordentlichen Plan, dem sie sich hätten widmen können. Nach irgendetwas, um in diese Sache Struktur zu bringen.
      "Wir müssen herausfinden, welches Ziel sie verfolgt. Und vor allem, wie das mit den beiden Phönixen zusammenhängt."
      Faia blinzelte ihn an.
      "... Sind wir nicht primär hier, um deine Frau zu befreien? Und ein paar Sachen mitgehen zu lassen?"
      Richtig, da war ja was.
      "Ja. Aber wir können sie nur von dort wegholen, wenn wir wissen, auf was wir uns einstellen müssen. Und dazu gehört, welche Beweggründe die Zarin hat, denn vielleicht werden wir ihre Pläne kreuzen. Darauf müssen wir vorbereitet sein."
      Faia zog skeptisch die Augenbrauen zusammen und Omnar gab ein Geräusch von sich, das sich wie Lachen anhörte. Nur Tysion machte eine ernste Miene und hob überraschend das Wort.
      "Er hat recht. Wir müssen wissen, welche Champions auf der Festung sind. Wir müssen auch wissen, was sie plant, damit wir vorhersehen können, wie sie ihre Champions bewegt."
      Alle anderen sahen schweigend zu Tysion in Erwartung einer weiteren Erläuterung, aber er sagte nichts weiter dazu. Schließlich schien Faia sich geschlagen zu geben.
      "Meinetwegen, dann lüften wir halt auch das Geheimnis um die Zarin, wenn wir schonmal hier sind. Wird das extra bezahlt? Ich fürchte nicht."
      "Frag mal, ob die Zarin eine ordentliche Schatzkammer hat, Junge", grinste Omnar.
      "Ach, halt die Klappe, Omnar. Frag ihn das nicht, Amartius, bedank dich lieber bei ihm, er hat uns schon sehr geholfen. Vielleicht weiß er, wo wir in der Stadt einen geeigneten Führer finden? Und wo wir uns um eine Stelle in der Festung bewerben könnten?"
    • „Überleg doch mal kurz. Es ist das erste Mal, dass es ein Götterpaar auf der Erde ist. Es ist das erste Mal, dass sie zusammen einem Menschen dienen. Namenhafte Götter zeugen keine Nachkommen mit anderen Göttern, aber Phönixe sind quasi eine Unterart. Eine Rasse für sich. Und immer noch einem Halbgott überlegen. Vielleicht sehen wir etwas nicht, das für Demataya offensichtlich ist?“
      Amartius hatte wieder auf therissisch mit Zoras gesprochen, um seine Gedanken nur mit ihm zu teilen. Dem Einzigen, der wusste, dass sich ein besagter Halbgott in ihren Reihen befand. Es bestand noch immer die Möglichkeit, dass die Dame wirklich einfach nur den Verstand verloren hatte. Aber dann würde Telandir ihr nicht einfach so folgen. Irgendwo hatte sich ein Fehler in ihrer Berechnung eingeschlichen, sie mussten ihn nur noch finden.
      Er wechselte flüssig auf kuluarisch, als er sich in die Unterhaltung mit der restlichen Truppe einklinkte: „Ich muss Faia Recht geben. Wir wollen meine Mutter befreien, da sollte es egal sein, welche Beweggründe sie hat für ihr Tun. Sicher, wir müssen damit kalkulieren, was uns potenziell im Weg stehen kann, aber...“ Er brach ab. Zoras' Planung war mit dem Wissen aufgestellt, dass es eben um einen dieser Phönixe ging. Da niemand wusste, wer Kassandra war, war ihre Reaktion nur verständlich. Spätestens wenn Faia und Tysion in die Feste eingeschleust würden und sie das erste Mal auf Kassandra trafen, war die Sache sowieso aus den Fugen geraten.
      In der Stadt gibt es nur Führer, die euch wieder zurück zur Küste bringen. Was ihr in der Stadt dort macht bleibt euch überlassen. Es gibt keinen Ratgeber, wie man die Feste am Besten ansteuert. Man bittet wohl... um eine Audienz, schätze ich“, antwortete Golm auf die Fragen hin und begann damit, das Feuer zu sichern und die benutzten Töpfe einzusammeln. „Ihr solltet euch für die Nacht fertig machen. Bleibt im Wagen, dort zieht der Frost nicht so scharf an. Nehmt euch was von den Stoffen, ich hab nur einen Schlafsack für mich und Olaf kuschelt nicht gern.“
      Damit war die erste Runde inmitten der beißenden Kälte eines unbekannten Kontinents abgeschlossen. Wie angeraten bezogen sie ihre Stätte im Wagen, der dank der Positionierung komplett im Windschatten lag und mit den zig Bahnen an Stoffen beinahe gemütlich wirkte. Auch wenn sie sich alle recht nah beieinander in den Wagen packen mussten, um ihre Körperwärme auszunutzen.
      Amartius hatte allerdings nur darauf gewartet, dass alle eingeschlafen waren, um dann seinen Vater anzustupsen und ihn dazu zu motivieren, mit ihm nach draußen zu gehen. Möglichst leise stiegen sie über die Anderen hinweg und kletterten aus dem Wagen, um sich an die glimmende Feuerstelle zu setzen. Der Mond stand hoch über ihren Köpfen und dankenderweise war kein Sturm aufgezogen. Nichts regte sich, eine absolute Stille herrschte vor, die manchmal von Schnarchen oder Schnauben durchbrochen wurde.
      Amartius setzte sich nah an Zoras heran und hüllte ihn in seine Aura, damit er die beißende Kälte nicht mehr spürte. Als er sich sicher war, dass sonst niemand ihnen direkt lauschte, begann er leise auf therissisch zu reden.
      „Etwas stimmt nicht. Telandir und Kassandra müssten unsere Auren erkannt haben sobald wir vom Schiff gegangen sind. Wenn das so wäre, dann hätten wir längst Kontakt mit Telandir gehabt. Etwas oder jemand sorgt dafür, dass man unsere Auren nicht spürt.“ Seit sie vom Schiff getreten waren, hatte er konsequent seine Aura ausgestreckt und gefühlt. Aber nicht ein einziges Mal war ihm etwas göttliches untergekommen. Das war so verdächtig, dass die Unruhe ihn nicht zum Schlafen kommen ließ.
      „Außerdem musst du ihnen sagen, dass Kassandra einer der Phönixe ist. Wenn wir Faia erfolgreich einschleusen und sie nach ihr Ausschau halten soll, wird sie früher oder später erfahren, wer wir sind. Du solltest es nicht drauf ankommen lassen.“
    • Zoras hätte gerne viel zu Amartius gesagt, allen voran, dass es dennoch kein Phönixpaar hätte sein müssen, dass es sicherlich eine andere Rasse oder wenigstens ein anderes Paar hätte geben können. Aber selbst Zoras, der in einem championlosen Land aufgewachsen war, wusste genug über die Götter und alle ihrer Artgenossen, dass es nicht viel Auswahl in derartigen Gefilden gab und dass es auch kein anderes Phönixpaar hätte geben können. Kassandra war bekanntlich die einzige, längste Phönixin auf Erden und Telandir mochte mitunter nur wegen ihr heruntergekommen sein.
      Also schwieg er und beobachtete die Unterhaltung, in Gedanken noch immer bei Kassandra und einem Phönix, dem menschliche Werte zugetragen werden sollten - natürlich vorausgesetzt, der Junge behielt mit seiner Annahme recht.
      Leider wusste auch Golm nicht, wie man genauer zur Festung hätte kommen können, was ja noch zu schön gewesen wäre um wahr zu sein. Sie mussten sich wohl ihren Weg alleine suchen, was zwar kein allzu großes Problem darstellen würde, aber mit jeder weiteren verstreichenden Sekunde, in der Zoras mehr über Asvoß und über die Zarin erfuhr, erschlich ihn das Gefühl, das die Zeit drängte. Kassandra war vor Jahren schon entführt worden, sie war seit Jahren schon in Gefangenschaft und hatte sich schließlich auch gefügt, wofür Amartius Beweis genug war, und doch schien es ihm so, als wäre es erst eilig geworden, als Zoras von ihrem Aufenthaltsort erfahren hatte. Und je näher sie der Festung kamen, desto schneller mussten sie sein.
      Sie beendeten ihr Abendessen und zogen sich in den Schutz des Wagens zurück, nicht lange allerdings, bis Amartius Zoras wieder weckte. Bereitwillig löste er sich von dem Haufen, den sie zu viert in dem engen Raum gebildet hatten, und schlich nach draußen, um sich mit seinem Sohn zurück an das mittlerweile herunter gebrannte Feuer zu setzen. Eigentlich hätte es vermutlich eiskalt sein sollen, jetzt, wo keine Sonne mehr schien und nichts mehr übrig blieb als die eisige Luft und der zugefrorene Boden, aber Zoras spürte kaum mehr als eine Gänsehaut. Es musste an Amartius liegen, das spürte er mittlerweile selbst.
      Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb ihn die Worte seines Sohnes selbst so alarmierten. Er hatte zwar selbst keinerlei Vorstellung davon, wie weit die Aurensicht eines Phönixes gehen mochte und ob sie wirklich so viel Fläche über Asvoß reichte, aber wenn der Halbphönix schon nichts bemerkt hatte, musste das auch für andere gelten.
      "Telandir wird uns kaum auf ein Bier einladen, wenn er mit uns Kontakt aufnimmt, oder?", brummte er und wollte dabei gleich in den Himmel sehen, nur dass die Plane im Weg war. Nein, er hatte wirklich kein Bedürfnis dazu, den Feuervogel am Himmel zu entdecken. Lieber wären ihm zehn Frostwyrme, als dass Telandir auch nur in ihre Nähe kam, bevor sie darauf vorbereitet wären.
      Besonders Amartius' letzte Bemerkung ließ ihn allerdings aufsehen.
      "Etwas oder jemand? Welche Macht könnte es geben, die Auren voreinander verstecken kann? Wieso überhaupt? Wen könnte es interessieren, ob man unsere Auren entdeckt?"
      Nachdenklich kratzte er sich am Kinn, während er sich vorzustellen versuchte, dass eine Gottheit die aktive Entscheidung machte, Auren zu verbergen.
      "Aber andere Auren kannst du normal spüren? Es liegt also nicht an etwas Allgemeinen, sondern an... übermenschlichem?"
      Das wäre zumindest ein Anhaltspunkt, dass es tatsächlich gezielt geschah. Aber weshalb? Welchen Gewinn hatte man durch so eine Kleinigkeit?
      Er versuchte es sich vorzustellen, aber es hatte keine Aussicht, nicht wenn er schon die erste Regel der Kriegsführung nicht erfüllen konnte: Kenne deinen Feind. Also ließ er sich von Amartius auch getrost wieder ablenken.
      "Ich werde es ihnen noch rechtzeitig sagen, mach dir nur keine Sorgen darum."
      Fast hätte er es dabei belassen, wenn ihm da nicht eingefallen wäre, wie schnell Amartius in den letzten Wochen schon wieder aufgewachsen war. Der Junge war zwar sein Sohn, sein recht kleiner noch dazu und es war schwierig, jemals aus der Vorstellung zu kommen, dass er naiv und hilflos war und ja nicht alle Kleinigkeiten der Welt erfahren müsste, die ihm unnötig schaden könnten, denn Amartius war mittlerweile weit entfernt von einem Zehnjährigen. Eigentlich war er viel näher an einem Zwanzigjährigen und dafür hatte Zoras ihn sowieso schon viel zu wenig in seine Machenschaften eingeweiht.
      "... Ich warte noch auf den richtigen Moment. Die drei kommen aus Kuluar und dort haben Champions und deren Träger eine besondere Stellung, die nicht gerade von den meisten akzeptiert wird. Ich muss sie schonend darin einweihen, ich weiß nämlich nicht, wie sie dazu stehen werden."
      Er warf seinem Sohn einen Blick zu.
      "Wie viel traust du dir zu, wenn wir Kassandra dort herausholen? Wir werden an ihre Essenz kommen müssen und mit ihr kann Kassandra uns helfen, aber wie viel bis dorthin? Meinst du, du kannst Telandir beschäftigen? Für einen kurzen Augenblick, wenn möglich? Vielleicht sogar weglocken? Ohne dein Leben unnötig zu riskieren, das setze ich voraus."
    • „Wenn Götter den Verstand von Menschen so leicht beeinflussen können, wieso sollten sie nicht selbst Dinge tun, die keinen Sinn ergeben?“
      Amartius hatte die Beine angezogen und seine Arme um sie geschlungen. Sein Kinn lag auf seinen Knien während er in die letzte Glut schaute und grübelte. Die Frau im Hafen von Kuluar hatte ihn problemlos auffinden können. Kaum hatten sie eine Fuß auf Asvoß gesetzt, waren sie wie vom Radar gelöscht. Es dauerte eine geraume Weile ehe er einen Verdacht hegte, der sekündlich größere Bewandnis bekam.
      „Ich kann alles spüren, ja. Ich weiß ganz genau wie es um jeden steht, der hier mit uns reist. Ich kann die Nagetiere unten im Boden fühlen, ich spüre sogar die Schneehasen. Seitdem wir hier sind habe ich permanent meine Aura ausgestreckt, damit ich frühzeitig etwas bemerke. Aber bis jetzt kam nichts Bedrohliches in meine Reichweite.“ Das bis jetzt hing schwer im Raum und betonte eine Wahrscheinlichkeit, die früher oder später einsetzen würde. „Was ist, wenn jemand unser Vorhaben gut heißt?“
      Amartius kannte nicht den Götterhimmel und seine Bewohner. Wenn er es täte, wären ihm vermutlich einige Namen eingefallen, die er nun hätte nennen können. Doch so tappte er im Dunkel und schlussfolgerte nur aus dem, was sich vor ihm ausbreitete. „Was, wenn jemand weiß was wir vorhaben und uns unterstützt? Denk doch mal nach, die Hölle würde losbrechen wenn Telandir uns fände. Und ich garantiere dir, dass er sich aufgemacht hätte sobald er dich erkannt hätte. Eigentlich hätten wir niemals so nah an die Feste herankommen dürfen. Ist das nicht schon fast zugünstig gefallen für uns?“
      Bedenken blitzte das erste Mal in seinen dunklen Augen auf. Er mochte die große Unbekannte nicht, die ihnen offensichtlich in die Karten spielte. Entweder das, oder Telandir und Kassandra waren anderweitig abgelenkt, um zu bemerken, wer sich ihnen näherte.
      Und dann war da noch die Sache mit den Trägern und den Essenzen selbst. Das Thema war Amartius dermaßen fern, dass er nicht nachvollziehen konnte, warum Zoras seine Gefährten nicht einweihte. Weder kannte er die Sklavenschaft noch wie Menschen damit umzugehen mochten. Himmel, er kannte ja nicht einmal sein eigenes Potenzial zur Gänze. Er seufzte und fing dabei den Blick seines Vaters auf.
      „Ich werde tun, was nötig ist. Demataya wird nicht das Problem sein, denke ich. Ihr das Amulett zu entwenden dürfte sich als weniger schwierig erweisen. Hauptproblem wird Telandir und wer-weiß-noch sein. So gern ich dir sagen würde, dass ich Telandir ablenken kann – er nimmt mich nicht als Gefahr wahr. Er liebt Kassandra, so sehr, dass er seine Konkurrenten direkt eliminieren wird. Und das bist leider du.“
      Deswegen war Amartius Telandir solch ein Dorn im Auge gewesen. Er stammte von einem anderen Mann ab und ihn täglich zu sehen erinnerte Kassandra an eben jenen Mann. Ihr Herz war an jemand anderen gefallen und Telandir setzte sich mit all seiner Macht daran, diese Erinnerung aus ihrem Kopf zu brennen. Er würde zwar nicht blind, aber unabbringbar hinter Zoras' Leben her sein, das er nur durch Kassandra bereits einmal verschont hatte. Ein zweites Mal würde es bei ihm nicht geben.
      „Solange ich keine ernsthafte Gefahr für ihn darstelle, wird er erst dir nach dem Leben trachten. Ich fürchte, dass Kassandra dich kein zweites Mal retten wird. Phönixe erlangen ihre Macht mit zunehmenden Alter; deswegen war Kassandra Telandir damals wohl auch unterlegen. Er ist ein wenig älter, also eher erschaffen worden als sie. Scheinbar macht das unheimlich viel aus. Wie soll ich ihn denn ernsthaft ablenken können?.... Das kann ich nur, wenn ich mit Mama in Kontakt käme.... Es ist also... schwierig.“
      Wieso sollte jemand es begünstigen, Zoras und ihn in Kassandras Reichweite zu bringen? Im schlimmsten Fall würde sie sie beide sehen und bezeugen, wie Telandir ihre Liebsten vor ihren Augen niedermetzelte. Das würde ihr vermutlich den Todesstoß versetzen.
      Amartius blinzelte.
      „Hast du schon mal gehört, dass Götter verderben können?“, fragte er plötzlich und Argwohn lag in seiner Stimme.
    • "Hm. Auch wieder wahr."
      Zoras starrte auf die verglimmende Feuerstelle vor ihnen. Er starrte auch weiterhin darauf, als ihm ein knappes Lachen entfuhr, ein einziges, geräuschvolles Grunzen, das seine Schultern zucken ließ.
      "Wenn jemand unser Vorhaben gut heißt? Etwa die Götter im Olymp?"
      Seine Stimme nahm einen bitteren Tonfall an, obwohl er es eigentlich nicht wollte. Zoras hatte nie jemand anderen als sich selbst dafür verantwortlich gemacht, wie die Dinge gelaufen waren, und ganz bestimmt betrieb er keine Blasphemie gegen dieselben Götter, die ihm die Tore des Jenseits öffnen sollten. Aber bei Amartius' Worten konnte er einfach nicht anders, als eine gewisse Bitterkeit zu verspüren.
      "Niemand weiß, dass wir hier sind. Es würde mich sogar verwundern, wenn jemand wüsste, dass wir überhaupt noch am Leben wären. Aber selbst, wenn die Götter uns vom Olymp aus zusehen und bekennen würden, dass sie unser Vorhaben gut fänden, würde keiner von ihnen den Finger heben, um zu helfen - nicht für uns. Die Götter helfen, wen sie ihrer Hilfe als würdig erachten und das sind Menschen - oder auch andere Götter - die sich von der Masse abheben. Könige vielleicht und Eroberer und Helden, aber nicht wir. Nicht Leute, die nichts dazu beitragen, dass die Welt so ist, wie sie ist. Wir sind nur ein Staubkorn unter vielen und du bist auch nur ein halber Gott. Vielleicht mag man uns mit viel Fantasie zu Kassandras Gefolgschaft zählen, aber Phönixe sind auch nicht unbedingt mächtig genug, dass man jeden einzelnen beschützen würde. Ich möchte deine Idee nicht ganz verwerfen, Amartius, aber ich kann es mir bei bestem Willen nicht vorstellen. Die Götter haben keinen Grund dazu, einem gescheiterten Herzog und einem Halbphönix zu helfen."
      Auch wenn es schön gewesen wäre, auch wenn Zoras nichts gegen die Vorstellung einzuwenden gehabt hätte, dass irgendwo dort draußen ein Gott saß, der zur Abwechslung nicht versuchte, ihn umzubringen oder ihn mit Träumen zu füttern, die seine Seele zerfraßen. Ja, eigentlich wäre es sogar recht hilfreich, wenn dieser Gott ihre Auren verbarg und wenn er auch noch zur Stelle sein würde, um die Tore der Festung für sie aufzuschließen. Vielleicht wäre er ja sogar nett genug, sie gleich der Zarin vorzustellen? Zoras musste bei dem Gedanken doch kurz schmunzeln.
      Aber es war ausgeschlossen. Wenn er eins wusste, dann war es, dass die Hilfe der Götter sich auf wirklich Wichtiges beschränkten, auf die Dinge, die die Macht hatten, die Welt zu bewegen. Was war schon dabei, eine Phönixin davor zu retten, einer einsamen Zarin in einem abgeschnittenen Eisland einen göttlichen Nachfolger auf den Thron zu setzen? Gar nichts war dabei, das war die Antwort. Sie waren alleine hier und wenn sie bei ihrem Versuch scheiterten, würde niemand davon erfahren. Die Erde würde sich weiterdrehen, aber dann mit vier Menschen und einem Halbphönix weniger.
      "Vielleicht steckt ja auch gar nichts dahinter. Vielleicht sind einfach alle viel zu beschäftigt, um uns zu bemerken", vermutete er schließlich und beendete damit dieses Gespräch in gewisser Weise. Viel mehr tun als zu raten und Behauptungen aufzustellen, konnten sie ja sowieso nicht.
      Sehr viel anders war es damit mit der bevorstehenden Taktik, wie sie sich Kassandras Essenz schnappen, aber vor allem sich vor Telandir und den anderen schützen konnten. Es ging sicherlich auch eine gewisse Gefahr von dem Rest der Champions aus, aber Telandir war mitunter noch immer ihr Hauptaugenmerk.
      "Hm. Und was, wenn wir..."
      Er starrte auf den Boden, versuchte sich das Szenario vorzustellen, in dem er der Zarin Kassandras Essenz entwenden würde. Er wusste noch genau, wie sie aussah, er würde sie in einem Haufen von hunderten Essenzen sofort erkennen.
      "Wir brauchen natürlich nicht zwingend Kassandras Essenz zuerst. Wir brauchen sie, damit wir Kassandra ein für allemal dort herausholen können, aber sie muss nicht unser erstes Ziel sein. Und die Zarin wird alle ihre Essenzen bei sich tragen, daran besteht kein Zweifel. Sie wird sie ganz sicher nicht herumliegen lassen und ich halte es als unwahrscheinlich, dass es mehr als einen Träger in der Festung gibt. Träger sind machthungrig."
      Er warf wieder einen Blick zu Amartius, jagte den Gedanken, der sich bisher nur flüchtig geformt hatte.
      "Weißt du, welche Form Telandirs Essenz hat? Wenn wir seine bekommen könnten, haben wir eine bessere Chance auf alles. Er kann mich nicht verletzen, solange ich der Träger bin, und er wird uns helfen müssen, ob er das möchte oder nicht. Die Bindung zwischen Kassandra und der Zarin wird nicht groß sein, schätze ich mal, auch wenn wir das noch herausfinden müssen. Es wird aber mit ziemlicher Sicherheit größer sein, als die Bindung zwischen mir und Telandir. Kann das ihrer beiden Kräfte ungefähr ausgleichen? Weißt du das?"
      Er kratzte sich am Kinn.
      "Dann wären nur noch die anderen Champions ein Problem, vorausgesetzt, es sind Kriegsgötter. Wenn sie Ares bei sich haben sollte, können wir uns Telandir sparen, aber wenn sie Morpheus hätte? Was sollte er schon tun, uns schlimme Träume androhen, sobald wir zu Bett gehen? Das müssen wir herausfinden. Die anderen Champions sind ausschlaggebend, sollten wir es schaffen, Telandir in Besitz zu bekommen."
      Es trat ein Moment der Stille ein, in dem Zoras versuchte, seine Gedanken in dieser Sache zu festigen. Viel hatten sie nicht, um damit arbeiten zu können, aber wenn er schonmal einen Ansatz parat hätte, könnte er mit den nötigen Details später gefestigt werden.
      So dachte er zumindest, bis er Amartius' nächste Frage hörte.
      "Götter verderben? Wie kommst du denn auf sowas?"
      Es war viel weniger die Frage an sich, als der Argwohn, der dahinter lag. Amartius hatte eigentlich schon lange keine Frage in dieser Art mehr gestellt, irgendwann hatte die kindliche Neugier wohl auch zu ihrem Ende gefunden.
      "So hätte ich es nie genannt. Ich weiß, dass Götter den Verstand verlieren können, wenn sie nicht mehr das tun, wofür sie geschaffen wurden, sondern… das Gegenteil. Dann werden sie destruktiv und eine Gefahr für die Anhänger, die sie eigentlich haben sollten. Warum? Denkst du, wir könnten es schaffen, die Champions der Zarin in so einer kurzen Zeit verrückt zu machen?"

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    • Unverholenen Blickes betrachtete Amartius seinen Vater. Dass Zoras so eine Ansicht von den Göttern im Himmel hatte, war ihm bisher nie wirklich bewusst geworden. Das Thema kam unter diesem Aspekt auch noch nie zwischen ihnen wirklich zur Sprache. Für Amartius, der den Götterhain nicht kannte, waren Götter und Menschen fast das Gleiche. Nur ihre Häufigkeit und ihre Macht unterschied sie wirksam von einander. Aber mehr als das war für ihn nicht klar zu differenzieren. Eigentlich hätte es seinen Stolz ankratzen müssen, als er nur als halber Gott bezeichnet wurde, doch das Gefühl blieb aus. Vielmehr schlich sich eine Art Unverständnis in seine Gedanken.
      „Man muss doch nicht immer die Welt verändern, um eine Gunst bei jemanden zu erlangen. Man hat sie schon für viel weniger erhalten, wenn du mich fragst. Und Mama hat immer gesagt, dass uns die Götter von oben beobachten und manchmal auf bestimmte Menschen wetten. Wieso sollte da nicht einer von ihnen dich auserkoren haben? Was ist mit diesem sagenumwobenen Schicksal, von dem die Leute ständig reden? Mal ganz abgesehen davon; Sehe ich so aus, als würde mich irgendjemand schützen? Ich glaube nicht.“
      Verbitterung schlich sich nun auch in die letzten Worte des Jungen ehe er sich abwandte und wieder in die leicht qualmende Glut blickte. Wer hatte eigentlich je behauptet, dass die Götter immer gut waren? War es so unwahrscheinlich, dass sie auch schlechte Beweggründe verfolgen konnten? Wer legte überhaupt fest, was schlecht war und was nicht? Vielleicht sollte Amartius seine Gedanken beruhigen indem er den Worten seines Vaters auch nur ein wenig Glauben schenkte. Vielleicht waren sie alle wirklich von etwas Wichtigerem abgelenkt, das sich ihrer Vorstellungskraft entzog.
      Der Junge bemerkte die Blicke, die sein Vater ihm immer wieder zuwarf, aber er war zu vertieft in seinen eigenen Gedanken und hörte nur halbherzig zu. Irgendwo in der Entfernung hörte er einen Wolf heulen und stufte ihn als einen dieser Frostwölfe ein. Solange sie Feuer hatten, würden sich wilde Tiere hoffentlich nicht nähern. Und so glimmten seine Augen in der Dunkelheit leicht als er die Kohlen mit seiner Magie speiste und so niedrige Flämmchen heraufbeschwor.
      „Es sind Ohrringe“, teilte er mit und hatte dabei jedes einzelne Schmuckstück vor Auge, das die Zarin getragen hatte. „Ein passendes Paar, das sie immerzu trägt. Ich dachte erst, es sei der Haarschmuck gewesen, aber nur Telandir könnte sich zu schön sein um seine Augenfarbe in Edelsteine zu konvertieren.“ Er schnaubte abfällig. „Ich denke, wenn du an seine Essenz kommst, hast du die besseren Karten. Solange die Zarin Kassandra nicht zwingt, sich gegen Telandir zu stellen. Dann wird er sich vermutlich sperren. Wenn nicht, dann habt ihr die besseren Karten. Bevor Telandir mich verschleppt hat, wirkte Kassandra schon zermürbt. Eigentlich seitdem sie mich geboren hatte. Wer weiß, wie es ihr nun geht?“
      Er wollte keine einzige Sekunde daran denken. Sonst spürte er den Zorn wie eine heiße Flamme in seinem Inneren lodern, und die wollte er um jeden Preis ersticken.
      „Ich habe den Begriff nun schon zweimal gehört. Jedes Mal klang es wie eine Warnung und es war immer das gleiche Wort. Mir ist in der Hafenstadt in Kuluar jemand über den Weg gelaufen, der mit Sicherheit auch Kontakt zu einem Gott oder Champion hat... Sie konnte mich zielsicher aufspüren....“ Amartius umriss kurz die Situation, in der er die Frau in der Gasse getroffen hatte. Dabei vergaß er das Detail mit dem Bogen und dem Namen. „Und sie sagte, ich soll nicht hassen. Nicht gieren und nicht neiden. Das seien niederträchtige Emotionen der Menschen und sie wusste, dass ich sterbliches Blut in mir trage. Sie sagte, ich solle acht geben, sonst verdirbt man.“
      Er streckte die Beine lang von sich, teilte sie vor dem Steinkreis des Feuers und legte den Kopf in den Nacken. Seine Augen waren geschlossen und seine Hände nach hinten abgestützt, die den Schnee und den Frost im Umkreis zum schmelzen brachten.
      „Ich glaube nicht, dass wir andere in den Wahnsinn treiben können. Aber erinnere dich mal kurz dran zurück, wie lange Kassandra schon auf Erden ist. Hat sie auf dich immer den Anschein gemacht, als wäre sie vollkommen unbeeindruckt von dem, was sie erlebt hat? Was, wenn sie schon längst verdorben ist und wir haben es nie bemerkt? Du hast gesagt, sie ist brillant auf dem Schlachtfeld. Das ist wider der Natur der Phönixe, Zoras.“
    • Amartius' Blick lag schwer auf Zoras, so schwer sogar, dass er ihn selbst noch auf sich spürte, während er die Feuerstelle betrachtete. Er machte seinem Sohn keinen Vorwurf, eine derartig naive Sicht auf die Götter zu haben - woher hätte er es auch besser wissen können? Den einzigen Kontakt, den er jemals zu anderen Göttern gehabt hatte, waren die wenigen Champions, die in der Festung bei der Zarin hausten und die konnten wohl kaum vertretend für den Rest des Olymps sein. Woher hätte er es dann besser wissen sollen? Woher sollte er seine eigenen Erfahrungen mit den Göttern hätte machen sollen?
      "Die Welt zu verändern ist die einzige Möglichkeit, aus der Masse hervorzustechen. Stell es dir so vor: Du hast die Karte vor die liegen, die große Weltkarte, mit der wir nach Asvoß gesucht haben. Dort gibt es dutzende Länder und vermutlich gibt es auf der ganzen Welt sogar noch mehr als das. Auf jedem einzelnen Stück eines Pinselstrichs dieser Karte liegen...", er machte eine vage Handgeste, "tausend Menschen. Auf jedem Millimeter der Karte leben auf der Welt tausend Menschen, an manchen Orten weniger, an anderen dafür umso mehr. Und du, als Gott, im Olymp, du siehst auf diese Karte und du beobachtest die Menschheit. Du blinzelst einmal und zack", ein Strich mit der Hand, "ein Land ist verschwunden. Du blinzelst noch einmal und ein Volk ist ausgestorben. Du blinzelst nochmal und jetzt sind alle Menschen, die im Moment auf der Erde leben, andere Menschen als ein paar Sekunden zuvor. So geht es immer weiter und du musst dich jetzt für einen einzelnen entscheiden, den du schnell begünstigst, bevor er irgendwas unternimmt oder irgendwo hingeht, das ihn umbringt - wen wirst du nehmen? Wonach kannst du auswählen, wenn die ganze Karte voll von unendlichen Menschen ist? Etwa einen einsamen Bauern, der niemals mehr erreichen will als mehr Felder zu kaufen und mehr Früchte anzubauen, oder einen aufstrebenden Krieger, der einen Tyrann stürzen will, der ein ganzes Volk unter seiner Kontrolle hat? Was davon wird wohl mehr herausstechen? Und wenn du diese Entscheidung hundert Mal in einer Sekunde treffen musst und das für alle Ewigkeit - wie wirst du dann nach drei Jahrhunderten auf der Erde entscheiden? Nach drei Jahrtausenden?"
      Jetzt richtete er den Blick auch auf Amartius und auch wenn er mit seinen Worten vermutlich das Gegenteil vermittelte, hoffte er doch in gewisser Weise, dass der Glaube des Jungen stark genug war, um seinen eigenen Überzeugungen entgegen zu halten.
      "Vielleicht haben die Götter Interesse an dir, das kann schon sein. Du bist vermutlich der erste deiner Art und unter... sonderbaren Umständen geboren. Aber ich bin nicht mehr als der Bauer, der nicht mehr erreichen will als mehr Felder zu kaufen, nur mit dem Unterschied, dass ich keine Felder kaufen, sondern Kassandra befreien möchte. Die im Übrigen nur wegen mir dort ist, weil ich ihre Essenz zurückgehalten habe. Ich stürze keinen Tyrann, ich befreie kein Volk, ich versuche lediglich, eine Phönixin aus ihrer weltlichen Gefangenschaft zu befreien und das auch nur, weil ich sie liebe. Sowas ist nicht gut genug für die Götter. Und ich kann es mir auch nicht gut genug dafür vorstellen, dass es das Schicksal in die Sache hineinziehen würde."
      Er lächelte Amartius kurz an, um die Stimmung wieder etwas aufzulockern. Er wollte dem Jungen nicht vorschreiben, was er zu glauben hatte, aber 40 Jahre auf dieser Welt hinterließen nunmal einen anderen Geschmack als drei Monate - oder mittlerweile sogar vier. Wer weiß, vielleicht begegnete Amartius eines Tages einem Gott, der ihm ein völlig anderes Bild vermitteln würde. Vielleicht würde er es ja sogar schaffen, selbst in den Olymp aufzusteigen.
      Die Gedanken wurden für einen Moment unterbrochen, als Wolfsgeheul in der Ferne ausbrach und Zoras zurück in die Realität holte. Sie waren noch immer draußen im Eisland auf dem Weg zu einer unbekannten Stadt, wo sie von Eiswölfen und Frostwyrmen überfallen werden könnten und da wäre es irrelevant, ob sie irgendein Gott dabei beobachtete oder nicht. Sein Schwert war nicht irrelevant und das zog Zoras jetzt hervor, um es neben sich zu legen - nur um sicher zu gehen. Sie würden Wachen aufstellen müssen, solange sie hier unterwegs waren.
      Vor ihnen erwachte die Feuerstelle wieder zu neuem Leben und so wandte er sich wieder Amartius zu.
      "Ein Paar Ohrringe?"
      Verblüfft starrte er den Jungen für einen Moment an. Er hatte noch nie etwas davon gehört, dass die Essenz in mehreren Schmuckstücken hätte aufbewahrt werden können.
      "Soll das heißen, er wird von zwei Teilen kontrolliert? Was passiert, wenn man nur das eine hat? Oder wenn nur das eine zerstört wird?"
      Das war natürlich ein Problem, mit dem er sich nie konfrontiert gesehen hätte. Zwei Ohrringe waren definitiv schwieriger zu stehlen als nur einer - vielleicht Absicht? Vielleicht wollte man eine Chance schaffen, den Diebstahl aufzuhalten, wenn er schon das eine Schmuckstück, nicht aber das andere in der Hand hätte? Fast sah er es sogar schon kommen, einen blutigen Ohrring zwischen den Fingern, herausgerissen aus dem Ohr der Zarin, während hinter ihm ein zorniger, rasender und noch nicht gänzlich kontrollierter Telandir herangestürmt kam und ihn in zwei Hälften teilte. Das war ein Problem. Das war ein wirkliches Problem.
      Er kratzte sich mehrmals am Kinn und brummte schließlich.
      "... Sollte es mir aus irgendeinem Grund gelingen beide zu bekommen, werde ich beide nehmen. Wenn nicht, konzentriere ich mich auf Telandir. Wir kommen nicht weiter, wenn wir ihn nicht lenken können."
      Er schwieg einen Moment, bevor er hinzufügte:
      "Vielleicht wird das auch Kassandra helfen. Ihr Hoffnung bringen, oder was auch immer sie benötigt."
      Es war nicht schwierig, sich die Phönixin in einer Situation vorzustellen, die sie schon so oft erlebt hatte, dass man kaum noch mitzählen könnte. Leider war es daher auch nicht schwierig, sich all die Gründe zu überlegen, weshalb Kassandra sich gerade nicht davon Hoffnung machen würde, wenn Telandir in Zoras' Besitz käme. Wie oft hatte sie schließlich schon in ihrer Vergangenheit gehofft und wie viele Male war sie enttäuscht worden? Auch das war wahrscheinlich zu oft passiert, als dass man es noch hätte zählen können.
      Aber das alles teilte er Amartius nicht mit. Der Junge musste schließlich nicht noch mehr davon hören, wie schlecht es seiner Mutter ging und schon immer gegangen war. Viel wichtiger war im Moment, dass Zoras gerade erfuhr, dass sein Sohn in Kuluar Kontakt mit jemandem gehabt hatte, der wiederum in irgendeiner Weise mit den Göttern in Verbindung stand. Das wäre wohl kaum eine nennenswerte Nachricht gewesen, wenn Zoras nicht von der merkwürdigen Kultur in Kuluar unterrichtet wäre und wusste, dass es in Ellspiahafen keine Champions gab, weil es in der ganzen Umgebung keinen Adeligen gab. Wer auch immer da also mit Amartius geredet hatte, war sicherlich kein Einheimischer gewesen.
      "Sie? Eine Frau?"
      Er wog den Kopf hin und her, überlegte, ob der Kontakt zu dieser Fremden hinderlich wäre, entschied sich dann dazu, dass er sich niemanden vorstellen könnte, der es auf sie abgesehen hätte. Viel wichtiger war, was die Frau Amartius übermittelt hatte.
      "Kassandra ist vieles, aber verdorben ist sie nicht. Deine Mutter ist stark und unglaublich zäh und ihre... widernatürlichen Neigungen waren auch schon immer präsent gewesen. Deswegen ist sie schließlich erst auf die Erde herabgekommen, lange bevor sie hätte verdorben werden können."
      Er unterzog Amartius einem strengen, eindringlichen Blick. Kassandra war nicht verdorben, das wusste er, das wusste er ganz sicher. Sein aufsteigender Protest kam vielleicht zum Teil auch davon, dass der Junge íhn direkt beim Namen genannt hatte. Es hatte nicht viele Gelegenheiten gegeben, in denen Amartius Zoras' Namen ausgesprochen hätte, aber ein kleiner, kindischer Teil in ihm ließ sich von der Enttäuschung leiten, dass er ihn nicht "Vater" oder ähnliches nannte. Dieser Teil war auch derjenige, der jetzt gegen den Gedanken hielt, dass Kassandra verdorben sein könnte.
      "Natürlich ist sie nicht völlig... unbeeindruckt von allem, aber das kommt zum größten Teil von ihrer Essenz und nicht von ihr selbst. Das ist die einfache Wahrheit dahinter. Denkst du nicht, dass Kassandra anders wäre, wenn sie verdorben wäre? Vielleicht... aufbrausender? Zerstörerischer? Wenn es doch gegen ihre Natur ist, wieso zieht sie dann nicht durch die Welt und mordet, wo sie nur kann? Die Kassandra, die ich kennengelernt habe, hat Leid erfahren, als sie gezwungen worden war, einen einzelnen Soldaten umzubringen, und ist nicht als unbezwingbarer Feuervogel über Armeen hereingebrochen, um sie mit ihren Flammen in einem Wimpernschlag niederzustrecken. Wenn sie verdorben wäre, hätte sie sich während unserer Zeit ohne Rücksicht und Erbarmen über meine Feinde hergemacht und das in der Sekunde, in der sie nicht beaufsichtigt gewesen wäre. Wenn sie verdorben wäre, würde sie sich bereitwillig in die Schlacht werfen, allein um des Kämpfens willen. Aber das ist deine Mutter nicht. Sie mag vielleicht in ihrer Existenz auf der Erde nicht unbedingt... erblühen, aber sie ist stark und ich weiß, dass sie auch noch ein bisschen weiter stark sein kann, bis ich ihr ihre Essenz zurückgegeben habe und sie zumindest in den Himmel zurückkehren kann. Und wer weiß, vielleicht lässt man sie ja sogar wieder in den Olymp aufsteigen. Das sind alles Faktoren, die einen Gott vor dem Verderben bewahren können, Amartius - ganz egal wie viel Emotionen, Leid und Elend er unter den Menschen ausgesetzt ist. Hm?"
      Er klopfte Amartius auf die Schulter, bevor ihm die kleinen geschmolzenen Kreise um dessen Hände auffielen und er seine Arme wegschob, um den geschmolzenen Boden mit frischem Schnee zu bedecken. Sie mussten schließlich nicht riskieren, entdeckt zu werden.
      "Deine Mutter ist eine spezielle Phönixin und niemand ist hier verdorben, weder sie noch du, mach dir also keine Gedanken darum. Wir werden in die Festung gehen, uns überlegen, wie wir sie herausholen können und dann kann uns deine Mutter in ihrer Vogelgestalt irgendwohin in Sicherheit bringen - wo es keine Zarin und auch keinen Telandir gibt. Ist das nicht ein schönerer Gedanke, auf den man sich konzentrieren kann? Dann denk daran, wenn du gleich wieder schlafen gehst. Ich werde Wache halten, damit uns keine Wölfe fressen und später wecke ich Omnar, dann kann er übernehmen. Einverstanden?"
    • Gedanken darüber, wie man sich aus der Masse hervor hob, waren Amartius nie gekommen. Nicht, als er in der Feste geboren wurde und auch nicht, als er von Telandir ausgesetzt worden war. Etwas zu erreichen, sich unsterblich zu machen und dergleichen war für ihn völlig belanglos geworden als er verstanden hatte, dass er nicht unsterblich war. Und dass sein Ende näher war als es ihm lieb war. Er genoss tatsächlich jede Sekunde, die er seit her mit seinem Vater verbrachte. All die Eindrücke, die er sammeln konnte. Trotzdem war es für ihn mit fortschreitendem Alter immer fader geworden. Die Gefühle, die Eindrücke, seine Motivation. Es hatte an Farbe verloren, kontinuierlich und schleichend, sodass er es erst bemerkte als der Schaden bereits angerichtet worden war.
      „Die Götter haben so wenig Interesse an mir wie an dir. Du hast immerhin einen Gott, der wahrlich alles für dich tun würde. Nur leider wird sie von Anderen gerade noch in Ketten gehalten“, meinte Amartius schlicht.
      „Ja, er hat ein Paar Ohrringe. Warum, weiß ich nicht und ich kann dir leider auch nicht sagen, ob nur ein Teil dir etwas einbringt. Ich weiß doch nicht mal, ob ich selbst eine Essenz erzeugen könnte. Tut mir leid.“
      Er hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, ob es ungewöhnlich war, mehrere Teile als Essenz zu erzeugen. Das ganze Konstrukt war ihm fern ebenso wie die Tatsache, dass so ein kleines Ding ausreichen sollte, um Herr über eine andere Person zu werden. Auf welch stümperhafte Idee waren die Götter denn gekommen, um so etwas zu erschaffen? War ihnen einfach nur langweilig gewesen?
      Ganz langsam kippte Amartius seinen Kopf zur Seite, um seinen Vater aus dem Augenwinkel anzusehen. „Du hast selbst gesagt, dass sie bereits Jahrtausende lebt. Woher willst du wissen wie sie war, bevor du sie getroffen hast? Du lebst schon länger als ich und selbst ich hab mittlerweile festgestellt, dass Menschen gerne lügen. Oder Dinge verschweigen, die ihnen unangenehm sind. Wieso sollte das nicht auch für Götter gelten?“
      Sein war seltsam starr während er diese Worte sprach. Als ihr Sohn hatte Amartius noch weniger Einsicht darüber, was in dem langen Leben seiner Mutter alles geschehen war. Aber sie war die am längsten in Sklavenschaft gehaltener Gott auf Erden. Wer konnte schon sicher bestimmen, dass sie sich keine Gewohnheiten der Menschen abgekupfert hatte? Ihm gegenüber war sie stets die liebende Mutter gewesen, obzwar ein Schatten der ständige Begleiter in ihren rubinroten Augen gewesen war. Doch er ließ seinen Vater ausreden und lauschte schweigsam den endlos vielen Worten, die er an ihrer Stelle sagte. Zu nichts konnte er irgendetwas beitragen. Alles davon entzog sich seinem Spektrum und die Schärfe verlor sich aus seinen Augen. Ein Schimmer Trauer trat an ihre Stelle bevor er den Blick abwandte. Das Klopfen löste seine Starre fast gar nicht, dafür taten es Zoras' Hände als sie Amartius von den Stellen wegschoben, die er aufgetaut hatte.
      Nach einem Moment der Stille nickte Amartius. „Das wäre eine schöne Vorstellung“, stimmte er seinem Vater zu und erhob sich, um in den Wagen zurückzukehren.
      Eine schöne Vorstellung, die aber nie mehr als das sein würde.

      Die Nacht war ohne Zwischenfall von sich gegangen. Wie versprochen hatte Zoras Omnar irgendwann geweckt, um sich ablösen zu lassen und am nächsten Morgen konnten sie ihr Lager abbauen.
      Während die restliche Gruppe wieder hinten im Wagen verschwand, war Amartius nach vorn zu Golm geklettert. Er wollte mehr Informationen aus dem Mann pressen, solange sie noch ungestört reisen konnten.
      „Woher sind denn diese mächtigen Waffen gekommen? Die, mit den Namen? Wer gab sie ihnen?“
      „Vermutlich waren es stinknormale Waffen, denen einfach eine Geschichte hinzugedichtet worden war. Manch einer behauptet sogar, dass seine Waffe den Geist eines vergangenen Helden enthält. Aber alles Schwachsinn, wenn du mich fragst“, antwortete Golm, der sein Blick durch die Gegend schweifen ließ.
      „Weil Menschen gerne solche Mythen erfinden?“
      „Ich bin mir sicher, dass die Tiere ihre eigenen Mythen habe“, grinste Golm.
      Der Wagen bewegte sich konstant in eine Richtung und mit zunehmend weniger Vegetation war es immer schwieriger zu bestimmen in welche Richtung sie überhaupt noch mussten. Vermutlich orientierte sich der Händler am Stand der Sonne oder er fuhr immerzu die gleiche Strecke, die sich wie bei einem Elefanten in sein Hirn gebrannt hatte. Auch heute schienen sie noch Glück mit dem Wetter zu haben, denn der Himmel war nur von dünnen Fadenwolken durchzogen und die Sonne reflektierte von all dem Schnee um sie herum so sehr, dass sogar Amartius hin und wieder die Augen zusammen kneifen musste. Es ging noch immer ein stattlicher Wind, aber es sah nicht nach schlechtem Wetter aus.
      „Wie weit sind wir eigentlich noch weg?“, fragte Amartius und versuchte in der Ferne irgendetwas zu erkennen. Doch nichts schob sich besonders in sein Blickfeld.
      „Wenn es weiter so gut geht noch zwei Tage. Aber das Wetter kann sich innerhalb kurzer Zeit ändern. Dann hätte Olaf aber schon angezeigt. Der Gute hat bessere Sinne als so manch Gott, wie ich finde.“ Er grinste bei dem Gedanken.
      Im Laufe der Stunden gewann Amartius somit ein paar mehr Informationen zu der Stadt u die Eisfeste, die Traditionen, den Gefahren des Landes und wieso man überhaupt in einer so verdammt kalten Region leben wollte. Sie hatten die Vegetation mittlerweile hinter sich gelassen und waren nun umgeben von endlosem Weiß. Schnee, der sich zu Dünen aufgetürmt hatte und durch den Wind immer weiter wanderte machte eine Navigation für Unwissende praktisch unmöglich. Hier verstand Amartius erst, warum man einen Führer brauchte, denn auch wenn Golm es nicht betonte sah der Junge mehrmals, wie der Mann Olaf ein wenig zur Seite lenkte und somit eine Spalte im Boden mied, die der Halbphönix erst sah als sie bereits daran vorbei gefahren waren. Diese monotone Landschaft hatte ihn auch dazu bewegt, sich ins Innere des Wagens zurückzuziehen und dort mit Zoras und den Anderen sein neu gewonnenes Wissen zu teilen und weiter auszuarbeiten, wie sie weitergingen, wenn sie denn die Feste erreichten.
      Sie unterhielten sich gerade darüber, dass Eisäpfel ein besonderes Exportgut und eine Delikatesse waren, als Amartius es das erste Mal spürte. Es kündigte sich an wie ein dumpfes Klopfen, mal in seinem Kopf, mal gefühlt. Er konnte die Richtung nicht bestimmen, dafür war es zu omnipräsent. Eine ganze Weile blieb das Gefühl dasselbe bis es irgendwann an Kraft gewann. Zu dem Klopfen gesellte sich ein Druckgefühl, das Amartius' Brust einengte und dafür sorgte, dass er die Hand an seinen Mantel legte. Dann überlief ihn plötzlich ein Schauer, eine Art Ahnung und seine Augen weiteten sich. Hastig machte er sich auf den Weg aus dem Wagen zu sehen, da erschütterte ein kräftiges Ruckeln den kompletten Wagen.
      Draußen fluchte Golm lauthals und trieb seinen Ochsen an, der von selbst schon angefangen hatte, seinen massigen Körper zu bewegen. Als Amartius seinen Kopf aus dem Wagen steckte, fühlte er eine immense Präsenz aus östlicher Richtung auf sie zukommen. Es dauerte weitere Sekunden ehe er begriff, dass die Präsenz nicht auf Augenhöhe erscheinen würde.
      Sie kam aus dem Erdreich.
      Ein weiteres Beben erschütterte ganze Abstriche und ließ Schneedünen kollabieren. Olaf flüchtete schon für seine Verhältnisse und Golm erfand scheinbar immer neue Schimpfworte. Dann erstarb das Beben plötzlich und gefährliche Ruhe legte sich über sie alle, noch während der Wagen überstürzt durch den Schnee pflügte.
      „Festhalten!“, schrie Golm von vorne und Amartius gab die Anweisung auf kuluarisch direkt weiter.
      Das hätte er sich allerdings sparen können, denn alle Insassen hielten sich fest was sie gerade hatten greifen können. Die Warnung kam keine Sekunde zu früh, denn da riss der Boden zu ihrer Seite auf. Amartius war am nächsten dran und sah genau, wie sich die Erde gleich einer gewaltigen Spalte teilte. Schnee rieselte hinab und zog einen feinen Schleier hinter sich her, durch den der Junge im ersten Moment nichts sah, aber dafür spürte. Da unten war etwas uraltes. Etwas riesiges. Etwas machtvolles und ungezügeltes. Er schauderte, hin und her gerissen zwischen Faszination und Panik. Ein weiteres heftiges Beben ereignete sich und brachte den Wagen gefährlich ins Wanken. Und dann wurde die wahre Hölle losgelassen.
      Ein Maul mit Zähnen, so groß wie zwei dieser Wagen, schrammte nur knapp an dem Wagen aus dem Erdboden hervor. Wie ein Hai hatte sich das Ungetüm von unten genähert und war aufgetaucht, um seine Beute zu verschlingen. Amartius schrie auf kaum sah er das gigantische geschlitzte Auge, das ebenfalls an dem Wagen vorbei raste während sich ein beschuppter Körper anschloss.
      Der Wagen geriet außer Kontrolle und kippte schlussendlich auf die Seite. Es knirschte fürchterlich, als Holz sich gegeneinander auflehnte und Olaf den Wagen noch ein ganzes Stück zog ehe selbst der Ochse keine Kraft mehr hatte. Im Wagen flogen allerlei Kisten und Inhalt umher, ebenso wie die Passagiere, deren Schreie primär von Faia und Amartius rührten. Ein Ruck ging durch den Wagen, dann kam er zum Stillstand und eine Totenstille legte sich kurz über den Wagen. Amartius rieb sich den Schädel, auf den er geprallt war und sah zu den Anderen hinüber. Sie alle wirkten etwas benommen, ansonsten aber unverletzt.
      Im nächsten Moment wich ihnen allen die Farbe aus dem Gesicht. Ein tiefes Zischen, so laut, dass es wie das Heulen eines Tornados in ihren Ohren klingelte, erhob sich von draußen. Nur einen Augenblick später fluchte Golm erneut, Olafkreischte angsterfüllt, sodass Amartius allein durch die Panik des Tieres beinahe ähnlich reagiert hätte. Er besann sich rechtzeitig und kletterte vor allen anderen aus dem Wagen.
      Als er sich aufrichtete, blieben ihm die Worte im Halse stecken. Dort hinten, wo sich die Spalte aufgetan hatte, war eine Schlange aus dem Boden empor gekrochen. Wobei das Wort Schlange nur auf den Teil bis zum Kopf zutraf. Der langgezogene Körper war vollkommen beschuppt mit sämtlichen Blautönen, die man sich nur vorstellen konnte. Im Licht glänzten sie stetig in anderen Nuancen, als könnten sie sich nicht recht entscheiden. Auf dem Rücken ragten breite Zacken in die Höhe und waren wie Haifischfinnen nach hinten gewölbt. Zum Bauch hin wurde die Farbe dunkler, beinahe schwarz. Die Schwanzspitze hing noch immer in der Spalte und machte es unmöglich genau zu sagen, wie lang das Monster war. Was sie sahen, waren jedoch mindestens 250 Meter Länge. Das Wesen hatte sich zum Kopf hin aufgerichtet und ragte weit über ihre Köpfe hinweg. Sein Kopf war nicht so glatt wie sein Körper. Er sah eher aus wie das, was man sich unter einem klassischen Drachen vorstellte, mit einem prägnanten gezahnten Maul, einer gespaltenen Zunge und geschlitzten, gelben Augen. Zwei Hörer wendelten sich hinter seinen Schädel und erinnerten eher an die Hörner eines Widders. Eine Art Mähne, die wohl keine war, ging nahtlos in die Rückenstacheln über.
      Ein Frostwyrm hatte sie gefunden.
      „Wie sollen wir das denn abwehren?“, hauchte Amartius und war allein durch die Präsenz dieses Wesens überwältigt. So beeindruckend es auch aussehen mochte, er spürte keine Boshaftigkeit oder Zorn in dieser Kreatur. Vielmehr machte es den Anschein, als sei der Wyrm einfach nur auf Jagd gewesen und hatte leichte Beute gefunden. Flüchten konnten sie mit dem langsamen Olaf nicht. Und während der Wyrm langsam den Kopf senkte und erneut ein tiefes, dröhnendes Zischen ausstieß, wusste Amartius das erste Mal in seinem kurzen Leben keinen Rat.